Kein Ozean zu tief (Tales of Sylt, Band 3) - Alexandra Flint - E-Book
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Kein Ozean zu tief (Tales of Sylt, Band 3) E-Book

Alexandra Flint

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Beschreibung

Selbst im tiefsten Ozean ist sie sein Kompass Lous Plan steht fest: Als Ingenieurin in der Firma ihrer Eltern einsteigen. Das Problem: Sie kann ihr Studium nicht leiden. Nach einer weiteren vermasselten Prüfung beschließt Lou daher, auf Sylt ihrer wahren Leidenschaft eine Chance zu geben. Doch wie soll sie vom Travelblogging leben? Da bietet ihr kein anderer als Kai Hansen eine Kooperation an. Kai, der bekannte Extremfotograf. Kai, der dringend ein Image-Make-Over braucht. Und Kai, der Lous Herz ungewollt schneller schlagen lässt … Romantische Momente an der Nordsee In Kein Ozean zu tief nimmt uns SPIEGEL-Bestsellerautorin Alexandra Flint mit auf eine prickelnde Reise durch Norddeutschland – auf wunderschöne Inseln, in atmosphärische Städte und atemberaubende Natur. Eine Geschichte, die Mut macht, den eigenen Leidenschaften zu folgen. Urlaubsfeelings, Fernweh und Romantik pur!

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Seitenzahl: 553

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Inhalt

Playlist

PrologVerfolgen und verfolgt werdenLouSommer vor drei Jahren, Preikestolen, Norwegen

Drei Jahre später

Kapitel 1Aus der Tiefe auftauchenLou

Kapitel 2Entscheidungen, die wir treffenLou

Kapitel 3Miese ZeichenKai

Kapitel 4Begegnungen zwischen unzähligen MaskenLou

Kapitel 5Wiedersehen auf SyltLou

Kapitel 6BackstubengeflüsterLou

Kapitel 7Kompass ohne NordenKai

Kapitel 8Ein neuer AnsatzLou

Kapitel 9Möglichkeiten und UnmöglichkeitenKai

Kapitel 10Die Sache mit dem VielleichtLou

Kapitel 11Neue MöglichkeitenLou

Kapitel 12Chancen, die wir verpassenKai

Kapitel 13Wer nicht wagt, der nicht …Lou

Kapitel 14Back to the RootsLou

Kapitel 15Die Welt um uns herum vergessenKai

Kapitel 16Packing Troubles und ein NichtsLou

Kapitel 17Ein Abschied und ein AnfangLou

Kapitel 18Gedanken auf offener SeeKai

Kapitel 19Graue Wolken und WindstilleLou

Kapitel 20Eine Maske, die ich nicht tragen willKai

Kapitel 21Gründe, die wir nicht kennenLou

Kapitel 22Kitsch und andere HerzensangelegenheitenLou

Kapitel 23Der Ort, an den ich verschwindeKai

Kapitel 24Ein Himmel ohne SterneLou

Kapitel 25Ozean unter der KlippeLou

Kapitel 26Ein neuer NordenKai

Kapitel 27Back to the IslandLou

Kapitel 28Alte Gedanken, die zu neuen Worten werdenKai

Kapitel 29MädelsgeflüsterLou

Kapitel 30Emotions-StrudelLou

Kapitel 31Fremde VertrautheitKai

Kapitel 32Vertrauen, das wir schenkenLou

Kapitel 33Das Auszeit-DingLou

Kapitel 34Eine Sorge kommt selten alleinLou

Kapitel 35Etwas, das brichtKai

Kapitel 36Wahrheiten, die wir hörenLou

Kapitel 37Schokolade mit Schuss & böse VorahnungenLou

Kapitel 38Nichts gelerntKai

Kapitel 39Klartext schreibenLou

Kapitel 40WeckrufKai

Kapitel 41AnkommenLou

EpilogBernsteinglühen und MeeresrauschenLouZwei Wochen später

Danksagung

Content Note

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr am Ende des Buchs eine Content Note.

Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte!

Wir wünschen euch das bestmögliche Lesevergnügen.

Für alle, die ihren Norden verloren haben.

Die ihren Weg suchen.

Und nicht aufgeben.

Ihr könnt stolz auf euch sein.

»Wer an der Küste bleibt,

Playlist

Reckoning Song – Asaf Avidan, The Mojos

20s – Bow Anderson

I’m Born To Run – American Authors

Wanderer – Mogli

She’s So High – Tal Bachman

Home – Phillip Phillips

Fell In Love With An Alien – Mike Perry feat. Mentum

Waste of You – Will Callan

About You Now – Sugababes

Bad Liar – Imagine Dragons

Here Comes The Sun – Remastered 2003 – The Beatles

I Lived – OneRepublic

Bette David Eyes – Kim Carnes

Thunder/Young Dumb & Broke (with Khalid)[Medley] – Imagine Dragons, Khalid

House of Memories – Panic! At The Disco

Memories – Maroon 5

Fire and the Flood – Vance Joy

Tom’s Diner – AnnenMayKantereit & Giant Rooks

99Problems – Hugo

Written In The Water – Gin Wigmore

West Coast – OneRepublic

Under – Alex Hepburn

Walk – Griff

Helium – Sia

Pray – JRY, RuthAnne

Looking Too Closely – Fink

Ocean – Martin Garrix feat. Khalid

Prolog

VERFOLGEN UND VERFOLGT WERDEN

Lou

Sommer vor drei Jahren, Preikestolen, Norwegen

Mein Herzschlag donnerte viel zu heftig und schnell in meiner Brust, während mir das Blut in den Ohren rauschte. Schweiß stand mir auf der Stirn, mein verwaschenes Travelshirt, das den Mount Cook in Neuseeland zeigte – und für das ich ein halbes Taschengeldvermögen ausgegeben hatte –, klebte mir am Körper wie eine zweite Haut und ich … war glücklich. Voll und ganz und auf eine so simple Art und Weise, dass ich am liebsten die Arme ausgebreitet und die verdammte Welt umarmt hätte. Euphorie, gepaart mit Adrenalin und purer Freude, sprudelte als wilder Cocktail in mir hoch. Ein Cocktail, der mir das Gefühl gab, am Leben zu sein. Lebendig. Echt. Hier in diesem Augenblick. Weil das vollkommen reichte.

Mit einem letzten Satz sprang ich über einen der Steine, die den Weg bis hierher gesäumt hatten, und betrat das weitläufige und verlassene Felsplateau vor mir. Die Sonne war noch nicht aufgegangen und der Himmel in jenes helle Blau getaucht, das nur darauf wartete, von den ersten Strahlen des neuen Tages in Brand gesetzt zu werden. Für den Moment fühlte es sich an, als würde ich durch eine Traumlandschaft wandeln. Hier, fernab von allen Menschen und Städten, mitten in der zerklüfteten Landschaft Norwegens hoch oben auf dem Preikestolen mit nichts als endloser Weite um mich herum. Direkt vor mir ragte das Plateau ein wenig über das saphirblaue Wasser des Fjords, rechts und links fiel das Land steil ab und auf der anderen Seite erhob sich das Ufer mit einer majestätischen Steilwand. Es war atemberaubend und so viel beeindruckender als sämtliche Aufnahmen, die ich mir vor unserem Urlaub angeschaut hatte. Kein Foto und kein Video der Welt konnten den Zauber des Hierseins einfangen. Dafür musste man schon die Luft selbst atmen, den Wind auf der eigenen Haut spüren, dem Flüstern der Natur lauschen. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich für immer in diesem Augenblick geblieben. In diesem Gefühl, richtig zu sein, genau an diesen Ort zu gehören, während es mir zu Hause oft so vorkam, als würde ich schlichtweg nicht in die Form passen, die sich mein Leben nannte. Egal, was ich tat. Wie sehr ich es auch versuchte.

Komm schon, Lou. Nicht jetzt. Dieser Platz ist zu schön, um ihn mit der Realität zu verderben.

Meine innere Stimme ließ mich lächeln. Sie hatte recht. Ich war nicht hier hochgestiegen, um mich mit Dingen zu befassen, die ich zusammen mit meinen Eltern unten im Hotel Preikestolen BaseCamp hinter mir gelassen hatte. Entschlossen ignorierte ich das Stechen in meiner Magengegend und wandte mich um, als ich hinter mir das laute und vertraute Schnaufen meiner älteren Schwester Charlie hörte.

»Heilige Scheiße. Warum genau habe ich mich noch mal um zwei Uhr aus dem Bett gequält, um mit dir diesen Berg hochzurasen?« Zwischen jedem einzelnen Wort legte sie eine Pause ein, um wieder zu Atem zu kommen. »Das ist … Masochismus.«

Ich lachte leise und lief Charlie etwas entgegen, damit ich ihr mit dem Rucksack zur Hand gehen konnte. »Wenn es dich tröstet: Ich bin sehr stolz auf dich. Und es wird sich lohnen, vertrau mir. Sonnenaufgänge sind pure Magie.«

»Die wir vom Hotelbalkon aus nicht gesehen hätten?« Zweifelnd hob sie eine ihrer rotbraunen Brauen und seufzte erleichtert auf, sobald ich die Schnallen ihres Backpacks löste. Als wäre ich die Ältere von uns beiden und nicht fünf Jahre jünger.

