Mond über der Eifel - Jacques Berndorf - E-Book

Mond über der Eifel E-Book

Jacques Berndorf

4,6

Beschreibung

Einen solchen Mord hat die Eifel noch nicht gesehen: Jakob Stern, 43 Jahre alt - Heiler, Schamane, Feingeist und ansonsten ohne Beruf, wird in der Nähe seines abgelegenen Gehöfts aufgefunden. Mausetot, auf den dicken Ästen einer sogenannten heiligen Eiche. Kein Mensch kann sich erklären, wieso er ausgerechnet dort oben festgebunden wurde. Die Suche nach dem Täter gestaltet sich für Siggi Baumeister außerordentlich schwierig. Er lebt gewissermaßen im Auto zwischen der Vulkaneifel und dem Nationalpark Eifel. Kischkewitz, der Leiter der Mordkommission, fürchtet bereits, dass er diesen Fall unerledigt mit in Rente nehmen wird. Dabei bieten sich den Ermittlern pausenlos Zeugen an, die glauben, durch ihren Kontakt zu allerlei Engeln, Geistwesen, Sehern, Channeling-Spezialisten und sonstigen Spiritisten herausfinden zu können, wie denn der allseits beliebte Jakob zu Tode gekommen ist. Zum Glück hält Baumeister in diesem wirren esoterischen Wust seine fünf Sinne beisammen. Und so schält er zusammen mit Rodenstock und Emma langsam die ertsen greifbaren Motive heraus: Habgier, Neid und Hass.

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Jacques BerndorfMond über der Eifel

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Mords-Eifel (Hg.)Der letzte AgentRequiem für einen HenkerDer BärTatort Eifel (Hg.)Mond über der EifelDer Monat vor dem MordTatort Eifel 2 (Hg.)Die Nürburg-PapiereDie Eifel-ConnectionEifel-Bullen

Jacques Berndorf ist das Pseudonym des 1936 in Duisburg geborenen Journalisten, Sachbuch- und Romanautors Michael Preute.

Sein erster Eifel-Krimi, Eifel-Blues, erschien 1989. In den Folgejahren entwickelte sich daraus eine deutschlandweit überaus populäre Romanserie mit Berndorfs Hauptfigur, dem Journalisten Siggi Baumeister. Dessen bislang jüngster Fall, Die Eifel-Connection, erschien 2011 als Originalausgabe bei KBV.

Berndorf setzte mit seinen Romanen nicht nur die Eifel auf die bundesweite Krimi-Landkarte, er avancierte auch zum erfolgreichsten deutschen Kriminalschriftsteller mit mehrfacher Millionen-Auflage. Sein Roman Eifel-Schnee wurde im Jahr 2000 für das ZDF verfilmt. Drei Jahre später erhielt er vom »Syndikat«, der Vereinigung deutschsprachiger Krimi-Autoren, den »Ehren-Glauser« für sein Lebenswerk.

Jacques Berndorf

Mond über der Eifel

1. Auflage August 20082. Auflage September 20083. Auflage Oktober 20084. Auflage November 20085. Auflage Dezember 20086. Auflage Februar 20097. Auflage Oktober 20118. Auflage April 20129. Auflage November 2012

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlagillustration: Ralf KrampRedaktion: Volker Maria Neumann, KölnPrint-ISBN 978-3-940077-22-6E-Book-ISBN 978-3-95441-003-3

Für meine Frau Geli,für meinen Freund Helmut Chippy Schäfer,für Lars Nawrot – willkommen im Wilden Westen!

»Sie saß völlig ruhig da, die Hände auf dem Tisch gefaltet, und blickte ins Leere. Leichte rötliche Flecken brannten auf ihren Wangen. Ihre Augen blickten abwesend und bitter. Ich hatte den Eindruck, dass sie Mr. Chris Lavery nicht in besonders angenehmer Erinnerung hatte.«

Die Tote im See, Raymond ChandlerNew York, 1943

1. Kapitel

Es war das Jahr, in dem der Muttertag auf den Pfingstsonntag fiel, der Eifelhimmel unglaublich blau und vollkommen wolkenlos war und die Temperatur bei zwanzig Grad lag. So etwas macht mich immer misstrauisch, weil ich dann an Starkregen denke und an die Möglichkeit, dass mein Auto auf dem Hof plötzlich bis an die Lenksäule in braunem, schlammigem Wasser steht – alles schon vorgekommen. Maria hatte sich seit Tagen nicht mehr gemeldet, und von Emma und Rodenstock wusste ich nicht genau, ob sie noch lebten.

Tante Anni hatte mich mit der ungeheuerlichen Nachricht völlig verdattert, dass sie als dreiundachtzigjährige bekennende Lesbe nun endlich ihren ersten Mann ausprobieren wollte. Ihre Wahl war auf Hermann, einen verwitweten Landwirt aus Bongard gefallen, mit dessen Trecker, einem Porsche Junior, Baujahr 57, zwölf PS, sie vor zwei Wochen plötzlich auf meinem Hof angeknattert kam. Zwei Wochen währte das goldene Glück nun schon, und jetzt wendete ich bereits eine Urlaubskarte vom Gardasee in meinen Händen. Was sollte man bloß davon halten?

Mein Kater Satchmo war aus irgendeinem Grund tödlich beleidigt und lümmelte sich im hohen Gras am Teich. Ab und zu linste er zu mir herüber, aber ich reagierte gar nicht, weil ich zu den Tieren gehöre, die sich die Erde untertan machten, und auf eine blöde Eifeler Scheunenkatze musste ich nicht reagieren.

Ja, gut, ich war knötterig, aber was willst du machen, wenn sich alles gegen dich verschworen hat?

Dann klingelte das Telefon, aber ich wollte nicht rangehen. Satchmos Kopf zuckte hoch, aber er wollte offensichtlich auch nicht. Und so schwiegen wir beide vor uns hin. Da ich den Auftrag hatte, einen Text zum Nationalpark Eifel zu verfassen, überlegte ich kurz, ob ich damit jetzt beginnen sollte, aber es war elf Uhr, und ein Arbeitsbeginn zwischen dem späten Frühstück und der Mittagsruhe erschien mir unangebracht.

Der Anrufbeantworter sprang an, aus dem Lautsprecher ertönte Rodenstocks Stimme und eröffnete überaus trocken: »Es gibt Arbeit. Eine besonders fiese Geschichte, Baumeister. Eine von den Geschichten, die man eigentlich nicht glauben will.« Ich griff mit einem tiefen Seufzer nach dem Hörer, brummte: »Dann erzähl sie mir«, und damit begann die Sache mit Jamie-Lee.

Nur ein paar Augenblicke später war Maria am Telefon, um zu fragen, ob sie denn eine Audienz bei mir beantragen könne. Ein Anruf, auf den ich eigentlich mit wachsender Ungeduld gewartet hatte. Aber jetzt war alles anders.

»Das wird heute nicht gehen«, sagte ich. »Es gibt ein totes Kind.«

»Kannst du anrufen, wann du Zeit hast?«

Ich murmelte etwas Zustimmendes.

»Und wer ist das tote Kind?«

»Ich rufe dich an. Das Kind war dreizehn, mehr weiß ich nicht.«

»Pass auf dich auf«, sagte sie weich und hängte ein.

Dann rauschte auch schon Rodenstock in Emmas Volvo auf den Hof, ging hart in die Bremse und staubte mein Haus ein. Emma saß neben ihm.

Ich stieg hinten ein und wunderte mich über Emma. »Wieso machst du mit?«, fragte ich.

»Weil ich Kindermörder hasse«, erklärte sie wild. »Ich hasse diese Leute.«

»Wie würdest du fahren?«, fragte Rodenstock sachlich und stieß rückwärts aus meinem Hof.

»Runter ins Ahrtal, dann Blankenheim, dann Schleiden, Richtung Olef, am Ausgang von Schleiden links hoch nach Herhahn, dann die B 266 an Vogelsang vorbei und dann die Serpentinen runter nach Einruhr.«

»Das würde ich auch so machen«, nickte er. »Was hat er dir gesagt?«

»Ich weiß nicht, ob ich alles mitgekriegt habe. Er sagte, er will uns haben, weil wir die Leute ausfragen können, ohne aufzufallen. Wie Pressefritzen, hat er wörtlich gesagt, was sehr viel darüber aussagt, wie er meinen Beruf beurteilt. Das Mädchen heißt Jamie-Lee. Wieso wird ein Mädchen in der Eifel Jamie-Lee getauft? Sie war dreizehn. Sie ist seit gestern Nachmittag verschwunden. Ungefähr fünfzehn Uhr. Sie wurde gefunden, als eine Wandergruppe zwischen Einruhr und Erkensruhr durch den Wald ging. Mehr weiß ich nicht. Doch, ich weiß, wann sie gefunden wurde. Das muss gegen neun Uhr heute Morgen gewesen sein. Wieso steckt Kischkewitz überhaupt drin? Der Nationalpark Eifel ist Nordrhein-Westfalen.«

»Richtig«, nickte Rodenstock. »Sie haben ihn um Hilfe gebeten. Er ist mit vier Leuten rüber. Sie wollen schnell sein, weil es ein Kind ist, und die Leute sich todsicher aufregen. Ob der Fundort der Tatort ist, weiß er noch nicht, er weiß eigentlich überhaupt nichts.«

Er schaltete oft und mühelos elegant, blieb immer am oberen Limit, und ich musste mich festhalten, um nicht hin und her geworfen zu werden.

»Dann kam es aber zu einer erschreckenden Auskunft Emma gegenüber«, fuhr er fort.

»Ja, ich habe noch ein paar Sätze mit ihm gesprochen«, schloss Emma merkwürdig tonlos an. »Sie haben sie noch nicht weggebracht, sie haben das Gelände abgesperrt und arbeiten noch. Das Mädchen war grell geschminkt.«

»Sie schminken sich heute früh«, murmelte ich.

