Kein Horizont zu weit (Tales of Sylt, Band 1) - Alexandra Flint - E-Book
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Kein Horizont zu weit (Tales of Sylt, Band 1) E-Book

Alexandra Flint

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Beschreibung

Sie ist sein Leuchten. Er ihr Horizont. Fünf Jahre sind vergangen, seit Leni Raffael zum letzten Mal gesehen hat. Fünf Jahre, seit er bei einem Brand Vater und Bruder verlor. Doch jetzt ist Rafe zurück auf Sylt, um den Wiederaufbau des Familienhotels zu überwachen. Und ausgerechnet die Werft, in der Leni ihre Ausbildung zur Schiffsbauerin macht, ist an dem Projekt beteiligt. Allerdings wird schnell klar, dass Rafe weder mit Leni noch der Insel etwas zu tun haben will. Warum also ist da noch immer dieses vertraute Kribbeln? Herz gegen Verstand "Egal, wie tödlich sein Blick auch sein mochte, mein dummes, kleines Herz fokussierte sich noch immer sofort auf ihn, sobald er in unmittelbarer Nähe war. Genau wie vor fünf Jahren. Obwohl ich wusste, wie dämlich das war. Obwohl er mir den schlimmsten Liebeskummer meines Lebens verpasst hatte. Und obwohl absolut nichts mehr von der alten Wärme in seinen Zügen lag, in die ich mich damals so hoffnungslos verliebt hatte. Aber wie hieß es so schön? Gegen das naive, kaputte Herz war selbst der schärfste Verstand absolut machtlos." "Was für eine mitreißende und emotionale Second-Chance-Romance! Die Liebe von Leni und Raffael ist so stürmisch wie der Ozean und so sanft wie das Meeresrauschen. Ich hatte Herzklopfen auf jeder Seite." Spiegel-Bestsellerautorin Lilly Lucas Die Tales of Sylt-Reihe von Alexandra Flint Mit ihrem berührenden New Adult-Roman Kein Horizont zu weit schafft SPIEGEL-Bestsellerautorin Alexandra Flint eine ergreifende Second-Chance-Romance – über die erste große Liebe, Freundschaft, Trauer und den Mut, einen Neuanfang zu wagen. Dabei zeichnet sie ein atmosphärisches Bild von der wunderschönen Nordseeinsel Sylt, das sofort Sehnsucht nach Meer, Strand und Urlaub weckt. Herzklopfen und Romantik garantiert!