»Da unten zwischen den ganzen Bäumen? Niemals. Dafür muss man schon höher steigen. Komm, ich zeig es dir.« Ich hängte mir ihren Rucksack über eine Schulter – meinen eigenen trug ich immer noch auf dem Rücken – und führte Charlie weiter über das Plateau zur Kante.

»Nicht zu nah an den Abgrund, Lou.«

»Keine Sorge, ich passe schon auf.«

Sie bedachte mich mit einem ihrer typischen Große-Schwester-Blicken und blieb zwei Meter vor dem Abgrund stehen. »So wie du aufgepasst hast, als es dich letztes Mal beim Skaten auf der Straße zerlegt hat?«

»Daran war der lose Asphalt schuld. Nicht ich«, erinnerte ich sie und stellte unser Gepäck ab. Dann ließ ich mich an der Kante nieder, sodass meine Beine über dem Wasser baumelten, das gute sechshundert Meter unter mir träge durch den Fjord floss. Es war ein irres Gefühl, hier zu sitzen, eine berauschende Mischung aus Respekt vor der Höhe, Glücksgefühl und rasendem Herzen. Kurzerhand streckte ich mich nach meinem Rucksack, holte ihn ein Stück zu mir heran und zog neben einem typisch norwegischen Wollpullover, den wir vor drei Tagen in Bergen gekauft hatten, auch meine Nikon hervor.

»Es macht mich wirklich wahnsinnig, dich da sitzen zu sehen.«

Schmunzelnd schlüpfte ich in das Wollungetüm und drehte Charlie den Kopf zu. »Wenn du dich zu mir hockst, können wir uns gegenseitig wahnsinnig machen.«

»Du bist echt unmöglich, weißt du das eigentlich?«

»So oft, wie du mich daran erinnerst, werde ich das wohl nicht so schnell vergessen.«

Charlie schnitt eine Grimasse, die zwischen Belustigung, Ratlosigkeit und Sorge changierte, und setzte sich in der nächsten Sekunde tatsächlich zu mir. »Absolut irre.« Beim Anblick der Landschaft vor uns weiteten sich ihre Augen, die dieselbe grünbraune Farbe wie meine besaßen. Sogen dabei jedes Detail in sich auf, als könnten sie sich ganz einfach nicht gegen ihren Zauber wehren. So ergriffen und sprachlos hatte ich sie schon lange nicht mehr erlebt.

»Momente wie dieser leben vom Irrsinn«, sagte ich in die Stille hinein und nahm ein paar Einstellungen an meiner Kamera vor, ehe ich sie auf die Welt um uns herum richtete. Auf unsere braunen Hikingboots, die über dem Abgrund hingen, das Wasser, das unter uns schimmerte, den Horizont im Osten, wo in wenigen Minuten die Sonne aufgehen würde.

»Okay, du hast gewonnen, die Tortur hat sich gelohnt, Lou. Das ist … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Schon gut«, ich rutschte näher an meine Schwester heran und ließ die Kamera sinken, »mir fehlen auch die Worte. Ist völlig okay. Genieß es einfach.«

»Du weißt schon, dass unsere Eltern durchdrehen werden, wenn sie in gut fünf Stunden aufstehen und feststellen, dass ihre Töchter nicht mehr in ihrem Zimmer, sondern acht Kilometer entfernt und etwa fünfhundert Meter höher auf einem Berg sind, richtig?«

»Ich bin beeindruckt. Du hast gut zugehört, als ich dir den Weg beschrieben habe.«

Charlie pikte mich in die Seite. »Ich höre dir immer zu.« Und das stimmte, meine Schwester verstand mich wie niemand anders auf der Welt – von meiner besten Freundin Neela einmal abgesehen. Und sie wusste, wie sehr mir die vielen Entscheidungen, gerade im Hinblick auf meine Zukunft, zu schaffen machten. Weil es ihr in gewisser Weise genauso ging. Die unsichtbaren Spannungen mit unseren Eltern, das Gefühl, nie so richtig in ihre um Weiten zu großen Fußstapfen zu passen, hatten uns neben so vielen anderen Dingen zu Verbündeten gemacht.

»Danke, Charlie.«

»Immer, Lou.«

Wir sahen einander an, lächelten dasselbe Lächeln und verschränkten unsere Hände miteinander.

»Wie lange dauert es noch, bis die Sonne aufgeht?«

»Nur noch ein paar –« Ich verstummte abrupt und fuhr herum, als ich hinter uns Schritte hörte. Zwei Jungs – einer mit so blonden Haaren, dass sie beinahe weiß wirkten, der andere braun-, fast schwarzhaarig – betraten leise keuchend das Plateau. Ähnlich wie meine Schwester und ich hatten auch sie gut gefüllte Rucksäcke dabei und steckten in ordentlichen Bergschuhen und passender Kleidung.

»Haben wir es noch rechtzeitig geschafft?«, fragte der Blonde gerade und fuhr sich über die vor Schweiß glänzende Stirn. Ich schätzte ihn und seinen Freund auf zwei, vielleicht drei Jahre älter als mich.

»Jap, sind im Zeitplan.« Der Braunhaarige schaute auf seine Smartwatch und hob dann den Kopf, wobei sich unsere Blicke trafen. Einen Herzschlag lang sahen wir uns nur an, dann erkundigte er sich in flüssigem Englisch: »Hi, sorry for disturbing you two. I hope you don’t mind sharing the spot for a bit?«

Ich öffnete den Mund, um ihm zu antworten, egal, ob nun auf Deutsch oder Englisch, doch irgendetwas an diesem Kerl verschlug mir die Sprache. Vielleicht weil er beinahe absurd gut aussah und mir sein charmantes Lächeln direkt die Hitze in die Wangen trieb. Hitze, die ganz offensichtlich einen Kurzschluss in meinem Gehirn verursachte. Großartig, Lou!

Als ich nichts sagte, sondern nur wenig hilfreich den Mund schloss und wieder öffnete wie ein Fisch auf dem Trockenen, drehte sich Charlie um und erwiderte an meiner Stelle auf Deutsch: »Hey, nein, kein Problem. Ist ja genug Platz für uns alle.«

»Perfekt, danke.« Charming – der Name passte einfach wie die Faust aufs Auge – lächelte noch ein Stückchen breiter und klopfte seinem Kumpel auf den Rücken, ehe sie sich, ein paar Meter von uns entfernt, ebenfalls an der Kante niederließen.

Mit noch immer brennenden Wangen verfolgte ich, wie sie ihre eigene Kameraausrüstung hervorholten: unzählige Objektive, Mikros, verschiedene Kamerabodies und sogar eine Drohne. Teures Equipment, das die beiden als Profis auf ihrem Gebiet entlarvte. Oder zumindest Möchtegern-Profis. Wobei mir irgendetwas sagte, dass die Jungs genau wussten, was sie taten. Mit routinierten Handgriffen bauten sie Objektive um, schraubten Polfilter auf die Linse und unterhielten sich gedämpft, sodass ich mich anstrengen musste, sie über das leise Säuseln des Windes zu verstehen.

»Und du bist dir sicher, Kai?« Blondie zupfte an seiner Drohne herum, bis die kleinen Rotoren ausgeklappt waren und sie die Form eines Wasserläufers angenommen hatte. »Das ist ein krasses Ding. Könnte schiefgehen.«

Der Braunhaarige – Kai, nahm ich an – nickte und wischte sich die Hände an seiner kurzen Outdoorhose ab, ehe er ein Bündel Seile aus dem Rucksack hervorzog. »Genau aus diesem Grund mache ich das ja. Weil es mein krasses Ding ist.«

»Ich weiß nicht, ob du den Verstand verloren oder einfach nur Todessehnsucht hast.«

»Irgendetwas dazwischen, schätze ich.«

Seine Antwort ließ mich leise lächeln, während ich mir den Kopf darüber zerbrach, von welchem krassen Ding die beiden eigentlich sprachen. Und was genau sie mit den Kletterseilen vorhatten, denn soweit ich wusste, gab es direkt am Plateau keinen Einstieg. Vielleicht ein Shooting, das ließ zumindest Charmings hübsches Gesicht vermuten.

»Okay, hör zu«, sagte Blondie. »Das Set hält eine Erschütterung aus. Eine Chance. Danach musst du wieder hoch, kapiert? Alles andere wird mir sonst zu heiß.«

»Noch mal, ich falle nicht, Henri. Tue ich nie, schon vergessen?«

Fallen?

»Du starrst da schon ziemlich auffällig rüber, Lou. Hat es dir der süße Braunhaarige angetan?«

Ertappt wandte ich den Jungs – und meinen Gedanken – den Rücken zu und sah meine Schwester anklagend an. Anklagend und mit in Flammen stehendem Gesicht, was man dank meiner hellen Haut vermutlich auch nur allzu gut erkennen konnte. In dieser Hinsicht war ich das reinste Klischee: feuerrote, lange, wilde Wellen, grünbraune Augen, Sommersprossen und so helle Haut, dass Sonnenschutz 50 in den meisten Fällen nicht ausreichte. Was mich allerdings nie davon abhielt, jeden einzelnen Strahl zu genießen. Charlie hatte es da deutlich besser getroffen. Ihre kinnlangen Haare schimmerten in einem dunklen Kastanienton und im Gegensatz zu mir wurde meine Schwester braun, sobald man das Wort Sonne auch nur in den Mund nahm. Sie hatte die Gene von Papa geerbt, während ich in dieser Hinsicht eher nach unserer Mutter kam.

