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Für Mona wird ihr 50. Geburtstag zum unerwarteten Wendepunkt ihres Lebens. Ein Telefonanruf aus Dublin reisst sie aus ihrem so perfekt eingespielten und vorhersehbaren Leben heraus. Auch wenn eine alte Liebe aus der Jugendzeit der Auslöser ist, erkennt sie, dass einradikaler Kurswechsel nötig ist. Ihr inneres Navigationssystem fordert sie unmissverständlich auf: "Bitte wenden!" Denn im Grunde geht es ihr darum, ihren eigenen Weg zu finden, trotz aller Widrigkeiten und Bedenken. Viel zu lange hatte sie dieses Bedürfnis in den Tiefen ihrer Seele verschlossen gehalten und zugunsten anderer ignoriert. In Irland findet sie das, was sie gesucht hat - und der Navigator St. Brendan aus der irischen Mythologie spielt mehr als nur eine symbolische Rolle bei diesem Neustart in die selbst bestimmte Zukunft. Ein Roman voller Lust auf Veränderungen und der Erkenntnis, dass es für das Glück im Leben nur einen einzigen richtigen Weg gibt: den eigenen Weg.
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Seitenzahl: 424
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Es gibt nur einen Weg zum Glück:
Deinen eigenen Weg!
Über die Autorin
Anna Soldan wurde 1958 in Frankfurt am Main geboren und ist dort aufgewachsen. Sie hat eine Tochter und lebt heute im Taunus.
Nach vielfältigen privaten und beruflichen Stationen arbeitete sie mehr als zwei Jahrzehnte als Redaktionsassistentin in einer großen regionalen Tageszeitung und sechs Jahre als Redakteurin und Reisejournalistin einer Irland-Zeitschrift. Ihr schriftstellerisches Hauptthema sind Frauen in Umbruchsituationen, wo es um Veränderung oder Neustart geht; vor allem auch dann, wenn man schon älter ist. Den Herausforderungen des Lebens mit Optimismus und einem gewissen Pragmatismus zu begegnen, dabei neugierig und aufgeschlossen zu bleiben, sich der eigenen Fähigkeiten bewusst zu werden – das kennzeichnet auch die Protagonistin ihres ersten Romans „Mona und ihr Navigator“.
Anna Soldan
Monaund ihrNavigator
Wenn Vergangenheit zur Zukunft wird
Impressum
Text und Umschlaggestaltung: © Copyright by Anna Soldan
Anna Soldan
Elisabethenstraße 3
61348 Bad Homburg
Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Eigentlich war alles gut und schien in bester Ordnung zu sein. Eigentlich. Wenn da nicht der Anruf an ihrem fünfzigsten Geburtstag gewesen wäre, der ihr ganzes und bis dahin so geordnetes Leben total aus dem Gleichgewicht bringen sollte.
Hätte man Mona vor ihrem Geburtstag gefragt, ob sie glücklich sei, sie hätte in ihrer spontanen und frischen Art sofort mit einem überzeugten „Ja, sehr sogar“ geantwortet.
Vielleicht war sie nicht mehr so überschäumend glücklich, wie sie es früher empfunden hatte. Doch häufig durchströmte sie dieses warme Gefühl der Zufriedenheit. Das ist bestimmt auch eine Frage des Alters, dachte Mona dann. Sicher war es völlig normal, dass mit fast fünfzig Jahren die Gefühle nicht mehr einfach so durch einen hindurch rauschten und dieses wunderbare Kribbeln auf der Haut verursachten. Ja, eben diese unbeschreiblichen Glücksgefühle, die sie früher so oft erfüllt hatten und an die sie sich noch so gut erinnern konnte.
Damals, als sie noch jung war und ihr die ganze Welt als großer Spielplatz erschien, den sie nur noch erkunden und entdecken musste. Sie war immer schon neugierig gewesen und probierte gern Unbekanntes aus. Und wenn etwas nicht so klappte, wie sie sich das gedacht hatte, dann wendete sie sich anderen Dingen zu. Ohne Wehmut und die wenn-es-doch-geklappt-hätte-Gedanken, an denen sich manche ihrer Freunde und Bekannte so lange aufrieben. Auf Außenstehende mag sie daher manchmal wankelmütig gewirkt haben, aber für sich selbst hatte Mona immer nur einen Gradmesser: ihr Gewissen. Wenn sie sich morgens nach dem Aufstehen noch im Spiegel anschauen konnte und mit sich als Persönlichkeit noch zurechtkam, dann waren ihre Entscheidungen richtig gewesen. Das traf auf frühere One-Night-Stands ebenso zu, wie auf berufliche Wendungen. Bisher damit war sie damit immer ganz gut gefahren.
Schluss jetzt mit den Gedanken, es ist ja noch so viel zu erledigen, rief sich Mona innerlich zur Ordnung. Schließlich rückte der Geburtstag und damit die große Feier unaufhaltsam näher und sie musste sich sputen. Schon Wochen vor dem großen Tag hatte sie mit den Vorbereitungen für ihre Party begonnen, zu der sie Freunde und Kollegen eingeladen hatte.
Sie schaute auf der schon recht abgegriffenen To-do-Liste nach, was noch zu tun war. Viel war es nicht mehr, das meiste auf der Liste war schon durchgestrichen. Dann rief sie gut gelaunt bei ihrem Metzger an.
„Hallo, Frau Hildebrand, hier ist Mona Bergheimer. Können Sie mir bitte für kommenden Samstagvormittag Rinderhackfleisch vorbereiten? Ich feiere meinen fünfzigsten Geburtstag mit ungefähr dreißig Gästen und möchte unter anderem Frikadellen machen.“
„Hallo Frau Bergheimer, schön, dass sie anrufen. Sie werden schon fünfzig? Das hätte ich jetzt nicht gedacht, ich hätte sie eher auf Anfang bis Mitte vierzig geschätzt, ehrlich“, antwortete die freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Oh, vielen Dank für das nette Kompliment. Ja, manchmal erschrecke ich auch über diese Zahl. Jedenfalls fühle ich mich keineswegs wie fünfzig, eher wie dreißig oder so. Aber leider sagt der Personalausweis was anderes“, seufzte Mona in den Hörer.
„Ja, das finde ich auch immer ärgerlich, wenn man an seinem Geburtstag mit der Nase drauf gestoßen wird, dass schon wieder ein Jahr vorbei ist. Und wieder ein Jahr weniger auf der Haben-Seite verbleibt. Aber was wollen wir machen, das geht ja allen anderen auch so“, resümierte Frau Hildebrand.
„Jetzt aber zurück zu ihrer Bestellung. Für dreißig Gäste Frikadellen, da empfehle ich ihnen, dass sie mindestens zweieinhalb Kilo Fleisch nehmen. Brauchen Sie noch andere Sachen von uns?“
„Nein, vielen Dank, das restliche Essen liefert am Nachmittag ein Partyservice. Das würde mir allein schon wegen der Mengen zu viel, es selbst vorzubereiten. Schließlich will ich nicht den ganzen Tag in der Küche verbringen, sondern was von meinem Ehrentag haben“, lehnte Mona das Angebot ab. „Entweder holen mein Mann oder ich das Fleisch dann am Samstagvormittag ab. Vielen Dank.“
Mona drückte erleichtert die Ende-Taste des Telefons. Jetzt konnte sie sicher sein, dass sie ihren Geburtstag auch überleben würde. Sie lächelte in sich hinein. Hatte ihr doch neulich erst Eva, ihre beste Freundin, im Scherz gedroht, sie ganz langsam auf dem Grill zu rösten, wenn sie an diesem Abend nicht ihre im Freundeskreis berühmten und sehr geschätzten Hackfleischbällchen machen würde.