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Seitenzahl: 536

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Inhalt

Playlist

PrologEin Pochen, das nie aufhörtLeni – Sommer vor zehn Jahren, Sylt

Zehn Jahre später

Kapitel 1Abendliche Fata Morgana

Kapitel 2Ein Leuchtturm für Vier

Kapitel 3Blinder Passagier

DamalsRaffaelSommer vor fünf Jahren, Sylt

Kapitel 4Kartoffelsuppe und Weisheiten

Kapitel 5Probleme sind Rudeltiere

Kapitel 6Helenas Tricks und Striche

DamalsRaffaelSommer vor fünf Jahren, Sylt

Kapitel 7Ein Plan mit Hindernissen

Kapitel 8Auf stürmische Zeiten folgt der Waffenstillstand

DamalsRaffaelSommer vor fünf Jahren, Sylt

Kapitel 9Alte Schwingungen und neue Rätsel

Kapitel 10Von Schwebezuständen und Impulsen

DamalsRaffaelSommer vor fünf Jahren, Sylt

Kapitel 11Von großen Geheimnissen und Strudeln

Kapitel 12Neue Möglichkeiten und alte Fragen

Kapitel 13Ein Abend mit eigener Richtung

Kapitel 14Worte, die die Stille durchschneiden

DamalsRaffaelSommer vor fünf Jahren, Sylt

Kapitel 15Der Wind dreht

DamalsLeniSommer vor fünf Jahren, Sylt

Kapitel 16Damals wie Heute

Kapitel 17Ein Date, das kein Date ist

Kapitel 18Zu viele Gedanken, um sich treiben zu lassen

Kapitel 19Lernen will gelernt sein

Kapitel 20Unsere seltsame Mischung

Kapitel 21Niemals nur Worte

Kapitel 22Eine unerwartete Wendung der Ereignisse

Kapitel 23Entscheidungen, die wir nicht treffen

Kapitel 24Ein sturmumtoster Leuchtturm

Kapitel 25Spannungen und Entspannungen

Kapitel 26Leinen los

Kapitel 27Das Leuchten in der Dunkelheit

Kapitel 28Feuerwerk

Kapitel 29Ein begehrter und mysteriöser Hotelerbe

Kapitel 30Ein ungutes Gefühl

Kapitel 31Leise und laute Stimmen

Kapitel 32Die richtigen Worte im falschen Moment

DamalsRaffaelSommer vor fünf Jahren, Sylt

Kapitel 33Alles wie früher

Kapitel 34Die Versprechen, die wir geben

Kapitel 35Dritte Chancen, weil zweite für den Eimer sind

EpilogEine andere Geschichte

Danksagung

Content Note

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr am Ende des Buchs eine Content Note.

Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte!

Wir wünschen euch das bestmögliche Lesevergnügen.

Für Mama.

Für Papa.

Ihr habt mir euer Sylt gezeigt.

Jetzt zeige ich euch meines.

»Wir können den Wind nicht ändern,

Playlist

Prove Them Wrong – Slopes

That’s How It Goes (feat. 6LACK) – Zoe Wees ft. 6LACK

Lost – Dermot Kennedy

Immer wenn wir uns sehn – LEA x CYRIL aka Aaron Hilmer

Sail – AWOLNATION

Deviate – Tora

Blinding Lights – Loi

Meer im Herbst – Josh.

Stop and Stare – OneRepublic

Lila Wolken – Marteria, Miss Platnum, Yasha

Sail Away – Don Diablo ft. Au/Ra

Ist da jemand – Adel Tawil

Something Just Like This – The Chainsmokers & Coldplay

Follow Your Fire (Stripped Back Version) – Kodaline

Astronaut – Sido

Lieder – Adel Tawil

Pumpin Blood (The Jane Doze Remix) – NONONO, The Jane Doze

Under Water – AVEC

All Of Me – Daniel Jang

Irgendwie, Irgendwo, Irgendwann – Nena

An Wunder – Wincent Weiss

Oceans – Kenna Childs

The Scientist – Coldplay

Always – Gavin James

Prolog

EIN POCHEN, DAS NIE AUFHÖRT

Leni – Sommer vor zehn Jahren, Sylt

Ich bohre meine Zehen tiefer in den warmen Sand und puste mir eine Strähne aus dem Gesicht. Die Sonne lässt mich blinzeln und am liebsten würde ich einfach aufstehen und zurück ins kalte Meer laufen. Oder zu meinem Schiff, das ich bis eben mit Papas Hilfe aus Sand gebaut habe. Doch dann haben mein Bruder Till und sein bester Freund Rafe angefangen, sich mit Algen und Matsch zu bewerfen. Allerdings war in einem von Rafes Algen-Matsch-Bällen ein Stein und der hat Till leicht am Kopf erwischt. Und jetzt sitze ich in meinem hellblauen Badeanzug auf der untersten Stufe des Rettungsschwimmerturms und frage mich, wie die beiden überhaupt auf so einen Blödsinn gekommen sind. Eigentlich sollte es mich nicht wundern, nicht bei Till und Rafe. Die zwei machen in einer Tour dumme Sachen und kriegen ständig Ärger.

Dumme Sachen, bei denen sie mich immer ausschließen, weil ich zwei Jahre jünger bin.

Dumme Sachen, bei denen ich gerne dabei wäre – aber das würde ich niemals zugeben. Nicht in hundert Jahren.

