Mondfluch 3: Aufstand der Menschen - Kathrin Wandres - E-Book
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Mondfluch 3: Aufstand der Menschen E-Book

Kathrin Wandres

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Beschreibung

Es war stets das Ziel, den Fluch zu brechen. Doch was, wenn das Schlimmste erst bevorsteht? Obwohl Thy den Mondfluch erfolgreich gebrochen hat, ist sie am Boden zerstört, denn von Koraj fehlt jede Spur! Sofort macht sich Thy auf die Suche nach ihm und seinen Entführern: der Dunkelseele Suri und ihrem Sohn Zafaar. Niemand ist mächtiger als er - das mysteriöse Halbwesen mit der schwarzen Narbe. Doch die Zeit drängt, denn ein noch größeres Unheil bahnt sich seinen Weg durch das Land Ay. Die zunehmenden Beben und Rauchwolken kündigen den Ausbruch des Vulkans an und damit die Zerstörung der Welt. Bei Thys Rettungsaktion kommt ihr ausgerechnet ihre Erzfeindin zur Hilfe. Bis das Unvorstellbare geschieht.

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Inhaltsverzeichnis

Titelei

Impressum

Die Basics

Namensregister

Die Sage von der Unendlichkeit der Erde

Was bisher geschah ...

Prolog

HEUTE – EINE WOCHE VOR SONNENWENDE

Wenige Tage vor Sonnenwende

5 Tage und wenige Stunden bis Sonnenwende

4 Tage und 12 Stunden bis Sonnenwende

4 Tage bis Sonnenwende

3 Tage und 18 Stunden bis Sonnenwende

3 Tage und 12 Stunden bis Sonnenwende

3 Tage und wenige Stunden bis Sonnenwende

3 Tage und wenige Stunden bis Sonnenwende

2 Tage und 18 Stunden bis Sonnenwende

2 Tage und 12 Stunden bis Sonnenwende

2 Tage und 6 Stunden bis Sonnenwende

2 Tage bis Sonnenwende

1 Tag und 12 Stunden bis Sonnenwende

1 Tag und 6 Stunden bis Sonnenwende

Beginn der letzten Nacht vor Sonnenwende

Letzter Sonnenaufgang vor Sonnenwende

Sonnenwende

Ein neues Heute

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Leseprobe »Milou – Die Suche nach dem Ende der Welt«

 

 

 

Kathrin Wandres

 

 

MONDFLUCH

 

Band 3

Aufstand der Menschen

 

 

 

 

www.kathrin-wandres.de

www.facebook.com/KathrinWandresAutorin

www.instagram.com/kathrin.wandres

 

 

© 2020 Kathrin Wandres

www.kathrin-wandres.de

Zeisigweg 6

73035 Göppingen

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

Lektorat und Korrektorat:

Daniela Jäckle | www.wortgenau-textwerkstatt.de

Cover: Pintado | www.pintado.weebly.com

Schlussredaktion: Mira Valentin

 

 

 

 

 

Alle Bestandteile dieses Buches sind geistiges Eigentum der Autorin. Die Verwendung der Texte und Bild – auch auszugsweise – ist ohne vorherige Zustimmung der Autorin urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Verarbeitung mit elektronischen Medien. Die unautorisierte Nutzung und Verwertung von Texten, Namen oder Sachverhalten für oder zu Spielen und Spielsystemen aller Art ist nicht erlaubt.

 

 

Die Basics

 

Das Land Ay: besteht aus dem Sumpf BEDAWI im Süden und der Kraterzone HAMOG im Norden. Bedawi und Hamog sind durch den mehrere Kilometer breiten Schilfgürtel VUR voneinander getrennt. In der Kraterzone Hamog befindet sich zudem der gleichnamige Vulkan Ay.

 

Halbwesen: bewohnen den Vulkan Ay. Große, übermenschlich schnelle und starke Wesen. Bis zum Brechen des Mondfluchs waren sie gezwungen Menschen zu töten, um zu überleben, und sie waren nur nachts für Menschen sichtbar.

 

Unschuldiges Halbwesen: Halbwesen, das niemals tötete. Absolute Seltenheit, da der erste Mord meist früh und aus Angst geschieht. Ein unschuldiges Halbwesen stirbt, wenn es das Erwachsenenalter erreicht (spätestens mit zwanzig Jahren).

 

Abtrünniges Halbwesen: Halbwesen, das sich zu Zeiten des Fluchs dagegen entschied zu töten. Da dies nach seinem ersten Mord geschah, stirbt es nicht, sondern wird lediglich schwächer.

 

Dunkelseelen: Jeder zur Sonnenfinsternis Geborene wird zur Dunkelseele. Diese entwickeln besondere Fähigkeiten, zum Beispiel können sie Visionen von anderen Orten, Personen oder Zeiten haben.

 

Menschen: leben versteckt in kleinen Siedlungen im Sumpf Bedawi. Sind den Halbwesen deutlich unterlegen.

 

Der Mondfluch: entstand durch den Diebstahl des Mondlichts vonseiten der Halbwesen. Knechtete die Halbwesen fortan, Menschen zu töten, um zu überleben. Durch die Rückgabe des Mondlichts und der Sonnendunkelheit während der letzten Sonnenfinsternis wurde dieser Fluch jedoch gebrochen.

 

Das Mondlicht: stürzte einst zur Erde. Die Halbwesen erhielten den Auftrag, es dem Mond zurückzugeben, doch sie behielten es für sich, weil es ihre Macht steigerte. Es wurde im Ay aufbewahrt, bis Thy es während einer Mondfinsternis entwendete und seither in sich trug, bis es durch das Brechen des Fluchs an den Mond zurückgegeben werden konnte.

 

Die Bruchstücke der Sonnendunkelheit: stürzten infolge des Verlusts des Mondlichts zur Erde. In einer Neumondnacht barg Thy drei der Bruchstücke aus dem Nebelsee. Das letzte Bruchstück besaß Suri als Kette, welches ihre Fähigkeiten als Dunkelseele steigerte und sie verjüngte. Genau wie das Mondlicht dem Mond wurden die Bruchstücke an die Sonne zurückgegeben.

 

Die drei Sagen: Es existieren insgesamt drei Sagen. Die Sage vom Licht des Mondes, von der Dunkelheit der Sonne und von der Unendlichkeit der Erde. Nur als Einheit können sie das Gefüge zwischen Sonne, Mond und Erde wiederherstellen.

Namensregister

 

THY: 17, Mensch, Tochter eines Halbwesens, geboren zur Sonnenfinsternis, Fähigkeit: Menschlichkeit

 

HALBWESEN

KORAJ: 20, unschuldiges Halbwesen

AYAY: abtrünniges Halbwesen, Vater von Thy

BERBAT: Kommandant der Halbwesen, Sohn der wirren Mo, Vater von Zafaar, ermordet von Laia

BARISCH: abtrünniges Halbwesen

ZAFAAR: 20, Sohn der Dunkelseele Suri und des Halbwesens Berbat

NAMUR: älteres, abtrünniges Halbwesen

 

DUNKELSEELEN

SURI: Oberste der Dunkelseelen, Mutter von Zafaar

Die weißhaarigen FÜNFLINGE: Brüder von Suri

RAKAN: ehemaliger »Türsteher« von Ayah (gestorben)

Die wirre MO: eigentlich: Morianha, ehemalige Bewohnerin von Thys Siedlung, Mutter von Berbat (gestorben)

 

MENSCHEN

LAIA: Mitte 30, Schwester von Thy, ehemalige Gefangene von Berbat, labiler psychischer Zustand

RUNE: Großvater von Thy, blind seit der Sonnenfinsternis bei Thys Geburt, wohnte lange in einem Sumpfriesen

ORI: Oberster von Thys Siedlung

UNINA: auch genannt »Mutter Una«, Mutter von Ohnename und Ziehmutter von Pek, Blitz, Donner und ehemals Dea

PEK: 15, Bruder der verstorbenen Dea, lebt bei Mutter Una

OHNENAME: wenige Wochen alt, Sohn von Una, Vater unbekannt

BLITZ und DONNER: 13, auch genannt »die stummen Zwillinge«

SERBO: Mitte 30, Bruder des verstorbenen Jaso

RADI: 8, Sohn von Moriad

Die Sage von der Unendlichkeit der Erde

 

 

Es war einmal zu einer Zeit, als die Erde noch

ihre eigene Unendlichkeit besaß. Es war eine

wunderschöne, aus sich heraus starke

Grenzenlosigkeit und viele Jahrmillionen

herrschte eine friedliche Beständigkeit.