So saß sie am Essplatz und ging ihre To-do-Liste noch einmal durch. Die Fleischbestellung war das Letzte, das noch nicht als erledigt durchgestrichen war. Sie hatte den Friseurtermin vereinbart und ihr Outfit für den Abend hing bereits sauber im Schrank. Sogar Paul, ihr Mann, würde bis dahin wieder im Lande sein, sie brauchte also nur noch bis zu ihrem großen Tag zu warten. Zufrieden lehnte sie sich zurück, nahm einen Schluck Kaffee und blickte unvermittelt auf den Wandkalender, auf dem der 15. Mai – ihr großer Tag – dick mit einem roten Kreis markiert war.
Sie freute sich auf ihren Geburtstag. Fünfzig. Diese Zahl hatte für Mona einen fast magischen Klang. Es war die Hälfte. Aber die Hälfte von was eigentlich, überlegte sie. Die Hälfte des Lebens? Das konnte kaum sein, denn die wenigsten Menschen ihrer Generation starben erst mit hundert Jahren, sondern früher. Somit hatte sie mehr als die Hälfte ihres Lebens bereits gelebt und es gar nicht bemerkt, geschweige denn irgendwann vor Jahren schon mal bewusst das Bergfest gefeiert. Aber welche Hälfte war es dann? Das halbe Arbeitsleben? Das kam schon eher hin, vor allem, wenn man an die Diskussionen zur Rente mit siebzig dachte. Aber war die fünfzig nicht eigentlich viel mehr als ein Meilenstein im Leben?
Mit fünfzig war vieles von dem schon geschafft, was man sich für sein Leben früher vorgenommen hatte. Der Lebensfluss auf seinem Weg von der Quelle bereits durch einige Stromschnellen im Flussbett geflossen. Jetzt folgte der ruhig vor sich hin plätschernde Abschnitt, der sich später in einem breiten und gemächlich dahinfließenden Strom ins Meer ergoss. Mit fünfzig wusste man, wohin die Lebensreise ging, man konnte also auch beruflich getrost einen Gang zurückschalten und die Lorbeeren seiner bisherigen Schaffenskraft genießen.
Mona war im Großen und Ganzen zufrieden mit ihrem Leben. Damals, als sie jung war, hatte sie zwar gedacht, sie würde die ganze Welt erobern – oder zumindest einen großen Teil davon. Aber erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.
Über ihr Gesicht huschte ein Lächeln, als sie an die junge Mona dachte und deren damaligen Wünsche ans Leben mit ihrer jetzigen Lebenssituation verglich.
Die junge Mona hätte nicht im Traum daran gedacht, dass sie einmal in diesem ziemlich spießigen Leben landen würde, das sich zum großen Teil in einem Dorf im schönen Taunus abspielte. Und fast wie in den kitschigen Rosamunde-Pilcher-Filmen lebte sie dort in einem schmucken Einfamilienhaus mit Garten und Carport. Hier hatte sie zusammen mit Paul ihre beiden Töchter Alexandra und Lena großgezogen. Wobei sie das meiste allein bewerkstelligen musste, da Paul ja immer auf irgendwelchen Baustellen in der Weltgeschichte unterwegs war und damit die – zugegebenermaßen sehr gut belegten – Brötchen für die Familie verdiente.
Als die beiden Mädchen groß genug waren, suchte sich Mona zwar wieder einen Job, aber eine eigene Karriere hatte sie dabei ganz und gar nicht im Sinn gehabt. Wie auch, das war bei dem Teilzeitjob als Redaktionsassistentin bei der Lokalzeitung nicht drin. Denn sie war diejenige, die im Notfall für die Kinder da war, wenn sie krank waren, zum Beispiel.
Also stand das einer eigenen Karriere im Weg. Aber das hatte sie gern gemacht, sah sie doch mit Freuden die beiden Mädchen zu wunderbaren jungen Frauen heranreifen. Und dafür lohnte sich schon das ein oder andere eigene Opfer. Und zusammen mit ihrem zusätzlichen Verdienst konnten sie sich als Familie einigen Luxus leisten und taten das auch gelegentlich.
Sie war glücklich mit Paul, sie liebten sich immer noch und freuten sich aufeinander, wenn er nach Hause kam.
Anders war dies bei einigen ihrer Freunde, die sich permanent aus dem Weg gingen.
Mona beendete den kurzen Ausflug in ihre Gedankenwelt und widmete sich wieder der Gegenwart. Sie war gespannt, was ihr Geburtstag so alles bringen würde.
***
Am Tag vor ihrem fünfzigsten Geburtstag – es war ein Freitag – ging es in der Redaktion mal wieder besonders hektisch zu. Anscheinend hatten sich heute besonders viele Menschen abgesprochen, kurz bei der Zeitung anzurufen oder am besten gleich selbst vorbeizukommen, um schnell vor dem Wochenende noch vermeintlich Wichtiges loszuwerden. Im Stillen hatte Mona am Morgen noch gehofft, dass sie heute wenigstens eine Stunde früher würde verschwinden können. Doch auch ihr „Lieblings-Chef“ hatte kein Einsehen mit ihr.
„Mona, bevor du für diese Woche endgültig verschwindest, kannst du bitte noch die Anwesenheitsliste für den kommenden Monat machen? Ich muss unbedingt wissen, wer wann frei hat, damit ich noch die Vertretungen organisieren kann. Und wer weiß, ob du nach deiner großen Party überhaupt noch arbeitsfähig bist. Ich habe da so meine Bedenken, schließlich heißt es ja nicht umsonst: je oller, desto doller“, grinste Wolfgang sie frech an. Sie hatten meist einen eher flapsigen Umgangston, was jedoch nicht hieß, dass sie nicht gegenseitig merkten, wann es auch mal ernst wurde. Sie arbeiteten schon so lange Jahre zusammen, dass sie die Grenzen des anderen gut genug kannten und auch respektierten.
„Das müsstest du doch am allerbesten wissen, wie das ist mit dem oller werden“, kam prompt die Antwort von Mona. „Du bist doch schon viel weiter auf der Lebensleiter als ich. Und habe ich dich das je spüren lassen, alter Mann?“ Mona schaute ihn gespielt vorwurfsvoll an und freute sich schon auf seine Antwort.
„Stimmt, ich bin dir ja altersmäßig schon zwei Jahre voraus. Aber mein Fünfzigster ist schon so lange her, dass ich mich daran gar nicht mehr erinnern kann“, drehte Wolfgang gut gelaunt die Plänkelei weiter.
„Keine Angst, mein lieber Wolfgang, bevor ich ins Wochenende verschwinde, mache ich nicht nur die Anwesenheitsliste, sondern auch den Veranstaltungskalender für die nächsten Ausgaben. Nebenbei erledige ich schnell noch den Honoraranstrich, damit die freien Kollegen am Monatsende auch ihr Geld bekommen. Und außerdem: ruhig Blut, Wolfgang, ich bin doch am Montag wieder da. Vielleicht bin ich dann nicht mehr so flott wie bisher. Schließlich bin ich dann fünfzig und vieles soll da bekanntlich nicht mehr ganz so reibungslos klappen, wie du sicher bestätigen wirst. Aber vielleicht habe ich dann plötzlich auch ganz andere Qualitäten, von denen wir beide jetzt noch nichts ahnen: mehr Altersweisheit zum Beispiel, um die wichtigen von den unwichtigen Arbeiten besser unterscheiden zu können“, sagte Mona lachend zu ihrem Chef.
Hatte sie sich gerade getäuscht oder hatte Wolfgang wirklich ein wenig hintergründig in sich hinein gegrinst, als sie sagte, sie wäre ja am Montag wieder im Büro? Doch bevor sie diesen Gedanken weiterverfolgen konnte, antwortete ihr Chef: „Ja, ja, Mona, wie immer einen flotten Spruch auf den Lippen. Schauen wir mal, ob du am Montag wirklich wieder hier bist oder nicht noch viel länger deinen Rausch ausschlafen musst.“ Damit war das kurze, vergnügliche Geplänkel mit Wolfgang auch schon wieder vorbei. Er hatte selbst sehr viel um die Ohren und Mona nahm ihm gern manche der organisatorischen Aufgaben ab. Lars war in den Raum gekommen und stand nun schon eine Weile hinter Wolfgang und setzte mit gespieltem Bedauern an: „Wolfgang, es tut mir leid, dich beim vergeblichen Flirten mit Mona zu stören, denn erstens ist Mona mir fest versprochen, falls sie sich je scheiden lässt und zweitens muss ich noch von dir wissen, mit was wir am Montag aufmachen sollen.“ Die beiden verschwanden vertieft in ihr Gespräch ins andere Büro.