»Tue ich gar nicht.« Meine Antwort folgte mit deutlicher Verspätung und klang ziemlich lahm, wie ich zugeben musste.

»Hey, vor mir muss dir das nicht peinlich sein, er ist süß.«

»Könntest du bitte damit aufhören, die ganze Zeit süß zu sagen?«

»Hast du Angst, er bekommt das mit? Keine Sorge, der Süße und sein Freund sind gerade mit ihren Kameras aufgestanden und – was zum Teufel machen die da?«

»Hm?«, erwiderte ich irritiert und drehte mich nun doch wieder den beiden Jungs zu.

Genau in dem Moment, in dem die Sonne endlich über die Berge lugte und alles in ein warmes Licht tauchte.

Genau in dem Moment, in dem Henri einen Daumen hochreckte und knapp nickte.

Genau in dem Moment, in dem Kai schief lächelnd an seinem Freund vorbei zu mir schaute, eine Hand am Auslöser seiner Kamera, und über die Kante sprang.

In den Abgrund.

Einfach so.

»Oh mein Gott!« Meiner Kehle entrang sich in derselben Sekunde ein Schrei, in der Charlie nach meinem Arm packte und meinen Namen ausstieß. Reflexartig riss ich mich von ihr los und rannte über das Plateau zu Henri. »Habt ihr den Verstand verloren?«

Verwundert, als wäre mein Aufruhr vollkommen unverständlich, runzelte er die Stirn und sah von seiner Fernbedienung auf. »Die Frage gebe ich gern an den Kerl da unten weiter.«

»Willst du mich – wie bitte…?« Perplex folgte ich seinem ausgestreckten Finger, der direkt auf die Kante zeigte – oder besser gesagt, auf das, was darunter lag. Mit rasendem Puls und viel zu abgehacktem Atem beugte ich mich über den Abgrund … und konnte den scharfen Fluch, der mir auf der Zunge lag, nicht länger zurückhalten.

Dafür also die Seile …

»Lou, was ist?« Charlie stellte sich neben mich und murmelte dann eine ähnlich kreative Verwünschung, als sie sah, was ich sah.

Kai hing wortwörtlich über dem Nichts. Mit rechts hielt er sich an einer herausstehenden Felsnase fest, die mit weißem Puder – vermutlich Kletter-Chalk – bedeckt war. Auf diese Weise sicherte er sein ganzes Gewicht, während er mit der anderen Hand ein Foto nach dem nächsten schoss. Als wäre nichts dabei, als würde er so etwas jeden Tag machen, als würde er das Schicksal nicht gerade mit erhobenem Mittelfinger herausfordern. Seine Füße, die nun in Kletterschuhen steckten, schaukelten leicht, beinahe entspannt, hin und her und auch das Seil, das im Ernstfall sein Leben schützen sollte, baumelte lose an seiner Seite. Ungenutzt. Ungebraucht. Genau, wie er es gesagt hatte.

Ich falle nie.

Seine Worte hallten in mir wider und so, wie er dort positioniert war, glaubte ich sie ihm sofort. Es wirkte so mühelos. So leicht. So schwerelos. Einzig die Muskeln, die sich unter seiner gebräunten Haut wölbten, verrieten, dass es ihn trotz lässiger Pose Kraft kostete, sich zu halten.

Und irgendwie beruhigte und beunruhigte mich das gleichermaßen.

»Unser Vogel war in der perfekten Position. Hat jeden Winkel eingefangen. Alter, Kai, das wird alles verändern, Mann!« Henris lauter Ausruf zerriss jäh die angespannte Stille.

Unwillkürlich stolperte ich einen Schritt rückwärts und verfolgte, wie sich Kai über die Kante zog und mit sichtbar schnellerer Atmung neben seinem Kumpel aufrichtete. Kreide klebte an seinen langen Fingern, mit denen er nun an seiner Kamera herumhantierte. Zwischen seine Brauen grub sich eine tiefe Falte, als er konzentriert durch die Bilder klickte und dabei keine Sekunde hochsah. »Du hast aufgenommen? Ich dachte, du kundschaftest nur aus?«

»Und lasse mir die Chance auf ein einmaliges Video entgehen? Natürlich habe ich gefilmt. Könnte sein, dass es durch die Strahlen etwas überbelichtet ist. Mal schauen, ob ich das im Post-Editing hinbekomme«, erwiderte Henri, die Aufmerksamkeit nun wieder auf seine Drohne – das war dann wohl besagter Vogel – gerichtet, die er gerade landete. »Vielleicht müssen wir morgen noch mal her und es wiederholen, damit der Clip besser wird.«

Kopfschüttelnd ließ Kai endlich von seiner Kamera ab und fasste seinen Freund ins Auge. Seine Brust hob und senkte sich noch immer rasend schnell, feine Schweißtropfen funkelten auf seiner Haut. »Ist egal, es geht nicht um das Video. Ich habe, weshalb ich gekommen bin.«

»Also gab es tatsächlich einen Grund für diese halsbrecherische Aktion?«, mischte sich Charlie plötzlich in das Gespräch ein und erinnerte mich daran, dass wir auch noch da waren. Nicht nur als stumme Beobachter, sondern als Teilnehmer dieser ganzen surrealen Szene, die sich hier gerade abgespielt hatte. Und weiterhin abspielte.

Dem Blick nach zu urteilen, mit dem Kai und Henri uns bedachten, schien auch ihnen erst jetzt wieder bewusst zu werden, dass sie nicht allein auf dem Preikestolen waren.

»Sicher. Keine Aktion ohne Grund. Warum sollten wir das sonst durchziehen?« Henri zuckte mit den Schultern.

Meine Schwester lachte freudlos und ein klein wenig zu schrill auf. Dabei klang sie beinahe wie unsere Mutter. »Vielleicht um einen Herzinfarkt zu bekommen?«

»Nicht ganz. Uns ging es eher um den ultimativen Shot.« Mit einem weiteren charmanten Lächeln auf den Lippen hakte Kai die Kamera aus seinem Klettergurt aus. »Tut mir leid, wenn wir euch … einen Schrecken eingejagt haben. Schätze ich.«

»Schätzt du.« Endlich hatte ich meine Stimme wiedergefunden, auch wenn sie jetzt, da Kais funkelnde braune Augen direkt auf mir lagen, seltsam hoch klang. »Das war ziemlich …«

»… genial?«, schlug Henri vor. In seinen eisblauen Iriden blitzte es auf.

»Durchgeknallt«, verbesserte ich ihn nachdrücklich und überkreuzte die Arme vor der Brust, als es um Kais Mundwinkel amüsiert zuckte. »Und das soll kein Kompliment sein, nur damit wir uns richtig verstehen.«

»Kein Ding.« Kai winkte mit seiner freien Hand ab. »Wir wurden schon als Schlimmeres bezeichnet.«

»Und sollten jetzt von hier verschwinden, bevor uns der Ranger noch mal Ärger macht«, erinnerte ihn Henri und richtete sich auf, nachdem er die Drohne zusammengefaltet und in der passenden Tasche verstaut hatte. »Oder willst du, dass der dich wieder erwischt? Am Ende geht es so aus wie in Schweden und ich muss dafür geradestehen.«

»Oder wie in Finnland.« Grinsend schnappte sich Kai seinen Rucksack und setzte ihn auf. »Das wäre fatal.«

Ich schaute zwischen den beiden hin und her, nicht sicher, ob sie scherzten oder das hier voller Ernst war. Ganz ehrlich, ich hätte ihnen beides gleichermaßen zugetraut. »Wow, also verfolgt dich nicht nur ein wütender Ranger, sondern gleich ganz Skandinavien?«

Charlie schnaubte, was ihr Lachen jedoch nur mäßig kaschierte, während Henri ein »Da ist schon was dran« brummte.

Kai überging die beiden und sah mir wieder direkt in die Augen. Und die Art, wie er mich ansah … das machte irgendetwas mit mir. Etwas, das über diese prickelnde Hitze, die mir ein weiteres Mal ins Gesicht schoss, hinausging. »Oder vielleicht bin ich derjenige, der die Welt jagt, wer weiß das schon?«

»Ehrgeizig«, brachte ich hervor, obwohl sich die feinen Härchen in meinem Nacken aufstellten.

»Ambitioniert«, korrigierte er mich. »Wo kämen wir ohne unsere Ziele hin?«

Henri schlug ihm freundschaftlich gegen den Backpack und zog seinen Freund dann ein Stück zur Seite. »Komm, du Philosoph, wir haben Arbeit vor uns.«

»Spinner.« Kai schob Henris Arm weg und fuhr sich durch die dunklen Haare, die oben etwas länger als an den Seiten waren. »Hat mich jedenfalls gefreut. Und sorry noch mal, dass wir euch mit der Aktion euren … Sonnenaufgangsmoment genommen haben.«

Sonnenaufgangsmoment – dieses Wort und was darin mitschwang, ließen ein warmes Gefühl in meiner Brust aufsteigen. Es klang, als würde Kai in Sonnenaufgängen dieselbe Magie erkennen, wie ich es tat, und das hatte ich bisher bei nur wenigen erlebt. »Ein bisschen ist ja noch übrig.«

Kai nickte mit einem Lächeln. Ich erwiderte es und wünschte mir, ich wäre mutig genug, ihn einfach nach seiner Nummer zu fragen. Oder nach seinem vollen Namen. Irgendetwas, anstatt nur tatenlos dabei zuzuschauen, wie er zum Abschied eine Hand hob, noch immer dieses Lächeln auf den Zügen, und dann mit Henri von dem Plateau verschwand. Aus meinem Sichtfeld. Aus diesem Augenblick. Als hätte es diese Begegnung nie gegeben. Zwischen Lou, die durch die Welt jagte, um frei zu sein, und Kai, der längst frei schien und nun von der Welt verfolgt wurde.