Verstohlen schaue ich nach links. Rafe hockt neben mir auf der Treppenstufe und mustert finster seine Hände. Paps hat uns gesagt, dass wir draußen warten sollen, während er mit Till beim Sanitäter ist, und Rafe scheint darüber genauso glücklich zu sein wie ich.

»Du starrst mich schon wieder an, Leni«, brummt er, ohne aufzusehen.

Wie macht er das immer? Sofort werde ich rot – einfach, weil ich jedes Mal rot werde, sobald es um Rafe geht.

Mürrisch verschränke ich die Arme vor der Brust. »Tue ich gar nicht.«

Nun hebt er den Kopf. Raffael hat ganz besondere Augen. Die besondersten Augen, die ich je gesehen habe, und vielleicht starre ich ihn deswegen doch ein bisschen an. Sein rechtes Auge ist grün wie das Dünengras, sein linkes hat die Farbe des Meeres im Sommer. Raffaels Mama Thea hat mir erklärt, dass das Iris-Heterochromie heißt, und ich bin stolz, dass ich das noch weiß.

»Tust du wohl.« Rafe nickt langsam. »Ständig. Das nennt man übrigens unhöflich.«

»Und das, was du machst, nennt man eingebildet sein«, erwidere ich im gleichen Tonfall wie er, obwohl mein Gesicht brennt.

Einer seiner Mundwinkel zuckt, trotzdem schaut Rafe noch immer nicht weg. Wenn er mit Till zusammen ist, ignoriert er mich und tut jedes Mal so, als wäre ich nicht da. Es ist ihr blödes Jungs-Spiel. Meine besten Freundinnen Malia und Elisa sagen, dass das alle älteren Geschwister machen, Ida ist anderer Meinung – aber ihre Brüder Kai und Mik sind auch wirklich cool. Doch jetzt, während wir hier auf dieser harten Treppenstufe am Strand sitzen, behandelt mich Rafe nicht wie Luft. Jetzt sehen wir einander direkt ins Gesicht. Keiner streckt die Zunge raus, keiner schneidet eine Grimasse, keiner läuft davon. Es ist ein komischer Moment, der mein Herz seltsame Dinge tun lässt, die es nie zuvor getan hat.

Hastig drehe ich den Kopf zur Seite.

»Du hast gestern gelauscht«, murmelt Rafe dann.

Ich blicke zu den Familien am Strand und Hügeln aus Sand und hinaus aufs Meer, dennoch spüre ich, dass Raffael mich weiterhin ansieht. »Habe ich nicht«, flunkere ich.

»Doch. Als ich Geige geübt habe. Im großen Saal. Du hast an der Tür gestanden und zugehört. Ich habe dich gesehen.«

»Lüge.«

Er achtet gar nicht auf meine Antwort. »Und das nicht zum ersten Mal. Du magst meine Musik.«

Ich drücke meine Arme fester an die Brust. Ja, ich mag seine Musik. Ich mag es, wenn er Geige spielt und dabei die Augen schließt. Ich mag es, dass seine Lieder ein wenig wie die Wellen beim Segeln klingen. Ungeordnet, mal laut, mal leise, mal ruhig und stürmisch und alles dazwischen.

»Und du bist immer noch eingebildet.«

»Also stimmt es.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe und linse langsam zu ihm hinüber. Ein dünnes Lächeln lässt seine Augen leuchten. Ich merke, wie sich dieses Lächeln ungefragt auch auf mein Gesicht schleicht. Und in meinem Bauch kribbelt es eigenartig.

»So, war alles halb so wild! Bloß ein kleiner Kratzer.« Papas Stimme lässt mich zusammenzucken und auch Rafe springt abrupt auf die Füße. Ein wenig irritiert sieht Paps von ihm zu mir und zurück. »Ist etwas passiert?«

Raffael stellt sich neben Till, auf dessen Stirn ein buntes Pflaster klebt, und schüttelt den Kopf. »Nein«, sagt er und fährt sich durch die dunklen, wuscheligen Haare. Till stößt ihm mit den Ellenbogen in die Seite, woraufhin beide Jungs schief grinsen.

