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Sim und Remy haben geblutet, gelitten und schließlich die Weltenbibliothek Mondia gerettet, aber ihr Triumph ist nur von kurzer Dauer. Denn Sim ist von den bedrohlichen Novas verschleppt worden. Obwohl es kein Lebenszeichen gibt, setzt Remy alles daran, ihn zu finden, doch ausgerechnet die Weltenschreiber legen ihr immer wieder Steine in den Weg. Auf sich allein gestellt sucht Remy nach Antworten und deckt dabei ein Geheimnis über ihre eigene Herkunft auf, das ihre gesamte Welt ins Wanken bringt. Umgeben von Verrat und Lügen scheint sie niemandem mehr trauen zu können. Nicht einmal sich selbst.
Urban Fantasy für alle, die Bücher lieben. Das große Finale der atemberaubenden Liebesgeschichte um Sim und Remy.
Die Mondia-Dilogie:
"Twisted Treason" ist der zweite Band der Young Adult Romantasy-Dilogie von Spiegel-Bestseller-Autorin Alexandra Flint. Eine Geschichte, die dich mitreißt und nicht mehr loslässt. Eine atemberaubende Reise voller unvorhersehbarer Twists. Packend bis zur letzten Seite!
Alle Bände der Mondia-Dilogie von Alexandra Flint:
// Band 1: Silent Secrets
Band 2: Twisted Treason//
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Sim und Remy haben geblutet, gelitten und schließlich die Weltenbibliothek Mondia gerettet, aber ihr Triumph ist nur von kurzer Dauer. Denn Sim ist von den bedrohlichen Novas verschleppt worden. Remy setzt alles daran, ihn zu finden, doch ausgerechnet die Weltenschreiber legen ihr immer wieder Steine in den Weg. Auf sich allein gestellt sucht Remy nach Antworten und deckt dabei ein Geheimnis über ihre eigene Herkunft auf, das ihre gesamte Welt ins Wanken bringt. Umgeben von Verrat und Lügen scheint sie niemandem mehr trauen zu können. Nicht einmal sich selbst.
Band 2 der Mondia-Dilogie
© Maximilian J. Dreher
Alexandra Flint wurde 1996 geboren und lebt mit ihrer Familie in München. Nach ihrem Studium der Elektro- und Informationstechnik widmet sie sich heute ganz ihrer großen Leidenschaft für Geschichten, die berühren und die Welt vergessen lassen. Neben dem Schreiben ist sie oft in der Welt unterwegs, liebt Liebesromane jeder Art, Kaffee und lange Tage mit Freund:innen.
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Alexandra Flint
Planet!
Liebe Leser:innen,
dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte.Auf der letzten Seite findest du eine Themenübersicht,die Spoiler für die Geschichte beinhaltet.
Obwohl die Liste nach bestem Wissen angelegt wurde, erhebt sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da Auslöser und deren Wahrnehmung vielfältig sein können.
Wir wünschen dir das bestmögliche Leseerlebnis!
Alexandra Flint und das Planet!-Team
Soldier – Tommee Profitt, Fleurie
Yes We Can – Ruelle
Home – mgk, X Ambassadors, Bebe Rexha
Wonderland – Taylor Swift
Some Say – Adam Ulanicki
Florida!!! – Taylor Swift, Florence + The Machine
Desert Rose – Lolo Zouaï
Freaking Out – Tom Walker
Eyes Closed – Imagine Dragons
Don’t Forget Me – Imagine Dragons
Paris – Taylor Swift
Hero – David Kushner
Last Man Standing – Livingston
Grave – Tate McRae
Driving To Nowhere – Nathan Evans
Love Story – Indila
Castle – Halsey
Where We Come Alive – Ruelle
»Das Schönste,
was wir erleben können,
ist das Geheimnisvolle.«
Albert Einstein
Für M.
Weil du das größte Wunder von allen bist.
Ich liebe jedes einzelne Kapitel mit dir.
18. Arrondissement, Paris. Vor 20 Jahren.
Ein frischer Wind rauscht durch die hohen Kastanien, lässt das Blätterdach über mir flüstern und obwohl es warm für September ist, fröstele ich. Die feinen Härchen auf meinen Armen stellen sich auf, während ich den Blick von den satten grünen Bäumen abwende. So früh am Morgen ist der Cimetière de Montmartre das perfekte Sinnbild eines Friedhofs. Ausgestorben, totenstill, eine Geisterstadt und trotzdem habe ich das Gefühl, nicht allein zu sein. Ein Gefühl, das mich seit einigen Wochen wie ein zweiter Schatten begleitet. Unwillkürlich presse ich die Lippen aufeinander und streiche mir über die nackten Arme, während das Stechen in meinem Nacken intensiver wird. Als würde er mich zwischen den verwitterten Grabsteinen hinweg beobachten, nur darauf lauernd, mich zu packen und –
»Jeanne?«
Ich stoße einen unterdrücken Schrei aus und fahre herum. Reflexartig lege ich mir eine Hand auf die Stelle, unter der mein Herz viel zu heftig schlägt, und funkele meinen besten Freund an. »Mince, Romain! Was schleichst du dich so an?«
In seinen braunen Augen blitzt es auf. »Du hast doch vorgeschlagen, dich um diese gottlose Zeit auf einem Friedhof zu treffen.«
Ich verziehe das Gesicht und zupfe an den Knöpfen meines langen, geblümten Kleids. »Es ist halb sieben.«
»Sage ich ja. Gottlos an einem Sonntag.« Einer seiner Mundwinkel wandert ein wenig höher. »Gibt es einen speziellen Grund für unser frühes Rendezvous zwischen François Truffaut und Heinrich Heine? Nicht, dass ich den Ort nicht zu schätzen wüsste. Er ist ohne jeden Zweifel atmosphärisch und …« Romain unterbricht sich selbst und tritt näher. »Jeanne? Was ist los?«
Erst jetzt bemerke ich das Brennen in meinen Augen. Dieu, ich habe kein Recht, traurig zu sein. Nicht, wo ich allein die Schuld an allem trage. »Jeanne.« Sanft berührt mich Romain am Arm. »Hey, ich bin es. Du kannst mir alles sagen, das weißt du, non?«
Mühsam schlucke ich gegen den Kloß in meinem Hals an und zwinge irgendwie die Worte daran vorbei. »Ich habe einen … einen ruhigen Platz zum Sprechen gebraucht.«
Romain nickt langsam. »Ruhiger als der Untergrund?«
»Das ist der letzte Ort, an dem ich darüber reden kann.« Meine Stimme bebt bei diesen Worten. Ich sehe mich ein weiteres Mal um. Mit jeder Silbe wird das Stechen drängender.
Er sieht dich.
Er weiß es.
Er wird dir alles nehmen.
Und du bist schuld.
Schuld. Schuld. Schuld.
»Ich verstehe.« Romain führt mich, seine warmen, langen Finger noch immer an meinem Ellenbogen, zu einer der grünen Parkbänke. Als wir sitzen, passt kaum ein Blatt Papier zwischen uns, sein Oberschenkel berührt meinen, seine Wärme ist überall und diese Nähe vertreibt einen Teil meiner Anspannung.
»Geht es um die Weltenschreiber?«, fragt mein bester Freund nach einem Moment der Stille, umgeben von großen Persönlichkeiten, die zu Namen auf Stein geworden sind.
Ich atme hörbar aus und fixiere eines der verwitterten Mausoleen, ohne wirklich etwas davon zu erkennen. Weil ich nicht länger hier auf der Bank mit Romain sitze, sondern wieder dort bin. In der Bar. Mit viel zu vielen leeren Gläsern vor mir, den wütenden Worten eines Streits im Kopf und dabei, den größten Fehler meines Lebens zu begehen.
»Nein, es geht nicht um die Schreiber oder die Mondia und irgendwie … doch.«
Auch wenn ich Romain in diesem Augenblick nicht ansehe, spüre ich seine Verwirrung. »Hat deine Mutter wieder eine Bemerkung gemacht? Ich dachte, sie hätte deine Entscheidung, bei André und Clément zu leben, endlich akzeptiert. Sofern man bei Cassandra von Akzeptanz sprechen kann.«
Mir kommt ein freudloses Schnauben über die Lippen, das verdächtig nach einem Schluchzen klingt. Wie sehr wünsche ich mir in dieser Sekunde, dass es nur das wäre. Ein dummer, taktloser Spruch meiner Mutter, die mich nie verstanden hat. Die mich gar nicht verstehen will, weil sie niemals nachvollziehen können wird, wie es ist, Teil von etwas zu sein, in das man einfach nicht hineinpasst. Alles über das größte Geheimnis der Menschheit, die Weltenbibliothek Mondia unterhalb von Paris, zu wissen, die Mysterien zu kennen und dennoch nur vom Rand aus zuschauen zu können. Dabei habe ich es versucht. Mein ganzes Leben lang habe ich versucht, dazuzugehören, obwohl ich weder die Gabe meiner Mutter geerbt habe noch das Verständnis für diese zweite Welt, die hinter dem Offensichtlichen verborgen liegt. Mir ist bewusst, dass die Mondia wichtig ist, dass sie der Grund für das Bestehen unserer Zivilisation und damit unentbehrlich ist, aber meine Welt war sie nie. Und ein Teil von mir bedauert diesen Umstand. Trauert einem Leben nach, das nie für mich bestimmt gewesen ist.