»Oh nein, oh nein! Sie hat sich nicht geschminkt, sie ist geschminkt worden. Vom Täter. Kein Zweifel.«

»Ach, du lieber Gott«, murmelte ich.

»Der war mal wieder gerade nicht da«, bemerkte Emma scharf. »Und fahr langsamer, verdammt noch mal. Tote laufen nicht weg.«

»Ja«, sagte Rodenstock sanft. »Du hast ja recht.«

Es war viel los auf den Straßen, wir kamen nur stockend voran, Rodenstock fuhr häufig auf kleine, zähe Staus auf, die sich nur langsam auflösten. Sehr viele Holländer, sehr viele Belgier. Er trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad, er war nervös.

»Tante Anni hat mir eine Karte geschickt. Sie schwärmt vom Gardasee.«

»Sie hat viel zu lange allein gelebt«, stellte Emma fest. Dann begann sie zu glucksen. »Du meinst, es ist was Ernsthaftes? Mit Sex und so? Unsere Lieblingslesbe?«

Rodenstock begann ganz hoch zu kichern. Er setzte hinzu: »Mit weißen Söckchen.« Er stand jetzt an der Einmündung auf die B 51, wir waren der vierte Wagen, es würde endlos dauern.

»Nicht spotten«, warnte Emma scheinheilig. »Das kommt alles auch auf uns zu. Viel schneller, als wir denken können.«

»Ich will aber keine weißen Söckchen tragen«, sagte ich nölend und erntete damit schallendes Gelächter.

Ein Handy meldete sich, jemand pfiff die Internationale, und Rodenstock sagte hastig: »Greif mal in meine rechte Jackentasche, bitte.«

Emma griff in seine Tasche, holte das Handy hervor und meldete sich: »Ja, bitte?« Dann hörte sie konzentriert zu und sagte kein Wort, nur gegen Ende ein etwas klägliches: »Ja, gut.« Hörte wieder zu, murmelte »Wenn du meinst« und »Mach´s gut«, dann drehte sie sich zu Rodenstock und sagte seufzend: »Du solltest anhalten, drehen und wieder heimfahren. Das ist keine Sache für uns. Kischkewitz und seine Leute haben jetzt schon Krach mit dem Mann, der die Kommission leitet. Der ist ausgeflippt und hat rumgebrüllt, dass grundsätzlich jede Einzelheit zuerst an ihn geht, und dass er entscheidet, was er damit macht, dass er in allen Dingen zuerst informiert wird und so weiter und so fort. Kischkewitz sagt, er wird bei der ersten Gelegenheit abbrechen und nach Hause fahren. Sie haben das Mädchen jetzt auf die Reise in die Rechtsmedizin nach Düsseldorf geschickt und den Fundort freigegeben. Sie warten auf irgendeinen Staatssekretär, der entscheiden soll, wie es weitergeht. Da vorne, da kannst du drehen.«

Rodenstock drückte das Warnblinklicht und fuhr ganz rechts an den Straßenrand. Dann erreichte er den Waldweg, auf den Emma gezeigt hatte, und bog ein. Wir waren jetzt kurz vor Krekel. Rodenstock fuhr ein gutes Stück von der Straße weg in den Wald hinein. »Hat Kischkewitz gesagt, wie die Gruppe um diesen Leiter reagiert?«, fragte er.

»Kein Wort davon, aber es klang so, als sei der Mann höchst unbeliebt«, antwortete Emma.

»Dann steigen wir erst mal aus und gucken uns die Bäume an«, entschied Rodenstock. »Außerdem muss ich pinkeln.« Er stieg aus und verschwand nach rechts zwischen die Bäume.

»Er steckt mich immer an«, seufzte Emma, stieg aus und ging in die andere Richtung.

Neben dem Auto lagen ein paar Stämme Langholz, und ich hockte mich auf einen Sonnenfleck. Es war sehr still, der Verkehr auf der Straße war nur noch ein leises Rauschen, wurde nur dröhnend, wenn ein Pulk Motorradfahrer vorbeizog.

Rodenstock kam zurück und murmelte: »Eigentlich habe ich noch nie gekniffen, nur weil ein wild gewordener Vorgesetzter die Szene betritt. Was denkst du?«

»Es ist mein Job, und es kann in jeder Minute ein wichtiger Job werden«, sagte ich. »Ich könnte anrufen und sie fragen, ob sie die Geschichte wollen. Ich bin überhaupt nicht beeindruckt von Leuten, die so rumbrüllen. Aber du kannst echte Schwierigkeiten kriegen, weil du mal vom Fach warst.«

»Wir sollten weiterfahren«, nickte er leichthin. »Meine Neugier kann mir niemand verbieten.«

»Was ist, wenn Kischkewitz deinetwegen Schwierigkeiten kriegt?«

»Der ist erwachsen, er kann selber brüllen.«

Als Emma zurückkam, fragte sie: »Wir fahren weiter, nicht wahr?«

»Ja«, bestätigte ich. »Dein Mann ist der Meinung, dass er als Bürger neugierig sein darf. Und bei mir ist das sogar Beruf.«

»Dann wäre es gut, Kischkewitz anzurufen und ihm zu sagen, dass wir trotz allem vorbeischauen, sonst kommen wir um die Ecke, und er muss so tun, als kenne er uns nicht.« Dann hielt sie inne und setzte hinzu: »Mir ist nach einem Schnaps.«

»Wir besorgen einen«, versprach Rodenstock. »Ich sage Kischkewitz Bescheid.« Er ging abseits und begann zu telefonieren, er wirkte ganz gelassen.

»Ich sollte mich da raushalten«, murmelte Emma. »Ich bin zu alt für so was.«

»Das bist du nicht, du leidest nur. Wenn du tagsüber einen Schnaps willst, protestiert dein Magen gegen den rüden Alltag.«

»Oder so«, nickte sie. »Wie geht es dir mit Maria?«

»Nicht so gut. Wir sehen uns, aber sehr selten. Sie arbeitet zu viel in ihrem Aldi.«

»Das klingt nicht gerade nach einem Rosengarten.«

»Es ist auch keiner. Wahrscheinlich sind wir nur zwei alte Krähen mit schlechten Erfahrungen.«

Emma stand da in der Sonne und grinste mich an. Sie sagte nichts. Und zu ihren Füßen standen drei rote Lichtnelken und wirkten äußerst dekorativ.

Sie fragte: »Wann habt ihr euch zuletzt gesehen?«

»Vor vier Wochen«, sagte ich wahrheitsgemäß.

»Du lieber Himmel, welch eine berauschende Partnerschaft!«

»Du bist ekelhaft«, sagte ich.

»Manchmal«, gab sie zu. »Wo ist denn der Haken?«

»Im Alltag. Sie kommt am Samstagmittag, und sie sagt, sie sei kaputt, und sie sagt, sie müsse erst mal in Ruhe ankommen. Am Sonntagmorgen ist sie noch immer nicht ganz da. Und Sonntagabend muss sie früh ins Bett, denn sie steht um vier Uhr auf, um gegen sechs Uhr in ihrem Laden in Prüm zu sein. Dann kriegt sie ihre Lieferungen. Alles in allem haben wir keine guten Karten.«

»Und wenn du zu ihr nach Prüm fährst?«

»Das gefällt ihr noch weniger. Sie sagt, sie müsse möglichst oft aus Prüm raus. Wieso erzähle ich dir das alles?«

»Weil du sonst mit keinem Menschen drüber redest. Schon gar nicht mit deinen Freunden.«

»Da höre ich Vorwürfe.«

»Na ja, du bist schon ein seltsamer Vogel. Du wohnst zweitausend Meter weit weg und benimmst dich so, als sei das eine unüberbrückbare Entfernung. Und mein Ehemann fragt sich manchmal, ob du überhaupt mit ihm etwas zu tun haben willst.«

»Dein Ehemann ist meschugge.«

»Dem würde ich nicht zustimmen. Er liebt dich, falls dir das bis heute verborgen geblieben ist. Also gut, das Thema ist nicht neu. Ich wollte auch nur sagen, dass unser Haus dir immer offen steht. Dämliche Floskel.«

»Ich muss mich bessern, ich weiß.«

»Das wäre schön«, sagte sie mit freundlichem Nachdruck. »Sieh an, mein Macker ist fertig.«

Rodenstock kam herangetrabt und machte einen abwesenden Eindruck. »Das ist komisch«, stammelte er, »dieser Kommissionsleiter scheint mit sämtlichen Beteiligten Krach zu haben. Er ist ein Mann aus Aachen mit schlechtem Ruf. Er hat einen Leitenden Oberstaatsanwalt dazu überredet, eine totale Nachrichtensperre zu verhängen. Natürlich mit dem Erfolg, dass sieben Fernsehsender durch die Gegend fahren und lautstark Informationshonorare anbieten. Er hat einen Mediziner und einen Chemiker mitten in einer Untersuchung des Mädchens weggeschickt – mit der Feststellung, er habe keine Zeit mehr, auf die trödeligen Wissenschaftler zu warten. Dann hat er einen Verdächtigen festgenommen, obwohl der gar nicht sehr verdächtig ist. Wir können ruhig hinfahren, sagt Kischkewitz. Sie tagen im Hinterzimmer einer Kneipe. Ich soll euch grüßen. Und er rät uns zu einem Termin bei einer gewissen Griseldis. Die Adresse habe ich. Sie hat einen seltsamen Beruf. Sie behauptet, sie sei Hexe.«

»Wie schön«, entgegnete Emma sanft. »Endlich mal ein verständiger Mensch. Und wer ist der Verdächtige, der nicht verdächtig ist?«

»Eine merkwürdige Figur, dreiundvierzig Jahre alt, lebt auf einem alten Bauernhof. Der Mann heißt Jakob Stern.«

»Und wieso ist er nicht verdächtig?«, fragte ich.