Ruckartig schaue ich weg und schüttele ebenfalls den Kopf.

»Na, dann ist ja alles gut«, antwortet Papa und legt Till einen Arm um die Schultern. »Was meint ihr, holen wir uns auf den Schrecken noch ein Eis, bevor wir zurück zum Strandkorb gehen?«

Keiner hat etwas dagegen, weil Eis einfach immer eine gute Idee ist. Paps läuft voraus, Till und Rafe folgen ihm, ich gehe als Letzte und mein Herz … mein Herz schlägt so schnell, als wolle es mir aus dem Körper springen. Etwas, das ich nicht verstehe. Vielleicht werde ich krank oder die Schokolade, die ich heute Morgen aus Tills verstecktem Vorrat gemopst habe, war doch nicht mehr gut.

Nachdenklich fahre ich über meine pochende Brust, während wir durch den Sand laufen. Till erzählt laut von dem Sanitäter und schmückt die Geschichte aus, wie nur mein Bruder es kann. Papa lacht und Rafe … Rafe dreht sich plötzlich zu mir um. Seine Augenbrauen sind zusammengezogen und seine Hand liegt an seinem Oberkörper. So als würde er in diesem Moment unter seinen Fingern das gleiche Pochen spüren. Dasselbe seltsame Gefühl, für das ich keinen Namen habe.

Ich sehe ihn an, er sieht mich an, dann fährt er abrupt herum. Zurück zu Till und seiner haarsträubenden Erzählung. Ich lasse die Hand sinken und schaue hinaus aufs Meer.

Nein, es ist nichts passiert.

Und mein Herz rast immer noch.

ZEHN JAHRE SPÄTER

Kapitel 1

ABENDLICHE FATA MORGANA

Ich würde zu spät kommen. Wieder einmal.

»Paps? Bist du schon so weit? Ich muss los.« Meine Stimme hallte durch unsere Werft im Hafen von Munkmarsch und verlor sich irgendwo zwischen der aufgebockten Stella und unserem provisorischen Holzlager im hinteren Teil der großen Haupthalle. »Paps?«

Ich schnappte mir meinen abgenutzten Kånken-Rucksack von der alten Werkbank, die zum Empfangstresen umfunktioniert worden war, und seufzte. Für heute hatte ich wirklich genug von Tabellen über Werkstoffe und trockener Methodik. Ich würde drei Kreuze machen, wenn die schriftliche Zwischenprüfung meiner Ausbildung zur Schiffsbauerin endlich vorbei war und ich mich wieder voll und ganz der praktischen Arbeit widmen konnte. Dem, was ich an meinem Beruf so liebte.

Kopfschüttelnd lief ich tiefer in die Werft hinein und steuerte dann zielsicher das Büro meines Vaters an. In neun von zehn Fällen, wenn er sich verspätete, hatte sich Emil Wilke nicht von seinen geliebten Entwürfen loseisen können. Im zehnten war er in der Arbeit direkt am Schiff verloren gegangen. Zwischen Holzspänen, Schrauben und Planken.

Die Tür zu dem schlauchartigen Büro stand sperrangelweit auf und das Bild, das sich mir bot, war so ziemlich exakt das, was ich erwartet hatte. Schmunzelnd verschränkte ich die Arme vor der Brust und lehnte mich in den Türrahmen. »Paps?«

Mein Vater fuhr filmreif von seinem Pult hoch. Papiere und Pläne lagen vor ihm ausgebreitet, über denen er ganz offensichtlich bis jetzt gebrütet hatte.