Aber nein, dieses Mal geht es nicht um meine komplizierte Beziehung zu Maman. Es geht nicht um meine fehlende Verbindung zu einem Erbe, das ich nie gewollt habe.
Ich schlucke hart und blinzele ein paarmal, ehe ich Romain fixiere. Das Braun seiner Iriden ist ruhig, dennoch sehe ich, dass diese Ruhe feine Risse bekommen hat.
»Ich … ich bin schwanger.«
Einen Herzschlag lang geschieht gar nichts. Keine Regung, keine Worte, selbst der Wind scheint zu schweigen. Dann weiten sich seine Augen.
»Schwanger? Aber das ist … das ist doch großartig. Ich meine, du und André, ihr wolltet doch immer ein zweites Kind. Oder nicht?« Romain spricht schnell, echte Freude liegt in seinen Silben und findet ihr schwaches Echo in mir. Freude, die ich eigentlich nicht empfinden sollte.
Ich beiße mir auf die Unterlippe und balle die Hände zu Fäusten. Genau dort unter meinen Fingern wächst in diesem Moment ein kleines, neues Leben heran, das ich jetzt schon über alles liebe und gleichzeitig nicht lieben darf.
Eine Träne landet auf meinen Fingern. Eine zweite folgt, ich senke die Lider.
»Jeanne?« Vertraute Arme ziehen mich noch enger an Romains warme, starke Brust. »Sprich mit mir.«
»Es … ich …« Meine Antwort versinkt in einem lautlosen Schluchzen. Romain hält mich fester. So fest, dass es mir beinahe so vorkommt, als könnte ich in ihm verschwinden. Nur für ein paar süße, schwerelose Momente nachdem die letzten sieben Wochen so unendlich hart waren.
Ein paar Augenblicke lang sehen wir uns an, dann erregt eine Bewegung zwischen zwei Grabsteinen meine Aufmerksamkeit. Ein großer, weißer Panther kommt lautlos aus den Schatten, sein kluger Blick ruht noch eine Sekunde länger auf dem verlassenen Pfad, dann richtet er sich auf uns.
»Ich habe mich schon gefragt, wo du Anapher gelassen hast.«
»Du weißt doch, dass sie nie wirklich weit von meiner Seite weicht. Mein Mädchen ist eben doch ein Softie.« Der Panther bleckt fauchend die Zähne. Romain lächelt, vielleicht über etwas, das sie über die telepathische Verbindung zwischen Silbenspringer und Weltenschreiber ausgetauscht haben. Zwar habe ich die Welt aus Geheimnissen und Büchern, in die ich hineingeboren worden bin, nie wirklich verstanden, aber um das Band von Anapher und Romain habe ich meinen besten Freund insgeheim immer ein wenig beneidet. Es muss schön sein, seine Gedanken teilen zu können, ohne erst Worte dafür finden zu müssen. Gerade dann, wenn es nicht die richtigen Ausdrücke zu geben scheint.
So wie jetzt.
Als sich der Panther neben der Bank niedergelassen hat, wird Romain wieder ernst. »Was ist es dann, Jeanne?«
»André ist nicht der Vater.« Ich löse meine Fäuste, meine Finger beben. Vor Wut. Vor unendlicher Wut auf mich selbst. Und aus Angst.
Ein paar Sekunden lang wird es still zwischen uns. Dann schüttelt Romain den Kopf. »Je ne comprends pas – Ich verstehe es nicht, ich meine … du und André, ihr seid doch glücklich. Ihr habt den kleinen Clément, seid gerade erst in die neue Wohnung gezogen und …« Fahrig streicht er sich durch die dunkelbraunen Haare. »Was ist passiert?«
»Ich habe einen Fehler gemacht«, antworte ich kaum hörbar. Meine Stimme bebt wie meine Hände. Wie mein ganzer verdammter Körper.
»Erklär es mir.« Seine Bitte erscheint hier und jetzt unmöglich. Und gefährlich. Ich ziehe die Füße auf die Bank, schlinge die Arme um meine Beine und reise gedanklich zurück zu dieser einen vermaledeiten Nacht. Es ist erschreckend, wie wenig es braucht, um alles zu zerstören.
»André und ich haben gestritten. Heftig gestritten. Das erste Mal in fünf Jahren Beziehung und bis zu diesem Zeitpunkt habe ich geglaubt, dass er gar nicht in der Lage ist, wirklich aus der Haut zu fahren.« Seufzend legte ich das Kinn auf meine Knie. »Aber an diesem Abend hat er mich eines Besseren belehrt und wir beide haben Dinge gesagt … zut, ich kriege nicht einmal mehr zusammen, wie es überhaupt so weit kommen konnte. André hat einiges über meine Familie gesagt – dass ich ihm nichts über die Mondia und meine Vergangenheit erzählen kann, ist bei uns beiden ein wunder Punkt. Daraufhin habe ich ihn für sämtliche Probleme verantwortlich gemacht und … wir waren beide ungerecht. Du weißt selbst, wie tödlich Worte sein können, und nachdem wir diesen ganzen Mist ausgesprochen hatten, war ich mir sicher, dass wir unsere Beziehung zum Teufel geschickt haben. André hat von einer Pause gesprochen, ich konnte ihn in diesem Moment nicht mehr ertragen, dann ist er aus der Wohnung verschwunden und ich habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Dieu … zum Glück war Clément an diesem Abend bei Andrés Eltern.«
»Was ist dann geschehen?«
Ich befeuchte meine trockenen Lippen und schließe die Augen. »Eine ganze Weile bin ich ziellos durch die Straßen gelaufen und habe dabei eine halbe Packung Zigaretten geraucht, obwohl ich vor Jahren aufgehört habe.« Mir kommt ein freudloses Lachen über die Lippen. »Dann hat mir Nikita geschrieben – sie wohnt im Haus von Monique.«
»Monique, wie Andrés Ex Monique?«
»Ja. Von Nikita habe ich erfahren, dass André direkt zu Monique ist. Ich meine, ich weiß, dass die beiden mittlerweile beste Freunde sind – so wie du und ich, aber mit dem Streit im Hinterkopf, dem Gedanken, dass unsere Beziehung in Trümmern liegt … da bin ich durchgedreht. Gott, es ist so demütigend, darüber zu sprechen.«
Romain legt sanft eine Hand an meine Wange und dreht mein Gesicht so, dass wir einander ansehen. »Ich würde dich nie für etwas verurteilen, was du getan oder nicht getan hast, Jeanne. Niemals.«
Die Aufrichtigkeit in seinen Augen ist beinahe zu viel.
»Ob du das auch noch sagst, wenn du die ganze Geschichte kennst?«
»Ohne jeden Zweifel.«
Ein trauriges Lächeln spaltet meine Lippen, dann schüttele ich den Kopf. »Als ich die Nachricht von Nikita bekommen habe, habe ich nicht wirklich angenommen, dass mich André betrügen würde, aber … die Angst war dennoch da. Zusammen mit unzähligen dunklen Gedanken. Ich bin in einer Bar gelandet, habe viel zu viele Drinks gekippt und dann hat sich plötzlich ein Mann neben mich an den Tresen gesetzt. Ein … ein Bekannter. Wir haben uns davor schon einige Male getroffen, nie auf diese Weise, aber an diesem Abend …«
»Jeanne …«
»Ich weiß, okay? Ich weiß, dass … dass ich das niemals hätte zulassen dürfen. Dass das unverzeihlich ist und es keine Entschuldigung dafür gibt. Ich habe mich so schlecht gefühlt und der Mann war so verflucht charmant. Er hat all die Dinge gesagt, die ich gebraucht habe. Bei jedem Treffen hatte ich das Gefühl, dass er mich versteht, wenn ich meine gesamte Lebensgeschichte erzählt habe und er … hat zugehört. Es sieht vieles wie … ich.«
Romain reißt die Augen auf. »Du hast mit einem Fremden über die Mondia gesprochen?«
»Bon sang, non. Ich glaube, kein Drink der Welt könnte mich dazu bringen … ich hatte einfach das Gefühl, dass er begreift, wie schwer das alles ist.« Die Worte kommen mir zu schnell über die Lippen und meine Wangen werden heiß.
Weil ich Romain dieselben Lügen auftische, die ich mir seit Wochen erzähle. Weil ich einiges sage und doch viel mehr zurückhalte.
»Mince alors, Jeanne. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Und das aus deinem Mund.« Die Silben hinterlassen einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge. »Ich kann mich nicht an alles von jenem Abend erinnern. Der Ausgang … spricht für sich. Denke ich.«
Die Furchen auf Romains Stirn vertieften sich. »Und du bist dir sicher, dass der Mann …«
»Ja«, flüstere ich. »André und ich haben in dieser Zeit … na ja, nicht miteinander geschlafen. Das Datum passt, ich bin heute auf den Tag in der sechsten Woche.«
»Okay«, sagt Romain und fasst sich in den Nacken. »Okay, okay. Was machen wir jetzt? Wirst du mit André reden? Er hat es verdient, das zu wissen.«
Übelkeit steigt in mir auf. Nicht, weil ich mich davor fürchte, mit André reden zu müssen, sondern weil das alles nur die halbe Wahrheit ist und da noch mehr ist. Der eigentliche Grund für meine Angst.