 

Doch eines Tages begann ein Krieg

auf dem Mond. Dabei erlosch dessen

Licht und stürzte zur Erde.

 

Durch den Absturz des Mondlichts wurde ein

tiefer Schlund in die Erde gerissen und

der Strom der Unendlichkeit im Inneren

des Planeten unterbrochen.

 

Dies blieb nicht ohne Folgen.

Der Fortbestand der Erde konnte fortan

nur durch die geliehene Kraft des

Mondlichts gesichert werden.

 

Doch weh dem Menschen, der das

Licht des Mondes zurückgibt und

damit den Zerfall der Erde besiegelt.

 

Durch den Bruch des Stroms der

Unendlichkeit ist die Erde nicht mehr

in der Lage, aus eigener Kraft

weiterzubestehen. Wenn nun noch der

Verlust des Mondlichts hinzukommt ...

 

... zerstört sie sich selbst.

Unaufhaltsam.

 

 

 

Was bisher geschah ...

 

Mehrere Jahrtausende lang wurden die Menschen von den übermächtigen Halbwesen geknechtet und getötet. Die wenigsten wussten, dass das Töten für die Halbwesen überlebensnotwendig und an einen mächtigen Fluch gebunden war. Als Thy das gestohlene Licht des Mondes aus dem Besitz der Halbwesen entwendete, war ein erster Schritt getan, um den Fluch zu brechen.

Das unschuldige Halbwesen Koraj hatte seit jeher den Wunsch, nie zu töten und entschied sich, lieber zu sterben, als zum Mörder zu werden. Schon bei ihrem ersten Zusammentreffen spürte Thy die Andersartigkeit von Koraj und schnell verliebten sich die beiden ineinander.

Die mächtige Dunkelseele Morianha, die jahrelang als »die wirre Mo« in Thys Siedlung lebte, trug einen wichtigen Teil auf dem Weg zum Brechen des Fluchs bei. Lange Zeit wurde die wirre Mo von Suri, der Anführerin der Dunkelseelen, für ihre Zwecke missbraucht. Suri machte Jagd auf Thy und das Mondlicht, ebenso wie Berbat, der Oberste Kommandant der Halbwesen, von dem schließlich bekannt wurde, dass er der Sohn der wirren Mo war und gemeinsam mit Suri einen Sohn hatte. Dieser wurde angeblich von Halbwesen ermordet. Auf der Flucht vor Suri verhalf Berbat Thy und Koraj zum Fund der verloren gegangenen Bruchstücke der Sonnendunkelheit, die für das Brechen des Fluchs benötigt wurden. In einem Hinterhalt töteten Suris Brüder in deren Auftrag die wirre Mo – vor den Augen ihres Sohnes. Die im Sterben liegende Mo lieferte Thy den entscheidenden Hinweis, dass der Fluch nur mit der Rückgabe des Mondlichts und der Sonnendunkelheit während der anstehenden Sonnenfinsternis gebrochen werden konnte. Mithilfe eines schwarzen Sees plante Suri die Vernichtung aller Halbwesen. Bei einem Aufeinandertreffen an diesem See erkannte Thy, dass das letzte fehlende Bruchstück als Kette an Suris Hals hing. Mit Thys Schwester Laia als Suris Geisel schien es aussichtslos den Fluch zu brechen. Erst Berbat entwendete in einem Überraschungsangriff Suris Kette, wurde aber während der Übergabe der Kette an Thy unabsichtlich von Laia getötet. Durch Berbats Opfer war Thy in der Lage, den Mondfluch zu brechen. Noch während der abklingenden Sonnenfinsternis hatte Thy eine rätselhafte Vision von einer zerberstenden Dunkelheit. Doch kurz danach geschah das Unglaubliche: Berbats Sohn Zafaar tauchte auf und gemeinsam mit seiner Mutter Suri entführte er Koraj. Thy blieb ratlos und verzweifelt zurück.

 

Prolog

Damals – Vor einigen Jahren

 

Sie rannten. Seit Ewigkeiten währte diese Nacht bereits, in der die Menschen um ihr Leben rannten. Immer neue Fetzen von Todesschreien wehten ihm in das tränenüberströmte Gesicht, als wollten sie ihm mitteilen, dass er der Nächste sein würde. Alle Hoffnung, die er in seiner zerstörten Seele noch finden konnte, holte er hervor und betete sie sich in Gedanken vor, so intensiv er nur konnte. Hoffnung, dass er überleben würde. Denn genau das hatte sie ihm gesagt, als sie ihn in diesem Versteck zurückgelassen hatte.

»Verhalte dich ruhig«, hatte sie ihm eingebläut, bevor sie im Dunkel der nahenden Gefahr verschwunden war. »Dann wirst du überleben. Ich locke sie fort. Dich können sie nicht spüren. Im Morgengrauen werde ich dich holen.«

Mit angstvoll geweiteten Augen hatte er sie angestarrt, angefleht, ihn nicht alleine zu lassen.

»Aber Mutter ...«, hatte er geschluchzt, doch sie hatte ihm jedes weitere Wort untersagt.

»Sie kommen!« Damit war sie verschwunden.

Seit Stunden nun hockte er in dem von ihr gewählten Versteck, lauschte den panischen Schreien der Sterbenden, hörte sie rennen, in dem Wissen, dass keiner von ihnen schnell genug sein würde, um ihnen zu entkommen. Denn Halbwesen gewannen immer! So viel wusste er bereits mit seinen jungen Jahren. Dies war die mächtigste Rasse auf Erden und niemand kam gegen sie an. Niemand! Eine Tatsache, die ihm gleichermaßen Furcht und Bewunderung entlockte. Gefühle, die widersprüchlicher nicht sein könnten und sich dennoch so richtig anfühlten.

Ein Schrei ganz in seiner Nähe riss ihn abrupt aus seiner gedanklichen Faszination und ließ ihn erneut in den Horror seiner Realität stürzen. Wie viele Leben waren noch übrig, wie viele Tode würde es noch dauern, bis diese Nacht vorüber war – und diese Siedlung ausgestorben?

Zitternd drückte er sich tiefer und tiefer in sein Versteck, das gerade genug Platz für ihn bot und mit so viel Dunkelzauber bedeckt war, wie seine Mutter in der Kürze der Zeit hatte aufbringen können.

Und dann sah er ihn. Auch auf die Ferne erkannte er jedes Detail an ihm, registrierte jede einzelne Narbe und das ganze Ausmaß seiner Hässlichkeit, die ihn so mächtig machte. Ehrfürchtig beobachtete er, wie der Riese mit seiner Pranke den Hals eines hilflosen Mannes umschloss, als wäre er ein Grashalm, ihn hochhob und mit einem vor Hass triefenden Blick fixierte, dass ihm allein beim Anblick übel wurde.

Und dann wusste er es, war sich von einem Moment auf den anderen sicher, ohne die Ahnung, woher diese Sicherheit rührte. Auch wenn er ihn nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte, ihn nur von den Erzählungen seiner Mutter kannte, eine schrecklicher als die andere, spürte er nun eine Verbundenheit, die zu erklären auf anderem Wege nicht möglich war: Dieser Riese war er.

»WO IST SIE?«, brüllte die Bestie auf den nach Luft ringenden Menschen ein. »Wo ist Suri?«

Beinahe war er versucht, zu ihm zu rennen, ihn davon abzuhalten, das zu tun, was Halbwesen eben tun. Er wollte ihm entgegenlaufen, ihm sagen, dass alles gut werden würde, wenn sie nur zusammenstünden. Dann könnten sie allem widerstehen und der Welt trotzen. Wenn sie nur wieder eine Familie wären. Denn obwohl er wusste, wer dieser Mann war und wozu imstande, so spürte er doch diese Verbundenheit, die ihn mehr überwältigte, als er für möglich gehalten hätte. Vielleicht hatte seine Mutter unrecht, vielleicht war er mehr als nur eine Tötungsmaschine, vielleicht ...