»Sollen wir der Sonne noch ein wenig beim Aufstieg zuschauen?«

Ich wandte endlich den Blick von der Stelle ab, an der Kai und Henri verschwunden waren, und nickte meiner Schwester zu. »Sicher, es hat ja gerade erst begonnen.«

DREI JAHRE SPÄTER

Kapitel 1

AUS DER TIEFE AUFTAUCHEN

Lou

»Wenn du noch länger auf dieses Papier starrst, geht es in Flammen auf, Lou.«

»Ich hätte nichts dagegen.« Zähneknirschend ließ ich besagte Blätter sinken und schaute zu meiner besten Freundin Neela, die neben mir auf den breiten Stufen vor dem Unihauptgebäude in Konstanz saß. »Dann würde sich mein Problem einfach in Luft auflösen.«

Mit einem leisen Seufzen strich sich Neela ein paar lose dunkle Strähnen, die unter ihrem beigen Kopftuch hervorlugten, hinters Ohr. Neela war halb Malaiin, Muslima und trug ihren Hidschab – oder besser gesagt Tudung, wie man das Kopftuch auf Malaiisch nannte – aus eigener Überzeugung locker und mit einem Selbstbewusstsein, für das ich sie bewunderte. Genauso wie für ihre Stilsicherheit in Sachen Mode oder die Tatsache, dass Neela schon immer gewusst hatte, was sie vom Leben wollte, und dafür einstand. Etwas, das ich von mir definitiv nicht behaupten konnte.

»Gar nichts wird sich auflösen und das ist uns beiden klar«, nahm Neela den Faden schließlich wieder auf und zupfte mir die zusammengehefteten Bögen aus den Fingern. Meinen leisen Protest überging sie dabei geflissentlich, stattdessen konzentrierte sie sich voll und ganz auf die mit roter Tinte verschmierten Seiten. »Mensch, Lou, wie lange willst du das noch machen?«

»Keinen Schimmer, wovon du sprichst.«

Auf meine Antwort hin verpasste sie mir einen sanften, aber bestimmten Klaps gegen den Arm. »Physik mag nicht deine Stärke sein, aber du bist nicht blöd. Selbst deinem Sturkopf muss bewusst sein, dass das hier«, bei diesen Worten wedelte sie vielsagend mit der versauten Prüfung, »nichts bringt. Wo soll das denn hinführen?«

Ich pulte an meinem dunklen Nagellack herum, der nach meiner letzten Klettersession die reinste Katastrophe war. Wie meine Physik-Prüfung, die Neela gerade kopfschüttelnd durchblätterte. »In Ausnahmefällen gewähren sie auch einen Viertversuch.« Keine Ahnung, warum ich von all den Dingen, die ich hätte erwidern können, genau das aussprach. Vielleicht weil ich mich verzweifelt an irgendetwas klammerte, obwohl ich längst wusste, dass es zu spät dafür war. Und dass dieses Irgendetwas nie wirklich existiert hatte.

Meine Freundin ließ meinen Drittversuch sinken und sah mich wieder an. »Du weißt, ich liebe dich und deinen Chaos-Kopf, trotzdem – oder viel wahrscheinlicher gerade deswegen – werde ich dir jetzt mal sagen, was ich denke, Milou Annabelle Grafenberg.«

»Da bin ich aber gespannt.« Wieder ein Klaps, dieses Mal gegen den Oberschenkel und deutlich fester als zuvor. »Autsch, verdammt.«

Neela grinste schief, doch es fehlte die übliche Leichtigkeit darin. Ihre ehrliche und ganz mühelose Freude, die sich für mich immer ein wenig wie warme Sonnenstrahlen anfühlte. »Ich schaue mir das jetzt seit zwei Semestern an. Zwei Semester, in denen ich dir auf jede nur erdenkliche Art und Weise geholfen und dich beim Lernen und den Praktika unterstützt habe …«

»Das weiß ich. Und ich weiß, wie viel Zeit es dich gekostet hat, dass ich dich immer ausgebremst habe und –«

»Stopp.« Abwehrend hob sie eine Hand, sodass ihr weißes Oversized-Shirt, auf dem in English und direkt darüber auf Arabisch The Voice of Women is Revolutionary stand, ein wenig verrutschte. Ich liebte ihre Shirts, auf denen jeden Tag etwas anderes Kluges oder manchmal einfach nur Witziges stand. »Darum geht es nicht. Das habe ich gern gemacht, sehr gern sogar und ich würde dir noch zwanzig weitere Semester den Rücken stärken, wenn ich wüsste, dass es das ist, was du willst.«

Bei ihren Worten zog sich mein Magen zu jenem kleinen heimtückischen Ball zusammen, der verriet, dass Neela nicht nur auf der richtigen Spur war, sondern vielmehr voll ins Schwarze getroffen hatte.

»Ich würde noch Tausende Essays und Praktikumsberichte schreiben oder Rechenblätter für dich abgeben, Lou. Wirklich. Aber nichts davon ändert, was hier schwarz auf weiß steht.«

»Wohl eher rot auf weiß.« Ich schnitt eine Grimasse und lehnte mich gegen die nächsthöhere Stufe in meinem Rücken. »Scheiße, damit habe ich es echt verkackt.«

Als Neela dieses Mal lächelte, war es wieder aufrichtig und ließ ihre dunkelbraunen Augen leuchten. »Es ist kein Verkacken, wenn man nicht wirklich erfolgreich sein will.«

»Okay, das ist mir zu hoch. Ist das wieder irgend so eine verdrehte Logik, die du von Damia aufgeschnappt hast?« Neelas Schwester Damia studierte Psychologie und hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, ihre Glückskeks-Weisheiten mit der Welt zu teilen. Ob man nun wollte oder nicht.

»Nope, das ist dieses Mal ganz allein auf meinem Mist gewachsen.« Mit einem Zwinkern rutschte sie näher und schob meine Physik-Prüfung unter ihren Rucksack. »Wir kennen uns jetzt wie lange?«

Ein wenig irritiert, legte ich den Kopf in den Nacken und blinzelte in die Herbstsonne, keine einzige Wolke war am Himmel und mir in meiner karierten Hose und dem dünnen Pullover viel zu warm. »Dreizehn, fast vierzehn Jahre?«

»Richtig. Seit der Grundschule. Seit dem Moment, in dem ich Björn vom Stuhl geschubst habe, weil er sich über meinen Tudung lustig gemacht hat.«

Die Erinnerung ließ mich trotz meiner Gewitterstimmung schmunzeln. »Und nachdem ich ihn und seine sogenannte Gang eine Woche später in Kunst mit roter Farbe vollgeschmiert habe, weil sie mich wegen meiner Haare Hexe genannt haben.«

»Das war doch ein Versehen, die Tube ist ganz von allein geplatzt«, gab Neela zurück, genauso wie unzählige Male zuvor, wenn dieser Zwischenfall zur Sprache gekommen war, durch den wir uns gemeinsam gegen Björn verschworen und angefreundet hatten. »Worauf ich aber eigentlich hinausmöchte: Ich kenne dich jetzt schon vierzehn Jahre und in all der Zeit hast du immer, wirklich ausnahmslos immer, alles geschafft, was du dir in den Kopf gesetzt hast, Lou.«

»Bis jetzt.« Die Bitterkeit, die automatisch mit meinem Studium verknüpft war, kehrte in meine Stimme zurück. »Das hier werde ich nicht schaffen.«

»Ja, weil du es dir nicht in den Kopf gesetzt hast. Du willst es nicht.«

Nun sah ich sie wieder an. »Doch, natürlich will ich es. Sonst hätte ich mich ganz sicher nicht durch die ersten zwei Semester Wirtschaftsingenieurwesen gequält, das kannst du mir glauben.«

»Du willst nur, dass du es willst. Das ist ein Unterschied.«

Langsam, aber sicher verwandelte sich mein Gehirn in einen einzigen verworrenen Knoten, von dem ich nicht einmal mehr genau sagen konnte, wo er begann und wo er aufhörte. Ob er irgendwo aufhörte. Vielleicht ja dort, wo der pochende Nerv saß, den Neela mit ihrer Erkenntnis traf. Jener Nerv, der direkt mit meiner inneren Stimme verknüpft war und mir in den vergangenen Jahren wieder und wieder etwas ganz Ähnliches hatte vermitteln wollen – und den ich jedes Mal ignoriert hatte. So lange, bis der Nerv samt seiner Warnungen unter all den anderen Gedanken, die mich täglich begleiteten, begraben gewesen war.

Weil das bei Weitem leichter war, als sich ihnen zu stellen.