»Da ist noch etwas.« Ich wage es kaum, die Stimme zu heben. Fluchend sieht er mich wieder an. Ich schlucke und greife in die Tasche meines Kleids. Als meine Finger auf das kühle, kleine Metall treffen, erschaudere ich. »Dieser Mann … er hat mich aufgesucht. Gestern.«
»Was meinst du mit aufgesucht?«
»Merde, ich war so dumm. Ich habe ihn … ich habe ihn für einen Freund gehalten. Jemanden, der mich versteht. Er hat mich nicht für meine Ansicht verurteilt, sondern sie geteilt und das hat gutgetan. Aber ich habe mich geirrt. Ich habe mich so unglaublich geirrt. Er hat mich benutzt. Von Anfang an.« Ich halte es nicht mehr aus und stehe so ruckartig auf, dass Anapher hochschreckt. »Putain! – ich hätte es besser wissen müssen. Schließlich wusste ich, wer er ist. Doch erst gestern, als er mir aufgelauert und dieses Zahnrad gegeben hat, habe ich es wirklich verstanden. Irgendwie hat er von meinem Frauenarzttermin erfahren und, Gott, das ist eine einzige Katastrophe.«
Romain springt nun ebenfalls von der Parkbank hoch und legt mir beruhigend seine Hände auf die Schultern. »Langsam. Wovon sprichst du? Was hättest du erkennen müssen?«
Sein Gesicht verschwimmt vor meinen Augen. »Er hat das alles geplant. Nicht, dass ich schwanger werde, aber die Begegnung mit mir. Natürlich ging es dabei um die Schreiber. Ich glaube, dass ich in der Bar und danach als wir … na ja, ich glaube, ich habe doch irgendetwas gesagt. Über die Mondia und ihr Herzstück und … jetzt ist er hinter meinem Kind her, weil sie wie Maman sein wird. Eine Ripari und darauf haben sie doch nur gewartet.«
»Jeanne, wer ist dieser Freund?« Romain stellt diese Frage, doch ich bin mir sicher, dass er die Antwort längst kennt.
Ich beiße mir auf die Zunge und ziehe das kleine goldene Zahnrad hervor, das an einer gleichfarbigen, langen Kette hängt. »Du weißt, wer.«
»Was hast du getan?« Entsetzen tritt auf Romains Züge, dann streckt er eine Hand nach dem Zahnrad aus, lässt sie jedoch wieder sinken, ohne das schimmernde Metall zu berühren. »Wenn dieser Mann wirklich der Bastard Ra–«
Noch bevor Romain seinen Namen aussprechen kann, zerreißt ein lauter Knall die angespannte Stille. Im nächsten Moment hat Romain mich bereits gepackt und zieht mich hinter eines der Mausoleen.
»Sie sind hier«, zischt er.
»Wer?«
»Die Novas. Wir müssen weg.«
Ich höre seine Worte, aber ich brauche etwas, um sie zu begreifen. Die Novas haben uns gefunden. Auf dem Friedhof.
Wegen mir.
Wegen dem neuen Leben, das unter meinem Herzen wächst, ohne zu ahnen, dass seine bloße Existenz das Gleichgewicht unserer gesamten Welt bedroht.
Was hast du getan?
Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid.
Instinktiv lege ich eine Hand auf meinen Bauch, als ein zweiter Knall die Welt erschüttert.
»Anapher versucht, sie in die entgegengesetzte Richtung zu locken, damit wir zum Tunneleingang kommen.«
»Du willst in den Untergrund? Hast du nicht verstanden? Ich kann nicht zurück. Wenn die Schreiber das mit dem Baby herausfinden –«
»Wir haben keine andere Wahl und es wird niemand erfahren. Du hast mein Wort, Jeanne. Ich passe auf dich auf. Ich passe auf euch auf«, sagt Romain angespannt und drückt uns enger an den kalten, verwitterten Stein. Der Geruch von Moos und Erde und etwas Altem steigt mir in die Nase. »Wir überlegen uns eine Lösung, aber erst mal müssen wir uns in Sicherheit bringen.«
Mir wird schlecht, aber ich glaube ihm. Romain hat mich noch nie belogen, also nicke ich. Ich habe keine Fähigkeiten wie Romain, Maman oder die anderen Weltenschreiber, aber ich wurde trotzdem ein Leben lang trainiert und auf solche Situationen vorbereitet. Ich bin mehr als meine fehlenden Fähigkeiten. Und zum ersten Mal bin ich dankbar, dass meine Mutter auf all diese Lektionen bestanden hat.
»Anapher hat sie in den westlichen Teil des Friedhofs geführt, wir halten uns östlich.«
Ich hebe die Brauen. »Du willst bis zum Eingang bei Abbesses? Das schaffen wir nie.«
»Einen anderen Eingang gibt’s nicht in unmittelbarer Nähe.«
Mein Herzschlag beschleunigt sich, weil Romains Worte leider der Wahrheit entsprechen und uns damit das gesamte Viertel Montmartre vom Untergrund der Weltenschreiber trennt. »Bien. Wird ein Spaziergang.« Das Beben meiner Stimme straft meine Worte Lügen.
»Ich dachte, du hast eine Schwäche für diesen Teil der Stadt, ma chérie?« Romain wartet meine Antwort erst gar nicht ab, sondern verflicht unsere Finger miteinander und zieht mich hinter dem Mausoleum hervor.
Ohne uns noch einmal umzudrehen, laufen wir los, unsere Füße trommeln auf den rissigen Asphalt. Ich konzentriere mich nur darauf, Romains Hand festzuhalten, sein Tempo zu halten, doch die Angst droht mich zu lähmen.
»Romain, ich –«
Weiter komme ich nicht, denn in diesem Moment sehe ich sie. Drei schwarzgekleidete Gestalten, die zwischen den breiten Stämmen alter Ahornbäume hervorbrechen.
Novas.
Und in ihren Händen …
»Waffen«, bringe ich kaum hörbar hervor und bleibe reflexartig stehen. Aus Angst wird Panik, sämtliches Training ist vergessen. Ich spüre meine Füße nicht länger und für ein paar Sekundenbruchteile lang kann ich nicht mehr tun, als die Novas anzustarren, ihre glänzenden Pistolen. Wie sie die Waffen heben, die Mienen eiskalt, bereit, uns zu erledigen, weil wir in dieser Welt dazu verdammt sind, einander zu töten. Dabei habe ich geglaubt, endlich einen Weg aus diesem Krieg gefunden zu haben.
»Putain de merde! Weiter, Jeanne!« Romains Griff um meine kalten Finger wird stärker, während er mich grob nach links zerrt. Weg vom Hauptweg, rein in den alten, verwucherten Teil des Cimetière de Montmartre. Mein Kleid verfängt sich in Büschen, kleine Äste und Dornen kratzen über meine Haut und ich stoße mehrmals gegen Grabmale, die kaum noch als solche zu erkennen sind, doch Romain wird nicht langsamer.
»Wie viele sind es?«, keuche ich und wage einen Blick zurück. Ich kann unsere Verfolger nicht sehen, aber ich höre sie und ihre Schritte viel zu nah hinter uns und das ist beinahe schlimmer.
»Mehr, als ich zuerst angenommen habe. Sie haben auf dem gesamten Friedhof Stellung bezogen.«
»Was?«
Seine Finger graben sich in meine Haut. »Es spielt keine Rolle, wir sind schlauer, das hier ist unsere Stadt.« Er versucht mir Mut zu machen, aber ich kenne Romain gut genug, um zu wissen, wann er lügt. Unsere Chancen stehen nicht gut, es sind zu viele … und sie sind wegen mir hier.
Meine Schuld.
Ich gerate ins Straucheln, fange mich gerade noch und schlage mir den Ellenbogen an einem rauen Stein auf. Ein brennender Schmerz rast durch meinen Arm, doch er ist nichts im Vergleich zu meiner Furcht. Um Romain, um mich und um das kleine Wesen in meinem Bauch.
Nom de Dieu, sie dürfen uns nicht in die Hände bekommen. Das würde ich mir niemals verzeihen.
»Hier lang.« Ohne langsamer zu werden kämpfen wir uns durch Ranken und Gestrüpp und hasten eine halb eingesunkene steinerne Treppe hinunter. Kaum, dass wir die letzten Stufen erreichen, erscheinen unsere Verfolger am oberen Ende der Stiege. Panisch drehe ich mich um und hätte beinahe den Halt auf den unebenen Steinen verloren, doch Romain zieht mich weiter.
»Nicht zurückschauen. Wir haben es fast geschafft.«
Zwischen den Mausoleen, die unseren Weg nahtlos säumen erkenne ich die Rue Caulaincourt, die über den Friedhof führt, was bedeutet, der Ausgang ist nicht mehr weit. Vielleicht können –
»Hände über den Kopf und auf die Knie!«
Die harsche Stimme trifft uns, einen Wimpernschlag bevor ich sie bemerke – die Novas, die plötzlich zwischen den Grabmälern hervorbrechen – und begreife, dass wir direkt in eine Falle gelaufen sind.