»Weil er ein netter, lieber Kerl ist und keiner Fliege was zuleide tun könnte. Sagen alle.«

»Aber er kannte diese Jamie-Lee?«, fragte Emma.

»Ja, er kannte sie sogar sehr gut, sagt Kischkewitz.«

»Erklär mir, wieso ein Mann Chef einer Mordkommission wird, wenn kein Mensch ihn leiden kann«, bat ich.

Rodenstock startete den Wagen und fuhr an die Einmündung des Waldwegs. »So etwas kommt vor«, sagte er. »Der Mann erfüllt sämtliche beruflichen Anforderungen, eigentlich wartet er auf solch einen Job. Und dann stellt sich heraus, dass er ein Arschloch ist. Du musst zugeben, das gibt es in jedem Beruf. Das Schlimme ist in diesem Fall, dass der sogenannte Verdächtige von Beginn an öffentlich als Verdächtiger bezeichnet wurde. So etwas kann für so einen armen Kerl fatale Folgen haben.«

»Wer macht so was?«, fragte ich.

»Eben deshalb müssen wir hin«, antwortete Rodenstock einfach und gab Gas.

Gegen 14 Uhr kamen wir vor dem einfachen, weiß gekalkten Einfamilienhaus aus den Sechzigern an. Es wirkte freundlich mit seinen grün gestrichenen, altmodischen Läden. Der Vorgarten begeisterte mich: Rosen, nichts als Rosen in allen Farben und Formen.

»Sie hat einen grünen Daumen«, stellte Emma fest.

»Und sie hat links außen eine Rose namens Sahara gesetzt«, sagte ich. »Ganz neue Züchtung. Wilde Farben in Sand und Orange, habe ich im Kloster Maria Laach gesehen.«

Kischkewitz hatte zwischenzeitlich Bescheid gegeben, dass die Leiche des Mädchens abtransportiert sei und der Tatort, von dem man noch nicht wusste, ob er überhaupt einer war, damit praktisch aufgehoben war. Für uns gab es dort nichts mehr zu holen, stattdessen hatte Kischkewitz uns gleich die Adresse dieser ominösen Hexe durchgegeben.

»Ja, guten Tag«, sagte Rodenstock in sein Handy. »Ich hoffe nicht, dass ich störe. Sie sind Frau Griseldis, und Sie sind eine Hexe, hörte ich. Und Sie kannten die kleine Jamie-Lee gut. Wir sind unterwegs, um Sie zu sprechen. Das heißt, genauer gesagt, stehen wir schon vor Ihrem Haus. Und wir sind eine richtige Invasion, wir sind nämlich zu dritt.« Er hörte eine Weile zu und räusperte sich. »Ja, genauer gesagt, sind wir drei nur immens neugierig. Und ich war einmal ein Kriminalist, meine Frau übrigens auch. Und der Dritte im Bunde ist Journalist und heißt Siggi Baumeister. – Nein, nein, nein, von uns wird nichts in die morgigen Zeitungen gelangen.« Er schwieg wieder und hörte zu. »Das kann ich mir vorstellen, dass die Fernsehleute bei Ihnen geklingelt haben. Wir wollen nur höflich bitten, uns eine halbe Stunde zu widmen. Wir fotografieren nicht, wir haben keine Aufzeichnungsgeräte bei uns, wir sind richtig altmodisch, wir wollen nur zuhören.« Dann sagte sie wieder irgendetwas, und Rodenstock schloss erleichtert: »Natürlich. Danke.« Er klappte sein Handy zusammen. »Sie bittet um fünf Minuten, dann macht sie uns auf. Wahrscheinlich muss sie ihren Besen erst einmal in der Abstellkammer parken.«

»Ist sie aufgeregt?«, fragte Emma.

»Nicht die Spur«, sagte Rodenstock. »Wahrscheinlich sucht sie nur den Fehler in ihrem Make-up. Wer hat das Sagen?«

»Lasst mich das machen«, bestimmte Emma.

Dann kam von hinten ein weißer, großer Trailer mit einer Riesenschüssel auf dem Dach herangekrochen.

»Konkurrenz«, sagte ich. »Die Jungs mit den viereckigen Augen.« Ich stieg aus und lehnte mich mit dem Rücken an unser Auto.

Der Bus parkte hinter uns, eine junge Frau mit den strohblonden, wirren Haaren eines Mops sprang heraus und kam auf mich zugelaufen. »Habt ihr die Griseldis?«, fragte sie atemlos. Sie mochte um die Dreißig sein, sie wirkte sehr hektisch und knabberte an ihrer Unterlippe.

»Sie geht nicht ans Telefon«, sagte ich. »Sie ist wahrscheinlich gar nicht zu Hause.«

»Aber sie soll eine Hexe sein«, sagte die Blonde empört. »Wir haben schon zweivierzig und mir fehlen nur noch dreißig, dann kann ich senden. Und das Haus allein? Ist doch blöde, oder?«

»Ist absolut blöde«, sagte ich. »Was soll sie denn wissen?«

»Na ja, sie ist eine Hexe, und angeblich war die Kleine bei ihr im Hexenunterricht.« Sie strich sich dauernd über das Haar, als hätte sie das verkehrte Shampoo erwischt, und sie knabberte immer noch an ihrer Unterlippe.

»Im Hexenunterricht? Das glaubst du doch selbst nicht.«

»Aber der Wirt in der Kneipe hat das gesagt.« Sie war richtig empört, worüber auch immer.

»Na ja«, sagte ich freundlich. »Wir hauen jedenfalls wieder ab.«

Hinter der Blonden stieg ein junger Mann aus dem Bus, schwang sich eine schwere Kamera auf die Schulter und kam zu uns getrottet.

»Stell dir vor, sie ist gar nicht da«, sagte die Blonde vorwurfsvoll.

»Dann nehmen wir diese dicke Italienerin, du weißt schon, die so viel quatscht«, sagte der Kameramann.

»Aber die weiß doch rein gar nichts«, sagte die Blonde empört.

»Das wissen doch die Fernsehzuschauer nicht«, widersprach der Kameramann. »Dann sagt sie halt was darüber, wie die Kleine gewirkt hat. Du weißt schon: kindlich und rein und so was.«

»Die redet aber doch nur Scheiße!« Die Blonde war jetzt richtig sauer.

Dann kam ein schmaler, fast dürrer Mann um die Vierzig aus dem Bus heraus und sagte verlegen: »Also, ich müsste eigentlich zum Essen nach Hause. Ich hab das meiner Frau versprochen.«

»Da ist unser Live-Zeuge«, erklärte die Blonde. »Er hat das Opfer fast gesehen.«

»Toll«, sagte ich anerkennend. »Wieso fast?«

»Ich habe den anderen Weg genommen, sonst hätte ich sie gefunden«, sagte der Live-Zeuge, als habe er den Fehler seines Lebens begangen.

Rodenstock öffnete seine Tür und stieg aus, Emma auf der anderen Seite auch. Sie feixten mich an, Emma sagte: »Es dürfte soweit sein.«

»Ja, klar«, sagte ich.

Der Kameramann sagte mürrisch: »Das ist richtig öde hier.« Er drehte sich herum und ging zum Bus zurück.

Die Haustür öffnete sich, eine kleine Frau trat heraus und winkte uns zu.

»Na, also«, sagte Rodenstock zufrieden und ging mit Emma auf den prachtvollen Vorgarten voller Rosen zu.

Die Blonde begann augenblicklich schrill zu brüllen: »Alfie! Alfiiiie!«

Alfie war gerade im Begriff, seinen Bus zu erobern, drehte sich herum, sah die Frau in der Tür, begriff seine Chance, schwang die Kamera erneut hoch zur Schulter, stieß aber irgendwo an. Es schepperte, die Kamera landete mit einem sehr hässlichen Geräusch auf dem Asphalt, und die Blonde neben mir bekam Kugelaugen.

»Mach dir nichts draus, Mädchen«, sagte ich begütigend. »Da sind gerade nur zwanzigtausend Euro den Bach runtergegangen. Sic transit gloria mundi.«

Sie starrte mich an, aber wahrscheinlich hatte sie in der Schule nie Latein gelernt.

Ich sprang munter wie ein Reh über die Straße und stand dann vor der Hexe. Sie war eine wirklich eindrucksvolle Erscheinung.

»Siggi Baumeister, ich bin der Berichterstatter«, sagte ich.

»Ich bin die Hexe«, sagte sie freundlich. Vielleicht war sie vierzig, vielleicht fünfzig, auf jeden Fall war sie bemerkenswert. »Gehen Sie einfach durch.«

Ich ging einfach durch und kam in einen großen Wohnraum. Rodenstock und Emma saßen bereits brav auf einer schwarzen Couch und wirkten ein wenig linkisch wie katholische Brautleute beim Brautunterricht, sehr brav jedenfalls.

»Das war ja wohl eine Konkurrenz von Ihnen«, sagte Griseldis. Sie trug ein langes, schwarzes Kleid über einem feuerroten Top, und ihre langen, schwarzen Haare fielen weit über ihre Schultern. Sie setzte sich in den Sessel neben mich und fragte: »Was kann ich für Sie tun? Nein, halt, erst einmal die Frage der Getränke. Wasser, Apfelschorle, Tee, irgendein spezieller Tee? Nur Kaffee habe ich nicht.« Sie war nicht geschminkt.

»Was ist ein spezieller Tee?«, fragte Emma.