Während das Telefon bereits wieder klingelte, sah Mona, wie die warme Frühlingssonne von draußen durch die nicht mehr wirklich sauberen Fenster in die Redaktion schien. Das ist ja fast wie bei mir zu Hause, dachte sie kurz und nahm sich ganz fest vor, ihre Fenster noch vor der Party zu putzen – wenigstens die Fenster im Erdgeschoss, wo die Gäste es sehen konnten. Das Telefon klingelte schon zum x-ten Mal, sie meldete sich wie immer und erklärte einer aufgebrachten Anruferin: „Nein, wir haben die Tippfehler nicht absichtlich in die Artikel gemacht. Aber bei einem Produkt, an dem Menschen arbeiten und das an sechs Tagen der Woche unter solch immensem Zeitdruck entsteht, wie eine Tageszeitung, kann man Fehler im Text nicht immer vermeiden.“
Nach einigen Entschuldigungen für die Schreibfehler der Kollegen legte sie den Hörer wieder auf. Puh, noch ein paar solcher „Patienten“ und sie würde zu spät zum Flughafen kommen, um Paul abzuholen. Mit einem Ohr hörte sie die Kollegin am Empfang vorne sagen: „... gleich rechts in die Redaktion, die Frau Bergheimer kann ihnen bestimmt helfen.“ Am Tonfall der Kollegin hörte sie schon, dass es zeitaufwändiger werden würde, als einfach nur einen Artikel aus einer der vergangenen Ausgaben raussuchen oder eine Vereinsmeldung an die Kollegen weitergeben. Kostbare Zeit, die ich heute eigentlich gar nicht habe, dachte Mona enttäuscht.
Es erschien eine ältere Dame, ziemlich gut gekleidet, aber auch ein wenig unsicher.
„Guten Tag, ihre Kollegin vorne hat mich hergeschickt. Ich weiß nicht, ob ich bei Ihnen richtig bin.“
Mona dachte mit einem innerlichen Seufzer verzweifelt: ich weiß es ja auch nicht, bevor du mir nicht wenigstens gesagt hast, was du überhaupt willst.
„Also, ich wollte nur mal die Telefonnummer von Fritz Glatt, dem Konzertveranstalter, haben. Und sie haben die doch bestimmt. Der wohnt doch hier im Ort“, kam es von der Besucherin.
„Warum brauchen sie seine Telefonnummer“, fragte Mona. „Wissen sie, wir geben private Telefonnummern aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht einfach so weiter.“
„Ach, wirklich nicht? Na, dann sagen sie mir doch einfach, wo er genau wohnt, dann such ich mir die Nummer selbst aus dem Telefonbuch raus.“
„Mit der Adresse ist es wie mit der Telefonnummer auch, sie unterliegt ebenfalls dem Datenschutz, daher geben wir auch keine Adressen raus. Sie möchten doch sicher auch nicht, wenn wir ihre Adresse oder Telefonnummer an irgendwelche Leute weitergeben würden“, erklärte Mona geduldig.
„Och, das wäre mir egal, vielleicht bekomme ich dann ja sogar netten Besuch“, kam prompt als Antwort.
„Na, das können aber auch Menschen sein, die ihnen Böses wollen, bei ihnen einbrechen zum Beispiel“, sagte Mona und hoffte mit dieser einleuchtenden Begründung auf das Einsehen der Besucherin.
„Na ja, egal, eigentlich dachte ich, dass mir Herr Glatt helfen könnte.“
„Worum geht’s denn, vielleicht kann ich ja helfen.“ Gleichzeitig dachte Mona: habe ich das eben wirklich gesagt? Gemeint habe ich das sicher nicht so, ich habe gerade heute so gar keine Zeit für diese Art der aufwändigen Lebensberatung. Aber das war der Besucherin natürlich egal.
„Ja, wissen sie, ich habe für mich und eine Bekannte Karten für ein Konzert mit Semino Rossi gekauft, das dann aber ausgefallen ist. Und jetzt hätte ich gern mein Geld wieder zurück.“
„Nun, dafür brauchen sie Fritz Glatt nicht. Gehen sie dahin, wo sie die Karten gekauft haben, dort gibt man ihnen das Geld wieder“, erklärte Mona erleichtert, manchmal half schon ein kleiner Rat.
„Nein, so einfach ist das nicht. Der Veranstalter ist insolvent, ich bekomme mein Geld von dem nicht wieder hat die Dame vom Ticketcenter gesagt. Immerhin geht es um einhundertachtzig Euro.“ Schade, dachte Mona, das viele Geld hätte man sicher besser anlegen können als ausgerechnet für solch ein Konzert.
„Tja, wenn der Veranstalter insolvent ist, dann ist das leider Pech. Da kann auch Fritz Glatt nichts mehr dran ändern.“
„Aber vielleicht kann er bei dem insolventen Veranstalter-Kollegen ein gutes Wort für mich einlegen. Wissen sie, ich habe nur eine kleine Rente …“, meinte die Dame sehr energisch. „Er war doch auch mal Konzertveranstalter,“ setzte sie noch trotzig nach. Ja, das ist aber gefühlte hundert Jahre her, mittlerweile ist er weit über achtzig und tingelt mit seinen Memoiren durch die Republik, meldeten sich wieder Monas innere Stimme. Sie sagte der Dame: „Nein, sicher nicht, bei insolventen Veranstaltern ist auch Fritz Glatt am Ende seiner Macht und kann leider nichts mehr ausrichten.“
„Wenn sie mir aber seine Telefonnummer geben würden, könnte ich ihn anrufen und fragen, was ich da machen kann“, insistierte die Dame sehr hartnäckig.
Ihr Blick war nun sehr starr und fordernd. Dazu gesellte sich ein mürrisches Minenspiel.
Einen kurzen Moment war Mona versucht, der Dame die Telefonnummer von Fritz Glatt zu geben, schließlich verfügte die Redaktion über eine Menge an Telefonnummern, die nicht allgemein bekannt waren und auch nicht bekannt werden sollten. Sie wäre die Dame dann schnell und elegant los und käme vielleicht noch pünktlich zum Flughafen, um Paul abzuholen. Und der alte Herr hatte bestimmt mehr Zeit, sich mit der Geschichte der Dame zu beschäftigen. Aber sie beendete diesen klitzekleinen Moment der Schwäche mit den Worten: „Wie schon gesagt, wir geben keine Telefonnummern raus ... auch keine Adressen ...“
„Aber das ist doch gemein, dass ich einhundertachtzig Euro für Semino-Rossi-Konzertkarten bezahlt habe und mein Geld jetzt nicht mehr zurückbekomme. Wissen sie, bei meiner kleinen Rente fehlt mir das Geld an allen Ecken und Enden“, erklärte die Besucherin und hoffte natürlich, dass Mona irgendwann so genervt sei, dass sie endlich die Daten von Fritz Glatt rausrücken würde. Doch Mona war mindestens so hartnäckig wie die Besucherin. Sie hatte genug Redaktionserfahrung und wusste, die Menschen einzuschätzen. Und wenn der Fall tatsächlich so lag, würde auch Fritz Glatt nichts mehr retten können. Die einhundertachtzig Euro waren einfach futsch.