Das Krächzen des Röchelnden war offensichtlich die falsche Antwort, denn mit dem nächsten nicht vorhandenen Atemzug schüttelte das Halbwesen abfällig seine schwarze Mähne. Und dann – ohne Vorankündigung, ohne dass es absehbar war – stieß er die gespreizten Finger seiner freien Hand in die vor Angst weit aufgerissenen Augen seines Opfers, worauf dieses sich in einer Bandbreite noch nie erklungener Schmerzenslaute verlor. Erst als lediglich noch ein Wimmern aus ihm herausdrang, zuckte sein Foltermeister gelangweilt mit den Achseln, ehe er den Sterbenden achtlos wie Kraterstaub in die brennende Ruine einer Hütte warf.

Nie hatte er einen abscheulicheren Anblick ertragen müssen als diesen, nie ein Wesen gesehen, das so viel Kälte und Mordlust zu Tage trug wie dieser Riese. Alle zuvor aufgeflammten Hoffnungen zerfielen zu einem Scheiterhaufen voll grauer, lebloser Asche.

Gelähmt vor Verachtung gegenüber diesem Monster von einem Mann konnte er nur hilflos würgen – und die nach oben gedrückte Galle mit einem widerwärtigen Zwang wieder hinunterschlucken.

Und den bitteren Geschmack würde er sich merken, so viel nahm er sich vor in jener Nacht, in der er die Halbwesen zu hassen begann. In der er ihn zu hassen begann.

»Niemals«, schwor er sich im Angesicht seines nun selbst erklärten größten Feindes, »werde ich so wie du werden, Vater!«

 

HEUTE – EINE WOCHE VOR SONNENWENDE

 

Erinnerungen sind Wegweiser.

Dem einen Lust, dem anderen Last,

bestimmen sie deine Zukunft, wenn du sie lässt.

Doch es liegt an dir, welchen Weg du einschlagen wirst.

(Die wirre Mo, ehemalige Dunkelseele aus Bedawi)

 

Dreckig wie die hinterhältigen Pläne eines Verräters zieren die schlammigen Sumpflöcher den unebenen Boden. Jeden Tag aufs Neue entdecke ich weitere von ihnen, eins schmutziger und unberechenbarer als das andere. Doch keines von ihnen half mir je weiter. Keines offenbarte Spuren, Hinweise oder versteckte Falltüren. Nirgends fand ich Geheimverstecke, neue Höhlen oder gar Gefängnisse, in denen ich das hätte finden können, wonach ich verbissener suchte, als ich je nach etwas gesucht habe – oder besser gesagt: nach jemandem. Nach ihm.

Mit ausdrucksloser Miene sichte ich die nähere Umgebung in dem Sumpfgebiet, das mir für heute zugeteilt wurde, und von dem ich mal wieder ohne Ergebnisse zu unserem Stützpunkt zurückkehren werde. Ich nenne ihn Stützpunkt, denn mehr ist er für mich nicht. Ein Ort, von dem aus wir agieren und der uns momentan Unterschlupf und Sicherheit bietet – wer weiß, wie lange noch, denn lange ist es nie. Und ein Zuhause kann es nicht werden, ohne den, der im tiefsten Sinne mein Zuhause bedeutet. Ohne den, der mein Leben in so andere Bahnen gelenkt und mein Herz für sich erobert hat.

Dann mache ich den Fehler und schließe die Augen.

Gestatte mir einen Gedanken an ihn.

Nur einen.

 

[ERINNERUNGEN]

Jedes Mal, wenn ich die

Augen schließe, sehe ich ihn.

Auch wenn es nur wenige Atemzüge sind.

Auch wenn es nur ein kurzes Innehalten ist.

Die Erinnerung bemächtigt sich meiner.

Wie eine monströse Killerwelle stürzt sie

über mich ein, entreißt mir meine Seele erneut

und hinterlässt stattdessen Schmerz.

Macht mir bewusst, dass dieser

Schmerz nun Realität ist.

Denn ich sehe ihn jedes Mal,

wenn ich meine Augen schließe:

Den schlimmsten Moment meines Lebens.

Wie er mir entrissen wird

und ich nichts dagegen tun kann.

Mühsam rappele ich mich hoch, um meine eingeschlafenen Füße zu lockern und meinen Aussichtspunkt auf einer Moorbirke aufzugeben. Hier wird sich heute nichts mehr ereignen. Erwartet hatte ich das ohnehin nicht. Genau wie alle anderen Spähausflüge der letzten Tage bleibt auch dieser ergebnislos.

Aus Gewohnheit überprüfe ich den Sitz meines Gürtels und das Vorhandensein meines Dolchs, denn benutzt habe ich ihn schon viel zu lange nicht mehr. Auch wenn ich nie gerne gekämpft habe, so zeigt mir doch die Abwesenheit solcher Begebenheiten, dass sich unsere Welt verändert hat. Begegnungen mit Halbwesen kommen so gut wie gar nicht mehr vor. Seit der Fluch während der Sonnenfinsternis gebrochen wurde, was nicht einmal eine Woche zurückliegt, sind sie von der Gier und Notwendigkeit zu töten befreit. Ihr Überleben hängt nicht mehr davon ab. Die Schwäche, die das Nicht-Töten mit sich brachte, sei von ihnen genommen, erklärte mir mein Vater, nachdem wir ihn in seinen unterirdischen Höhlen aufgesucht hatten. Seitdem halten sich die Halbwesen von Menschengebieten fern. Auch die Menschen haben sich verändert. Zwar hängt die Angst noch wie ein hartnäckiger Herbstnebel über uns, aber die wiedergewonnene Freiheit lässt dennoch alle aufatmen. Und für den Moment lassen sie sich gegenseitig in Ruhe, Halbwesen und Menschen, doch ein dumpfes Gefühl sagt mir, dass dies nur ein vorübergehender Waffenstillstand ist. Wer weiß, wie lange er andauert? Zu lange waren Menschen und Halbwesen verfeindet.

Ich traue dem Frieden nicht. Keiner tut das.

 

[ERINNERUNGEN]

Die Erinnerungen verfolgen mich.

Ich sehe ihn. Verletzt. Fremd.

Mit einer Härte im Gesicht, die mich ängstigt.

Doch es ist immer noch ER.

Ich sehe, wie er in dem Bodenloch verschwindet.

Mitgerissen von Suri und Zafaar.

Er entgleitet meinem Leben.

Spurlos. Ich kann es nicht verhindern.

Zafaars Wolf im Gegenzug verschwindet nicht.

Noch Stunden später bewacht er das Loch,

in dem sie abgetaucht sind.

Erst spät in der Nacht ist er auf einmal fort.

Ohne dass er Spuren hinterlassen hat.

Er ist nicht mehr aufgetaucht.

 

Von den Dunkelseelen habe ich keine mehr gesehen. Sie sind wie vom Erdboden verschluckt, als hätte es sie nie gegeben. Als hätte die Rückgabe der Sonnendunkelheit jede von ihnen mit sich gerissen. Dass dies nicht so ist, spüre ich an dem unheilvollen Vibrieren meiner eigenen dunklen Seele. Sie sind noch da. Wenn ich nur wüsste, wo. Das Schloss der ewigen Dunkelheit, Suris ehemaliger Aufenthaltsort, ist völlig leer, liegt wie ein verlassenes Geisterschloss unterhalb der Zone Hamog. Einige der Abtrünnigen wurden als Wachposten eingeteilt, um es im Auge zu behalten, aber Suri ist bislang nicht dorthin zurückgekehrt.

Ohne ihre Anführerin scheint das Volk der Dunkelseelen zu zerfallen wie eine Sandburg im Regen. Von Suri fehlt jede Spur. Nichts deutet daraufhin, dass sie je existiert hat und ich beginne mich zu fragen, ob ihr inneres Schwarz ihr die Fähigkeit verliehen hat, sich und ihre komplette Existenz vollständig auszulöschen. Einzig der still vor sich hin ruhende schwarze Kratersee deutet daraufhin, dass sie einst als mächtigste Dunkelseele unserer Zeit versuchte, die Geschicke nach ihrem Willen zu lenken. Auch den See halten wir Tag und Nacht unter Beobachtung, doch nichts regt sich.