»Na ja, ein Tee, der belebt, der freundlich stimmt.«

»Und was ist da alles drin?«

Sie begann zu lachen und fragte: »Befürchten Sie schwarze Magie?«

»Nicht die Spur«, sagte Emma grinsend. »Dann wäre es auch eine schlichte Vergiftung, und wir würden tot vom Sofa fallen. So etwas nennen wir Mord.«

»Ja«, stimmte die Hexe zu. »Aber das ist ein wenig schwarzer Tee, gemischt mit Schafgarbe, Johanniskraut und Pfefferminz. Nichts Chemisches.«

»Das nehme ich«, sagte Emma munter. »Und für die Jungens hier ein Wasser, oder so.«

»Dann mache ich das mal.« Sie stand auf und verschwand irgendwohin.

Der Raum war hell, weiß gestrichen. Die Fenster zum Garten hin waren sehr groß. Es gab einen Schreibtisch, der über Eck stand und auf dem einige Papiere lagen. Eine Wand war vollkommen mit einem Buchregal belegt. Es gab keine Bilder an den Wänden, stattdessen überall kleine und größere Menschenfiguren aus Bronze, angenehme, schlichte Strichmännchen, einfach und deutlich, liebevoll geformt in allen Arten menschlicher Fortbewegung. Sie standen überall herum, waren vielleicht zehn oder zwölf Zentimeter hoch. Und auf einer hölzernen Säule ein geschnitzter Buddha. Nichts an diesem Raum war aufdringlich, nichts deutete auf Hexerei – keine Kugel, kein Pendel, keine Karten, nirgendwo ein Abrakadabra. Und es gab auch keinen Hausaltar für irgendeine keltische Göttin. Allerdings auch keinen Fernseher und keinen Computer.

Sie kam zurück und brachte Wasser und Gläser mit. »Der Tee ist gleich fertig.« Sie sah uns der Reihe nach an. »Ja, ich fürchte, ich kann Ihnen nicht groß helfen. Ich kannte die Kleine sehr gut, sie kam manchmal her, sie war vollkommen unbefangen. Sie stand eines Tages vor der Tür und fragte, ob ich wirklich eine Hexe sei. Da sagte ich, das stimme. Und dann saß sie da im Sessel und versuchte, mich auszufragen. Ob ich zum Beispiel jemanden verhexen oder den Tisch da verschwinden lassen könne oder auf einem Besen reiten. Sie fragte wie ein Kind, und sie war ja ein Kind. Das alles ist ganz schrecklich, nicht wahr?«

Emma nickte. »Als man sie fand, war sie geschminkt. Wussten Sie das?«

»Nein, wusste ich nicht.« Griseldis wirkte betroffen. »Hat sie das selbst gemacht?«

»Nein, offensichtlich der Täter. Wie oft war das Mädchen bei Ihnen?«

»Ich habe es nicht gezählt. Seit zwei Jahren etwa kam sie her. Mal häufig, dann wieder sehr selten. Ist sie, hat der Täter sie ... ich meine ...«

»Soweit wir das wissen, nein. Aber da stehen noch Untersuchungen aus«, sagte Emma und räusperte sich. »Was machen Sie eigentlich so, als Hexe, meine ich?«

»Ich habe Leute, die mich brauchen. Sie sind krank oder erschöpft oder ratlos.«

»Sind das viele?«

»Was bedeutet ›viele‹? Nun ja, ich würde sagen, es sind so viele, wie ein guter Allgemeinmediziner auch hat. Etwa sechshundert, nehme ich an. Manche kommen häufig, manche nur einmal im Jahr, manche bleiben nach der ersten Beratung weg.« Es war deutlich, dass dieses Thema sie langweilte.

»Sie werden dafür bezahlt?«

»Aber natürlich.«

»Ist das auch Lebensberatung?«

»Durchaus.«

»Können Sie einen typischen Fall schildern?«

»Ja, warum nicht. Ein Bankangestellter, vierzig Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, leitende Position. Burn-out-Syndrom, die Ehe beginnt zu zerknittern. Er kommt nicht hierher, um Antworten auf seine Lebensfragen zu bekommen. Er kommt her, um mit meiner Hilfe etwas gelassener zu werden, zu den richtigen Fragen vorzustoßen, vielleicht um etwas an seinem Leben zu ändern. Das entscheidet er selbst.«

»Gibt es da festgelegte Rituale?«, fragte Rodenstock schnell.

»Nein, die gibt es nicht, das entscheide ich ganz frei.«

»Spielt der Buddha dabei eine Rolle?«, fragte Emma.

»Ja und nein«, antwortete sie. »Er ist nur ein Symbol für eine gelassene Vorgehensweise und die Möglichkeiten, in sich selbst hineinzuhorchen. Aber ich dachte, Sie sind hier, um etwas über Jamie-Lee zu erfahren?« Das war ein deutlicher Tadel.

»Entschuldigung«, sagte Emma schnell. »Wohnte Jamie-Lee weit entfernt von hier?«

»Nein, nur ein paar hundert Meter. Eigentlich nette Leute.«

Ich wusste, dass Emma sofort nachhaken würde, derartige Antworten waren eine Einladung an sie.

»Wieso ›eigentlich‹ nette Leute.«

»Na ja, die waren hier zu Besuch.« Sie wedelte mit beiden Händen. »Natürlich hat Jamie-Lee ihren Eltern gesagt, dass sie hier bei mir war. Und weil man hier von mir als Hexe spricht, wollten die Eltern wohl erfahren, was für eine schreckliche Person ich wohl sein mag.« Sie lächelte.

»Würden Sie sagen, das Mädchen war wirklich noch ein Mädchen oder schon eher eine Frau?«

»Sie wurde gerade zur Frau«, sagte sie. »Und sie hatte ja auch schon einen Freund. Den Mark. Und sie war sehr verwirrt und stilisierte Mark innerhalb von einer Minute zu König Artus hoch und anschließend in dreißig Sekunden herunter zum letzten Arsch.« Sie kicherte.

»Sie haben sie gemocht, nicht wahr?«

»Oh ja! Sie war eine hübsche Person, und sie sollte eine schöne Frau werden, denke ich. Hatte sie, hatte Jamie-Lee irgendwelche ...«

Dann sahen wir zu, wie ihr eine Träne aus dem linken Auge lief.

»Sie hatte keine Verletzungen, soweit wir das bisher wissen«, sagte ich schnell. »War Jamie-Lee denn auch mit diesem Mark bei Ihnen?«

»Nein, sie war immer allein. Und sie hat mir auch gesagt, dass sie immer allein kommt. Sie sagte ganz stolz: ›Du bist mein Geheimnis!‹«

»Schön!«, sagte Emma hell. »Ich hoffe, Sie weichen jetzt nicht aus, wenn ich Sie Folgendes frage: Als Sie erfuhren, dass Jamie-Lee getötet wurde, was dachten Sie als Erstes, wer so etwas getan haben könnte?«

Sie stützte beide Ellenbogen auf ihre Oberschenkel und nahm die Hände vor das Gesicht. »Gute Frage. Ich will ehrlich sein, ich habe an niemanden denken können, mir fiel keiner ein, und ich war auch erleichtert, so denken zu können. Traurig war ich.«

»Nun ist da jemand unter Tatverdacht festgenommen worden«, sagte Rodenstock schnell. »Ein gewisser Jakob Stern, dreiundvierzig Jahre alt, lebt auf einem Bauernhof. Hier in der Gegend wohl. Fällt Ihnen zu diesem Mann etwas ein?«

Sie nahm sehr langsam die Hände von ihrem Gesicht weg, und dann trat so etwas wie eine überschießende Heiterkeit in ihre Augen. »Jakob? Der Stern? Ach, du lieber Gott, der kann es nun wirklich nicht gewesen sein.«

»Aber warum denn nicht?«, fragte Emma fast aggressiv.

»Weil er die freie Auswahl bei unserem Geschlecht hat, verehrte Schwester, und weil er die Auswahl bei jeder sich bietenden Gelegenheit nutzt. Er ist ein Mensch mit häufig wechselnden Geschlechtspartnern, was die Polizei früher eine HWG-Person nannte, wobei ›häufig‹ bei Jakob noch eine glatte Untertreibung ist.« Dann lachte sie, die ganze Frau lachte, sie bebte in Heiterkeit. »Mein Gott, der Jakob!«

»Hast du auch mit ihm geschlafen, Schwester?« Das kam wie eine Explosion, und Emma hatte plötzlich ganz schmale Augen.

»Nein, oh, nein. Nicht Jakob!«

»Aber wieso kommt die Polizei auf den Verdacht, der Mann könne es gewesen sein?«, fragte ich.

»Ich nehme an, weil sie herausfanden, dass Jamie-Lee oft bei Jakob auf dem Hof war. Und wenn ich das mal erwähnen darf: Die Polizei benimmt sich in diesem schrecklichen Fall so hektisch wie eine Truppe schlechter Laienschauspieler. Und vielleicht war Jamie-Lee kurz vorher sogar bei ihm. Er war nämlich auch so ein Wunder für die Kleine. Sie durfte mit Jakobs Trecker fahren, ganz allein. Und sie durfte unter seinen heiligen Eichen sitzen und den Tieren zuhören.«

»Was, bitte?«, fragte Emma verwirrt.

»Also, der Jakob hat eine sehr alte Eichengruppe auf dem Hof, wir schätzen so dreihundert bis vierhundert Jahre. Jakob sagt, es seien heilige Eichen. Und manchmal lädt Jakob seine Freunde ein, und sie hocken sich unter die Eichen ins dichte Gras und hören den Tieren zu.«

»Welchen Tieren denn?«, fragte Emma.

»Na ja, ich nenne mal Spatzen und andere Sperlingsvögel, Elstern, Mäuse im alten Laub, etwas ganz Normales. Nachtigallen im Sommer, Meisen, was weiß ich, Zaunkönige, Hänflinge. In der Brunft brüllt ein Hirsch.«

»Es ist aber doch idiotisch, einen solchen Mann festzunehmen und auch noch öffentlich von einem Verdächtigen zu sprechen.« Rodenstock sprach ganz leise, als rede er mit sich selbst.