»Erinnerst du dich noch an das, was du in der zehnten Klasse nach der Zeugnisvergabe als Allererstes zu mir gesagt hast?«, fragte Neela sanft in die Stille hinein, die nur von den leisen Stimmen der anderen Studierenden auf dem Campus gefüllt wurde.

Ich atmete hörbar aus und fasste meine langen kupferroten Locken zu einem lockeren Knoten zusammen. »Nie wieder Physik oder irgendetwas Technisches.« Die Aussage kam mir beinahe resigniert über die Lippen. »Und doch habe ich dieses Studium gewählt. Wieso ahne ich, worauf das hier hinausläuft?«

»Weil du es tief in dir drin schon die ganze Zeit weißt und es bloß nicht sehen wolltest. Aus einem riesigen Haufen von Gründen, die ich vermutlich nie ganz verstehen werde.«

Ich nahm mir ein paar Augenblicke, um über ihre Antwort nachzudenken. Ihre Antwort und das, was sie für mich bedeutete: einen Punkt, an dem ich unweigerlich vor einer Kreuzung stand, die bloß zwei Optionen bereithielt. Weiter wider besseres Wissen auf stur zu schalten und zu versuchen, das sinkende Studiums-Schiff durch ein Wunder zurück auf Kurs zu bringen. Oder endlich zu akzeptieren, dass es keinen Sinn hatte, und das Steuer in eine ganz andere Richtung herumzureißen. Eine, in die mich mein Herz zog und die mein bisheriges Leben ziemlich über den Haufen werfen würde.

Mein Kopf begann zu rauchen. Eine Kreuzung, zwei Möglichkeiten und ich irgendwo dazwischen vor einer Entscheidung, die ich treffen musste. Vielleicht könnte ich tatsächlich einen Viertversuch ansprechen und …

Verdammter Bockmist. Neela hatte recht, ich tat es schon wieder: Ich legte mir zwei Optionen zurecht, obwohl es eigentlich nur eine gab. Weil eine erneute Prüfungswiederholung an unserer schicken Privatuni, der Akademie für Wissenschaft und Technik Konstanz, absolut undenkbar war – und weil ich sie auch gar nicht wollte.

Ich wollte keine vierte Prüfungswiederholung, die ich ohnehin wieder vergeigen würde. Ich wollte diese ganze Scheiße über Drehmomente und Gravitation und Beschleunigungen nicht noch mal in meinen Schädel pressen müssen. Ich wollte mich nicht länger jeden Tag mit etwas quälen müssen, das mir die Lebensenergie raubte. Bei dem ich einging. Für das ich … für das ich nicht brannte.

Ich will so nicht mehr weitermachen.

Mein Kinn ruckte hoch, als dieser einzelne Gedanke mit der Wucht einer Abrissbirne in meinem Kopf einschlug und dafür sorgte, dass etwas in mir an die richtige Stelle rückte. Wie ein Schalter, den ich in den vergangenen Jahren absichtlich offen gelassen hatte, um mir dieses Studium irgendwie schmackhaft zu machen, und der nun endgültig und unwiderruflich einrastete.

»Fuck.« Es war das Erste, was ich nach einer kleinen Weile von mir gab. Ein einzelnes Wort aus nur vier Buchstaben, das meinen aktuellen Gemütszustand dennoch so treffend beschrieb, dass mir unwillkürlich ein leicht irres Lachen über die Lippen kam. Ich lachte und lachte, bis ein leises Schluchzen daraus wurde, als mir dämmerte, wie tief ich in diesem Strudel gesteckt hatte und noch immer steckte.

»Ach, Lou.« Neela legte die Arme um mich und fuhr mir beruhigend über den Rücken.

»Was soll ich denn jetzt machen?«

»Das, was du sonst auch tust. Du gehst deinen Weg, egal, wie kompliziert oder steil er im Moment wirken mag. Den ersten Schritt hast du gerade schon getan und ich bin mir ziemlich sicher, dass sich der Rest von allein fügen wird.«

»Bei dir klingt das viel zu leicht.«

»Als du deinen Blog eröffnet hast, warst du anfangs ebenfalls erschlagen von allem. Dem ganzen Set-up, der Website, wo du überhaupt anfangen solltest. Aber dann ist daraus etwas ziemlich Geniales geworden, oder nicht?«

Mein Travelblog war mein Herzensprojekt, in das ich jede freie Minute investierte. Wann immer ich konnte, fuhr ich in die Berge oder an den See, versuchte, in den Semesterferien möglichst viel und weit zu reisen und alles in Form von Fotos und Texten für meine Follower festzuhalten.

Ich richtete mich ein Stückchen auf und fuhr mir unter den Augen entlang. Ein wenig schwarze Mascara blieb an meinen Fingerspitzen hängen. »Das ist doch etwas vollkommen anderes. Bei meinem Travelblog geht alles irgendwie von allein. Ich muss über nichts nachdenken. Reisen und das Schreiben darüber passieren einfach. Das ist kein Studium oder Beruf oder etwas, das ich später machen kann.«

Neela lächelte verstehend und ich hatte mit einem Mal das Gefühl, als wüsste sie schon wieder mehr über mein eigenes Leben als ich. »Wer sagt das?«

Die Gesellschaft. Das Bankkonto meines Zukunfts-Ichs. Meine Eltern. Die ganze Welt. Das Universum –

Nein. Ich. Ich sagte das. Ich sagte es die ganze Zeit. Zu allen anderen, zu mir selbst. Ich sagte, dass mein Blog Lou’s Lovely World nur ein Hobby war. Dass das Reisen, meine Berichte und Aufnahmen nur ein Hobby waren. Ich spielte es runter, machte es klein, obwohl es so viel mehr war. So viel größer. Obwohl mir das Travelblogging die Welt bedeutete und ich sogar schon etwas Geld damit verdiente. Eine gute Followerzahl hatte. Jede freie Sekunde damit verbrachte und es schlichtweg liebte.

Als ich nichts antwortete – und sehr wahrscheinlich musste ich das auch gar nicht, denn meine beste Freundin war beinahe unheimlich gut darin, mir in den Kopf zu schauen –, griff Neela nach meinen Händen und suchte meinen Blick. »Kann es sein, dass du dir diese Grenzen selbst gesteckt hast? Weil sie zu dem Weg passen, von dem du unbedingt willst, dass du ihn gehen willst?«

Gut möglich. Ich hob einen Mundwinkel und nickte langsam. »Manchmal macht mir deine Klugheit Angst, weißt du das eigentlich?«

»Bitte? Ich bin nicht halb so furchteinflößend wie du, wenn du einen Berg hochrennst. Dein Tempo ist nicht menschlich.«

Dieses Mal war mein Lachen echt und leicht. Ein Stück weit befreit. Vielleicht weil die verhauene Physik-Prüfung in meiner langen Reihe von verhauenen Prüfungen nicht die Katastrophe war, für die ich sie anfangs gehalten hatte, sondern der Weckruf, den ich dringend brauchte.

Ein Weckruf und ein erster Schritt.

Ich ging von der Uni nicht direkt nach Hause. Schwer zu sagen, woran es genau lag, aber irgendetwas hielt mich zurück. Eine Mischung aus meinen unzähligen Tornado-Gedanken, die das Gespräch mit Neela vorhin aufgewirbelt hatte, der Entschlossenheit, etwas zu ändern, und der Furcht. Alte, bekannte und beschissene Furcht, die sich wie eine Zecke aus Zweifeln festgebissen hatte und einfach nicht verschwinden wollte.

Ist das wirklich das Richtige?

Was, wenn ich am Ende beim Travelblogging auch noch versage?

Hat das eine Zukunft oder baue ich Luftschlösser, von denen ich nur glauben möchte, sie würden halten?

Knurrend vergrub ich das Gesicht in den Händen und starrte dann beinahe anklagend auf den Bodensee vor mir, der in der Nachmittagssonne funkelte. Viel zu friedlich und schön und postkartenidyllisch für meine aktuelle Stimmung. Trotzdem zog ich mein Handy instinktiv aus meiner Rocktasche, wechselte zu Instagram und nahm eine kurze Story auf.

Dark thoughts could never break the beauty of your moments.

Die Worte dazu kamen wie von selbst, der richtige Bildausschnitt kam wie von selbst. Es war alles da, ohne dass ich mich dafür verbiegen musste.

Zeigt das nicht genau, dass du nicht auf die Zweifel hören solltest?

Ich legte die Stirn in Falten und scrollte durch meinen Instagramfeed mit seinen vielen, ganz unterschiedlichen Perspektiven des Travelbloggings. Diese Bubble war in den letzten Jahren zu meinem Safe Space geworden und mittlerweile konnte ich mir ein Leben ohne die täglichen Updates oder den Austausch mit meinen liebsten Bloggern nicht mehr vorstellen. Da war Ásta, die über ihre Heimat Island schrieb und bei der ich mir schon einige Tipps geholt hatte. Deon aus Namibia, der auf den Schutz der Natur und nachhaltiges Reisen aufmerksam machte. Und natürlich @chasingkaihansen mit seinem viel zu charmanten Dauergrinsen und irren Fotos, die einem nicht selten den Atem raubten.