Zumindest nicht, seit ich das letzte Mal dort war ...

 

[ERINNERUNGEN]

Kein Lüftchen weht.

Wie ein schwarzes, endloses Loch

liegt der See im Krater.

Unberührt. Harmlos. Verlassen.

Von Suri keine Spur.

Und wider Erwarten ist auch meine Schwester fort.

So fest bin ich davon ausgegangen, dass sie hier ist.

Aber was wir finden, ist nur eine Leiche.

Einen Toten, der sich geopfert hat.

Ich kann nicht aufhören, ihn anzustarren,

denn nur durch ihn konnten wir erreichen,

dass der Fluch gebrochen wurde.

Berbat. Zeit seines Lebens ein Monster.

Doch durch seinen Tod wurde er zum Helden.

 

Ein vorbeihuschender Schatten im Zwielicht des Abendlichts lässt mich am Fuß der Moorbirke innehalten. Reißt mich mit aller Gewalt aus meinen Erinnerungen, die mich verfolgen, seit er verschwand. Meine Rechte verharrt am Griff meines lange vernachlässigten Dolchs, während ich wie steif gefroren nicht wage, den dürftigen Schutz des dünnen Stamms zu verlassen. Die leichte Abendbrise hält Blätter und Pflanzen in steter Bewegung, verwehrt mir die Möglichkeit, den Ursprung des Schattens erkennen zu können. Die Gesamtheit des kleinen Sumpftals, in dem ich mich gerade befinde, zu überblicken, ist von hier unten ausgeschlossen. Das schmale Rinnsal, das sich durch das Tal hindurchwindet wie eine Seeschlange, plätschert leise vor sich hin. Es mündet im hinteren Bereich in drei seichte Gewässer, die von hohem Zyperngras umgeben sind. Neben dem wild-wuchernden Wollgras im Bereich meines Aussichtspunktes erheben sich frisch blühende Schwertlilien, die zu dieser Jahreszeit dem Sumpf ein neues, freundliches Gesicht verleihen. Doch auch wenn er dadurch harmlos, beinahe idyllisch erscheint, sollte man sich seiner immer lauernden Gefahren bewusst sein. Denn das Moor ist ein gefräßiges Biest, dessen Heimtücke aus dem Hinterhalt kommt. Unerwartet, schnell – und mit stets tödlichen Konsequenzen.

Mit langsamen, bedächtigen Schritten bewege ich mich von der Nähe der Birke hinweg, darum bemüht, mich in den langen Schatten der Abenddämmerung entlangzuschleichen. Meine umherhuschenden Blicke decken möglichst viel meiner Umgebung ab, um nahende Gefahren sofort zu entdecken. Doch egal, wie konzentriert ich mich auch umsehe, der zuvor gesichtete Schatten bleibt verschwunden.

Während ich mir mit aller Gewalt einrede, dass es sich dabei lediglich um einen Kranich, vielleicht auch um einen der seltenen Sumpfhirsche gehandelt haben muss, mache ich mich auf den Weg zurück zum Stützpunkt. Meine Tageswache neigt sich dem Ende zu und sicher erwarten die anderen bereits meine Rückkehr. Ein dumpfes Grummeln im Erdboden begleitet meinen Rückweg, aber seit jenem Moment im Vur am Tag der Sonnenfinsternis ist es zu unserem täglichen Begleiter geworden. Erschütterungen im Boden, Donnergrollen aus der Ferne – Anzeichen von etwas, das keiner auszusprechen wagt. Während ich nach Hause renne, werfe ich einen letzten Blick gen Norden und was ich sehe, ist das gleiche Bild wie heute Morgen und wie alle Tage zuvor, seit der Fluch gebrochen wurde: Wie ein schlafender Riese liegt der Ay am Horizont, stößt sein donnerndes Schnarchen in Form von düsteren Rauchwolken in unregelmäßigen Abständen in die Atmosphäre, und auch wenn es unseren inneren Fluchtinstinkt auslöst, so ist Wegrennen doch keine Lösung. Wir merken tagtäglich bei unseren Erkundungsgängen, dass der Süden unbewohnbar ist und keine Alternative darstellt. Trotzdem weiß es jeder von uns: Dieser brodelnde Vulkan ist eine neu gewachsene Bedrohung.

 

***

 

Mit einem schlichten Kopfnicken begrüße ich die Wache. Obwohl die Sonne bereits untergegangen ist und ich mal wieder viel zu spät bin, enthält der Abtrünnige sich seines Kommentars. Ein kleines Schmunzeln liegt ihm dennoch auf den Lippen, ehe er sich wieder seiner Aufgabe widmet und konzentriert die Gegend unterhalb der kleinen Baumgruppe unter Beobachtung hält, am Rande derer wir Schutz gefunden haben. Nicht, weil der Ort besonders schön wäre, sondern einfach, weil wir von hier die ganze Umgebung im Blick haben und dennoch durch den Schutz der Bäume gut versteckt sind. Das rötliche Leuchten des neuen Mondes beginnt, das klare Licht des Tages abzulösen. Denn, ja, es ist tatsächlich geschehen und wenn ich des Nachts hinaufschaue zu dem Mondlicht, das ich einst in mir trug, kann ich mir nicht mehr vorstellen, dass all dies erst wenige Tage zurückliegen soll. Die Lichtverhältnisse in unserer Welt haben sich geändert, zum Vorteil für alle, denn die Nächte sind jetzt auch für Menschenaugen nicht mehr undurchdringbar finster. Der Mond ist uns nicht länger feindlich gesinnt. Er schenkt der Natur weiterhin genug Dunkelheit zur Erholung, sein rötliches Leuchten aber nimmt den Menschen ihre für die Nacht typische Blindheit. Dennoch ist es nach wie vor sicherer, ein Halbwesen als nächtlichen Wachposten einzuteilen.

 

[ERINNERUNGEN]

Berbats Anblick ist kaum zu ertragen.

Ein durchbohrter Rücken.

Mit Suris Schwert.

Geführt von Laias Hand.

Niemand ahnte, dass ausgerechnet er

zum Opfer werden würde. Und zum Retter.

Dennoch wirkt der Ausdruck auf seinem

von Narben entstellten Gesicht friedlich,

beinahe glücklich.

Als wäre er für etwas gestorben,

für das es sich zu sterben lohnt.

 

Wortlos gehe ich an der Wache vorbei und geselle mich zu den anderen Versammelten, nehme auf einem Baumstumpf am Rande der Gruppe Platz. Nur Großvater begrüßt mich mit seinem wie gewohnt ins Leere gehenden Blick. Er bemüht ein aufmunterndes Lächeln auf seine Lippen, das ich dankbar zur Kenntnis nehme. Dass es mehr benötigt, um das Dunkel meines Herzens zu erhellen, weiß er. Dennoch bin ich ihm für seine liebenswerten Versuche dankbar.

Meine Verspätung ignorieren die Anwesenden, lassen sie mir durchgehen wie so vieles anderes. Es ist stets weit nach Sonnenuntergang, wenn ich den Stützpunkt betrete, und jedes Mal ist die abendliche Berichterstattung schon in vollem Gange.

»... und der südliche Bereich unterhalb des schwarzen Kratersees war völlig unauffällig. Nach wie vor hat sich dort niemand gezeigt«, beendet Barisch gerade seine Meldung.

»Gut«, nickt mein Vater seine Auskunft ab. »Den nördlichen Bereich von hier bis zum Vur haben wir somit abgedeckt. Barisch übernimmt die Einteilung der westlichen Gefilde für den morgigen Tag. Wie war die Jagd, Serbo?«

Der Genannte nickt zögerlich. »Ausreichend«, antwortet er vage und mein Vater schürzt nachdenklich die Lippen.

»Einen Tag bleiben wir noch in diesem Gebiet. Dann ziehen wir weiter«, beschließt er und erntet zustimmendes Nicken von den Anwesenden.