»Das denke ich auch«, nickte Griseldis. »Aber dieser Abele sagte, er werde schnell Klarheit in den Fall bringen.«

»Wer, bitte, ist denn Abele?«, fragte Emma.

»Na, dieser Chef der Kriminalpolizisten.«

»War der etwa hier?«, fragte Emma.

»Oh ja, so um ein Uhr herum. Nur kurz. Viktor Abele heißt er, und er hat mir gesagt, er könne gut auf meinen Hexenschmonzes verzichten, und ich solle einfach den Mund halten und niemandem Auskunft geben über das Mädchen.«

Keiner sagte etwas.

»Warum war er denn hier?«, fragte Emma schließlich.

»Na ja, weil irgendjemand ihm gesagt haben muss, dass Jamie-Lee oft hier war. Aber ich passe wohl nicht in sein Raster. Er sagte auch noch, Leute wie ich seien Beutelschneider und immer schon Beutelschneider gewesen.«

»Was kostest du denn eigentlich?«, fragte Emma und lächelte leicht.

»Ich nehme einen Hunderter für eine normale Beratung.«

»Und was ist eine normale Beratung?«

»Sechzig Minuten«, antwortete sie, und diesmal grinste sie eindeutig. »Also gut, Schwester, ich sage dir, was normal ist. Der Besucher muss seine Schwierigkeiten definieren können, oder ich muss ihn dahin bringen, das zu versuchen. Das ist sehr viel Arbeit, glaub mir, sehr viel Arbeit.«

»Was hat das mit Hexerei zu tun?«, fragte Emma.

Sie überlegte. »Wenig. Aber du solltest mich mal erleben, wenn ich in der Walpurgisnacht auf meinem Besen über die Stauseen rase.«

»Du willst es nicht erklären, nicht wahr?« Emmas Lächeln war scharf wie ein Messer. Es gab keinen Zweifel, sie war auf dem Kriegspfad.

»Nein, will ich nicht.« Griseldis war ganz ernst. »Kann ich noch etwas für euch tun?«

Emma lächelte. »Du willst uns loswerden.«

»Ja, klar. Gleich kommt Kundschaft.«

»Können wir Sie denn um Hilfe bitten, wenn wir das brauchen?«, fragte Rodenstock.

»Selbstverständlich.«

»Dann hätte ich gern Ihren Namen, Ihren richtigen Namen.«

»Aber ja«, nickte sie. »Ich heiße Gabriele Griseldis, und ich bin vierundfünfzig Jahre alt und nicht vorbestraft. Ziemlich einfach.«

»Dann sind wir auch schon aus der Tür«, sagte Emma. »Und wo finden wir diesen Jakob Stern?«

»Das ist ganz einfach. Fragt nach dem Sauerbachtal. Nicht weit. Aber nicht vergessen: Er ist ein Verdächtiger, und er ist wahrscheinlich nicht zu Hause. Und es gibt ein altes Austragshaus, ein paar hundert Meter entfernt, da lebt der Bruder von Jakob Stern, Franz Stern, etwas jünger. Manchmal lebt er da. Aber der ist ein Streuner, und meistens hängt er irgendwo herum, wo auch andere rumhängen.« Dazu lächelte sie ein Lächeln, das nicht zu definieren war. Rätselhaft vielleicht, auf jeden Fall eines von der Sorte: Ihr habt ja keine Ahnung!

»Das gibt sich«, sagte Emma leichthin. »Wir sehen uns das Häuschen an. Und dich, meine liebe Schwester, sehen wir wieder, weil das Gespräch bisher nett und aufrichtig und freundlich und zuvorkommend war, und weil alle Beteiligten offensichtlich nett und zuvorkommend und freundlich sind, obwohl ja ein junger Mensch getötet worden ist. Wir haben hier sozusagen eine Zusammenballung an Harmlosigkeiten gefunden.«

»Ich sehe keinen Grund, euch innig zu lieben«, erwiderte sie ganz sanft. »Ich komme sehr gut ohne euch aus.«

Ich bin mein ganzes Leben lang fasziniert gewesen von der Fähigkeit der Frauen, ein Gespräch innerhalb von fünf Sekunden von zwanzig Grad plus auf zehn Grad minus herunterzukühlen.

»Zicken!«, sagte Rodenstock heiter. »Und gleich die Stars der Truppe.«

»Ihr habt doch keine Ahnung«, sagte Emma hochnäsig.

»Das stimmt!«, gab ich zu. »Selig die Ahnungslosen, denn sie brauchen ...«

»Vorsicht!«, sagte die Hexe. »Das regeln wir schon.«

»Na ja, ich finde es jedenfalls erheiternd.« Rodenstock lächelte sie an. »Etwas brauchen wir noch. Der Freund der Jamie- Lee heißt Mark. Wie heißt er denn komplett, und wo finden wir ihn?«

»Komplett heißt er Meier«, sagte sie. »Und er wohnt zwei oder drei Häuser von Jamie-Lee entfernt. Der Vater ist übrigens Rechtsanwalt. Soll gut sein.« Dann sah sie auf ihre Uhr. »Ich schmeiß euch jetzt raus, Leute.«

»Einverstanden«, sagte Emma und stand auf.

»Noch eine Frage im Stehen«, murmelte ich und erhob mich ebenfalls. »Sie haben von heiligen Eichen gesprochen, unter denen Jakob Stern mit irgendwelchen Gästen sitzt, um den Tieren zuzuhören. Heißt das, er ist ein ...«

»Ja«, nickte sie schnell. »Das heißt es. Jakob ist ein Schamane.«

»Du lieber Himmel«, seufzte Emma. »Da ist aber viel zu besichtigen im Nationalpark Eifel.«

»Wir mühen uns«, versicherte Griseldis eindeutig ironisch. Dann lächelte sie Emma freundlich an: »Wir sind aber noch nicht perfekt, wir üben noch.«

Beide Frauen hatten von dem sehr speziellen Tee keinen Schluck getrunken.

»Ich denke, es ergibt nicht viel Sinn, einen kleinen Bauernhof ohne Besitzer anzustarren«, sagte ich. »Wie wäre es, wenn wir nach diesem Jungen suchen, diesem Mark?«

»Das wäre gut«, nickte Emma. »Aber der Vater ist Rechtsanwalt, der wird das nicht gut finden.«

»Versuchen wir es«, sagte Rodenstock. »Also Meier, irgendwo da drüben in den Häusern.«

Das Wetter war nach wie vor traumhaft, die Sonne hatte den ganzen Himmel für sich, die Blumen in den Gärten leuchteten, und die Menschen machten einen heiteren, sehr gelassenen Eindruck.

»Schamane«, sagte Emma nachdenklich. »Was, zum Teufel, ist ein Schamane? Und wieso ist der ein Eifelbauer und nennt sich Schamane? Wenn er sich für einen Druiden hielte, weil hier schließlich mal die Kelten zu Hause waren, dann würde ich das begreifen. Aber Schamane?«

»Na ja, vielleicht war er in den USA und hat bei irgendwelchen Indianern den Regentanz gelernt«, sagte Rodenstock. »So etwas gibt es heute tatsächlich. Du karriolst mal eben per Billigflieger in die Staaten, triffst ein paar Eingeborene, hörst dir an, was die zu sagen haben, sprichst eine Weile mit dem großen Manitou und kommst im Auftrag der Cherokee zurück, um hier den Fruchtbarkeitstanz einzuführen. So was hat der Eifel immer schon gefehlt. Ich sehe die Rentner in der Eifel beim Training zum großen Wumpapa. Ist doch mal was anderes.«

»Du bist arrogant«, sagte Emma.

»Natürlich«, gab er zu. »Aber steigt ein jetzt, sonst geht nichts weiter.«

Also stiegen wir ein.

Einen Mark Meier aufzutreiben, war in dieser Gegend der hübschen Anwesen einfach, denn der Vater hatte ein Messingschild mit der Aufschrift Arnold Meier, Rechtsanwalt an die schönen, weißen Klinker des Bungalows dübeln lassen. Das Schild wirkte dezent, zurückhaltend, also war der Mann wahrscheinlich erfolgreich in seinem Beruf.

»Wer macht es?«, fragte Rodenstock.

»Lasst mich mal«, sagte ich. »Da vorne ist eine Kneipe, und da kriegt Emma endlich ihren Schnaps.«

Ich stieg also aus und ging auf das Haus zu. Der Vorgarten war nicht ganz so eindrucksvoll wie der der Hexe, aber auch dieser hier war ordentlich und blühte tapfer vor sich hin. Es gab viel Akelei. Ich schellte.

Die Tür öffnete sich so schnell, als habe man sehnlichst auf mich gewartet. Ein großer, massiger Mann kam im offenen Oberhemd die Stufen herunter und fragte höflich: »Was kann ich für Sie tun?«

»So genau weiß ich das nicht. Ich bin Siggi Baumeister, Journalist. Und ich will meine Eindrücke von dem hässlichen Tod der Jamie-Lee ausweiten. Frau Griseldis hat mir gesagt, dass Ihr Sohn mit Jamie-Lee befreundet war. Ich kann verstehen, wenn der Junge leidet. Ich kann auch verstehen, wenn Sie ihn abschirmen ...«

»Kein Gedanke«, sagte er schnell. »Für welche Zeitung arbeiten Sie denn?«

»Für keine. Noch. Aber ich will auch gleich sagen, dass ich morgen oder übermorgen nicht erscheine. Ich bin lieber etwas gründlich.«

Er sah mich einfach an und erwiderte nichts. Er war noch nicht dazu gekommen, sich zu rasieren, sein Kinn schimmerte blau, und in seinen Augen stand ein tiefer Kummer. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie wissen, dass er nach Ihren beruflichen Vorgaben nicht auskunftsfähig ist?«

»Das weiß ich sehr wohl. Ich werde ihn nicht zitieren, Sie übrigens auch nicht. Ich will einfach so etwas wie ein komplettes Bild kriegen.«

»Kann ich Sie missbrauchen?«, fragte er.