Abrupt bleiben wir stehen, vor uns, links und rechts stehen Novas in dunkler Kleidung mit Waffen im Anschlag und ich muss mich nicht erst umdrehen, um zu wissen, dass wir umzingelt sind. Instinktiv weiche ich zurück, bis ich gegen Romain stoße.
»Dieser Zirkus hat jetzt ein Ende.« Die gleiche raue Stimme, die ich nun dem vordersten Mann zuordnen kann. »Noch mal: Hände hoch und runter auf den Boden. Sofort.«
Romain schiebt sich vor mich. »Va te faire foutre! Einen Teufel werden wir.«
Warnend kralle ich meine Finger in seinen Arm.
Was tut er da?
Ein kaltes Lächeln gleitet über die Züge des Novas, beinahe so, als hätte er meine Gedanken gehört. Als würden sie ihm persönliche Genugtuung verschaffen. Dann macht er einen Schritt vorwärts, sieht mich an und richtet seinen Lauf direkt auf meine Stirn. »Ich werde es kein weiteres Mal sagen, enfoiré. Auf die Knie!«
»Romain …«, dränge ich kaum hörbar.
»Schon gut. Schon gut.« Schwer zu sagen, ob sein Murmeln den Novas oder mir gilt, aber ich wage es nicht, auch nur einen Laut von mir zu geben. Oder zu atmen. Nicht mit der funkelnden Waffe vor Augen. Unfähig, mich zu rühren, starre ich auf den breiten Finger am Abzug, kneife die Lider zusammen …
… und reiße sie wieder auf, als ein ohrenbetäubendes Knurren erklingt.
»Runter!«, ruft Romain in dieser Sekunde und zieht mich mit sich. Einen Herzschlag bevor etwas großes Weißes über uns hinwegrast und dem vordersten Mann an die Kehle geht.
Anapher.
Der schrille Schrei des Novas erklingt, als Romain und ich ineinander verschlungen auf dem Weg aufschlagen. Er unter mir, um mich zu schützen, die sich drehende Welt um uns herum. Für ein paar Atemzüge lang ist der intensive Geruch von Erde, Moos und verwesten Blättern alles, was ich wahrnehme, dann stürmen sämtliche andere Eindrücke gnadenlos auf mich ein.
Das schmerzhafte Pochen in meiner Hüfte.
Schüsse, die durch die Luft peitschen.
Der Gestank von Blut.
Warme Flüssigkeit, die über meine Haut läuft.
Das Gurgeln Erstickender.
Krallen, die durch Fleisch fahren.
Schreie. Hohe. Tiefe. Die von Sterbenden.
Bei Gott, das würde ich nie wieder aus meinem Gedächtnis löschen können.
»Sieh nicht hin, Jeanne«, wispert Romain und bringt uns hinter einem Grabmal in Sicherheit. Behutsam drückt er meinen Kopf gegen seine Brust, legt sein Kinn auf meinen Scheitel.
»Sieh nicht hin.«
Unter meinem Ohr donnert Romains Puls gegen seine Rippen und ich versuche mich nur darauf zu konzentrieren. Aber ich höre die Novas trotzdem, ihren aussichtslosen Kampf und das, was der Silbenspringer mit ihnen macht. Galle steigt in mir auf. Ich verabscheue diese Menschen mit jeder Faser, aber das … diesen Tod wünsche ich niemandem.
»Die Novas …«, setze ich an, doch Romain lässt mich nicht aussprechen.
»Anapher kümmert sich darum. Los, bevor es zu spät ist.«
Mit seiner Hilfe schaffe ich es auf meine zitternden Beine, mehrere Augenblicke lang dreht sich der Friedhof um mich herum, dann verschränkt Romain seine Finger mit meinen und alles rückt wieder an seinen Platz. Wir verlassen unsere Deckung, stolpern auf den Pfad und laufen. Um. Unser. Leben.
Im Zickzack hetzen wir über den Cimetière de Montmartre. Keiner zögert oder wird langsamer. Auch nicht, als wir Rufe um uns herum hören, auch nicht, als Anapher zu uns stößt. Das weiße Fell blutig, die beinahe menschlichen Augen tödlich leuchtend.
Gott, das alles habe ich nie gewollt.
Dennoch trägst du die Schuld an dieser Tragödie.
Und an allem, was noch kommen wird.
Die Gedanken hängen sich wie tonnenschwere Gewichte an meine Füße und bremsen mich aus. Ohne Romain, der mich unnachgiebig vorantreibt, wäre ich hier und jetzt stehengeblieben, im Rondell am Ende der Avenue de la Croix, kurz vor dem Ausgang. Kurz vor unserem Ziel.
»Jeanne?« Romain sieht mich besorgt an, als er merkt, dass ich mehr und mehr ins Stocken gerate, je näher wir dem rettenden Tor kommen. »Bist du verletzt?«
Ich blicke von meinen verdreckten Schuhen auf und will den Kopf schütteln, als mir eine einzelne Person links von uns ins Auge fällt. Schwarze Haare, ein gleichfarbiger Dreiteiler und stechend grüne Iriden, die mich in meinen schlimmsten Albträumen verfolgen.
Er ist hier.
Unwillkürlich lege ich schützend eine Hand auf meinen Bauch, versuche zu atmen, aber meine Kehle ist wie zugeschnürt. Unter seinem Blick fühlt sich meine Haut zu eng an, die Luft zu heiß, während es mir gleichzeitig eiskalt den Rücken herunterläuft.
Wie hatte ich nur auf ihn reinfallen können?
»Jeanne, was ist?«
Für einen Moment wende ich mich Romain zu, öffne den Mund, doch als ich ein weiteres Mal zu der Gestalt sehe, ist sie spurlos verschwunden. Nur das Stechen in meinem Nacken bleibt. Und das, was in seinem Blick gelegen hat.
Eine Drohung. Ein Versprechen.
Dass das hier erst der Anfang gewesen ist.
7. Arrondissement, Paris
Remy
»Wenn das so weitergeht, dann werden meine Arrangements nie rechtzeitig in den Galeries Lafayette ankommen«, murmelte Esther halb hinter einem Karton verschwunden, ehe sie mir das gute Stück reichte. »Es kann doch nicht so schwer sein, den Wagen zum Laufen zu kriegen.«
Stirnrunzelnd folgte ich ihrem Blick zu besagtem blutrotem Lieferwagen, der mit geöffneter Haube vor dem Bouquet de la Rose, dem Blumenladen meiner Schwester, stand. Davor ein Mann von vielleicht fünfzig Jahren in Jeans und einem ausgeblichenen Shirt von Saint-Germain und sichtlich ahnungslos in Sachen Motoren.
»Da läuft nichts mehr«, brummte der Fahrer in diesem Moment und kratzte sich im Nacken. »Je suis desolé, Mademoiselle Benoit.«
»Was soll das heißen?« Esthers Stimme sprang augenblicklich eine Oktave nach oben. Normalerweise war sie niemand, der schnell die Fassung verlor. Eigentlich war sie die Ruhe selbst und damit das genaue Gegenteil von mir, doch sobald es um ihren Laden ging, war diese innere Ausgeglichenheit wie weggeblasen. »Ich brauche diesen Wagen. Wissen Sie, wie wichtig die Lieferung ist?«
Der Mann wischte sich die dreckigen Hände an der Jeans ab und bemühte sich gar nicht erst, einen betroffenen Eindruck zu erwecken. »Wenn der Motor hin ist, ist er hin.«
»Dann holen Sie einen Mechaniker. Bitte«, schob Essie hinterher und fasste sich an die Nasenwurzel. »Hören Sie, ich bezahle die Reparatur auch, nur …«
»Ich fürchte vor zwei werden wir niemanden erreichen, Mademoiselle. Sie sollten nach einer Alternative suchen.«
Essies Augen weiteten sich, während sie immer wieder nervös über den schimmernden Stoff ihres geblümten Satinrocks strich. »Vor zwei? Das ist viel zu spät. Können Sie denn gar nichts machen? Das ist schließlich Ihr Wagen.«
»Ein kaputter Vergaser bleibt ein kaputter Vergaser.«
Hilfe suchend schaute meine Schwester zu mir, als könnte ich irgendetwas an dieser Situation ändern. Und brachte damit die dicken Mauern, die ich in den vergangenen drei Wochen um mich gezogen hatte, gefährlich ins Wanken.
Denn so absurd es klingen mochte, theoretisch war ich durchaus in der Lage, Essie zu helfen. Theoretisch wusste ich, dass es nicht der Vergaser war, sondern nur eine durchgeschmorte Leitung nahe der Zündkerze. Und theoretisch konnte ich besagte Leitung sogar flicken, mit einem einzigen gezielten Gedanken.
Nur hatte ich praktisch nicht die Kraft dazu.
Nicht, wo mich dieser Teil von mir direkt zu den Gedanken bringen würde, die ich mir seit genau zweiundzwanzig Tagen und neun Stunden verbot. Seit ich drei Tage ununterbrochen und erfolglos nach Kasimir gesucht und mich dabei selbst verloren hatte. Also war ich hinter einer Mauer verschwunden, die ich zwischen die Mondia, die Schreiber, die keinen Finger rührten, um Sim zu finden, und meiner Welt gezogen hatte.