 

[ERINNERUNGEN]

»Wir werden ihn begraben«,

höre ich eine Stimme.

Es ist meine, doch so von Trauer und

Schock entstellt, dass ich sie nicht

wiedererkenne. Niemand widerspricht.

Alle wissen, dass wir Berbat nicht

hier liegen lassen können.

An dem See der Frau, die ihm das

Wichtigste im Leben entrissen hat.

Seinen Sohn.

 

Damit ist die Versammlung beendet. Wortlos löst sich die Gruppe auf, nur Ayah kommt müde lächelnd auf mich zu.

»Du bist spät«, kommentiert er und legt mir eine Hand auf die Schulter. Sein Blick ist väterlich besorgt. Auf gewisse Weise ist die Anstrengung aus seinen Gesichtszügen gewichen.

»Du hast meinen Bericht ausgelassen«, ignoriere ich seine Mahnung und schaue ihn vorwurfsvoll an.

»Thy, Mädchen«, mischt sich nun Großvater ein. »Dein Blick ist Bericht genug!«

Beinahe lache ich laut auf. »Das sagt der Richtige!«

Großvaters blinde Augen starren ins Nichts, während er näher an mich heranrutscht und seine zittrige Hand nach meinem Oberschenkel tastet. »Deine Trauer bohrt tiefe Löcher selbst in meine Seele. Und es gibt nichts, was sie dir nehmen könnte.«

Ich nicke lediglich, denn ich empfinde seit Tagen nur noch Leere. Waren es am Anfang noch Wut und der unbedingte Wille, Koraj zu finden, so haben sich jetzt Hilflosigkeit und bittere Verzweiflung dazugemischt. Am meisten fürchte ich mich vor der Hoffnungslosigkeit, die mit endgültigen Fingern nach mir zu greifen beginnt und Stück für Stück meine Seele in Fetzen legt.

»Wir werden nicht aufhören, ihn zu suchen, Thy«, bekräftigt Ayah, doch ich fühle mich unfähig, ihm dafür zu danken. Ihnen allen zu danken. »Wir geben nicht auf, hörst du?«

Ich ringe mir ein Lächeln ab, obwohl es mir keiner der beiden abkauft. Zu meinem Glück ist das Gespräch nun ohnehin beendet, denn die stummen Zwillinge kommen aus einem der provisorischen Lager gerannt, die wir unter dem Blätterdach der Baumgruppe errichtet haben. Freudig hüpfen sie neben Mutter Una auf und ab, die ihnen geduldig ihre abendliche Ration an Essen aushändigt. Nach einem mürrischen Gesicht von Blitz, als er in seiner Schüssel denselben Eintopf vorfindet wie in den letzten Tagen, rollt Donner zustimmend mit den Augen. Während ich ihre Mimik beobachte, reift in mir der Entschluss, morgen noch mal zu dem Sumpftal zurückzukehren. Vielleicht ist das Glück auf meiner Seite und dort hält sich tatsächlich ein Sumpfhirsch auf. Aber im Moment habe ich nicht die Ruhe, weiter darüber nachzudenken, denn das Getümmel rund um die Feuerstelle nimmt zu. Und obwohl wir schon einige Tage in dieser Zusammenstellung verbringen, staune ich doch jedes Mal aufs Neue. Nachdem der Fluch während der Sonnenfinsternis gebrochen wurde und unser Rettungsversuch scheiterte, machte ich mich auf den Weg zu den unterirdischen Höhlen, um meinen Vater, Großvater und die anderen der Siedlung aufzusuchen. Barisch und die Abtrünnigen schlossen sich mir an, um sicherzustellen, dass Zafaars Wolf mir nicht folgte. Er tat es nicht. Die anderen verstanden schnell, dass ich niemals aufhören würde, ihn zu suchen, und es wurde einstimmig beschlossen, zusammenzubleiben. Mein Vater wollte mich ohnehin nicht mehr aus den Augen lassen. Barisch und die Abtrünnigen hatten Zafaar selbst gesehen und boten sofort ihre Hilfe an, da sie als Nomaden bereits weit herumgekommen waren und sich besser im Sumpf auskannten als irgendjemand sonst. Selbst die Anwohner meiner Siedlung wollten nicht zurückbleiben. Sie hatten den Aufenthalt in den dunklen Tunneln satt. Eine Rückkehr in unsere frühere Siedlung allerdings kommt nach wie vor nicht in Frage – zumal wir weiterhin davon ausgehen müssen, dass Suri deren Standort kennt. Also hielten es alle für das Sicherste, als Gruppe weiterzuziehen, obwohl niemand genau wusste, wie das funktionieren sollte. Halbwesen und Menschen vereint? Zwei Rassen, die von der Natur zu Todfeinden erklärt wurden? Es stellte sich aber sofort heraus, dass unsere Sorgen unberechtigt waren. Denn sobald wir die Tunnel meines Vaters verließen, spürten wir den Unterschied. Die Sonnenfinsternis war vorüber und der Mond hatte auch den letzten Strahl der Sonne wieder freigegeben. Dennoch hörten wir erleichtertes Seufzen unter den Menschen in unserer Gruppe.

Denn nun ist nicht nur das Licht des Mondes in der Nacht verändert. Auch das Sonnenlicht bei Tag ist nicht das Gleiche wie zuvor. Durch die Rückgabe der Sonnendunkelheit hat es seine schmerzende Reinheit verloren. Die Anteile an Finsternis lassen nun ein Erkennen der Halbwesen für das menschliche Auge zu, selbst bei Tag. Die Zeit der Staubstürme ist vorüber.

So ziehen wir nun durch den Sumpf, angeführt von Barisch, der uns systematisch den Weg vorgibt. Viel zu viele Tage schon, obwohl es sicher noch keine Woche her ist, seitdem es geschehen ist. Ich nenne es nicht beim Namen, nenne ihn nicht beim Namen. Nicht weil ich es nicht will. Sondern weil ich zusammenbrechen würde, wenn ich es täte. Jeder in meiner Nähe weiß das. Und jeder respektiert das.

Wie lange wir so weitermachen wollen? Die Frage verdränge ich, aber in kleinen unbedachten Momenten kommt sie mir wieder in den Sinn, vernebelt all meine Gedanken und macht mich unfähig, den nächsten Schritt zu sehen. Genauso wenig kann ich darüber nachdenken, was wir bisher herausgefunden haben, nämlich gar nichts. Es gibt keine Spuren, wohin sie verschwunden sein könnten. Niemand hat etwas gesehen, keiner kennt das Halbwesen mit der schwarzen Narbe im Gesicht und einen Wolf haben wir erst recht nicht aufspüren können. Als hätte der Ay sie verschluckt und der Sumpf jegliche Spuren von ihnen in seine Tiefen gerissen.

Während ich auf diese Weise ins Nichts starre, trifft mich der nachdenkliche Blick von Ori. Auf seine ruhige, bedächtige Weise schaukelt er den kleinen Ohnename in den Schlaf und sieht mich mit einem wissenden Ausdruck in den Augen an. Ich erkenne sein Verständnis, sein Mitgefühl, aber nach wie vor spüre ich Unbehagen bei ihm. Auch er hielt es für sicherer, sich uns anzuschließen, denn so waren die Abtrünnigen, selbst als der Fluch noch aktiv war, keine Gefahr für die Menschen. Und dennoch: Menschen und Halbwesen waren seit jeher Feinde, und nun sollen sie einträchtig miteinander leben? Ich kann verstehen, dass ihm die neue Weltordnung schlaflose Nächte bereitet. Auch ich traue dem Waffenstillstand nicht.

Weil ich Oris Ausdruck nicht länger ertragen kann und auch die muntere Abendgesellschaft mir jedes Mal die Luft abschnürt, erhebe ich mich und verlasse wortlos den Feuerplatz.

Es sind einige Blicke, die ich in meinem Rücken spüre, sobald ich unseren Stützpunkt verlasse. Doch ich wende mich nicht nach ihnen um. Niemand von ihnen könnte mich aufhalten. Sie wissen das und versuchen es erst gar nicht. Denn sie kennen mein Ziel. Es ist dasselbe wie jeden Abend.