»Wie das?«

»Er spricht kein Wort. Seit er von dem Mädchen und dem Tod gehört hat, spricht er kein Wort und sitzt einfach auf dem Rasen hinter dem Haus. Manchmal weint er. Das ist unheimlich. Ich komme nicht an ihn heran, meine Frau auch nicht. Er spricht einfach nicht mit uns. Vielleicht spricht er mit Ihnen?«

»Das gefällt mir zwar nicht so gut«, erwiderte ich offen. »Aber wir können es versuchen. Wie alt ist er denn eigentlich?«

»Dreizehn«, sagte er sachlich. »Dann kommen Sie bitte mit. Wollen Sie einen Kaffee?«

»Das wäre schön.«

Es ging durch die Haustür in einen großen Vorraum, und dann durch drei hintereinanderliegende Büros, in denen drei Frauen arbeiteten, die mir zunickten und etwas gequält lächelten.

In einem stattlichen Wohnraum mit wandgroßen Fenstern zum Garten wies Arnold Meier auf einen Sessel und sagte: »Da draußen sitzt er.«

»Ich möchte gleich zu ihm«, sagte ich.

Der Junge hatte aschblondes Haar, sein Gesicht konnte ich nicht sehen. Er saß auf einer großen Rasenfläche im Gras, kehrte dem Haus den Rücken, hatte den Kopf tief gebeugt und bewegte sich nicht.

Der Vater öffnete eine Fenstertür. »Ich liebe ihn«, erklärte er einfach.

Ich ging also hinaus auf die Rasenfläche und blieb hinter dem Jungen stehen. Ich setzte mich auf den Rasen und nahm die geschwungene Rhodesian von Stanwell aus der Tasche. Ich stopfte sie langsam. »Was du hörst, ist das Geräusch, das entsteht, wenn man eine Pfeife stopft«, sagte ich. »Mein Name ist Siggi. Ich bin ein Journalist. Dein Vater glaubt, dass du möglicherweise mit mir redest. Dass du mit deinen Eltern nicht reden willst, kann ich zwar nicht verstehen, aber dass du so verdammt traurig bist, kann ich gut verstehen.«

Er bewegte sich nicht, und er antwortete nicht.

Ich zündete die Pfeife an und paffte vor mich hin. Ich hatte keinen Plan, ich hatte nicht die geringste Vorstellung, wie man einem Jungen begegnet, dessen Seele vollkommen von Trauer überschwemmt ist. Ich musste es einfach versuchen, wieder und wieder. »Ich habe gehört, dass sie den Trecker bei Jakob Stern fahren durfte. Durftest du das auch? – Und dann habe ich gehört, dass Jakob Stern ein Schamane ist. Und dass er manchmal unter seinen heiligen Eichen den Tieren zuhört. – Ich habe wirklich keine Ahnung, was ein Schamane ist, was er kann, und was er nicht kann. Ist das so etwas wie ein Hexer, oder wie ein Zauberer? – Hast du auch manchmal unter den Eichen gesessen?«

Keine Reaktion.

»Ich frage mich, was da passiert ist.«

Alter Mann, sei so nett und hilf mir mal. Du kannst nicht einfach zusehen und den Mund halten, als ginge dich das alles nichts an. Und lass mich hier nicht allein herumwursteln, verdammt noch mal!

»Weißt du, Menschen können mit dem Tod einfach nicht umgehen. Und wenn ich ehrlich sein soll, dann weiß ich nicht mal, was ich dir sagen soll. Wenn du so willst, bin ich hier hinter dir richtig hilflos. Und wahrscheinlich guckt dein Vater uns aus dem Wohnzimmer zu und ist noch hilfloser.«

Er reagierte nicht, er bewegte sich nicht mal.

Die Pfeife war ausgegangen, und ich zündete sie erneut an. »Als meine Mutter starb, ging mir das genauso. Mein Vater rief an und sagte: ›Mama ist tot.‹ Das war eigentlich alles. Und damals ging es mir dreckig, weil ich alkoholabhängig war. Ich lebte in München, meine Eltern im Ruhrgebiet. Es war am späten Abend und ich hatte keine Ahnung, wie ich nach Hause kommen sollte. Also kaufte ich zwei Flaschen Schnaps und füllte sie in die Waschanlage meines Autos. Dann führte ich die beiden Plastikschläuche innen am Lenkrad hoch. Wenn ich jetzt auf den Knopf der Scheibenwaschanlage drückte, spülte ich mir den Schnaps direkt in den Mund. So furchtbar abhängig war ich. Die ganzen fünfhundert Kilometer ging das so. Ich war so kaputt, dass ich nicht einmal weinen konnte. Und sie hatten meine Mutter noch nicht in den Sarg gelegt, als ich ankam. Sie lag neben ihrem Bett auf dem Rücken. Und sie hatte sich wohl Ravioli warm gemacht. Jedenfalls war das ganze Zeug auf ihr Nachthemd geklatscht, und es sah aus wie Blut. Und ich stand da und schrie sie an, sie könne doch nicht einfach so gehen. Das war alles ganz furchtbar.«

Sein Vater kam mit einem Becher zu mir. »Hier ist der Kaffee«, sagte er.

Ich nahm den Becher und stellte ihn ins Gras.

Der Vater ging wieder.

»Woran ist sie denn gestorben?«, fragte Mark.

»Herztod, plötzlicher Herztod«, antwortete ich.

»War dein Vater dabei? Ich meine, hat er es gesehen?«

»Nein. Er hatte eine Vorlesung an der Dortmunder Uni. Als er nach Hause kam, so gegen Mitternacht, lag sie da.« Ich spürte, wie sich sehr schnell Schweiß in meinem Gesicht und auf dem Kopf sammelte. Es war in der Sonne einfach zu heiß.

»Ich habe sie nicht gesehen«, sagte er. »Aber Frau Tremba hat gesagt, sie hätte ganz friedlich ausgesehen.«

»Wer ist denn Frau Tremba?«

»Das ist eine Nachbarin, die dahin gerannt ist. Mich haben sie nicht gelassen. Es wäre viel besser gewesen, sie hätten mich hingelassen.«

»Das wäre es sicher«, sagte ich. »Aber sie denken immer, dass Jugendliche den Tod nicht verstehen und dass er sie verschreckt. Das ist Blödsinn. Waren denn die Polizisten schon bei dir?«

»Ja, klar. So um elf Uhr schon. Aber ich wusste ja nichts.«

»Sie war seit gestern Nachmittag verschwunden«, sagte ich. »Kannst du dir vorstellen, wo sie war?«

»Nein, kann ich nicht. Frau Tremba hat gesagt, sie hätte sich geschminkt. Das hat sie noch nie getan.«

»Sie war es nicht. Das war der Mensch, der sie zuletzt gesehen hat. Warum seid ihr nicht in der Schule?«

»Wir haben zwei Tage frei, weil da was eingebaut wird. Heizkessel oder so was.«

»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«

»Das war gestern Morgen. Wir wollten heute ein Eis essen gehen.«

»Ich setz mich mal zu dir«, sagte ich. Ich stand auf und umrundete ihn. Dann setzte ich mich wieder.

Er hatte ein längliches, weiches Gesicht, das jetzt eindeutig harte Linien um den Mund zeigte. Seine Wangenknochen hatten sich herausgedrückt, weil seine Seele zu viel schlucken musste. Es war ein sehr erwachsenes Gesicht, das zu den Augen nicht passen wollte. Die Augen wirkten tief, grundlos, verwirrt und waren strahlend blau – ganz wie die Augen des Vaters.

»Du musst jetzt einfach tapfer sein, und ich weiß, dass das alles blödes Geschwätz ist, aber hast du eine Ahnung, wo sie gewesen sein kann? Von gestern Nachmittag bis heute Morgen um neun. Hat sie irgendetwas gesagt?«

»Nein, hat sie nicht. Schreibst du, oder machst du Filme und so was?«

»Ich schreibe.«

»Weil, ich wollte auch mal Journalist werden. Aber jetzt will ich was mit Naturschutz machen. Vielleicht Biologe.«

»Ist der Ort, an dem sie gefunden wurde, weit weg? Ich war dort noch nicht.«

»Nicht weit. Jedenfalls geht man dauernd da vorbei, wenn man runter in den Ort will, einkaufen und so was.«

»Was haben die Kriminalisten dich gefragt?«

»Na ja, wann ich sie gesehen habe, und wer das gemacht hat, und ob ich da eine Idee habe und so.«

»Hattest du eine Idee?«

»Nein, hatte ich nicht.«

»Ich frage zwei Sachen: Ist es jemals vorgekommen, dass Jamie-Lee über Nacht irgendwo geblieben ist, ohne zu Hause Bescheid zu sagen? Und als du jetzt davon gehört hast, an welchen Menschen hast du da zuerst gedacht?«

»Dass sie weggeblieben ist, ist selten vorgekommen. Und ich habe an keinen Menschen gedacht, an wirklich keinen. – Und kann ich sie noch einmal sehen, wenn sie beerdigt wird?«

»Das denke ich schon, das musst du mit ihren Eltern besprechen und mit deinen Eltern. Das muss eigentlich gehen. Du hast ja wahrscheinlich gehört, dass Jakob Stern zum Verhör zu der Mordkommission gebracht wurde. Glaubst du, dass das was bringt?«

»Also, bestimmt nicht. Weil, Jakob ist ein klasse Typ, und er mag Kinder, und er sagt immer, sie wären die besten Erwachsenen. Er hat einen Bruder, der heißt Franz, der ist noch cooler, aber meistens ist er nicht da. Über den reden die Leute nicht gut. Aber wenn er da ist, zeigt er uns Fährten im Wald und Tiere am Wasser. Mein Vater sagt, sie haben Jakob mitgenommen, um zu zeigen, dass sie schnell ... also schnell aufklären, was da gelaufen ist. Mein Vater hat ja schon protestiert, und er hat gesagt, dass er Jakob da rausholt, da bei der Polizei, weil die ihn doch mitgenommen hat nach Aachen.«

»Das ist verdammt gut«, sagte ich. »Pass auf, ich gebe dir meine Visitenkarte, und du rufst mich an, wenn dir irgendetwas einfällt, was du vergessen hast. Oder wenn irgendetwas passiert, was komisch ist, oder so. Aber du musst deinem Vater dann Bescheid geben, ich will, dass er das weiß.«

»Ja, klar«, nickte er.