„Ja, sicher, das ist gemein, aber leider Schicksal. Sie können versuchen, über einen Anwalt ihr Geld einzuklagen, aber bei einer Insolvenz, also einer Zahlungsunfähigkeit, ist das sicher nicht sehr aussichtsreich. Aber wenn sie Fritz Glatt treffen wollen, dann schauen sie doch immer mal in unserer Zeitung in den Veranstaltungskalender. Der tritt öfter hier im Taunus auf und liest aus seinen Memoiren vor – vielleicht können sie da den Kontakt mit ihm knüpfen. Es tut mir leid, aber mehr kann ich leider nicht für sie tun“, beendete Mona das Gespräch, das eigentlich schon zu viel ihrer heute so kostbaren Zeit geraubt hatte.
Abrupt wandelte sich der Gesichtsausdruck der alten Dame. „Ach, das ist ja eine gute Idee – da werde ich mal hingehen. Danke und auf Wiedersehen“, sagte sie gnädig und entschwand.
Eigentlich wollte Mona heute früh raus, aber da war wohl mal wieder der Wunsch der Vater des Gedankens. Bis alles erledigt war und sie ruhigen Gewissens ins Wochenende verschwinden konnte, gingen die Zeiger der großen Wanduhr in der Redaktion schon verdächtig in Richtung achtzehn Uhr. Sie wendete sich konzentriert den vielen Dingen zu, die sie ihrem Chef noch versprochen hatte. Als alles erledigt war, räumte sie ihren Schreibtisch auf, packte ihre Tasche zusammen, machte den Computer aus und gab der Büropalme noch genug Wasser, damit sie das Wochenende schadlos überstand. Den Autoschlüssel in der Hand verabschiedete sie sich von den Kollegen.
„Ihr Lieben, wir sehen uns morgen so ab 19 Uhr bei mir. Ich freu mich“, rief sie ihnen im Hinausgehen zu.
„Ciao, Mona, mach‘s gut, bis morgen“ schallte es aus den einzelnen Räumen zurück. Bei ihrem Chef vor dem Zimmer stoppte sie ihren flotten Schritt, schaute hinein und verkündete:
„Wolfgang, ich verschwinde jetzt. Paul kommt mit der Abendmaschine aus Kairo und ich bin sein Taxi nach Hause. Ich habe nur noch einige Kleinigkeiten liegen gelassen, die kann ich am Montag noch erledigen. Ach so, denk bitte dran, dass du morgen Abend einen wichtigen Termin hast – die Party bei mir. Wir wollen so um 19 Uhr anfangen. Und keine Ausrede gilt: Ihr beide werdet kommen.“
„Na klar, Meike ist schon ganz wild darauf, mit dir über „Fünfzig ist das neue dreißig“ zu reden. Sie hat diesen schmerzhaften Einschnitt ins Leben noch vor sich. Und sie ist für ein paar gute Ratschläge von dir sicher dankbar.“ Wolfgang sah mit seinem Zweijahres-Vorsprung das Älterwerden eher gelassen. Und auch seine Frau Meike machte nicht gerade den Eindruck, dass sie sich von einer Zahl im Pass wirklich beeindrucken ließ. Aber Mona genoss die vielen lockeren Gespräche und Frotzeleien mit Wolfgang sehr. Er war ebenso wie sie selbst sehr gut „zu Fuß unter der Nase“, wie ihre Mutter sagen würde. Er beherrschte also den witzigen Smalltalk, eine gute Pointe musste gesagt werden, da gab es kein Pardon. Dieser sehr lockere Umgangston machte das Arbeiten in der Redaktion so angenehm. Und wenn der Stress am allergrößten und die Stimmung zum Zerreißen angespannt war, dann fiel irgendeinem der Kollegen bis jetzt immer noch ein blöder Spruch ein, so dass man durch das gemeinsame Lachen wieder ein paar Stresshormone abbauen konnte. Zuweilen traf man sich auch im privaten Rahmen oder beim berüchtigten Redaktionsstammtisch. Mona fühlte sich wirklich wohl in ihrem Job und dieses Gefühl wurde auch durch die Anerkennung ihrer Arbeit durch ihren Chef und die Kollegen bestärkt.
***
Paul landete mit der Abendmaschine und Mona beeilte sich. Sie sehnte sich nach ihm. Sie schaffte es gerade noch pünktlich in die Ankunftshalle. Er kam aus Kairo, wo er zurzeit eine Großbaustelle für seinen Arbeitgeber leitete. Mit Mühe hatte er frei bekommen, um an ihrem runden Geburtstag dabei zu sein. Aber am Montag muss ich schon wieder zurückfliegen, hatte er ihr in der Mail geschrieben. Na gut, das würde diesmal halt nur ein kurzes Vergnügen werden, aber immerhin besser, als wenn er gar nicht hätte kommen können. Sie würden am Samstag eine wunderbare Party feiern und am Sonntag gemeinsam aufräumen und den Rest des Tages füreinander Zeit haben. Er hatte von Schwierigkeiten auf der Baustelle erzählt und niemand wusste zurzeit, wohin das alles führen würde.
Paul wartete bereits in der Halle auf sie, die Einreiseformalitäten waren heute ausgesprochen schnell erledigt. Sie umarmten und küssten sich voller Freude, aber auch – nach den langen Jahren ihrer Ehe – mit einer gewissen Routine.
„Ich habe lange Zeit schon davon geträumt, eine junge knackige Frau im Arm zu halten – ach, das tut so gut. Ab morgen geht das ja leider nicht mehr“, scherzte Paul auf seine unnachahmliche Art. Sie wusste, dass er sie so liebte, wie sie war. Auch das Alter und das älter werden spielte bei ihnen keine große Rolle. Natürlich war man keine zwanzig mehr, das spürte Mona vor allem nach mehreren Stunden Schweiß treibender Gartenarbeit. Aber so war halt das Leben und es ging ja allen anderen auch so. Im Kopf allerdings fühlten sie beide sich noch jung. Und hätte man Mona gefragt, wie alt sie sei, hätte sie spontan gesagt: dreißig.
„Schön, dass du da bist. Ich bin schon so gespannt. Für morgen ist eigentlich alles geklärt, Freunde und Kollegen wissen Bescheid und kommen alle so gegen 19 Uhr. Wir müssen nur noch die letzten Kleinigkeiten erledigen und die frischen Sachen einkaufen. Wie war dein Flug eigentlich?“
„Ach, ganz normal, ohne besondere Vorkommnisse“, antwortete Paul.
„Sicher hast du Hunger? Wollen wir irgendwo essen gehen und für uns ganz allein ein wenig vorfeiern? Ich hätte Lust und du?“
„Super Idee, wo willst du hin?“
„Lass uns doch zu unserem Italiener gehen. Da können wir gemütlich in unserer Ecke sitzen, essen, Rotwein trinken und uns unseres Lebens freuen. Ich habe schon mal auf Verdacht unseren Tisch reserviert“, grinste Mona ihn an.
„Sehr gern, nach dem ganzen arabischen Essen mit Hammelfleisch und undefinierbaren Beilagen wäre ein Steak von Luigi jetzt genau das Richtige für mich.“
Solche Abende zu zweit waren zwar selten geworden, aber wenn sie da waren, genossen Mona und Paul ihr Miteinander. Sie aßen gern bei Luigi, dem Italiener aus der Gegend von Neapel, tranken Rotwein und ließen es sich gut gehen. Luigi überraschte Mona gern mit seiner wunderbaren selbstgemachten Pasta mit leckeren Beilagen. Sie machte sich nicht viel aus Fleisch und Fisch aß sie überhaupt nicht. Paul hingegen brauchte ab und an ein Stück Fleisch, Luigi erfüllte seine Wünsche und so kam jeder in dem kleinen gemütlichen Lieblingslokal immer voll auf seine Kosten.
Diesmal bestellte Mona Bandnudeln mit Trüffel – sie mochte den erdigen Geschmack der schwarzen Knollen. Paul bekam ein großes medium gebratenes Steak. Er aß zwar genauso gern vegetarisch wie Mona, aber ab und an musste es für ihn eben ein Brocken Fleisch auf den Teller. Nach dem Essen tranken sie noch einen Espresso und spazierten dann nach Hause. Am Himmel prangte ein wunderschöner Vollmond.