Kai war eine große Nummer in der Szene, eine verdammt große Nummer. Er hatte knapp zwei Millionen Abos auf YouTube, fast eine Million auf Insta, von TikTok ganz zu schweigen, und bisher war mir niemand in der Travelbubble begegnet, der Kai nicht kannte. Bis heute kam es mir wie ein Traum vor, dass ich ihm damals in Norwegen begegnet war. Auf dem Preikestolen, kurz bevor er quasi über Nacht berühmt geworden war. Ich hatte ihm nie geschrieben, war bloß stumme Followerin seiner zahllosen Abenteuer und dennoch inspirierten er und all die anderen mich jeden Tag aufs Neue. Weil sie sich von der Welt – der realen und virtuellen – nicht unterkriegen ließen und ihren Traum verfolgten.

Gedankenverloren tippte ich doppelt auf den neusten Beitrag von @chasingkaihansen, den er gestern früh hochgeladen hatte und der ihn mit ausgebreiteten Armen und Tausend-Watt-Lächeln hoch oben auf einer Palme in Bolivien zeigte, die sich gefährlich unter seinem Gewicht bog. Kai hatte geschafft, wovon ich träumte, hatte nie aufgegeben und ging seinen Weg, während ich gerade das Gefühl hatte, mich irgendwo auf meiner Reiseroute verloren zu haben. Dieser Gedanke stieß mir bitter auf. Seit wann war ich jemand, der sich verlief?

Kopfschüttelnd scrollte ich weiter, durch Bilder, die beeindruckende Berge zeigten, endlose Ozeane, Bilderbuchsonnenuntergänge und … ein Foto von Elisa, die im Profil zum Meer stand und befreit lachte.

Ich hatte Elisa im Sommer auf Sylt kennengelernt, als ich dort meine Schwester Charlie besucht hatte. Damals war Elisa in einer Situation gewesen, die meiner aktuellen sehr ähnelte. Und sie war mutig genug gewesen, ihr Studium in Perth hinter sich zu lassen und auf der Insel neu anzufangen. Obwohl sie Angst und Zweifel gehabt hatte, obwohl sie so viel zurückgehalten und es einige Hindernisse gegeben hatte.

Trotz allem hat Elisa es durchgezogen.

Ich schob die Unterlippe zwischen die Zähne.

Was wäre, wenn ich aufhörte, immer nur davon zu reden, sondern es endlich tat? Es durchzog?

Was wäre, wenn ich mir die Zeit, die Chance gab herauszufinden, was außerhalb von Konstanz, von meinen Mauern, auf mich wartete?

Was wäre, wenn ich die Option Gehen in einen Entschluss verwandelte? Vielleicht sogar nach Sylt reiste und dort nach meinem eigenen Weg suchte?

Die Insel als Anfang in Betracht zu ziehen, fühlte sich seltsam richtig an. Wie ein gesetzter Beginn, eine Basis. Charlie war dort glücklich geworden, Elisa auch, genau wie meine neuen Freundinnen dort …

Als ich mich umsah, wurde mir bewusst, dass ich irgendwann im Laufe meines Gedankenkarussells aufgesprungen war, mit fest umklammertem Handy, klopfendem Herzen und einem Kribbeln in jedem Millimeter meines Körpers. Jetzt, da dieser Funke in mir es endlich aus der Tiefe an die Oberfläche geschafft hatte, wollte – konnte – ich nicht länger still sitzen. Ich war aufgetaucht, hatte das erste Mal Luft geholt und wusste zumindest für den Moment, wohin es mich über diesen grenzenlosen Ozean zog.

Mit gestrafften Schultern wandte ich dem See den Rücken zu und schnappte mir das Skateboard aus dem Gras. Ich musste mit meinen Eltern sprechen. Über meinen Entschluss, über mein Leben. Und das am besten, bevor dieser Funke in mir wieder an Zweifeln ersticken konnte.

Kapitel 2

ENTSCHEIDUNGEN, DIE WIR TREFFEN

Lou

Meine Eltern fielen aus allen Wolken, als würden sie die Welt nicht mehr verstehen. Und das erlebte ich nicht oft. Sie beide waren herausragende Ingenieure – meine Mutter für Maschinenbau, mein Vater für Elektrotechnik – und in meinen Augen nicht nur unglaublich intelligent, sondern unter normalen Umständen auch verflucht scharfsinnig. Sie nun sprachlos am Abendbrottisch vor mir zu sehen, fühlte sich daher surreal an. Wie eine verkehrte Realität. Zumal üblicherweise ich diejenige war, die kaum mitkam, wenn sie über ihre Firma und neue Aufträge redeten.

»Jedenfalls«, schloss ich, als keiner von beiden Anstalten machte, irgendetwas zu erwidern, »werde ich nicht weiterstudieren. Zumindest nicht Wirtschaftsingenieurwesen.«

Papa sah – zum wiederholten Mal – vielsagend zu Mama, dann ließ er die Gabel voller Gemüseauflauf langsam sinken und runzelte die Stirn. »Ich muss zugeben – und ich glaube, ich spreche hier für deine Mutter und mich –, dass das sehr … unerwartet kommt.«

»Nicht nur unerwartet, vielmehr aus heiterem Himmel«, stellte Mama richtig und furchte die Stirn. »Vor einer Woche waren wir doch noch in der Firma und du warst ganz begeistert von der Aussicht, bald dort anzufangen. Du konntest es kaum erwarten.«

Mein Gesicht verzog sich wie von selbst zu einer schiefen Grimasse. Begeistert hätte ich es nicht unbedingt genannt. Eher resigniert, weil meine berufliche Zukunft eben schon immer festgestanden hatte und nichts mehr daran zu ändern war. Nachdem meine ältere Schwester Charlotte nicht in unser Familienunternehmen, das sich auf die Entwicklung von Messgeräten aller Art spezialisiert hatte, eingestiegen war, hatte ich das Zepter unweigerlich übernehmen müssen. Und nichts dagegen gesagt. Eine musste es ja machen, oder nicht? Eine der beiden Grafenfeld-Schwestern musste nachrücken. So wie meine Mutter es nach ihren Eltern getan hatte, und da Charlie raus war, blieb nur ich …

»Wenn du dir Sorgen machst, dass uns eine schlechte Note an dir zweifeln lässt, kann ich dich beruhigen, Schätzchen. Wir sind unheimlich stolz auf dich und das, was du schon erreicht hast und –«

»Nein, Mama«, fuhr ich ihr ruhig, aber bestimmt ins Wort. »Es geht nicht um eine schlechte Note. Es geht um all die schlechten Noten. All die Praktika und Versuche und Prüfungen, die ich nur dank Neela geschafft habe. Dieses Studium, das ganze Berufsfeld … das bin nicht ich. Bin ich nie gewesen.« Ich atmete aus und legte die Hände flach auf den Tisch. »Und das tut mir leid. Es tut mir ehrlich leid, dass das für euch jetzt so plötzlich kommt, aber … aber es hat keinen Sinn, so weiterzumachen.«

Mit einem vernehmlichen Räuspern griff mein Vater nach seinem Wasserglas, nahm einen Schluck und warf mir dann über den Rand hinweg einen dieser langen und durchdringenden Blicke zu, bei denen es in meinem Nacken zu kribbeln begann. »Und da steckt nicht doch etwas ganz anderes dahinter? Vielleicht der Wunsch, in eine neue Richtung in deinem Ingenieurstudium zu gehen?«

Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Nein.«

»Du scheinst dir sehr sicher zu sein. Warum hast du nicht schon früher etwas gesagt? Wieso gerade jetzt?« Die Stimme meiner Mutter blieb skeptisch und forschend, unüberhörbare Sorge schwang darin mit und ich war mir ziemlich sicher, dass auch sie an meine Schwester dachte. Und an »den gewaltigen Fehler«, den diese begangen hatte, wie meine Eltern fanden. Denn Charlie hatte ihr Wirtschaftsinformatikstudium nach fünf Semestern abgebrochen, um ihrer großen Liebe nach Sylt zu folgen. So weit zumindest die offizielle Erklärung. Mir hatte meine Schwester weitaus mehr über ihre Gründe anvertraut. Dass sie nicht in das Leben hier passte, keine Ingenieurin sein wollte, dass sie alles in Konstanz einengte. Auch wenn Mama und Papa uns nie zu irgendetwas gezwungen hatten, war die Zukunft, die sie sich für ihre Töchter ausgemalt hatten, doch ein indirekter Druck gewesen. Etwas, das wir geglaubt hatten, erfüllen zu müssen.

Meine Schwester und ich hatten immer wieder darüber gesprochen und sie hatte mir stets geraten, in mich hineinzuhorchen. Auf mein Herz zu hören. Ich hatte darauf jedoch in den meisten Fällen keine echte Antwort gehabt und nur stumpf das wiederholt, was Mama und Papa über all die Möglichkeiten für mich in der Firma erzählt hatten. Über den Karriereweg, den ich dort gehen könnte.

Dass es zwar ein Weg, aber nicht mein Weg war, war mir dabei nie in den Sinn gekommen.

»Lou?« Mein Vater berührte mich leicht am Arm und holte mich aus meinen Gedanken zurück an den Esstisch in unserer schicken Stadtvilla am Bodensee.

»Ich habe nichts gesagt, weil ich selbst so lange gebraucht habe, um es zu sehen. Weil ich es nicht sehen wollte«, erklärte ich. »Und ich glaube, dass ihr es genauso wenig sehen wolltet.«

Die Falten auf der Stirn meiner Mutter vertieften sich. »Was genau meinst du, Schätzchen?«

»Ich passe nicht hinter einen Schreibtisch voller Konstruktionspläne für neue Messgeräte. Ich halte es nicht mal besonders lange auf einem Stuhl aus.«

»Da ist schon was dran«, brummte mein Vater und fuhr sich über den ordentlich gestutzten Bart an seinem Kinn.