Aus Selbstschutz, aus Angst, aus Schwäche. Weil ich mich davor fürchtete, erneut in dem schwarzen Loch aus Finsternis zu versinken, aus dem ich mich so mühsam herausgekämpft hatte.
Dem Summen, mit dem der defekte Lieferwagen die Luft erfüllte – mir seinen Fehler geradezu ins Ohr wisperte –, nachzugeben, würde bedeuten, mich dorthin zu begeben, wo ich so vieles verloren hatte, und das konnte ich nicht. Nicht einmal für meine Schwester, die keine Ahnung hatte, was vor drei Wochen in der Basilique Sainte-Clotilde geschehen war.
Wenn ich ehrlich war, wusste ich das selbst nicht so genau.
Alles, was ich mit Gewissheit sagen konnte, war, dass mich die Bilder dieses Tages verfolgten, ganz gleich, ob ich wach war oder schlief und dieser Schuss, das Blut auf dem Boden der Kirche …
Non, Remy! Arrête!
»Remy?«
Ich blickte abrupt auf und begegnete Esthers warmen, grünbraunen Augen, die sich wie so oft in den vergangenen Wochen mit Sorge füllten. Unzählige Male hatte ich darüber nachgedacht, mich ihr anzuvertrauen. Ihr von meiner leiblichen Familie zu erzählen, von all den Geheimnissen, die ich mit mir herumschleppte und von Sim, aber ich hatte den Gedanken jedes Mal gleich wieder verworfen. Nicht nur, weil mich die Weltenschreiber, die Hüter der zweiten Welt unterhalb von Paris, die die mächtige Bibliothek Mondia verbarg, dann vermutlich vierteilen würden, sondern auch, weil ich sie nicht auch noch verlieren konnte. Denn wenn ich eines gelernt hatte, dann, dass diese Welt, in die mich Kasimir Abernathy vor knapp zwei Monaten gezogen hatte, verflucht gefährlich sein konnte.
Gefährlich und … tödlich.
Kopfschüttelnd fuhr ich mir über die nackten Arme und zwang ein hoffentlich überzeugendes Lächeln auf meine Lippen. »Alles gut, was machen wir jetzt?«
Esther kräuselte die Stirn. »Auf ein Wunder hoffen, wie es scheint. Ich kann ein bisschen telefonieren, aber wenn der … was weiß ich am Wagen kaputt ist –«
»Vergaser«, soufflierte der Fahrer, der mittlerweile sein Handy hervorgezogen hatte und … Fruit Ninja spielte, während ich gleichzeitig sagte: »Zündleitung.«
Erst, als sich zwei Augenpaare unverwandt auf mich richteten, wurde mir bewusst, dass ich es laut gesagt hatte. Seufzend verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Es ist die Zündleitung. Das sollte schnell zu reparieren sein.«
»Und das wollen Sie woher wissen, Mademoiselle?«
Weil es mir die alte Schrottkiste verraten hat. Weil ich eine abgedrehte Gabe besitze, die mich Mechanismen aller Form verstehen und sehen – begreifen – lässt. Weil ich in einer anderen Welt die letzte meiner Art bin.
Eine Ripari.
Eine Ripari, die eine wirklich wichtige Aufgabe besaß und dieser seit Kasimirs … Verschwinden den Rücken kehrte.
Aber bevor ich mich verplappern konnte, kam mir Esther zuvor.
»Meine Schwester ist sehr begabt im Umgang mit Technik. Nun, vielleicht sollten Sie einen Blick auf diese Leitung werfen, Monsieur. Einen Versuch wäre es wert, oder nicht?« Während Essie das sagte, flog ihr Blick immer wieder zu mir und darin lagen unzählige Fragen, die ich ihr nicht beantworten konnte. Weder jetzt noch irgendwann.
»Ich habe drinnen eventuell noch ein passendes Ersatzkabel. Bin gleich wieder da.« Ich flüchtete mich förmlich in das kleine, zweigeschossige Reihenhaus, in dem nicht nur der Blumenladen meiner Schwester lag, sondern auch unsere Wohnung darüber und die kleine Elektrowerkstatt, die ich mir im Hinterzimmer eingerichtet hatte. Als Essie sich ihren Traum mit dem Bouquet de la Rose verwirklicht hatte, war das Durcheinander aus Bauteilen und Werkzeugen, aus Schränken voller Elektrogeräten und Rollwägen zu meinem Rückzugsort geworden, wann immer mir die Realität zu viel geworden war. Seit ich denken konnte, hatte mich immer das Gefühl begleitet, nicht dazuzugehören – und das lag nicht etwa daran, dass ich adoptiert war. Es war viel mehr eine Intuition gewesen, das seltsame Summen, das mich erfüllte, sobald ich einen Schraubenschlüssel in den Händen hielt und das mich von anderen unterschied, ohne dass ich es hätte beschreiben können. Lange Zeit war es mein einziger Wunsch gewesen, eine Erklärung dafür zu finden. Antworten auf all die ungelösten Rätsel meines Lebens. Aber wie hieß es so schön? – man sollte vorsichtig mit dem sein, was man sich wünschte. Denn jetzt schien alles nur noch viel komplizierter und verworrener und … schmerzhafter. In meinen dunkelsten Momenten dachte ich darüber nach, was geschehen wäre, hätte ich mich nie mit Kasimir getroffen. Wäre dann alles beim Alten geblieben? Hätte ich ihn dann nicht verloren?
Mein Hals schnürte sich zu, brennende Tränen stiegen in mir auf und ließen den Blumenladen mit all seinen Farben vor meinen Augen verschwimmen.
Fichu!
Herrisch fuhr ich mir über das Gesicht, umrundete den Tresen, auf dem Essies alte Registrierkasse thronte, und stieß die Tür zu meiner Werkstatt auf –
Nur um wie angewurzelt im Türrahmen stehenzubleiben, als ich die Person bemerkte, die mit baumelnden Füßen auf dem großen Tisch in der Mitte des Raums saß. Wie immer trug er ein weites, helles Hemd, eine dunkle Stoffhose mit Hosenträgern und braune Lederschuhe, womit er ein wenig aus der Zeit gefallen zu sein schien.
»Was tust du hier?« Meine Stimme war kalt und rau von dem verfluchten Kloß in meinem Hals.
»Salut, Remy.« Ein trauriges Lächeln, das es kaum über die dunklen Schatten unter seinen braunen Augen schaffte, flog über Ludwigs Züge, dann stand er auf und machte einen Schritt in meine Richtung.
»Oh, non. Nein, vergiss es.« Abwehrend hob ich die Hände und wich zurück. »Ich habe dir gesagt, dass ich keinen Fuß in die Tunnel setzen werde, solange ihr eure Meinung nicht ändert.«
»Es ist nicht meine Meinung.«
»Ça m’est égal. Das ist mir gleich.«
Seine Mundwinkel sanken herab und machten einer schweren Erschöpfung Platz, die ich selbst nur zu gut kannte. Die Mischung aus Trauer und Wut und Hilflosigkeit brachte einen um, jeden Tag ein wenig mehr. »Versteh doch …«
»Also liege ich richtig in der Annahme, dass sich nichts geändert hat? Dass sich die Weltenschreiber nach wie vor weigern, Sim –« Meine Stimme brach und eines der wenigen noch intakten Teile meines Herzens mit ihr. Zut, genau aus diesem Grund sprach ich nicht darüber.
»Remy.«
Als ich wieder aufblickte, stand Ludwig direkt vor mir und das machte alles noch viel schlimmer. Weil er seinem Bruder so ähnlich war.
Und Sim tot ist.
Der Gedanke drohte mir den Boden zu entreißen. Kraftlos ließ ich mich gegen den Türrahmen sinken und umschlang mich selbst mit den Armen. »Ich kann das nicht, Lu. Nicht ohne ihn.«
»Das kann ich absolut nachvollziehen. Glaub mir, mich erstickt es genauso, dort zu sein und nichts zu tun, aber wir haben eine Aufgabe. Du und ich. Eine Verpflichtung der Welt gegenüber.«
»Du klingst wie Valentin. Oder Corbin.« Bitterkeit färbte jede einzelne Silbe.
Seine Lippen zuckten. »Ich würde niemals gedankenlos die Worte meines Vaters oder Onkels nachplappern, aber die Mondia möge mein Zeuge sein, sie haben recht, Aramena. Es ist in Ordnung, wenn du die Weltenschreiber hasst, es ist sogar okay für mich, wenn du mich verabscheust, aber hierbei geht es nicht um Vater oder uns. Es geht um die ganze Welt da draußen, die dich braucht. Und ich weiß, wie schwer das ist. Dass es absolut scheiße ist, wo mein Bruder … wo wir nicht sagen können, was mit Sim passiert ist, aber wir haben keine andere Wahl.«
Mein Bauch wurde zu einem harten Knoten, weil jeder einzelne Satz der Wahrheit entsprach. Einer Wahrheit, die ich tief in mir vergraben hatte, weil es leichter war.
Ich presste eine Hand auf meinen Magen und schluckte. »Ich hasse dich nicht, Lu.«
»Da bin ich aber froh.« Trotz seiner lockeren Erwiderung hörte ich den Schmerz darin.