„Den habe ich übrigens extra und ganz exklusiv nur für dich bestellt, Mona“, sagte Paul und beide schauten zufrieden in den Abendhimmel.
„Danke, du bist so lieb zu mir. Du scheust wirklich weder Mühen noch Kosten, und das alles nur um mir zu gefallen“, gab sie zurück. Es hörte sich nach einer Mischung aus Ernst und Scherz an.
Zu Hause angekommen, setzten sie sich noch vor den Fernseher und schauten die Spätnachrichten. Dann gingen sie ins Bett. Froh, dass er mal wieder im Lande war, kuschelte sich Mona ganz nah an ihn und schlief mit seinem vertrauten Geruch in der Nase selig ein.
***
Endlich war er da, ihr „großer Tag.“ Mona schlüpfte schon in aller Frühe aus dem Bett und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Ihr Mann schlief noch den Schlaf des Gerechten. Er war doch sehr erschöpft, seine Arbeit ließ ihm wenig Freizeit. Und Freizeit in Ägypten war auch nicht wirklich prickelnd, er saß oft nur in der Hotellobby und erledigte den Schriftkram, der mit der Baustellenleitung verbunden war. Nur im Ausnahmefall las er oder surfte im Internet. Paul brauchte daher sicher noch ein Mützchen voll Schlaf und sie gönnte ihm das von Herzen, es würde heute sicher ein langer Abend werden. Das Projekt in Ägypten schien einige Probleme zu machen, wie sie gestern Abend in den Gesprächen erfahren hatte. Er tat ihr manchmal ein wenig leid, hatte er es auf seinen Baustellen doch meist mit vielen ungelernten Hilfskräften zu tun. Und das, wo Paul das Musterbeispiel des fleißigen Deutschen verkörperte. Doch durch seine freundliche und verbindliche Art, mit allen Mitarbeitern umzugehen, schaffte er es, dass sie ihn respektierten und dann ihrerseits auch mal mehr leisteten, als üblich war. So erschien er immer morgens der erster auf der Baustelle und abends machte er häufig als letzter das Licht aus.
Noch etwas verschlafen ging Mona in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an. Der Kompressor machte ordentlich Lärm, hoffentlich wacht Paul nicht durch diese martialischen Geräusche auf, dachte Mona. Ihre Gedanken waren beim Ablauf des heutigen Tages, alles war geplant oder schon vorbereitet – sie musste nur noch die paar letzten Kleinigkeiten erledigen, die nicht vorzubereiten waren. Sie war sich sicher, dass es ein rundherum schöner Tag werden würde. Der Kaffee verströmte seinen köstlichen Duft in der Küche. Sie nahm ihren Lieblings-Kaffeebecher – der mit den zwei verliebten Schäfchen drauf – von der Maschine, ging durchs geräumige Wohnzimmer zur Terrassentür, öffnete sie und setzte sich auf einen der Gartenstühle. Sie blinzelte in die aufgehende Sonne. Mona liebte diese besondere Stimmung am Morgen, wenn der Tag erwachte, die Sonne über den bewaldeten Hügeln aufging und die Vögel ihr munteres Morgenkonzert anstimmten. Da konnte die sonst eher pragmatische Mona richtig sentimental werden.
Sie horchte in sich hinein. So fühlte sich das also an. Jetzt war sie fünfzig Jahre alt. Ihre Gedanken machten sich selbstständig und liefen wie ein Kinofilm einfach vor sich hin. Ihr Leben war wohl geordnet, ihre beiden Töchter waren gut geraten und auf der Schiene. Mona und Paul hatten in den letzten Jahren bei den vielen Gesprächen über die Zukunft der Kinder ein Bild dafür entwickelt und dieses Bild auch an ihre Töchter weitergegeben. Als Eltern fühlten sie ihre Verantwortung, die beiden Mädchen „auf die Gleise“ zu setzen und so lange anzuschieben, bis sie aus dem Bahnhof raus waren und ihren Weg allein finden mussten. Welche Wendung ihr Leben dann durch die Weichenstellungen ihrer jeweiligen Entscheidungen nehmen würde, das lag nicht mehr in der Hand der Eltern. Aber den Anfang – also das richtige Gleis und damit die Grundlagen fürs Leben und der Schubser raus aus dem Bahnhof, dafür trugen sie als Eltern schon die Verantwortung. Und natürlich standen sie, solange es ging, jederzeit als „Streckenposten“ immer noch parat.
Mona nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse und erinnerte sich an die Zeit, als die Mädchen noch klein waren. Lena, die ältere der beiden, war eher verschlossen und zurückhaltend. Alexandra hingegen war ein richtiger Wirbelwind. Immer vorneweg, schon im Sandkasten hatte sie das Sagen und Lena, obwohl ein Jahr älter, folgte ihrer jüngeren Schwester und schaute sich bei ihr so manches ab. Später, während der Schulzeit, kam Alex aus der Schule heim, feuerte den Ranzen einfach in den Flur und erzählte dabei ohne Punkt und Komma, was den Tag über in der Schule so gelaufen war. Bei Lena musste Mona warten, bis sie von sich aus was erzählte. Oder die richtigen Fragen stellen. Lena kam leichter ins Reden, wenn sie mit ihrer Mutter draußen in der Natur unterwegs war. Während Alexandra jeden Nachmittag mit einer anderen Freundin unterwegs war, blieb Lena lieber zu Hause. Mona und ihre Tochter stromerten oft ausgiebig gemeinsam durch die Wälder des Taunus und redeten dabei über Gott und die Welt. Mona liebte ihre Töchter ohne jede Einschränkung und hatte zu beiden Mädchen einen sehr guten Draht, trotz aller Unterschiede. Sie hätte nicht sagen können, welche denn wohl ihre Lieblingstochter war. Aber diese Frage war sowieso nur theoretischer Natur.
Heute war Alexandra drauf und dran, sich in Australien niederzulassen. Sie war vor einiger Zeit mit einem „Work and Travel“-Ticket ans andere Ende der Welt gegangen und hatte sich dann schnell in das Land und auch in Dylan verliebt. Die beiden lebten jetzt in Perth, Dylan studierte Jura und Alexandra Tourismus-Marketing.
Plötzlich wurden ihre Gedanken unterbrochen, Paul stand – eine Hand hinter seinem Rücken verbergend – mit verstrubbelten Haaren und noch etwas verschlafen in der Terrassentür und begrüßte sie.
„Guten Morgen, mein Schatz, ich wünsch dir alles Gute zu deinem Geburtstag.“
„Hallo Liebling, schön dass du endlich auch wach bist. Hast du gut geschlafen in unserem Bett? Oder vermisst du das unbequeme Hotelbett in Ägypten?“ Mona stellte die Tasse, die sie die ganze Zeit fest mit beiden Händen umschlungen gehalten hatte, auf dem Terrassentisch ab, stand auf und lachte ihn an. Er nahm sie in seinen freien Arm und küsste ihr Lachen weg.
Paul war immer freundlich, er hatte selten Launen, er wurde morgens wach, stand auf und war sofort da. Eigentlich beneidenswert, dachte Mona, hatte sie selbst doch manchmal Probleme, morgens aus dem Bett zu kommen. Gerade im Winter, wenn es noch dunkel war, brauchte sie einfach ihre Zeit, um in Schwung zu kommen.
Er grinste und hielt ihr die Hand hin, die er bis jetzt hinter dem Rücken verborgen hatte. Darin lag ein kleines grünes samtenes Kästchen.