»Und wenn du unsicher bist, oder Angst hast, ruf mich an. Ich verspreche dir, ich komme sofort.«

»Ja«, sagte er.

Dann weinte er plötzlich und übergangslos, es schüttelte ihn, und er verbarg sein Gesicht in den Händen.

Ich fasste ihn behutsam an den Schultern und zog ihn nahe zu mir heran. Es dauerte eine ganze Weile, genauer gesagt: Ewigkeiten. Dann drückte er mich behutsam von sich fort und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht, was zur Folge hatte, dass er den ganzen Rotz im Gesicht verteilte. Ich gab ihm ein Papiertaschentuch.

»Ich gehe jetzt, und ich bin ständig erreichbar. Festnetz und Handy, nicht vergessen.«

»Ja«, sagte er und drehte die Visitenkarte zwischen seinen Fingern.

Der Vater saß in einem Ledersessel und hatte ein Glas mit Wasser vor sich stehen.

»Er ist okay, er spricht wieder. Ich habe ihn gebeten, mich anzurufen, wenn er mit irgendetwas nicht klarkommt.«

»Ja, danke.«

»Er sagte, Sie vertreten diesen Jakob Stern.«

»Ja, ich habe mich eingemischt. Ich habe den Stern nicht einmal vorher fragen können. Der Staatsanwalt hat ihm dann Bescheid gesagt. Der wollte auch nicht, dass der Mann zum Verhör gebracht wird ...«

»Hat der Kommissionschef ihn tatsächlich einen Verdächtigen genannt?«

»Ja, hat er. Er hat eine kurze Pressekonferenz im Dorfgemeinschaftshaus gegeben und dabei erklärt, der Stern sei verdächtig. Der Richter vom Jourdienst sagte mir eben, er gibt ihn gegen siebzehn Uhr frei. Ich hole ihn in Aachen ab. Es gibt überhaupt keinen ersichtlichen Grund, ihn zu verdächtigen. Und das wird ein ungutes Nachspiel haben. Geben Sie mir bitte auch eine Visitenkarte, ich melde mich. Und Danke. Hat mein Sohn irgendetwas gesagt, das ich wissen sollte?«

»Nein, hat er nicht. Lassen Sie, ich finde selbst hinaus. Ich wäre Ihnen aber dankbar, wenn Sie mir einen Termin bei diesem Jakob Stern vermitteln. Sie können selbstverständlich dabei sein.«

»Das wird sich machen lassen.«

Ich ging hinaus, den Flur entlang und durch die Haustür. Rodenstocks Wagen stand ein paar hundert Meter entfernt, und ich ging langsam dorthin und dachte dabei an diesen Jungen, der etwas für ihn ganz Wertvolles so brutal und blitzschnell verloren hatte.

Emma und Rodenstock saßen an einem Tischchen auf dem Gehsteig. Emma hatte ein Whiskyglas vor sich stehen, und Rodenstock hatte sich zu einem Weißbier durchgerungen. Beide wirkten entspannt.

»Das ist typisch. Während andere Leute hart arbeiten, dröhnt Ihr euch mit Alkohol voll.«

»Du machst einen zufriedenen Eindruck«, sagte Emma. »Erzähl mal.«

Das Sauerbachtal verlief von Ost nach West, immer parallel zur B 266, und wenn man nicht wusste, was man suchte, würde man es nicht so schnell finden. Ein Bach, der Sauerbach, entsprang im oberen Bereich eines mit Mischwald bewachsenen, langen Hangs und erreichte ein schmales Wiesental, fächerte sich dann auf in zwei Bäche, die links und rechts an den Waldrändern entlang verliefen. Der Hof selbst wirkte klein und geduckt, hatte ein Wohnhaus und zwei Scheunen, die jeweils im rechten Winkel zum Wohnhaus standen, das Wohnhaus war der senkrechte Balken eines T. Leicht seitlich versetzt lag ein kleiner Garten, vielleicht dreißig Meter lang und zwanzig breit, umgeben vom einzigen Zaun, der zu sehen war. Der Garten war voll in Funktion, wir konnten Beete sehen und Blumenrabatte. Alle Wiesenflächen des Tals waren ohne Zäune, das alles wirkte paradiesisch, beinahe unglaubwürdig idyllisch.

»Sieh mal, die heiligen Eichen«, sagte Emma entzückt.

Wir standen etwa einhundert Meter über dem Wiesengrund an einer schmalen Zufahrtsstraße und konnten durch eine Schneise alles überblicken. Die heiligen Eichen standen in etwa zweihundert Metern Entfernung vom Hof. Es waren fünf, soweit wir das von oben ausmachen konnten. Dann gab es ein kleines Fachwerkhaus ungefähr vierhundert Meter vom Haupthaus entfernt im Schatten des jenseitigen Waldes Richtung Einruhr. Die Fächer leuchteten hell, waren offensichtlich frisch gestrichen, die Balken waren, in starkem Kontrast, tiefschwarz.

»Ich nehme an, das ist ein magischer Ort«, murmelte Emma beeindruckt.

»Was macht ihn denn magisch?«, fragte der misstrauische Rodenstock.

»Die Ausstrahlung«, erwiderte sie einfach. »Da ist irgendetwas.«

»Baumeister, gilt das auch für dich?«

»Selbst auf die Gefahr hin, deine Zuneigung zu verlieren: Ja, da ist etwas.«

»Habe ich so etwas schon einmal erlebt?«, fragte er zurück.

»Ja, beim Kloster Maria Laach«, murmelte Emma. »Da hast du gesagt, die Basilika wächst aus der Erde.«

»Ach, tatsächlich?« Er war leicht verwirrt.

»Schalte einfach dein Hirn ab«, riet ich. »Fahren wir da hinunter?«

»Nein«, entschied Rodenstock. »Wenn die Geschichte eine Geschichte wird, müssen wir das Tal noch oft anfahren. Ich möchte eigentlich ein paar Worte mit Kischkewitz sprechen. Ich vermute mal, es hat einen Riesenstunk gegeben.«

»Werden sie diesen Leiter ablösen?«, fragte ich.

»Ich vermute, sie geben ihm Gelegenheit, plötzlich krank zu werden.« Emma lächelte. »So etwas hat es in Holland auch schon gegeben.«

»Du bist immer noch eine holländische Beamtin«, grinste ihr Ehemann. »Also gut, ich telefoniere mal, während ihr weiter in dem magischen Ort versinkt.«

»Du bist ein mieser Rationalist«, bemerkte seine Frau. Aber sie lächelte.

Rodenstock ging also abseits, um mit Kischkewitz zu sprechen, und ich blieb mit Emma an der Schneise stehen, um weiter in das Tal zu schauen.

»Jennifer kommt«, teilte sie plötzlich mit, als sei es ihr gerade eingefallen.

»Wer, bitte, ist Jennifer?«

»Jennifer ist die Tochter eines Cousins. Ich habe sie noch nie im Leben gesehen, aber sie will mich partout besuchen. Ich habe einen guten Ruf in meiner Mischpoke, musst du wissen. Jeder will mich mindestens einmal im Leben kennenlernen.«

»Aha. Und Jennifer ist fünfzig, hinkt leicht und hatte ein schweres Schicksal.«

Sie sah mich an und musste lachen. »Jennifer kommt aus São Paulo, ist leicht über dreißig. Wie viel über dreißig, weiß ich nicht. Sie grast die gesamte Verwandtschaft in Europa ab und ist schon drei Monate unterwegs.«

»Wie viele Verwandte hast du eigentlich?«

»Siebenhundertzweiundfünfzig«, erwiderte sie schnell. »Nein, im Ernst, ziemlich viele, sehr viele. Jahwe hat uns über den ganzen Erdball verstreut, denn das war die einzige Möglichkeit zu überleben. Nur die deutsche Sippe hat nicht überlebt. Nein, Stopp, die Ungarn auch nicht, und die in Litauen auch nicht. Jedenfalls kommt diese Jennifer, und Rodenstock hat eine Heidenangst, dass sie länger bleibt als zwei, drei Tage, und dass sie eine Nervensäge ist. Aber Familie ist bei uns Pflicht, weißt du, Familie ist heilig. Das mag ich auch so an den Eifelern.«

»Ich erinnere mich an den letzten Besuch einer Verwandten. Das war diese leicht irre wirkende, junge Dame, die mit ihren High Heels meinen Rasen perforierte und immer hektisch schwatzte, als könne sie nicht anders.«

»Die, die jetzt kommt, macht einen ruhigen Eindruck. Und sie wird deinen Rasen hoffentlich nicht zerstören. Wann kommt denn deine Maria wieder mal?«

»Sie hat angefragt, heute. Ich rufe sie an.«

»Woher kommt eigentlich deine Scheu vor Familie?«

»Habe ich die? Wirklich?«

»Ja, die hast du. Was ist da passiert?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht werde ich es eines Tages wissen«, wich ich aus.