»Benjamin.«

»Ich finde durchaus, dass Lou in diesem Punkt recht hat. Wie oft hast du sie an ihrem Schreibtisch lernen sehen?«

»Vielleicht hätte sie öfter etwas für die Uni tun sollen, wenn man sich ihre aktuelle Prüfung anschaut. Dann wäre sie womöglich nie an diesem Punkt angelangt. Oder sie hätte uns früher von ihren Plänen erzählen können. So hätten wir die Möglichkeit gehabt, gemeinsam nach einer Lösung zu suchen, schließlich ist das Angebot bei uns in der Firma sehr groß und vielseitig.«

»Das hat nichts mit zu wenig Lernen zu tun«, hielt ich dagegen. »Neela hat Hunderte Male versucht, es mir zu erklären, aber in meinem Kopf … keine Ahnung, da ist einfach eine Schranke bei diesem Thema. Ich kapiere Physik und den ganzen Kram nicht, möchte es auch gar nicht kapieren und ich glaube, das ist okay. Es ist okay, dass ich da nicht reinpasse. Dass ich nicht in eure Firma passe.«

Meine Mutter schob ihre runde goldene Brille ein Stück höher und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Etwas Ähnliches hat deine Schwester auch gesagt, bevor sie kopflos und blind vor Liebe auf diese Insel verschwunden ist.«

»Ich denke nicht, dass das hier etwas mit Charlotte zu tun hat, Kalina.« Es überraschte mich immer wieder, wie mühelos mein sonst eher stiller Vater es schaffte, Mamas Temperament zu besänftigen. Als wäre sie eine seiner geliebten Gleichungen und er wüsste genau, an welcher Stelle er welche Variable einsetzen musste. »Milou ist alt genug, um ihre eigenen Entscheidungen aus eigenen Erkenntnissen zu treffen.«

»Und wohin soll dich diese Entscheidung führen?« Ihre grünen Augen wanderten zurück zu mir, und auch wenn darin nun wieder mehr der vertrauten Mama-Wärme lag, blieb eine leise Spur Enttäuschung zurück. Darüber, dass ich mich nicht in ihre Welt aus Zahlen und Fakten verliebt hatte. Dass ich das Leben, das sie sich für mich gewünscht hatte, gerade mit wenigen Worten zerstört hatte.

Ich konnte sie verstehen, diese Enttäuschung und meine Mutter gleichermaßen, daher hatte ich mich immer ein wenig vor diesem Moment gefürchtet. Aber jetzt hatte ich den ersten Schritt bereits gemacht, den Funken entzündet. Und ich konnte nicht mehr aufhören, an Elisa zu denken, an Charlie und Neela und daran … endlich einmal mutig zu sein.

Ein kleines Lächeln trat auf meine Lippen, dann hob ich den Kopf. »Sylt. Ich denke, ich fahre nach Sylt.« Der Satz kam mir wie eine in Stein gemeißelte Tatsache über die Lippen, so als stünde dieser Entschluss schon eine halbe Ewigkeit fest, gefolgt von weiteren Sätzen, die einander förmlich zu jagen schienen. Als könnte ich sie jetzt, da ich einmal begonnen hatte, nicht länger zurückhalten. »Mein Studium ist mit meinem versemmelten Drittversuch und den vielen geschobenen Prüfungen ohnehin gelaufen und ich muss hier einfach mal raus. Nicht nur für ein paar Tage, sondern … länger. Ich brauche etwas Abstand und ein anderes Umfeld, damit ich mich auf das konzentrieren kann, was ich eigentlich möchte. Was ich liebe. Meinen Blog.«

Es wurde still. Für ein paar unendlich lange Momente sagte niemand etwas – wenn man von den bedeutungsschweren Blicken einmal absah – und ich spürte, wie mein Herz immer heftiger pochte. Mit jeder Sekunde, die verging, ein wenig mehr. Schließlich war es meine Mutter – wie sollte es auch anders sein? –, die sich als Erste aus ihrer Starre riss und langsam den Kopf schüttelte. »Das kommt mir schon sehr überstürzt vor. Dein Platz ist hier, Lou. Außerdem ist dein Reiseblog, nun ja, doch eher ein Hobby für dich, oder nicht? Etwas, um zwischendurch abzuschalten.«

»Ich würde es schon etwas mehr als ein Hobby nennen, Kalina. Schließlich gibt Lou mittlerweile eine Steuererklärung dafür ab. Unsere Tochter scheint ziemlich gefragt zu sein und ihre Fotos sind großartig.«

Ich schenkte meinem Vater ein dankbares Lächeln.

»Das sind sie, das sage ich ja selbst ständig, aber …« Seufzend brach Mama ab und griff nach meiner Hand. »Uns ist wichtig, dass du glücklich bist. Keiner von uns möchte dich zu irgendetwas zwingen, und auch wenn der Ingenieurberuf nichts für dich ist, stehen wir trotzdem hinter dir.«

»Danke, Mama. Und Papa«, sagte ich schnell, weil ich ahnte, dass da noch ein riesengroßes, gesalzenes Aber wartete. Denn obwohl meine Eltern mich, solange ich denken konnte, unterstützt hatten und ich wusste, dass sie nur das Beste für mich wollten … waren sie immer noch sie. Ingenieure in vierter Generation, die ein strukturiertes Leben und Beständigkeit anstrebten und in künstlerischen Berufen und Social Media Hobbys und Freizeit sahen.

Und damit das genaue Gegenteil von mir.

»Allerdings«, setzte Mama auch schon zu ihrem befürchteten Aber an und faltete beinahe geschäftsmäßig die Hände unter ihrem Kinn, »halte ich es für keine gute Idee, diese Wahl jetzt zu treffen. Du bist aufgewühlt und ein wenig durcheinander, das kann ich sehen. Unter diesen Umständen solltest du nichts entscheiden, was dein gesamtes Leben umwirft. Und schon gar nicht direkt auf diese Insel fahren. Vielleicht wäre es gut, wenn du dir etwas Zeit gibst.«

Ich öffnete den Mund, um zu widersprechen, als es an der Haustür klingelte. Fragend blickte ich zwischen meinen Eltern hin und her. »Erwarten wir noch jemanden?«

Das letzte Wort hatte kaum meinen Mund verlassen, da war meine Mutter auch schon aufgesprungen. »Oh, das habe ich ja glatt über den ganzen Trubel vergessen. Meine Assistentin wollte mir noch die geänderten Schaltpläne bringen. Für die große Runde morgen.« Entschuldigend strich sie mir über die Wange und drückte mir dann einen Kuss auf die Haare. »Was hältst du davon, wenn du dir noch ein paar Tage Zeit gibst, Lou-Schätzchen? Heute ist erst Montag, lass uns im Laufe der Woche noch einmal in Ruhe über alle Möglichkeiten sprechen und einen Plan machen. Vielleicht sieht die Welt bis dahin schon wieder ganz anders aus. Manchmal tut es gut, ein, zwei Nächte darüber zu schlafen, hm?«

Das war mit Abstand einer ihrer liebsten Sätze und meistens steckte mindestens ein Körnchen Wahrheit darin. Doch heute, nach dem Gespräch mit Neela, der Prüfung und all den Gedanken, die hochgekommen waren … da wusste ich einfach tief in mir drin, dass ich nicht länger darüber nachdenken musste. Dass keine Nacht der Welt, in der ich über alles schlafen würde, etwas an einer Entscheidung ändern würde, die ich längst getroffen hatte. Ich würde zu Charlie nach Sylt fahren und etwas Abstand gewinnen. Ich würde herausfinden, ob mein innerer Kompass noch funktionierte.

Und hoffen, dass er mich zu meinem Norden führte.

Die restliche Woche verging in einem einzigen Wirbel aus Gedanken, Diskussionen mit meinen Eltern und weiteren Deep Talks mit Neela. Alles schien in Bewegung, alles schien sich zu drehen, nur an einer Sache änderte sich während der Zeit nichts: meinem Entschluss, die Zelte in Konstanz abzubrechen und nach Sylt zu gehen. Weder mein übliches Zerdenken noch die Worte meiner Eltern ließen dieses Kribbeln verstummen, wann immer ich an meine bevorstehende Abreise dachte.

Und das gab mir schließlich den nötigen Impuls, den ich noch gebraucht hatte, um am Freitag meinen überdimensionalen Rucksack hervorzukramen und zu packen. Wie immer kurz vor knapp – mein Flug nach Hamburg würde schon morgen gehen –, aber manche Dinge änderten sich eben selbst dann nicht, wenn man spontan beschloss, sein bisheriges Leben komplett über den Haufen zu werfen.

Im Hintergrund lief leise 20s von Bow Anderson – es war beinahe unheimlich, wie sehr die Lyrics zu meiner aktuellen Situation passten – und ich stand in meinem Zimmer, umgeben von einem Chaos aus Klamotten. Was bitte schön nahm man auf einen Selbstfindungstrip nach Sylt mit, von dem man nicht einmal sagen konnte, wie lange er dauern würde?