Ohne auf ihre Frage weiter einzugehen, erklärte er: „Ich habe hier schon mal eine Kleinigkeit für dich. Dein richtiges Geschenk bekommst du nämlich erst heute Abend. So lange muss deine Neugier leider noch warten.“
„Pah, da hast du dich aber geschnitten, wenn du meinst, dass du mich bei meiner Neugier packen kannst. Ich werde ohne Probleme bis heute Abend nicht mehr an das richtige Geschenk von dir denken, denn ich habe gar keine Zeit dafür, ich hab noch so viel zu erledigen. Kannst du mir einen Teil der Arbeiten abnehmen, bitte?“ fragte Mona, während sie neugierig das kleine Schmuckkästchen öffnete.
Darin war eine Silberkette mit einem keltisch aussehenden Anhänger.
„Weißt du, mein Schatz, das ist ein Motiv aus dem Kreuz des heiligen Brendan. Er ist der Navigator in der irischen Mythologie. Der Legende nach hat er sich vor weit über tausend Jahren mit einer Nussschale von Boot und elf Gefährten auf eine Seereise begeben, um das Paradies zu finden. Ich dachte mir, das hat irgendwie mit deiner irischen Vergangenheit zu tun und es schadet auch sicher nicht, einen erfahrenen Navigator auf der Suche nach dem Paradies bei sich zu haben.“
Paul schaute Mona während seiner Rede durchdringend an. Er war sich nicht ganz sicher, ob der erste Teil seines Geschenks gut bei ihr ankam. Denn er hatte noch eine weitere Überraschung für sie in petto, doch die sollte es erst heute Abend geben. Er musste an sich halten, ihr nicht jetzt schon mehr zu verraten.
Mona bekam einen verträumten und sehr weichen Gesichtsausdruck. Sie betrachtete den matt glänzenden silbernen Anhänger.
Vier Fische, es mochten Delfine oder Wale sein, waren verschlungen angeordnet, so dass sie eine Art Kreuz bildeten. Gerade auf dem dunkelgrünen Samt der Schachtel wirkte der Anhänger sehr edel und voller Bedeutung.
Ganz kurz tauchten einige wunderschöne Erinnerungen an ihr Studienjahr in Irland und an den Namen Brendan im Bewusstsein auf. Diese Gedanken zauberten ihr jenen verträumten Ausdruck aufs Gesicht.
Diese Erinnerungsreise dauerte nur kurz, denn ihr wurde bewusst, dass diese Gedanken wirklich ziemlich unpassend waren. Also wurden sie flugs wieder in den Untiefen ihrer Erinnerung in das entsprechende Kästchen gepackt. Ganz fest verschlossen verschwand es an seinem Platz ganz hinten in den Erinnerungen.
Sie schaute Paul mit großen Augen an.
„Oh, danke, das ist ja lieb von dir. Ich freue mich riesig – aber wieso gerade einen keltischen Anhänger?“ wunderte sich Mona.
Normalerweise brachte er ihr gern kleine Geschenke aus den Ländern mit, in denen er gerade arbeitete.
„Das ist doch erst Teil eins meiner Überraschung – warte es nur ab, mein ungeduldiges altes Mädchen“, antwortete er geheimnisvoll.
„Kannst du mir bitte schnell helfen, diese wunderschöne Kette umzulegen? Das ist lieb von dir, mein Schatz, danke“, sagte Mona, als Paul mit geschickten Fingern die beiden Verschlussteile an Monas Nacken miteinander verband.
Während sie ihre Haare zur Seite hielt, dachte Mona neugierig: Was plant er noch? Ach, was soll’s, ich kann jetzt sowieso nicht darüber nachdenken, ich muss mich wirklich sputen, sonst bin ich locker einundfünfzig, bis ich mit den Vorbereitungen für heute Abend fertig bin.
„So, fertig, die Kette ist zu“, meldete Paul. Mona ging zum Spiegel im Flur, um die Kette an ihrem Hals anzuschauen.
„Sie ist wunderschön, Liebling, danke“, strahlte sie ihn an. Er war ihr gefolgt, legte von hinten seine Arme um sie und flüsterte bedeutungsvoll: „Und das ist erst der Anfang.“
Er war selbst gespannt wie ein Flitzebogen, wie Mona reagieren würde, wenn er ihr heute Abend das eigentliche Geschenk präsentieren würde.
Mona hingegen wusste, er würde dichthalten und nichts sagen, auch nicht die kleinste Andeutung würde über seine Lippen kommen. Es war also vollkommen zwecklos, sich Gedanken darüber zu machen. Heute Abend würde sie es ohnehin erfahren.
Sie schaute auf ihre Uhr und erschrak.
„Mein Gott, schon so spät!“
Es war Zeit, endlich den Tag zu beginnen. Die Frikadellen machten sich nicht von allein und Haus und Terrasse mussten für das große Fest noch endgültig auf Vordermann gebracht werden.
„So, jetzt ist aber Schluss mit den ganzen Höflichkeiten. Sag mir, was ich tun kann, und ich mach‘s“, löste Paul diesen vertrauten und innigen Moment auf.
„Prima, wir setzen uns kurz auf die Terrasse und genießen schnell noch ein paar Momente in der Morgensonne. Dabei machen wir den Schlachtplan für heute.“
Sie suchte ihre Liste, wie so oft in den letzten Tagen. „Oh Gott, ohne diese verdammte Liste bin ich total aufgeschmissen“, fluchte sie halblaut vor sich hin. „Paul, sag mal, hast du meine Liste gesehen?“ Dabei schaute sie ihn verzweifelt an.
„Wenn du das zerfledderte Stück Altpapier meinst, auf dem schon so viel durchgestrichen ist, dann weiß ich, wo es ist. Hier!“
Triumphierend schwenkte er dabei ein abgegriffenes Blatt Papier in der Luft.
„Gott sei Dank, da ist sie. Ich hatte schon befürchtet, dass sie wirklich im Altpapier gelandet ist.“ Erleichtert gingen sie zum Terrassentisch und setzten sich.
Paul bot sich an, im Ort noch die vielen Kleinigkeiten zu besorgen, so dass Mona das Haus auf Vordermann bringen und im Garten die Party vorbereiten konnte. Der Tag würde perfekt werden, Paul hatte sein Versprechen eingelöst und einen wunderbaren warmen Sonnentag gezaubert. Den Rasen hatte Mona vorgestern nach Dienstschluss noch schnell gemäht, der sah also einigermaßen manierlich aus. Auch die Blumenbeete waren mehr oder weniger unkrautfrei – dank der Hilfe ihrer besten Freundin Eva am vergangenen Wochenende und die Fenster hatte Mona gestern auch noch geputzt. Jetzt mussten noch die Gartenmöbel gestellt und gerückt werden, Tischdecken verteilt und Lampions aufgehängt werden.
Zwei Stunden später kam Paul bepackt von der Einkaufstour zurück und lud den ganzen Kram, der in unzähligen Tüten verpackt war, einfach in der Küche ab. Mona schnappte sich gleich das Hackfleisch. Gott sei Dank hatte sie eine riesige Salatschüssel, so dass sie das Fleisch in einer Etappe würzen und mischen konnte. Das Braten der Frikadellen würde noch lange genug dauern. Aber sie lag gut in der Zeit und war einigermaßen entspannt. Sie formte schnell aus dem frischen Bio-Hackfleisch kleine Klopse und fing an, die Dinger anzubraten, die letzte Bräune sollten sie dann abends auf dem Grill bekommen.
Als sie am Herd stand, um die Hackbällchen zu wenden, beschlich sie plötzlich ein komisches Gefühl. Sie wunderte sich. Wurde sie etwa nervös? Das kann doch gar nicht sein, ich erwartete nur einige Freunde, meine liebsten Kollegen und ein paar nette Nachbarn zu meiner Geburtstagsparty – da brauche ich doch nicht nervös zu werden, schalt sie sich in Gedanken. Aber wie sollte sie das irritierende Gefühl sonst deuten, das sie seit dem Mittag beschlich? Dieses undefinierbare Kribbeln in der Magengegend, gerade so wie vor unangenehmen Terminen. Normalerweise hatte Mona solche Gefühle nicht, sie stellte sich den Dingen dann, wenn sie auf sie zukamen. Paul kam herein und unterbrach ihren Gedankenfluss.