In den letzten Wochen war ich so sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen, dass ich nicht einmal darüber nachgedacht hatte, was dieser Tag mit Ludwig gemacht hatte. Die Explosion hatte ihm seine Mutter genommen, sein Vater war schwer verletzt worden. Und statt Ludwig, der zwischen den Geheimnissen der Mondia und unserer Mission, die Bibliothek wieder zu öffnen, zu einem echten Freund geworden war, zu helfen, hatte ich mich verkrochen.
Wie der Feigling, der ich war.
»Tu das nicht, Remy.« Ich hob den Kopf. »Lade dir nicht die Schuld für etwas auf, das nicht in deiner Macht lag oder liegt. Die einzigen, die die Verantwortung für den Tod und das Leid tragen, sind die Novas.«
»Was macht dich so sicher, dass ich mir Gedanken darüber mache?«
Ludwigs Miene sagte mehr als die unzähligen Bücher der Mondia zusammengenommen. »Ich mag dich noch nicht lange kennen, aber ich weiß, welche Art Mensch du bist. Selbstlos, mutig, ein bisschen stur und in erster Linie gütig und großherzig. Doch ein großes Herz kann auch eine Bürde sein, besonders, wenn es leidet.«
Unter all den lapidaren Sprüchen und seinem schiefen Grinsen vergaß man leicht, dass Kasimirs Bruder unglaublich feinfühlig und sensibel war.
Ich stieß lautlos den Atem aus, den ich unbewusst angehalten hatte, und nickte. »Es tut mir leid, Lu.«
»Du hast keinen Grund, dich zu entschuldigen.«
»Doch, den habe ich.« Seufzend löste ich meine Arme und strich mir eine lose Strähne zurück. »Wir haben beide … wir leiden beide. Ich hätte für dich da sein sollen und mich nicht abwenden dürfen, als ich nichts über Kasimir … Sich zu verstecken und dir aus dem Weg zu gehen, war nicht richtig.«
»Es gibt wohl kaum eine richtige und eine falsche Art zu trauern«, hielt Ludwig leise dagegen und wandte den Blick zur Seite. »Nur den Versuch zu überleben.«
Aus einem Impuls heraus berührte ich ihn leicht an der Schulter. »Und sie unternehmen immer noch nichts? Was ist mit Valentin? Es geht schließlich um seinen Sohn.«
Und um den Kerl, in den ich mich ungewollt während unserer Reise quer durch Europa verliebt hatte.
»Papa ist … erst vor eineinhalb Wochen aufgewacht. Er erholt sich noch von seinen Verletzungen und jetzt, wo Maman … putain de merde, er ist nicht er selbst. Unter anderen Umständen würde er nichts unversucht lassen, um Antworten auf Sims Verbleibzu bekommen, aber so überlässt er Corbin das Reden und der hat andere Prioritäten als meinen Bruder.«
Allerdings. An dem Tag, als mich die Schreiber in Sims Blut kniend in der Kirche gefunden hatten, hatte Corbin mir nur allzu deutlich gemacht, wie wenig er von meiner Suche nach Kasimir hielt. Also war ich allein losgezogen … und daran zerbrochen.
Ungehalten ballte ich die Hände zu Fäusten. »Das kann er nicht ernst meinen.«
»Es ist unser Kodex. Wir lernen von klein auf, wie wir uns in Gefangenschaft zu verhalten haben und falls – wenn – Kasimir noch lebt, dann weiß er, was er zu tun hat.«
Ich hasste es, wie niedergeschlagen Ludwig klang. Dass seine Worte mich zurück in die Kirche katapultierten, zu der schimmernden Blutlache, die zu groß gewesen war, um so etwas wie Hoffnung zuzulassen. Kasimir mochte einer der mächtigsten Weltenschreiber sein, aber das überlebte niemand. Fröstelnd ließ ich den Arm sinken und öffnete den Mund, als ich Schritte im Blumenladen hörte.
»Du solltest gehen, Lu.«
Ruckartig hob er den Kopf. »Quoi? Nein! Ich bin gekommen, um dich in den Untergrund zu bringen.«
Wieder schaute ich über meine Schulter. »Ich kann jetzt nicht gehen.«
»Die Mondia braucht ihre Ripari, Remy, und ich habe schon so viele Tage für dich rausgehandelt, wie mir möglich war. Es herrscht Chaos und sosehr ich es auch verabscheue, jetzt über etwas anderes als meine Familie nachzudenken, wir haben nicht den Luxus, die Augen zu verschließen.«
Das schlechte Gewissen, das ich in den vergangenen Wochen in jeder Sekunde zurückgeschoben hatte, drängte sich beinahe brutal in den Vordergrund.
»Remy, bitte«, bat Ludwig im selben Moment, in dem Essie meinen Namen rief.
»Sie darf dich hier nicht sehen.«
»Warum? Bin ich dein kleines schmutziges Geheimnis?«
»Du bist eines meiner vielen kleinen schmutzigen Geheimnisse, Ludwig Abernathy«, gab ich mit gesenkter Stimme zurück und rief lauter: »Bin gleich da!«
Ludwig versenkte die Hände in den Hosentaschen. »Gut zu wissen. Also, muss ich dich an den Haaren in die Mondia zerren oder begleitest du mich freiwillig?«
»Nicht jetzt.«
»Wann dann? Wenn sich ein weiterer Erdriss in San Francisco aufgetan hat? Oder der Monsun ganz Tokio fortspült?«
Hölle noch mal. Ich fuhr mir über die Stirn und blieb an der kleinen Narbe hängen, die ich von meinem Sturz bei der Basilique Sainte-Clotilde davongetragen hatte. »Sobald wir den Lieferwagen zum Laufen bekommen haben, wird Essie den ganzen Tag und die halbe Nacht in den Galeries Lafayette sein und dort in einem Hotel übernachten.«
»Gut zu wissen, dass du deine wertvollen Fähigkeiten für etwas Sinnvolles einsetzt. – Schau nicht so überrascht, ich habe euch belauscht.«
»Ich hoffe, du bist nicht noch stolz darauf.« Ich warf Ludwig einen schrägen Blick zu und trat an eine der Kommoden aus Metall heran, um nach besagter Ersatzleitung zu suchen. »Wenn Essie weg ist, schreibe ich dir.«
»Ich warte lieber.«
Das passende Kabel in den Händen drehte ich mich zu ihm um und hob eine Braue. »Hast du nichts Wichtigeres zu tun?«
»Ob du es glaubst oder nicht, kleine Ripari, im Augenblick bist du das Wichtigste für mich.«
Wir brauchten eine halbe Stunde, um den Lieferwagen zu reparieren und das auch nur, weil ich mich zurückhielt. Dank meiner wertvollen Fähigkeiten, wie Ludwig sie genannt hatte, wäre ich weder auf die Leitung noch das Werkzeug angewiesen gewesen, um die Zündkerze wieder mit Spannung zu versorgen. Es hätte ein einfacher Gedanke gereicht, eine Antwort auf das Summen und Wispern des Mechanismus, um das Problem zu beseitigen. Nur hätte ich Essie und dem Fahrer dann die scheinbar magische Wunderreparatur erklären müssen, was einen ganzen Rattenschwanz an neuen Schwierigkeiten mit sich gebracht hätte. Also war ich den normalen Weg gegangen, hatte die Leitung ausgetauscht und der Rest … war zu einem weiteren meiner Geheimnisse geworden.
Kaum, dass Essie mit Lieferwagen und Blumen unterwegs war – und meine Ausrede damit weg –, duldete Ludwig keinen Aufschub mehr. Ich bekam gerade noch die Zeit, mir etwas anderes als mein weißes Sommerkleid überzuwerfen, dann zog er mich auch schon auf die Straße. Im Juli um die Mittagszeit stand die Hitze nur so in den schmalen Gassen von Gros-Caillou und ich bereute die weite Jeans und das dünne, gestreifte Langarmshirt jetzt schon – bis zum Zugang in der Métro-Station Concorde würde ich nicht mehr als eine Pfütze auf zwei Beinen sein. Nur war es in den Tunneln unterhalb von Paris kühl und wenn es nach meinem Kerkermeister ging, würde ich eine ganze Weile dort unten festsitzen. Mit all den Weltenschreibern, die keinen Finger rührten, um Kasimir zu helfen. Oder Antworten zu bekommen.
Die Gedanken sorgten wie so oft dafür, dass brodelnde Wut in mir aufstieg. Immerhin war Wut besser als diese beschissene Trauer. Wut konnte genutzt werden. Grimmig beobachtete ich Ludwig, der sich immer wieder umschaute, wenn er glaubte, ich würde es nicht bemerken. Aber wer war ich schon, ihm das anzukreiden? Nach den Ereignissen der letzten Zeit würde es mich eher wundern, wenn er sorglos durch die Straßen von Paris spazieren würde.