 

Wenige Tage vor Sonnenwende

 

Der Tod ist eine Endgültigkeit.

Sein Schmerz entreißt dir ein Stück deiner Seele.

Auf ewig.

(Suri, Oberste der Dunkelseelen und Mutter von Zafaar)

 

Mit gleichmäßigen Schritten wate ich durch die immerfeuchte Erde des Sumpfes. Das Zirpen einiger Zikaden und das Quaken der nachtaktiven Frösche begleiten meinen Weg. Das rötliche Licht des Mondes erhellt nur gedämpft meine Umgebung, die wie ausgestorben scheint, doch ich weiß nur zu gut, dass sie das nicht ist. Der Sumpf schläft nie.

Die frische Nachtluft klärt meine Sinne und füllt die Leere in meinem Inneren. Kälte lässt mich spüren, dass ich noch am Leben bin. Und das ist mehr als ich von anderen behaupten kann, die vor gar nicht allzu langer Zeit noch bei uns waren. Wie Berbat.

 

[ERINNERUNGEN]

Tote verlieren ihre Seele, heißt es.

Bei Berbat scheint es anders zu sein.

Wenn ich seinen Leichnam anblicke,

erkenne ich mehr. Als hätte er durch

seinen Tod mehr zu sich selbst

gefunden als Zeit seines Lebens.

In gewisser Weise beruhigt es mich,

ihn zu sehen. Wenn ich ihn

anschaue, sehe ich

Frieden, Ruhe.

Versöhnung.

 

Tiefe Atemzüge helfen mir, die Erinnerungen zu ertragen. Denn seit dem Brechen des Fluchs sind meine Träume und Visionen ausgeblieben. Stattdessen sind da nur Erinnerungen.

 

[ERINNERUNGEN]

»Such mich nicht. Sonst werde ich dich töten.«

Worte, die mein Herz zum Stillstand bringen.

Gesprochen von Lippen, die ich vor

wenigen Stunden noch geküsst habe.

Mit einem Blick, der töten könnte,

aus Augen, die nur mich gesehen haben

– doch jetzt nicht mehr.

Koraj, was ist aus dir geworden?

An welcher Stelle habe ich dich verloren?

 

Ein Vibrieren des Erdbodens reißt mich aus meinen düsteren Gedanken. Den ganzen Tag sind die Erschütterungen ausgeblieben, die uns seit dem Bruch des Fluchs dauerhaft begleiten. Auch wenn ich die kleine Hoffnung hatte, sie könnten nachlassen, so weiß ich doch, dass es nicht aufhören wird. Im Gegenteil. Es wird schlimmer werden.

Ich habe niemandem davon erzählt. Von der Vision, die mich überkam, kurz bevor Zafaar und Suri auftauchten und mit Koraj verschwanden. Es war die letzte, die mich heimsuchte, und ich frage mich, ob mit der Rückgabe der Sonnendunkelheit auch meine Kontrolle über meine Visionen abhandengekommen ist. Denn wie oft ich mich auch bemühe, eine solche hervorzurufen, die Bilder meiner Seele bleiben dunkel. Keine Umrisse zeichnen sich ab, kein Blick in eine mögliche Zukunft eröffnet sich mir. Was ich sehe, ist nur noch Leere. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als diese letzte Vision, die bald eine Woche zurückliegt, immer und immer wieder zu durchdenken. Wie ein ungelöstes Rätsel, dessen Lösung mich auf die nächste Stufe befördern könnte. Von seiner Antwort jedoch bin ich eine Ewigkeit entfernt. Ich sah in der Vision eine zerberstende Dunkelheit und eine unerbittliche Antwort der Erde – aber deren Bedeutung verschließt sich mir. Und auch wenn ich nicht weiß, wieso, habe ich dennoch das Gefühl, dass mir die Zeit davonläuft. Das Geheimnis wiegt schwer auf meiner Seele.

Als das Rauschen an meine Ohren dringt, weiß ich, dass ich mein Ziel erreicht habe. Mit entschlossenen Schritten nehme ich den Weg, der sich zwischen den Seen hindurchschlängelt, deren Wasseroberflächen rötlich im Mondlicht schimmern wie das Blut aller Verlorenen. Ein kurzer Blick über die Umgebung lässt mich sicherstellen, dass mir niemand gefolgt ist, bevor ich mit flinken Bewegungen die wenigen Steinstufen zwischen den Wasserfällen hinabklettere.

Sturmfluten von unterschiedlichsten Gefühlen strömen über mich, füllen meine Seele und mein Herz, sodass ich mich daran erinnern muss, wie man atmet. Ich wate durch das seichte Wasser, bis ich auf der kleinen Moorinsel stehe, umgeben von Wasserfällen und Erinnerungen. Jeder Schritt kostet ungeahnte Kräfte. Es fühlt sich an wie der Weg in eine andere Welt. In eine längst verlorene Vergangenheit. Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch an diesem Ort. Alles war anders. Berbat lebte noch. Meine Schwester war nicht verschollen. Und Koraj ... er war nicht fort.

Ein anderes Leben, weit entfernt von meiner jetzigen Realität.

Mit hölzernen Bewegungen nähere ich mich der Stelle. Langsam lege ich meine wenigen mitgebrachten Sumpfdotterblumen auf der noch frisch aufgefüllten Erde ab, tausche sie aus gegen die verwelkten vom Vortag. Ich bin noch immer wie betäubt, wenn ich an Berbats Grab stehe. Es erinnert mich an die Endgültigkeit der Dinge. An die Konsequenzen, die jede unserer Handlungen hat und die sich nicht rückgängig machen lassen. Das Bewusstsein der Endgültigkeit lässt mich handlungsfähig bleiben. Denn es gibt eines, das ich mich immer wieder frage: Hätte ich etwas tun können, um Berbats Tod zu verhindern?

 

[ERINNERUNGEN]

Es ist ein enormer Aufwand und kostet uns beinahe einen ganzen Tag. Barisch und einige der Abtrünnigen haben eine Holztrage gebastelt, mit der wir Berbats Leiche transportieren können. Wir warten bis zur Morgendämmerung, doch Laia taucht nicht mehr am Kratersee auf. Die ganze nähere Umgebung suchen wir ab, selbst in unserer früheren Siedlung haben wir nachgesehen: Sie bleibt verschwunden. Also verwenden wir den Nachmittag dafür, Berbat an diesen Ort zu transportieren und ein Grab auszuheben im Schatten riesiger Farne, unter denen er vor nicht allzu langer Zeit noch saß. Nachdem er mir und Koraj aus dem Todeskrater zur Flucht verholfen hat. Die Erinnerungen an jenen Tag schmerzen, genauso wie alle, in denen Koraj auftaucht. In diesem Moment berührt mich eine Hand an der Schulter. Wortlos steht Ayah hinter mir, ist einfach nur da, denn Trost gibt es in diesen Zeiten keinen.

»Er hätte es so gewollt«, beginne ich mit belegter Stimme, während Barisch und mehrere Abtrünnige die Leiche behutsam in das Grab hinablassen. »Hier begraben zu werden. Ich denke, es war der einzige Ort,

an dem er je glücklich war.«

»Er wird hier seinen Frieden finden«, sagt mein Vater leise, während Serbo und Ori das danebenliegende Grab füllen: mit der Leiche der wirren Mo. Ich nicke und zwinge mich dazu, seinen Worten Glauben zu schenken. Wenigstens sind sie im Tod wieder vereint. Mutter und Sohn. Dunkelseele und Halbwesen. Die Anwesenheit der anderen beruhigt mich. Barisch und die Abtrünnigen. Ori und der Rest der Siedlung. Und natürlich Großvater und mein Vater. Vor allem sie. Beide stellen sich neben mich. Ich spüre ihre Furcht, ich könnte zusammenbrechen. Vielleicht werde ich das auch, wenn wir ihn nicht finden. Wenn alles umsonst war. Bedächtige Stille herrscht, während einige der Abtrünnigen die Gräber mit Erde bedecken. In unseren Rücken geht die Sonne unter, taucht das kleine Sumpftal in rötliche Schatten, zu rot für einen Sonnenuntergang. Als würde die Sonne das gesamte Blut hervorholen, das durch Berbats Hand vergossen wurde. Denn keiner tötete so viele wie er. Und dennoch, er war mehr als das. »Durch ihn konnte der Fluch gebrochen werden«, flüstere ich und trotzdem hallen meine Worte durch das kleine Tal, als wollten sie es füllen mit der Güte von Berbats letztem Handeln. »Es war seine abschließende Tat, mit der er dem letzten Willen seiner Mutter nachkam. Er wusste, dass dieser es wert war, dafür sein Leben zu lassen.« Und dann durchzuckt mich die Erkenntnis wie ein heller Blitz, lässt alles andere bedeutungslos erscheinen, beleuchtet die einzige Wahrheit.