„Schatz, ich habe jetzt alles, was auf meiner Liste stand, brav abgearbeitet. Kann ich jetzt endlich duschen gehen oder ist noch was zu erledigen?“
„Oh ja, bitte, sei doch so gut und stell auf der Terrasse noch den schweren Kübel mit dem Olivenbaum an die Seite. Der mag es nicht sonderlich, wenn er neben dem heißen Grill steht und stört außerdem dort nur, wenn so viele Leute kommen.“
Paul trabte los und tat, wie ihm geheißen. Zurück im Haus nahm er schwungvoll die Treppe nach oben mit zwei Stufen auf einmal und rief dann noch herunter:
„Ach ja, Mona-Liebling, denk dran: Ich habe noch ein As im Ärmel, deine Überraschung. Du hast bis jetzt sehr gut durchgehalten, mich gar nicht mit soooo vielen Fragen danach genervt, sondern deine Neugier brav gezügelt.“ Irgendwie klang er fast etwas enttäuscht.
Es klingelte an der Haustür. „Das wird der Partyservice sein. Machst du bitte auf, ich habe Hackfleisch an den Fingern,“ rief Mona aus der Küche.
Paul lief also die Treppe wieder runter und öffnete die Haustür.
„Schatz, wo sollen die Sachen denn hingestellt werden?“, fragte Paul. Hinter ihm standen zwei junge Männer, jeder schon mit Häppchen-Platten in den Händen.
„Hm, ich dachte, die Platten und die Salate erst mal in den Keller stellen, da ist es am kühlsten. Und im Kühlschrank habe ich Platz gelassen für das Grillgut. Teller und Besteck bitte auch in die Küche stellen. Wir räumen das dann später alles auf die Tische“, rief Mona aus der Küche.
„Ok, so machen wir es, Liebling.“
Als auch der Partyservice wieder abgezogen war, verschwand Paul endlich in der Dusche. Sie hörte, wie er sein Lieblingslied sang, also eher schmetterte. „An Tagen wie diesen.“
„Wenn Paul den Song von den Toten Hosen singt, dann scheint er ja bester Laune zu sein“, dachte Mona und lächelte. Sie dachte daran, wie sie früher – als sie noch kinderlos waren – mal auf einem Konzert der damals ziemlich verrückten Toten Hosen gewesen waren. Mittlerweile waren Campino und seine Kumpane zusammen mit Paul und Mona gealtert. Ihre Musik war heute natürlich noch sehr gut, aber bei denen merkte man, dass sie älter und vielleicht auch etwas weiser geworden waren. Sie hörte, wie er ziemlich laut die eine Strophe sang, die ihnen beiden so viel bedeutete:
„An Tagen wie diesen, wünscht man sich Unendlichkeit.An Tagen wie diesen, haben wir noch ewig Zeit, In dieser Nacht der Nächte, die uns so viel verspricht, erleben wir das Beste, kein Ende ist in Sicht. Erleben wir das Beste, und kein Ende ist in Sicht. Kein Ende in Sicht.“
Ja, sie hatten sich und das war das Beste, was sie sich vorstellen konnten. Und sie sahen für ihre Beziehung tatsächlich kein Ende. Mona wunderte sich manches Mal über Bekannte, die sich vor der Rente fürchteten, vor der Zeit, in der sie mit ihrem Partner vierundzwanzig Stunden am Tag wieder zusammen sein würden. Einige bastelten schon an regelrechten Fluchtplänen, um sich irgendwie aus dem Weg gehen zu können. Mona hingegen freute sich auf die Zeit, wenn sie ihren Paul ganz für sich hatte. Sie würden die gemeinsame Zeit genießen, viel unternehmen und es sich schön machen. Und Paul fühlte genauso wie sie, sie hatten schon viele Male darüber gesprochen, wie sie ihren gemeinsamen Lebensabend verbringen wollten. So jedenfalls war der Plan.
Als die Frikadellen fertig waren, räumte Mona noch das Schlachtfeld in der Küche auf und ging dann nach oben ins Schlafzimmer. Sie wollte ebenfalls duschen, um vor allem den penetranten Bratengeruch aus den Haaren zu bekommen. Zudem wollte sie sich für ihre Party etwas zurecht machen. Sie stand gerade vor dem Kleiderschrank, um die Sachen rauszuholen, die sie heute Abend anziehen wollte, als das Festnetz-Telefon klingelte.
„Ach, sicher ist das meine Mutter, die mir zum Geburtstag gratulieren will, sie kann sich einfach nicht an meine Mobilnummer gewöhnen“, dachte sie mit einem Lächeln. Sie nahm das Mobilteil aus der Ladeschale, klickte das Symbol mit dem grünen Hörer an und meldete sich.
„Hallo, hier ist Mona Bergheimer.“
Am anderen Ende der Leitung war zunächst Stille. Dann hörte sie neben einem leisen Rauschen der Telefonleitung aus der Tiefe ihrer Vergangenheit eine Stimme, die ihr nur allzu vertraut war.
„Hallo Mona. Hier ist Brendan. Erinnerst du dich noch an mich? Brendan aus Irland.“
Ihr wurde auf einmal heiß und kalt. Schlagartig war alles wieder da. Die Schublade in ihrem Herzen, die sie so viele Jahre einbruchsicher verschlossen gehalten hatte, sprang unvermittelt auf. Und es ergossen sich wie in einem Strom die viel zu lange darin sorgsam versteckten Erinnerungen und Gefühle, von denen sie eigentlich gedacht hatte, dass sie dort für immer fest verschlossen waren. Doch plötzlich war alles wieder präsent. Schweißperlen bildeten sich auf Monas Stirn, ein leichtes Zittern ging durch ihren Körper.
Das wunderschöne Auslandsjahr, welches sie Ende der 1990er Jahre während ihres Studiums in Irland verbracht hatte. Und ihre Liebe zu Brendan, dem Farmerssohn aus Hollywood in West Wicklow, der an der Uni Zahnmedizin studierte. Sie musste schlucken, ihr Mund war plötzlich ganz trocken, die Zunge klebte förmlich am Gaumen. Die Bilder liefen wie im Zeitraffer vor ihrem geistigen Auge ab, im Bruchteil einer Sekunde. Mona war sprachlos und das passierte ihr nicht sehr oft. Sie fühlte sich plötzlich völlig hilflos und überfordert.
„Mona? Bist du noch dran? Ich wollte dir nur zu deinem runden Geburtstag gratulieren“, unterbrach Brendans sonore Bassstimme ihre rasenden und wild durcheinander wirbelnden Gedanken. Er klang immer noch wie der junge Brendan von damals. Vielleicht ein wenig unsicher, aber auf keinen Fall wie ein alter Mann. Doch obwohl Brendan in ihrer Erinnerung natürlich keinen Tag älter geworden war, musste er in der Realität gewiss auch älter geworden sein. Er zählte zwei Lenze mehr als sie und war somit jetzt schon zweiundfünfzig Jahre alt. Sie sank auf das Bett und suchte nach Worten.
„So sorry, ja, ja Brendan, ich bin noch dran. Ich bin aber echt überrascht, dich zu hören. Danke für die Glückwünsche. Wie lieb von dir. Wie geht’s dir? Was machst du? Wo bist du? Und woher hast du meine Telefonnummer?“, sprudelte es aus Mona heraus.
Sie wollte ihn jetzt bloß nicht ihre plötzliche Nervosität und Verzagtheit spüren lassen. Sie hoffte insgeheim, dass ihr das auch gelingen möge. Irgendwo in ihrem Inneren wunderte sie sich, dass sie auf einmal wieder ganz flüssig englisch reden konnte. Auch das war wohl zeitgleich mit den Erinnerungen an Brendan und Irland aus irgendeinem der vielen vergessen geglaubten Hirnkästchen wieder hervorgekramt worden.