Seufzend pustete ich mir die kürzeren Strähnen aus der Stirn und holte die drei dicken Wollpullis resolut wieder aus dem Backpack, als das Ping einer Push-Nachricht die Musik für einen Moment unterbrach. Die Pullover gegen die Brust gedrückt, schnappte ich mir mein Handy und ließ besagte Wollmonster noch in derselben Sekunde fallen, als ich die Headline las.

Gefährliches Drama in Bolivien – Was geschah am Sonntag mit Extremfotograf und Travelinfluencer @chasingkaihansen und Kameramann?

Ich spürte, wie sich ein ungutes Gefühl in meiner Magengegend breitmachte. Gefährliches Drama?

Ein weiteres Mal las ich die Worte und erinnerte mich irgendwo tief in meinem Kopf daran, dass Kai und sein Reisebuddy aka bester Freund aka Kameramann Henri gerade in Bolivien für eine Kooperation unterwegs waren. Ich erinnerte mich an wilde Stories und breites Grinsen, an die Unbeschwertheit der beiden, die sie so berühmt gemacht hatte. Allerdings hatte ich schon seit dem Post vom Sonntagmorgen nichts mehr von den beiden gesehen und jetzt das … was war da passiert?

Mit viel zu schnell schlagendem Herzen klickte ich auf die Mitteilung – und noch beinahe im selben Moment wünschte ich mir, ich hätte es nicht getan.

Da war kein langer Text, kein Unfallbericht, sondern ein Video. Ein verwackelter, verpixelter Clip, der vor knapp fünf Minuten hochgeladen worden und schon jetzt viral gegangen war. Über eine Million Klicks, Hunderttausende von Kommentaren. Doch das alles rückte schlagartig in den Hintergrund, als die Aufnahme startete. Als einzelne Bilder zu einem Film wurden, der Galle in mir aufsteigen ließ.

Zwei Gestalten auf einer Felsnadel – Kai und Henri –, hoch über dem Boden in Klettergeschirr und mit Kameraausrüstung. Sie lachten, sie feixten. Dann Kai, der sich über die Kante schwang, wie er es schon in unzähligen Videos getan hatte, konzentriert auf die Kamera in seinen Händen und den ultimativen Shot. Doch nur einen Wimpernschlag nachdem er gesprungen war, spannte das Kletterseil und Henri wurde plötzlich mitgerissen. Man hörte Schreie, während die Jungs ungebremst in die Tiefe stürzten.

Ich falle nicht. Tue ich nie, flüsterte eine raue Stimme in meinen Gedanken, beinahe wie aus einem anderen Leben.

In dem Video bekam Henri nach einigen Metern wie durch ein Wunder einen Vorsprung zu fassen, bremste sich und Kai mühsam ab. Irgendwie schaffte er es, sein Gewicht und das von Kai lange genug zu tragen, damit dieser weiter unten Halt finden konnte. Kurz schien alles wieder okay. Schienen die jungen Männer wieder okay. Im Clip jubelte irgendwer …

… und dann zerbarst dieser winzige Augenblick in unzählige Splitter. Es war nicht genau zu erkennen, was geschehen war, aber von der einen auf die andere Sekunde hing Henri nicht mehr an dem Vorsprung, sondern stürzte. Fiel Meter um Meter wie eine leblose Hülle, die auf den Grund zuraste. Kais Schrei dröhnte.

Und alles zerriss.

Kapitel 3

MIESE ZEICHEN

Kai

Es tut mir leid.

Wie ich diesen einen simplen Satz doch verachtete und trotzdem bekam ich ihn seit ein paar Tagen beinahe sekündlich zu hören.

Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber Sie hatten einen Unfall in Bolivien und sind jetzt bei uns in der Uniklinik in München.

Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen keine genauen Auskünfte über den Zustand von Herrn Henri Finke geben.

Es tut mir leid, dass ich keine besseren Neuigkeiten für Sie habe, aber wir tun unser Bestes. Sie sind hier in guten Händen.

Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid.

Am liebsten hätte ich auf irgendetwas eingeschlagen, als sich die Stimmen in meinem Kopf zu einem immer lauter werdenden Crescendo vermischten und einen unangenehmen Schmerz hinter meine Stirn trieben. Ich fluchte unterdrückt und kniff die Augen zusammen, wünschte, ich könnte einfach wieder in diese wundervolle Schwärze abdriften, müsste nichts mehr sehen und hören, so wie nach Henris –

Nein. Diesen Pfad gehen wir jetzt ganz sicher nicht noch mal runter.

Zähneknirschend stieß ich den Atem aus und verdrängte das Brennen hinter meinen Lidern. Versuchte es zumindest, doch die Dunkelheit war stärker und schob sich mit aller Macht in den Vordergrund. Wie so oft in den Tagen – oder waren es Wochen gewesen? –, seit ich in diesem verdammten Krankenhauszimmer aufgewacht war. Tage, es waren nur ein paar Tage gewesen, erinnerte ich mich wieder. Aber es hätten genauso gut auch Monate oder Jahre sein können. Keine Zeit der Welt, egal, wie kurz oder lang, würde etwas an den Bildern ändern, die sich unwiderruflich in meinen Schädel geätzt hatten.

Die Sicherungsexe, die aus der Verankerung reißt.

Das Seil, das viel zu schnell durch die Ösen rast.

Sich um Henris Knöchel schlingt.

Henris Schrei.

Das Knacken meiner Kamera, die am Fels zerschellt.

Der Ruck, der durch meinen Körper geht. Mich stoppt.

Hände, die ins Leere greifen, nicht stark genug sind.

Henris Schrei.

Mein Schrei.

Menschen, die schreien.

Der dumpfe Aufprall, mit dem Henri am Boden aufkommt.

Sein verdrehter Körper auf dem staubigen Grund.

Meine Hände, die nachgeben, sich öffnen.

Brennende Muskeln.

Mein Fall.

Die Schwärze danach.

Und immer wieder sein Schrei.

Ich merkte erst, dass mir heiße Tränen über die Wangen liefen, als sie auf die helle Bettwäsche tropften und dort hässliche, unförmige Flecken hinterließen. Stumme Zeugen des Feuers, das in mir loderte und mich längst von innen heraus verbrannt hatte. Wütend fuhr ich mir über das Gesicht und zuckte zusammen, als dabei ein rasender Schmerz durch meinen linken Unterarm jagte. Ach ja, der Bruch. Anklagend starrte ich auf den leuchtend gelben Gips und sank wieder tiefer in die Kissen meines Einzelbetts in dem schicken Privatzimmer des Krankenhauses. Meine Assistentin – oder Content Managerin, wie sie es nannte – hatte wirklich keine Kosten und Mühen gescheut. Erst der Transport von Bolivien hierher, den ich komplett verpasst hatte, und dann das Einzelzimmer mit Blick auf einen frühherbstlichen Park … Nur änderte nichts davon etwas daran, dass mein bester Freund irgendwo in dieser Klinik lag und ich keine Ahnung hatte, wie es ihm ging. Ob er –

Ein leises Klopfen ließ meine Gedanken verstummen, noch bevor sie so richtig in Fahrt kamen. Ruckartig drehte ich das Kinn zur Tür und schluckte gegen das scharfe Stechen an, das dabei durch meinen Kopf und Hals raste. Du hast kein Recht, dich wegen ein paar Schmerzen zu beschweren. Immerhin lebst du noch, während Henri –

»Kai, wie geht es Ihnen heute Morgen?«

»Blendend.« Ich unterdrückte mühsam den Drang, mir über meine feuchten Wangen zu fahren, und brachte ein schwaches Schulterzucken zustande. In Kombination mit meinen roten Augen sollte das dem jungen Chefarzt Dr.Gregory eigentlich genügen. Bloß war Gregory nicht nur ein sehr guter Arzt mit noch viel besseren Referenzen, sondern auch ein absoluter Fan von langen Gesprächen in den unpassendsten Momenten. So viel hatte ich in meinen Tagen hier im Uniklinikum der LMU schon mitbekommen.

»Sarkasmus. Ich nehme es immer als gutes Zeichen, wenn meine Patienten diesen Ton anschlagen«, erwiderte er mit einem milden Lächeln, das seine blauen Augen leuchten ließ. Trotz unserer Unterhaltungen, die meistens sehr einseitig abliefen, musste ich zugeben, dass Gregory schwer in Ordnung war. Und er konnte ja nichts dafür, dass ich gerade an diesem Tiefpunkt stand. Dorthin hatte ich mich ganz allein manövriert.

Ich räusperte mich und fuhr mir über meine trockenen Lippen. »Können Sie mir heute etwas über Henri sagen?«

Das Lächeln verschwand von seinen Zügen und der Stein in meinem leeren Magen wurde zu einem ganzen Felsmassiv. Einer Bergkette. Einem verdammten Gebirge wie dem in Bolivien. »Kai, Sie wissen …«

»Schon klar, ich habe es verstanden. Ärztliche Schweigepflicht und ich bin kein direkter Angehöriger. Das habe ich alles bereits gehört.« Einmal. Zweimal. Tausend beschissene Male.

Der Doc murmelte etwas Unverständliches und fasste sich an die Nasenwurzel, dann: »Henri Finke ist außer Lebensgefahr.«

Ich blinzelte die rote Wolke aus Wut und Ärger und Frust weg, die mein Blickfeld vernebelte, und starrte ihn an. »Bitte?«