»Er wollte sterben!«

Die Blicke der Anwesenden sind getränkt von der gleichen Verwunderung, die ich in meiner Seele spüre. Und doch erkenne ich die Wahrheit. »Es war nie sein Wunsch, den Fluch zu brechen. Er wusste, dass in einer Welt danach kein Platz für ihn wäre. Dass die unzähligen Bluttaten seines Lebens ihn unfähig machen würden, ein Leben ohne Tod zu führen. Er tat es nur für sie. Für seine Mutter.«

Das Schweigen ist Zustimmung genug. Und in diesem kurzen Moment ist Berbat einer von uns. Im Augenblick des Schweigens vor seinem Grab lassen wir ihn einen Helden sein, lassen ihn den sein, der unsere Welt nachhaltig verändert hat, der Befreiung geschenkt hat, ohne sie je selbst erlebt zu haben. Als Dank widme ich ihm den Wunsch, er möge nun Frieden finden. Denn er war niemals einer von uns – und hätte es auch nie werden können. Er wusste das.

 

Berbat wollte sterben, dessen bin ich mir sicher. In einer Welt ohne das Töten hätte es keinen Platz für ihn gegeben. Doch gibt es eine solche Welt überhaupt? In vielen Momenten wünsche ich mir, er wäre noch hier, könnte mir die Fragen beantworten, was Suri und Zafaar planen und wieso sein Sohn ausgerechnet Koraj braucht. Aber jetzt stehe ich allein vor diesem unlösbaren Problem und auch wenn wir schon seit Tagen nach ihnen suchen, nach Suri, nach Koraj, nach dem Wolf – nichts deutet daraufhin, dass sie je hier waren. Es ist zum Verzweifeln und einen kurzen Herzschlag lang erlaube ich es mir: verzweifeln, innerlich zerfallen, ertrinken in Hoffnungslosigkeit. Tränen verstopfen meine Kehle, nehmen mir für diesen einen Moment jegliche Luft zum Atmen und ich weiß genau: In einem Leben ohne ihn würde ich ersticken.

Doch dann atme ich weiter. Ziehe schmerzvoll frische Abendluft in meine Lungen und zwinge meinen Körper, zu überleben. Noch muss es nicht zu spät sein. Noch könnte er leben ...

Gedankenverloren rücke ich die Blumen erst auf Mos Grab dann auf Berbats zurecht und erst bevor ich mich wieder erhebe, bemerke ich es. Neben den verwelkten vom Vortag liegen noch weitere. Frische.

Irritiert berühre ich eine der gelben Moorlilien, die schlank und unauffällig am Rand des Grabes liegen, als wüssten sie nicht, ob sie die Berechtigung hätten, dort zu sein. Und doch war es kein Zufall. Sie liegen ganz bewusst an jener Stelle.

Bestimmt war Vater bereits hier, kommt mir die einzig sinnvolle Erklärung in den Sinn. Auch ohne, dass wir darüber reden, weiß er, dass ich jeden Tag hierherkomme. Ich sehe es an seinem Blick und höre es an der Art seines Seufzens. Väterliche Hilflosigkeit nehme ich an und der Wunsch, seiner Tochter diese Art Schmerz zu ersparen. Er weiß, dass ich kaum schlafe. Stattdessen hocke ich hier, die halbe Nacht oder länger. An den Gräbern zweier Personen, die mein jetziges Dilemma zu lösen helfen könnten, wenn sie noch bei uns wären.

 

***

 

»Und du bist dir sicher, dass du auch heute wieder alleine gehen möchtest?«

Barischs Blick ist besorgt, sobald ich bei der morgendlichen Einteilung der Suchgebiete erneut eine Begleitung

ablehne. Wie jeden Tag.

Lächelnd ringe ich mir ein mühsames Nicken ab und gebe meiner Mimik einen möglichst beiläufigen Ausdruck.

Barisch wirkt wenig überzeugt, dennoch spart er sich einen weiteren Kommentar. Stattdessen ruft er zum Aufbruch. Die ersten Sonnenstrahlen ringen bereits mit dem morgendlichen Nebel. Jeden Tag aufs Neue ein Kampf, der eindeutig erscheint und doch anders ausgeht, als man frühmorgens annehmen würde. Am heutigen Morgen schöpfe ich aus ebenjener Tatsache Hoffnung.

Mit einem stummen Gruß an meinen Vater mache ich mich auf den Weg, verlasse unseren Stützpunkt vorbei an den tobenden Zwillingen, die mich beinahe über den Haufen rennen, und am hilflosen Pek, der sich vergeblich bemüht, Ohnename vom Schreien abzubringen.

Barisch winkt mir zum Abschied zu, während er sich gemeinsam mit Ori zu einem Marsch aufmacht, um das Gebiet zwischen den Nebelseen und Berbats Sumpfinsel nach Spuren und verborgenen Verstecken zu durchkämmen. Ein Unterfangen, das sinnloser kaum sein könnte. Dennoch bin ich ihnen dankbar für ihre Bemühungen. Ein dumpfes Gefühl sagt mir jedoch, dass es nicht mehr lange so weitergehen kann.

Um mich nicht weiter solchen Gedanken auszusetzen, wende ich meinen Blick von ihnen ab und tauche ein in den dichten Dschungel des Sumpfes Bedawi.

Die Blätter und Äste der Pflanzen, die an meinen Armen und Beinen entlangstreichen, geben mir eine gewisse Beruhigung, während ich mich durch die vertrauten Schatten bewege, die das Unterholz mir bietet. Es gibt mir Sicherheit trotz aller Gefahren und das Gefühl von Vertrautheit ungeachtet meiner allgegenwärtigen Einsamkeit.

Schneller als erwartet entdecke ich die ungewöhnlich mächtige Moorbirke, die ich bei meiner gestrigen Tageswache als Aussichtspunkt auserkoren habe. Im Grunde weiß ich, dass es vergeudete Zeit ist zurückzukehren. Diese Gegend bot bisher keine Hinweise auf Suri und Korajs Verbleib. Und dennoch zieht mich irgendetwas hierher. Vielleicht, so tröste ich mich, werde ich tatsächlich mit einem erlegten Sumpfhirsch zurückkehren und allen eine willkommene Abwechslung vom immer gleichen Eintopf bieten.

Aber ich komme nicht dazu, meinen Aussichtspunkt in den Zweigen des Baumes aufzusuchen, denn noch ehe ich eine Hand auf den untersten Ast gelegt habe, spüre ich es wieder. Diesmal so deutlich, dass ich augenblicklich meinen Dolch ziehe und in lauernder Haltung die Umgebung mit meinen Blicken absuche. Als könnte ich Löcher in den dichten Morgennebel bohren, starre ich mit schnellen Bewegungen um mich, kneife meine Augen zusammen, in der Hoffnung, dass mir auch nicht die kleinste Regung entgeht.

Nichts.

Meine Anspannung hindert mich beinahe daran zu atmen. Mit bedächtigen Schritten wage ich mich vorwärts. Denn ich bin mir sicher: Da war eine Bewegung. Doch der Nebel ist an diesem Vormittag kein Verbündeter. Zäh und undurchsichtig verschleiert er die Welt und hinterlässt mir keinen Anhaltspunkt, was da gewesen sein könnte.