„Deine Stimme klingt noch wie damals… Danke, mir geht’s ganz gut. Die Nummer habe ich von der Auskunft. Nachdem wir uns getrennt haben, hast du mir in einem deiner letzten Briefe noch von Paul geschrieben und dass du ihn heiraten würdest. Na ja, ich habe ein wenig gegoogelt und der Rest war nicht schwer. Aber eigentlich will ich wissen, wie es dir geht. Du hast heute einen runden Geburtstag und musst mir erzählen, wie es dir ergangen ist und wie du dich fühlst. Was hast du all die Jahre gemacht? Hast du Kinder, also, was ist in deinem Leben die letzten Jahre passiert.“ „Mona?“ Allein schon, wie er ihren Namen sagte, verwirrte Mona im Moment mehr, als sie sich einzugestehen wagte.
Oh Gott, da waren sie wieder, diese starken Gefühle für ihn, diese Ströme von Glück, die sie damals immer durchflossen, wenn sie seine Stimme hörte. Früher hatte es schon gereicht, ihre Sinne zum Tanzen zu bringen, wenn sie seinen persönlichen Geruch wahrnahm. Hatte sie bis jetzt geglaubt, die Geschehnisse von damals bestens verarbeitet und somit auch vergessen zu haben, zeigten ihr Körper und auch ihre Seele ihr gerade überstark und in aller emotionalen Brutalität, dass da bis jetzt rein gar nichts verarbeitet war. Alle Systeme schienen wieder auf „Anfang“ zu springen – alles fühlte sich jetzt wieder wie damals bei der jungen Mona an. Die Glücksströme, das Kribbeln auf der Haut und diese unbändige Lust auf das Leben – und auf Brendan, ihre große Liebe.
„Danke, mir geht’s ausgezeichnet.“ Sie versuchte ihrer Stimme eine gewisse Festigkeit und Teilnahmslosigkeit zu geben, sie war sich allerdings nicht sicher, ob es ihr auch gelang. Mein Herz schlägt so laut, dass er es auch bequem ohne Telefon in Irland hören kann, dachte sie hilflos. Und dann weiter: Ruhe, Mona, alles ist gut. Nur keine Panik. Beherrsche dich, aufregen kannst du dich nachher, wenn die Verbindung beendet ist. Laut sagte sie in den Hörer: „Danke der Nachfrage. Ich bin immer noch glücklich mit Paul verheiratet und wir haben zwei inzwischen erwachsene Töchter, Lena und Alexandra. Alexandra studiert Marketing in Australien, Lena studiert BWL in Hamburg. Sorry, Brendan, aber im Moment stecke ich mitten in den Vorbereitungen für meine Party heute Abend. Gleich kommen die Gäste. Ich will wirklich nicht unhöflich sein, aber ich habe gerade so gar keine Zeit für ein Schwätzchen über die letzten Jahrzehnte. Im Ofen brutzelt das Essen und ich bin noch im Küchenoutfit...“. Mona fand, dass sie im Moment ziemlich überzeugend die Gelassene gab. Tatsächlich war mit den letzten Sätzen wieder etwas mehr Sicherheit bei ihr eingekehrt. Als Brendan nichts sagte, fuhr sie einfach fort: „Und so will ich meine Gäste nicht empfangen. Weißt du was, du gibst mir deine Kontaktdaten und ich melde mich bei dir – ganz bestimmt. Versprochen. Gleich morgen. Du hast mich ziemlich neugierig gemacht, zu erfahren, wie es dir in den letzten Jahren so ergangen ist.“ Sie atmete schwer.
„Ok, Mona, das verstehe ich. Hast du was zu schreiben?“ Er sagte seine Telefonnummer und die E-Mail-Adresse. Mona schrieb mit leicht zitternden Fingern mit und hielt den verräterischen Zettel noch in der Hand, als sie das Mobilteil wieder in die Ladestation steckte. Langsam ließ das Rauschen in ihr nach, sie nahm wieder ihre Umwelt wahr. Paul rumorte immer noch im Bad. Sie erschrak bei dem Gedanken an ihn. Himmel, Paul, den hatte sie in den letzten Minuten völlig aus ihren Gedanken gestrichen. Sie überlegte kurz, ob sie ihm von dem Anruf erzählen sollte. Doch sie konnte ihm nicht von dieser Überraschung erzählen. Sie wollte noch nichts sagen. Oder vielleicht sogar nie.
Immer noch völlig durcheinander steckte sie den Zettel mit Brendans Daten schnell in das Buch auf ihrem Nachttisch. Mona musste trotz allen Aufgewühltseins flüchtig grinsen, als sie den Buchtitel realisierte: „Das Geheimnis.“
Sie saß auf ihrem Bett und zitterte am ganzen Körper. Auf einmal wurde ihr schlagartig klar, woher dieses komische Gefühl kam, das sie heute schon den ganzen Tag über begleitet hatte. War das eine Vorahnung gewesen? Aber woher wusste ihr Körper oder vielleicht sogar ihre Seele schon so lange im Voraus, dass Brendan anrufen würde? Sie würde das nie verstehen. Sie wusste nur eins: Sie brauchte jetzt Zeit, um sich wieder zu sammeln. Brendan. Sein Name hallte in ihrem Herzen wider. Immer wieder, im gleichen Rhythmus ihres Herzschlags rief es Bren-dan, Bren-dan.
Paul kam noch feucht und mit verstrubbelten Haaren aus der Dusche. Er ging wie immer im Schlafzimmer hin und her und suchte sich die Sachen zusammen, die er anziehen wollte. Mona saß noch eine Weile auf dem Bett und konnte sich innerlich kaum zur Ordnung rufen.
„Ist was mit dir? Du bist so still? Hast du den fünfziger Blues? Schatz, sei nicht so traurig, aber wir alle werden älter“, versuchte Paul, sie aufzumuntern.
Mona konnte Paul nicht erzählen, was gerade mit ihr passiert war. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, ihre Fassung wenigstens so weit wieder zu erlangen, um den heutigen Abend zu durchstehen. Es war schließlich ihre Party, ihr Geburtstag und alle erwarteten eine wie immer gut gelaunte und fröhliche Mona. Morgen, redete sie sich selbst gut zu, morgen würde sie darüber nachdenken, was gerade mit ihr passiert war. Warum die Gefühle mit ihr so rasant Achterbahn fuhren. Und das ganz sicher nicht, weil Paul halbnackt vor ihr im Schlafzimmer stand und sie seinen immer noch gut gebauten, muskulösen und schlanken Körper betrachten konnte. Wenn sie Paul ansah, durchströmte sie sehr viel Wärme, ein Gefühl der Sicherheit und der Liebe. Oder war es am Ende nur Freundschaft? Mona war sich im Moment gar nicht mehr sicher über ihre Gefühle. Aber wenn sie an ihre große Liebe Brendan dachte, an den jungen Brendan von früher, dann flutete das pure Glück nur so durch ihren ganzen Körper und brachte sie völlig durcheinander.
„Und weißt du was“, redete Paul einfach weiter, als Mona nichts sagte, „gemessen an Joopie Heesters, der ja immerhin einhundertacht Jahre alt geworden ist, bist du doch noch gar nicht soooo alt. Da hast du sogar noch nicht mal die Hälfte geschafft.“
Mona war im Moment dankbar für Pauls ziemlich flache Scherze. Das gab ihr die Möglichkeit, sich wieder einigermaßen zu fangen.
„Oh danke, du bist wie immer sehr reizend. Ja, du hast Recht, ich bin doch etwas nachdenklicher wegen der fünf vorneweg, als ich mir vorgestellt habe. Aber warte nur, wenn erst Eva und Lars und die anderen kommen, ist dieses Gefühl sicher wie weggeblasen. Ich springe jetzt auch noch rasch unter die Dusche – äh, ach nein, ich bin ja jetzt fünfzig. Also, ich schleiche jetzt gemessenen Schrittes ins Bad und unter die Brause und spüle den Bratgeruch von mir ab.“