Sie kicherte. »Du ziehst immer sehr schnell den Schwanz ein.«

»Ach, Emma!«

»Na ja, die deutsche Sprache ist zuweilen richtig gut. Aber das gibt es im Holländischen auch.«

»Können wir fahren?«, fragte Rodenstock hinter uns.

»Aber ja, mein magischer Rodenstock«, hauchte Emma.

Wir stiegen also ein, und ich musste fahren, weil sie beide etwas Alkohol getrunken hatten.

Rodenstock sagte: »Da ist sehr viel Feuer im Busch wegen dieses Kommissionsleiters. Kischkewitz hat zwei seiner Leute schon nach Hause geschickt und wartet eigentlich nur ab, ob sich die Sachlage grundsätzlich bessert. Er sagte, er hätte zur Bedingung seiner Arbeit gemacht, dass dieser Jakob Stern sofort wieder freigelassen wird. Und er hat eine weitere Bedingung gestellt: Dieser Leiter müsse auf einer Pressekonferenz erklären, dass Jakob Stern auf freiem Fuß sei und als Täter nicht in Frage komme. Er sagte, Jamie-Lee habe keine erkennbare Verletzung, es gebe auch keinerlei Anzeichen einer Vergewaltigung. Keine Würgemale, keine Wunden von schweren Schlägen, kein Hinweis auf einen Kampf. Also keine Abwehrzeichen. Kein Hinweis auf ein Verbrechen an ihrer Kleidung. Er schickt uns die Fotos von ihr rüber nach Heyroth. Das ist alles. Ach so, noch etwas: Die Schminke im Gesicht der Kleinen ist einfaches Zeug aus einem Ramschladen, wahrscheinlich Billigzeug aus dem Karneval. Und mit Sicherheit war es nicht die Kleine selbst. Sie hatte keine Spuren davon an den Fingern.«

»Ich denke, dass der Täter möglicherweise ein Zeichen setzen wollte«, überlegte Emma. »Ich denke da an einen religiösen Eiferer, der auf die Sündhaftigkeit der Frau hindeuten wollte.«

»Das könnte sein«, nickte Rodenstock. »Und es könnte auch sein, dass der Täter eine Frau war. Zumindest können wir das nicht ausschließen, wenn wir einen religiösen Grund in Erwägung ziehen.«

»Hoffentlich war es keine Hexe!«, sagte Emma mit einem herrlich sarkastischen Unterton.

»Weshalb warst du eigentlich so zickig vorhin?«, fragte ich.

Sie überlegte eine Weile. »Griseldis ist aus langer Übung bemüht, so zu tun, als sei sie eine normale Frau. Hexenrituale kommen ihr nicht in die Tüte, die Leute müssen ihre Schwierigkeiten definieren können. Das ist reine Lebensberatung, was hat das mit Hexerei zu tun? Mit anderen Worten: Sie spielt die Harmlose, und ich gehe jede Wette ein, dass sie so harmlos nicht ist, gar nicht sein kann. Ich würde ihr gern tausend Fragen stellen.«

»Du solltest ein paar Stunden Astro-TV gucken«, riet ihr Rodenstock. »Du erweiterst damit dein Wissen und deinen Wortschatz. Jede Menge Lebensberatung auf allerhöchstem Niveau, sowie Kenntnisnahme vom Hellsehen, Auspendeln, Glaskugelgucken, Kartenlegen, Kaffeesatzlesen, und selbstverständlich auch die Bekanntschaft mit allen möglichen Urururopas deiner längst verstorbenen Anverwandten, mit denen du immer schon mal ein paar Runden schwätzen wolltest. Du musst nur dort anrufen und quäken: Hier ist Emma aus Holland. Ich wollte mal fragen, ob ich demnächst dem Mann meiner Träume begegne?«

Ich konnte sein Gesicht im Spiegel sehen, es war eindeutig wölfisch.

»Was glaubst du, was ich tue, wenn ich nachts nicht schlafen kann und durch das Haus tigere?«, seufzte seine Frau.

»Du guckst heimlich Astro-TV«, sagte Rodenstock mit großer Empörung. »Das hast du mir vor unserer Hochzeit verschwiegen, das wirst du büßen. Ich lasse unsere Ehe für null und nichtig erklären.«

»Auch Frauen haben Bedürfnisse«, seufzte Emma verschämt.

»Aber Bedürfnisse ohne ausdrückliche Zustimmung der Männer kann es doch gar nicht geben«, bemerkte ich.

»Kleinkarierte Machos«, sagte sie.

Damit war der Scherz schal, und also schwiegen wir, bis ich auf meinen Hof rollte und Marias Auto dort sah.

»Ihr könnt zum Abendessen zu uns kommen«, bemerkte Emma zuckersüß.

»Darauf solltest du dich nicht verlassen«, bemerkte ich.

»Aber ruf mich wenigstens an«, mahnte Rodenstock.

»Das mache ich.« Ich stieg aus, Rodenstock ging um den Wagen herum, setzte sich und fuhr vom Hof.

Ich stand einfach eine Weile da und fand das Leben mühsam. Ich freute mich nicht einmal, dass Maria da war.

Sie saß auf einem Stuhl am Teich mit dem Rücken zu mir. Sie sagte, ohne sich umzudrehen: »Ich nahm an, dass du irgendwann zurückkommst, da habe ich gewartet.«

»Das ist auch gut so.« Ich ging rüber zu ihr, bückte mich und küsste sie auf die Stirn. »Welche Ehre! Wie geht es dir denn?«

Sie wirkte irgendwie edel, sie war nicht geschminkt. Jeans, halbhohe Schuhe, eine einfache, weiße Bluse. »Nicht so gut«, antwortete sie mit flacher Stimme.

»Hat Aldi dich entlassen?«

»Nein, haben sie nicht. Im Gegenteil, ich bin jetzt zuständig für drei weitere Märkte.«

»Ich hoffe, sie bezahlen das.«

»Ja, tun sie. Aber das ist es nicht, Baumeister.«

»Was ist es dann?«

»Hol dir einen Stuhl, dann sag ich es dir.«

»Willst du was zu trinken? Wasser, Kaffee, ein Bier?«

»Nichts. Ich will nur reden.«

Ich holte einen Plastikstuhl und setzte mich so, dass ich sie anschauen konnte. Ich ahnte Böses, hatte aber keine Ahnung, was sie wollte. »Du wirst versetzt nach Trier oder Koblenz oder Köln oder Aachen«, bemerkte ich etwas lahm und geschwätzig.

»Das ist es nicht«, sagte sie. »Es hat etwas mit dir zu tun.« Ihre Stimme leierte merkwürdig in einer gleichbleibenden Tonhöhe. Es war so, als habe sie Angst, etwas Deutliches zu sagen. Ich hatte sie noch nie so erlebt, ich kannte sie nur als einen Menschen, dem Angst fremd ist. »Hör auf, zu diskutieren, Baumeister.« Jetzt wurde sie energisch.

»Also schön: Du bist zum letzten Mal hier, du hast die Nase voll, du willst das zwischen uns nicht mehr, du willst deine Ruhe bei Aldi.«

»Richtig«, sagte sie. Dann stand sie unvermittelt auf und tat ein paar Schritte.

»Ja«, sagte ich und weiß heute, dass das dümmlich war.

»Ich will es dir erklären«, sagte sie und starrte in das Wasser.

»Das musst du gar nicht«, sagte ich.

»Oh, doch, das muss ich wohl«, widersprach sie. »Ich muss die Dinge klarstellen.« Sie machte drei Schritte zurück zu ihrem Stuhl und setzte sich. »Wir hatten eine schöne Zeit.«

»Ja, hatten wir.«

»Aber ich kann das so nicht. Ich brauche Sicherheiten.«

»Und ich bin nicht sicher.«

»Nein, bist du wirklich nicht. Es war aufregend mit dir, jedenfalls zu Anfang. Aber dann hast du hier gehockt, und ich hockte in Prüm. Wir hatten beide zu arbeiten, und das war ja auch gut so. Die Treffen mit dir wurden immer seltener, und ich war meistens die, die zu dir kam, nicht umgekehrt. Nein, nein, lass mich ausreden, unterbrich mich nicht.« Sie starrte auf ihre Hände in ihrem Schoß. »Ich habe den Eindruck, als hättest du aufgehört, wirklich mit mir leben zu wollen, so als sei das egal, ob wir uns heute sehen oder in einer Woche. Irgendwie scheint dir das vollkommen egal zu sein. In Wirklichkeit hast du doch keine Zeit für mich. Du setzt dich doch nicht mehr in dein Auto und stehst überraschend bei mir an der Kasse. Anfangs hast du das gemacht, jetzt nicht mehr, seit Monaten nicht mehr. Weißt du, so kann ich nicht leben.«

Mein dicker Goldfisch Zarathustra schwamm dicht an der Oberfläche und machte sein Maul rhythmisch auf und zu, als kriege er keine Luft. Dann schlug er heftig mit dem Schwanz auf die Oberfläche und verschwand.

»Also, ich kümmere mich nicht um dich.«

»Korrekt! Ich erinnere mich, dass du gesagt hast, wir könnten ja samstags ins Bett gehen und montags morgens um sechs aufstehen. Das haben wir zweimal gemacht. Dann kamst du gar nicht mehr, dann hattest du immer eine andere Erklärung. Von Zärtlichkeit keine Spur mehr. Ich habe sogar gedacht, du hättest eine andere Frau. Aber wahrscheinlich ist das gar nicht so, wahrscheinlich hast du nur Angst davor, dich festzulegen.« Dann weinte sie unvermittelt und sagte schluchzend: »Verdammt noch mal, du weißt doch genau, was ich meine.«

»Ja«, sagte ich.