Dann sehe ich es deutlich: Ein Schatten huscht durch den Dunst, nur wenige Schritte von mir entfernt. Ich reagiere sofort. So schnell ich kann, springe ich in die Richtung, meinen Dolch fest mit meiner Faust verschlossen, als könnte er mit ihr verwachsen. Es ist genau dieses Gefühl, das mich zum Straucheln bringt. Plötzlich fühle ich mich zurückversetzt, eine Mondphase in der Vergangenheit, als ich auf ebendieselbe Weise zum ersten Mal auf ihn traf. Koraj. Der Wunsch, ihn hier zu finden, wird übermächtig, überfällt mich mit einer Macht, die ich nicht aufhalten kann, so unerwartet, so heftig. Ich stürze zu Boden, bevor ich es stoppen kann. Lande in feuchtem Morast, der mich zur Seite gleiten lässt. Am liebsten würde ich laut aufschreien, ob der Wut über mich selbst, die sich nun in meinem Bauch aufbaut. Wer oder was auch immer hier gewesen ist, wird sich spätestens jetzt schleunigst aus dem Staub machen. Frustriert bleibe ich im Matsch sitzen und weiß nur noch eines: Ich muss Koraj finden!

Ich sehe es nicht kommen, weiß nicht woher, doch mit einem Mal, wie vom Himmel gefallen, steht der Schatten kaum eine Armeslänge entfernt vor mir. Viel kleiner als zunächst angenommen und mit einem Gesicht so braun, als wäre nicht ich, sondern er gerade in den Dreck gefallen. Es ist ein kleiner Junge.

»Ich kenne dich!« In kindlicher Konzentration schürzt er seine schmalen Lippen, mal rechts, mal links, als wären sie eine unruhige See. Mit den schmutzigen Händen kratzt er sich nachdenklich am Kopf, was seine wild abstehenden, kurzen Haare nur noch mehr zerzaust.

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, erhebe ich mich langsam, darauf bedacht, meinen Dolch nicht aus der Hand zu geben.

»Ich denke nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind«, entgegne ich ihm und sehe mich unauffällig in der näheren Umgebung um. Bestimmt ist er nicht alleine unterwegs.

Irritiert zuckt er mit seinen Augenbrauen, sodass sie sich für einen kurzen Augenblick in der Mitte zu berühren scheinen, was ihn viel zu wütend für ein Kind aussehen lässt.

»Trotzdem«, antwortet er motzig, als hätte ich ihn soeben beleidigt. Dann blinzelt er einige Male und in einer Geschwindigkeit, dass ich befürchte, er könnte jeden Moment anfangen zu weinen.

»Woher kennst du mich dann?«, frage ich ihn schnell und mit versöhnlicherem Tonfall, um zu verhindern, dass er gleich nach seiner Mama ruft.

Das scheint ihn tatsächlich zu beschwichtigen, denn er reckt stolz sein dreckiges Kinn in die Höhe und ein Funkeln tritt in seine fahlen Augen.

»Ich kenne dich«, wiederholt er, leiser als zuvor und so verschwörerisch, als würde er mir ein Geheimnis verraten. »Du bist das Mädchen, das den Fluch gebrochen hat.«

 

5 Tage und wenige Stunden bis Sonnenwende

 

Finsternis ist in ihren Schattierungen

so vielfältig wie das Licht.

Doch sie zu durchblicken,

gleicht einer Unmöglichkeit.

(Barisch, Anführer der Abtrünnigen)

 

Eins geworden mit dem Morast des Sumpfes, stehe ich wie erstarrt vor dem kleinen Jungen. Meinen Gesichtszügen konnte ich nicht rechtzeitig einen undurchdringlichen Ausdruck auferlegen und so ernte ich nun einen triumphierenden Augenaufschlag und ein seliges Grinsen, das kleine Grübchen in seinen Wangen erscheinen lässt.

»Wusste ich’s doch!«, platzt er heraus und stemmt selbstsicher seine viel zu dürren Arme in die Seiten.

»Woher weißt du das?«, frage ich irritiert, da meine perplex aufgerissenen Augen, den Versuch, es zu vertuschen, verspielt haben.

Nachdenklich legt er seinen Kopf schief, kaut auf seiner Unterlippe und überlegt offensichtlich, wie viel von seinem Wissen er mir noch preisgeben soll. Unsicher geht er einen Schritt zurück und ich befürchte, dass er nun doch heulend davonrennen wird, also halte ich ihm als freundschaftliche Geste meine Hand entgegen. »Mein Name ist Thy«, teile ich ihm mit und hoffe, dass er nicht Reißaus nehmen wird. »Das-Mädchen-das-den-Fluch-gebrochen-hat werde ich nicht oft genannt«, versuche ich zu scherzen, doch er findet es ganz offensichtlich nicht lustig. Ungerührt steht er da.

»Und wie heißt du?«

Erst da ergreift er meine Hand. Sein Händedruck ist deutlich kräftiger, als ich es von dem schlaksigen Burschen erwartet hätte.

»Radi«, antwortet er schnell und zieht seine Hand sofort zurück, als hätte er sich soeben daran erinnert, dass es ein Pakt mit dem Feind wäre, würde er sich mit mir anfreunden.

»Ein schöner Name.« Lächelnd gehe ich einen Schritt auf ihn zu. Er bleibt. »Wie alt bist du, Radi?«

»Acht.« Bestätigend zählt er die passende Anzahl an Fingern dafür ab und hält seine Hände in die Höhe. Als Beweis für die Richtigkeit seines Alters.

Anerkennend nicke ich, während ich nach wie vor in alle Richtungen schiele, um mich zu vergewissern, dass nicht jeden Moment sein wütender Vater oder seine großen Brüder aus dem Hinterhalt über mich herfallen. Aber es ist immer noch beunruhigend still.

»An deinen traurigen Augen.« Sein kurzer Zeigefinger deutet auf mein Gesicht. »Daran hab ich es erkannt.«

Als könnte ich mir die Traurigkeit auf diese Weise wieder vertreiben, wische ich mir ungläubig über die Stirn und blicke ihn fragend an.

»Sie laufen beinahe über, so traurig bist du. Aber Tränen helfen nicht, sage ich dir«, erklärt er altklug und reibt sich nachdenklich das Kinn, als würde er in Gedanken sein ganzes bisheriges Leben auf diese Behauptung hin überprüfen.

»Ich weiß«, bestätige ich nichtssagend und doch sagen meine Worte alles. Sie belegen, dass er recht hat, was meine Traurigkeit und den Sinn oder Unsinn von Tränen betrifft, und dass ich genau das nicht möchte: weinen. Denn mit den Tränen würde ich auch meine Beherrschung verlieren und am Ende mich selbst. Also verbiete ich es mir.

Denn wenn ich mich verliere, wer könnte dann Koraj retten? Ich versprach ihm einst, zu überleben. Bevor ich nicht von Angesicht zu Angesicht das Versprechen zurücknehmen kann, werde ich mich daran halten. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.

Such mich nicht. Sonst werde ich dich töten.

Worte aus der Erinnerung, die meine Seele in Trümmer legen. Worte, die den Menschen in mir töten. Jedes Mal aufs Neue.

Wütend auf mich selbst, dass ich sie immer wieder an mich heranlasse, schüttele ich den Kopf, reiße die Augen auf, die ich ob der Unerträglichkeit der Realität geschlossen habe.

Mit schief gelegtem Kopf schaut mich Radi nachdenklich an, bohrt sich genüsslich in der Nase, als würde das den Weg frei machen für die einzig wahren Gedanken. Dann nickt er wissend und schürzt bedächtig seine Lippen zu einer kindlichen Schnute.

Etwas an seiner Art stört mich. Nein, alles an ihm stört mich.

»Woher weißt du von mir?« Argwöhnisch trete ich ihm einen Schritt entgegen. Er spürt mein Misstrauen und weicht vor mir zurück. Dann überlegt er es sich anders und geht direkt auf mich zu, streckt mir seinen dürren Zeigefinger entgegen und drückt ihn mir gegen den Oberkörper, etwa auf die Stelle unter der mein Herz nun in doppeltem Tempo zu pochen beginnt. Als wollte er mir die folgenden Worte direkt dort hinein pflanzen.

»Du musst deine Traurigkeit besiegen, Mädchen, das den Fluch gebrochen hat«, raunt Radi mir mit gebieterischer Haltung zu.

---ENDE DER LESEPROBE---