»Verrate mir, wie du das machst.«
Ertappt zuckte er zusammen. »Wie ich was mache?«
»Wie kannst du tagtäglich im selben Raum mit Corbin und den anderen sitzen, ohne ihnen an die Gurgel zu gehen?«
Zu meinem Erstaunen stieß er ein kurzes, heiseres Lachen hervor. »Was macht dich so sicher, dass ich das nicht getan habe?«
»Hast du?«
»Meinem Onkel das Leben zur Hölle gemacht? – Ja. Aber außer noch mehr Ärger und vergeudeter Energie hat es nichts gebracht.«
Ich schüttelte den Kopf und sah wieder nach vorne, als wir die Seine auf Höhe der Pont de l’Alma erreichten. Mehrere Menschen standen am Geländer, blickten auf das schimmernde Wasser des Flusses und die ikonischen Fassaden der Stadthäuser, die in diesem Viertel dominierten.
»Dann hast du wie die anderen aufgegeben?«
»Nein, Remy.« Lu griff nach meiner Hand, sodass ich gezwungen war, ebenfalls stehenzubleiben. »Ich habe nicht aufgegeben. Das würde ich niemals. Kasimir ist Familie. Ich würde sprichwörtlich alles für ihn tun, nur ist zu rebellieren und die Mondia ignorieren der falsche Weg, um etwas zu verändern.«
Nun war es an mir, ertappt zu schauen.
»Hör zu, von dem Zeitpunkt an, als du wütend aus dem Untergrund verschwunden bist, habe ich die Wochen genutzt, um nach Sim zu suchen, aber ohne die Zentrale und Unterstützung der Weltenschreiber habe ich keine Chance.«
Ich hob eine Braue. »Deswegen spielst du nach ihren Regeln?«
»Korrekt. Und ich habe die naive Hoffnung, dass wir mehr erreichen können, wenn du ebenfalls mitspielst.« Ludwig gab mich wieder frei und wandte sich der Seine zu. »Da hast du die Erklärung: Ich schaffe es, Corbin ins Gesicht zu schauen, weil er mein Mittel zum Zweck ist.«
»Ich glaube nicht, dass ich einen Unterschied in dieser Gleichung machen werde, Lu. Schon vor … den ganzen Ereignissen war er kein besonders großer Fan von mir. Sie haben mir beim ersten Mal nicht zugehört, warum sollten sie es jetzt tun?« Und das war noch untertrieben. In den Augen von Corbin Abernathy und vielen anderen Schreibern war ich eine wandelnde Zeitbombe. Eine Spionin, die nur darauf wartete, die nächste Krise auszulösen.
»Vielleicht ist es an uns, das nun gemeinsam zu ändern. Uns Gehör zu verschaffen. Wenn Vater erst wieder … an seinem Platz ist, wird es leichter werden.« Schatten verdunkelten Ludwigs Züge, trotz der Sonne, die unablässig vom Himmel brannte.
Ich trat näher an ihn heran und stützte die Hände auf die Ufermauer. »Ich weiß, es hilft nicht viel, aber das mit deiner Maman tut mir sehr leid, Lu.«
Er seufzte schwer und nickte. »Danke, Remy.«
Wir schwiegen ein paar Momente lang, in denen wir auf den Fluss blickten und unseren Gedanken Raum gaben. Mehrere Hausboote und Ausflugsschiffe zogen über das Wasser, Glocken läuteten und um uns herum war die Luft mit unzähligen Gesprächen in ganz unterschiedlichen Sprachen erfüllt. Seltsamerweise hatte ich hier mit Ludwig umgeben von fremden Menschen das Gefühl, zum ersten Mal wieder etwas freier atmen zu können.
»Wir werden Antworten finden, Remy«, sagte Ludwig dann. »Zusammen und auf unsere Weise.«
Ich atmete aus und griff nach dem goldenen Zahnrad, das um meinen Hals hing. »Ich hoffe, du liegst damit richtig.«
»Ich liege immer richtig. Und vergiss nicht, wir haben etwas, das die Weltenschreiber mehr als alles andere brauchen.«
Erwartungsvoll richtete ich mich auf. »Und das wäre?«
Lu schenkte mir ein kleines, schiefes Lächeln. »Dich, Aramena.«
1. Arrondissement, Paris
Remy
»Über die Stadt verteilt gibt es dreizehn bekannte Eingänge in den Untergrund. Aber ich bin mir sicher, dass es deutlich mehr sind, wenn man bedenkt, dass wir bis heute nicht alle Tunnel gefunden haben.«
Ich blieb mitten auf dem am tiefsten unter der Erde liegenden Bahnsteig der Métro-Station Concorde stehen und sah zu Ludwig. »Was wird das?«
»Was wird was?«
Mit einem Blick auf die Fahrgäste, die in diesem Moment aus der eingefahrenen Métro stiegen, erwiderte ich deutlich leiser: »Seit wir mein Viertel hinter uns gelassen haben, gibst du mir in einer Tour Informationen über du weißt schon was.«
Achselzuckend wich Ludwig einer jungen Mutter mit Kinderwagen aus und hakte dann die Finger in seine Hosenträger. »Einer muss es ja übernehmen, dich zu trainieren.«
»Trainieren«, wiederholte ich skeptisch.
»Hättest du dich in den vergangenen Wochen blicken lassen, wüsstest du, dass es Corbin ganz oben auf die Agenda gesetzt hat, dich über alles in Kenntnis zu setzen, damit du deinen Job ordentlich erledigen kannst. Du solltest niemals vergessen, dass du jetzt der Mondia dienst, Ripari.«
»Hättest du gerade nicht so sarkastisch geklungen, als du das gesagt hast, wäre ich auf direktem Wege wieder umgekehrt.«
Meine Antwort entlockte Lu zumindest ein schwaches Lächeln. »Fürs Protokoll: Wir stehen auf derselben Seite, Remy. Aber ganz unrecht hat mein lieber Onkel nicht. Es schadet nicht, wenn wir die Zeit nutzen und dein Wissen ausbauen. Ich weiß, dass das eigentlich Sim übernehmen …«
»Schon gut«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich gehe gern bei dir in die Lehre. Jeder ist besser als Corbin.«
»Autsch. Das tat weh.«
»Die Wahrheit schmerzt oft.«
Die Métro fuhr mit einem ohrenbetäubenden Dröhnen an und verhinderte jedes Gespräch, bis wir das Ende des Bahnsteigs erreicht hatten.
»Wo genau ist dieser Zugang eigentlich? Ist es wieder so ein schmaler, stinkender Weg wie in der Station Saint-Michel Notre Dame?«
Ludwig drehte sich im Gehen zu mir um. »Wäre ja langweilig, wenn alle Eingänge in unser Königreich gleich wären, oder?«
»Das mit den lehrreichen Antworten musst du definitiv noch üben.«
»Ich stehe eher auf Demonstration«, gab er zurück und hielt dann unvermittelt vor der … öffentlichen Toilette an. »Und da wären wir auch schon.«
Wenig überzeugt blickte ich von dem mit Graffiti beschmierten WC-Schild zu Ludwig. »Das Herrenpissoir?«
»Du vergisst, dass unsere Reihen früher deutlich konservativer unterwegs gewesen sind. Rücksicht auf Frauen gab es da nicht.«
»Nur früher?« Mir kam es eher so vor, als würden gewisse Leute unter den Weltenschreibern das heute noch so handhaben. Stirnrunzelnd schob ich die Ärmel meines Longsleeves hoch. »Also gut, wie geht es weiter?«
»Um dir mögliche Unannehmlichkeiten zu ersparen, werde ich einen ersten Blick riskieren und dich dann reinholen.«
»Wie zuvorkommend.«
»So bin ich.« Lu schnalzte mit seinen Hosenträgern und ließ mich dann vor der Toilette stehen. Nachdenklich sah ich ihm nach. Obwohl er sich Mühe gab, es zu verbergen, war offensichtlich, wie sehr er litt. Seine Haltung war weniger aufrecht als sonst. Seine braunen Augen waren von Dunkelheit erfüllt. Ludwig kämpfte. Mit jedem Atemzug.
Das Vibrieren meines Handys zerstreute diese Gedanken und als ich den Namen der Absenderin las, zog sich meine Brust aus einem ganz anderen Grund zusammen.
Ninnie: Ich war gerade am Blumenladen, weil Essie meinte, du wärst den ganzen Tag zu Hause, aber Überraschung, du warst nicht da. Also, warum gehst du mir aus dem Weg? Wo steckst du?
Ninette, meine beste Freundin, seit ich denken konnte, war noch jemand, den ich in den letzten Wochen geflissentlich auf Abstand gehalten hatte. Und auch wenn es mir jeden Tag schwerer gefallen war, hatte es sich wie das Richtige angefühlt. Ninnie wusste von der Mondia, ich hatte ihr einen Großteil meiner Geheimnisse anvertraut, aber über das, was mit Kasimir passiert war, hatte ich keine Silbe verloren. Stattdessen war ich ihr aus dem Weg gegangen, hatte sie mit Ausreden vertröstet, weil mit ihr darüber zu sprechen bedeuten würde, es real zu machen.
Kasimirs Tod.
Und meine Rolle in all dem.
Aufgebracht umfasste ich das Handy fester.
Merde, ich musste mit Ninnie reden, das war ich ihr schuldig, nur wie?
Wieder brummte mein Handy. Wieder war es Ninette.
Ninnie: Ignorier meine letzte Frage. Ich habe eine Vermutung, wo du bist. Warum schließt du mich aus? Was ist an dem Tag dieser Explosion wirklich geschehen?
Ich hatte mich selbst verloren.
Kraftlos ließ ich mich gegen die Wand neben der Toilettentür sinken und starrte auf die Nachrichten, bis sie vor meinen Augen verschwammen. Dann begann ich zu tippen.
Remy: Es tut mir leid, gerade muss ich einiges sortieren und mit mir selbst ausmachen, aber ich werde es dir erklären. Promis.
Mehr konnte ich ihr im Augenblick nicht geben und ich hoffte, dass es reichen würde, um nicht noch einen Menschen zu verlieren, der mir die Welt bedeutete.
Hastig klickte ich auf die Nachricht von Maman.
Maman: Ich war gerade bei unserer Lieblingspatisserie und musste an dich denken. Kommst du heute Abend zum Essen?
Am liebsten hätte ich mit Oui geantwortet. Zu meinen Eltern zu fahren und den Kopf abzuschalten, klang himmlisch, aber Ludwig hatte mit großer Wahrscheinlichkeit andere Pläne für mich. Ludwig und die Weltenschreiber.
Seufzend ließ ich die Finger über die Tastatur fliegen.
Remy: Ich liebe den Laden! Ich hoffe, du hast ein Eclair für mich mitgegessen. Heute Abend schaffe ich es leider nicht. Ich habe ein großes Projekt, das viel Zeit frisst, aber nächstes Mal wieder!
Die kleine Notlüge hinterließ einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge, als ich auf Senden drückte. Doch noch ehe ich länger über nächstes Mal nachdenken konnte, wurde unvermittelt die Tür aufgerissen und Ludwigs brauner Lockenschopf erschien im Durchgang. »Die Luft ist rein, Remy. Du kannst – Ist alles in Ordnung? Nein, warte, dumme Frage, ich weiß selbst, dass wir nicht okay sind, aber …«
Ich steckte das Handy weg und winkte ab. »Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich später darum.«
»Sicher?«
»Sicher.« Ich lächelte schwach und schob meine Sorgen um Ninette und meine Familie zur Seite. Mittlerweile war ich beunruhigend gut darin geworden, Emotionen zu verdrängen.
Kurz schien es, als wollte Ludwig noch etwas sagen, dann bedeutete er mir jedoch nur, ihm zu folgen. Mit gestrafften Schultern betrat ich das Männer-WC, wobei ich darauf achtete, den Wänden nicht zu nahe zu kommen. Öffentliche Toiletten waren eine Vorhölle für sich, ganz gleich welches Geschlecht.
»Sag mir nicht, dass wir kopfüber in eines der Pissoire springen müssen.«
»Da muss ich dich enttäuschen, wir –«
Ludwig kam nicht dazu, seine Antwort auszuführen, denn direkt vor uns öffnete sich eine der Kabinen derartig abrupt, dass uns die Tür beinahe erwischt hätte.
»Zut. Entschuldigen Sie mal!«, rief Lu und sah den älteren Herrn samt Schirmmütze und Anzug finster an.
»Ich? – Dass Sie sich nicht schämen, eine junge Dame an diesem Ort …«
»Non! Wir wollen nur –«, fiel ich ihm ins Wort, doch der Mann überging mich mit einem empörten Ausdruck und verließ fluchtartig die Toilette. Ein paar Sekunden lang wurde es still, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, dann brach ein trockenes Lachen aus Ludwig hervor.
»Bon sang, ich würde sagen, jetzt ist die Luft rein.«
Meine Wangen wurden heiß. Ludwig konnte froh sein, dass meine Gabe nicht darin bestand, Dinge in Rauch aufgehen zu lassen, denn sonst wäre er jetzt nicht mehr als ein Häufchen Asche mit Hosenträgern. »Das werde ich dir heimzahlen, Lu! Dreifach.«
»Stell dich hinten an, ma crevette.« Immer noch schmunzelnd klopfte er mir auf die Schulter, und auch wenn diese Situation hochgradig unangenehm gewesen war … so war es das winzige, aufrichtige Lächeln von Lu wert.
»Komm, bringen wir das hinter uns, bevor wir auf weitere ungebetene Gäste stoßen, oder was meinst du?« Ludwig trat ein wenig zurück und steuerte dann die hinterste Kabine der Toilette an. Das Metall der Trennwände war mit Edding und unzähligen Aufklebern verunziert, an mehreren Stellen verbeult und damit so ziemlich das Gegenteil der geheimen, hochgestochenen Gesellschaft der Weltenschreiber. Aber wenn ich eines gelernt hatte, dann, dass in dieser zweiten Welt unterhalb von Paris nichts so war, wie es zunächst schien.
»Als dieser Zugang geöffnet worden ist, war das hier keine Toilette, sondern ein Kiosk und der Inhaber ein Eingeweihter«, meinte Lu mit gesenkter Stimme und öffnete die Kabinentür. Ein leises Quietschen erklang. »Die Schreiber haben diesen Ort zu einem Umschlagplatz umgeben von Pendlern gemacht, bis die Stadt die Métro sanieren und den kleinen Laden schließen ließ. Jetzt ist es …«
»Ein Klo.«
»Richtig. Ich wollte dich nur darauf aufmerksam machen, dass wir unsere Kaninchenlöcher nicht von vorneherein auf dreckigen, stillen Örtchen verstecken.«
»Zur Kenntnis genommen.« Kurz begegnete ich seinem Blick, dann folgte ich ihm in den beengten Raum. Nichts deutete darauf hin, dass sich hier einer der Eingänge zum Untergrund befand. Es gab mit Obszönitäten verschmierte weiße Fliesen, ein Pissoir und einen leeren Toilettenpapierhalter. Das wars. Zumindest für das menschliche Auge, denn mein magischer Spinnensinn, den ich meiner Gabe als Ripari zu verdanken hatte, verriet mir, dass das nicht alles war. Das Summen der Mechanismen und Schaltkreise ließ sie mich – vereinfacht gesagt – als dreidimensionales Objekt vor meinem inneren Auge sehen und darauf zugreifen – sie sogar manipulieren. Hier in Paris in der Nähe der Weltenbibliothek Mondia war dieses Summen besonders stark. Anfangs war ich deswegen beinahe durchgedreht. Mittlerweile kam ich halbwegs damit klar und hatte Zugang zu dieser durchaus praktischen Gabe gefunden. Ich verstand das Summen, das in meinen Ohren zu einer eigenen Sprache wurde, konnte es übersetzen. Und diese Kabine, in der Lu und ich nun standen, brummte wie ein hochfrequentiertes Wespennest.
»Spürst du es?«, flüsterte Ludwig, als hätte er meine Gedanken gehört und sah mich direkt an. Meine Miene schien ihm Antwort genug. »Gut, dann weißt du, woran du unsere Zugänge erkennst.«
»Was bringt es mir, sie zu finden, wenn ich sie nicht öffnen kann?« Anders als Lu und die anderen Weltenschreiber besaß ich kein Signo, das Zeichen der Mondia, das mit der ersten Tinte bei der Initiation unter ihre Haut gestochen und zu ihrem Schlüssel in die Bibliothek wurde.
»Wie kommst du darauf, dass du nicht in der Lage dazu bist, Ripari?« Er winkte mich zu sich, bis wir direkt vor der Fliesenwand neben der Toilette standen. Ein unangenehmer Geruch stieg mir in die Nase, der jedoch sofort zu einer Nebensächlichkeit wurde, als Ludwig seine Hand auf die Kacheln legte und seine Haut sanft zu leuchten begann. Ein vertrauter Anblick, der sich wie ein Stachel in mein Herz bohrte. Für einen kurzen, qualvollen Moment wurde Lu zu Kasimir und ich war wieder dort mit ihm. An den vielen Zugängen, durch die Sim mich in seine Welt gebracht hatte.
Mit seiner Magie, seinem Leuchten.
Das nun erloschen war.
Ich presste die Kiefer aufeinander, als der vertraute Schmerz wie eine dunkle Welle über mich hinwegspülte, dann löste eine Berührung an meinen Fingern die Erinnerung auf.
»Versuch du es, Remy.« Ludwigs Stimme klang belegt, während er meine Hand anhob und dabei nicht eine Sekunde wegschaute. Unwillkürlich hielt ich den Atem an, als meine Haut auf die kühlen Fliesen traf und ich es fühlte. Sah. Den komplizierten Mechanismus, der unter den unscheinbaren Kacheln schlummerte, ein ausgeklügeltes, umfangreiches Uhrwerk aus Zahnrädern und Federn, die perfekt ineinandergriffen und nur darauf warteten, sich in Bewegung zu setzen. Durch das Signo eines Schreibers. Oder eine Ripari.
Ein kleines Lächeln zupfte an meinem Mundwinkel, dann ließ ich mich für einen Herzschlag in die Maschinerie ziehen. Tauchte zwischen den einzelnen Bestandteilen ab, drehte und wendete sie, angeleitet von dem Summen, das meine Zellen zum Vibrieren brachte. Innerhalb weniger Sekundenbruchteile verstand ich das Zusammenspiel der Baugruppe und kannte den Impuls, den der Mechanismus brauchte, um uns einzulassen.
Blinzelnd wachte ich aus meiner Trance auf und sah zu Ludwig.
»Nur zu, Remy.«