»Leni! Haben wir schon Feierabend?«, fragte er und strich sich über die Stirn. »Ich hätte schwören können, dass ich noch keine Stunde hier sitze.«

»Genau genommen sind es fast drei Stunden gewesen.«

»Oh. Das erklärt, warum sich Heinrich und Kalle bereits vor …« – er schaute kurz auf die große Wanduhr – »… du meine Güte, zweieinhalb Stunden verabschiedet haben.«

Ich lachte leise und zog mein Handy hervor, das in einer Tour brummende Signale von sich gab. Die WhatsApp-Gruppe meiner Freundinnen und mir explodierte förmlich, weil sie sich – zu Recht – erkundigten, wo zum Kuckuck ich blieb.

Malia Leni, du schuldest uns einen Kuchen.

IdaNein, nicht nur einen Kuchen, sondern ein ganzes Kuchenbüfett. Und @Elisa, die Wette geht an mich

Die darauffolgenden Nachrichten waren zusammengefasst eine ausführliche Diskussion über ihre Wetteinsätze, die mich grinsend die Augen verdrehen ließ. Ja, meine Mädels waren unverbesserlich. Und ich immer noch zu spät. Hastig ließ ich das Smartphone zurück in meine Hosentasche gleiten und wandte mich wieder an meinen Vater: »Können wir?«

Paps nickte und schob die Unterlagen zusammen. »Sicher, wir sind ohnehin schon weit über der Zeit. Tut mir leid, dass ich die Uhr aus den Augen verloren habe. Macht der Gewohnheit.« So konnte man seinen inneren Workaholic natürlich auch beschreiben. Ich würde es eher die Emil-Zeit nennen – immer ein, zwei Stunden nach offiziellem Arbeitsende, aber gut.

»Kein Ding, dafür kenne und liebe ich dich ja. Also nehme ich dich mit nach Hause, bevor ich zur Flaschenpost fahre?«, fragte ich ihn.

»Das wäre super, Mäuschen. Wir müssten allerdings noch schnell die zwei neuen Planken bei Klaus vorbeibringen. Ich habe sie vorhin für ihn gebogen und lackiert.«

Klaus gehörte die Hafenkneipe mit dem stilvollen Namen Hafenkneipe, in der mein Vater mit Kalle und Heinrich oft nach der Arbeit noch auf ein Bier vorbeischaute.

»Klar, kein Ding«, meinte ich. »Soll ich sie schon in den Jeep laden?«

»Danke. Ich schließe alles ab und komme dann nach.«

»Das hoffe ich, nicht, dass du doch wieder in deinen Papieren verloren gehst.«

Ein kleiner Anflug von Schuldgefühl huschte über seine Züge, doch ich lächelte nur und verließ dann das Büro, um besagte Planken zu holen.

Mein Vater hatte die kleine Wilke Werft vor knapp zwanzig Jahren nach Opas frühzeitigem Tod übernommen und sie seitdem zu einem florierenden Familienunternehmen aufgebaut. Anders als die meisten Werften hatten wir uns auf exklusive Holzsegelschiffe spezialisiert, die in Handarbeit und mit höchster Präzision hergestellt wurden. Statt maschinell produzierte Bauteile zu verwenden, fertigten wir jedes noch so kleine Werkstück traditionell an, sodass echte Unikate entstanden. Diese hatten natürlich ihren Preis und nahmen einige Arbeitswochen in Anspruch, allerdings änderte das nichts an den hoffnungslos überfüllten Wartelisten und neuen Projektanfragen, vor denen sich mein Vater kaum retten konnte. Einer der Gründe, warum er meine Ausbildung zur Schiffsbauerin direkt hierherverlegt hatte und mit dem Gedanken spielte, in eine Erweiterung des Unternehmens zu investieren.

Für mich war die Werft schon immer ein fester Bestandteil meines Lebens gewesen und einen Tag ohne Schiffe, Holz oder die einzigartigen Entwürfe meines Vaters konnte ich mir nicht vorstellen. Ich war quasi in der Werft zwischen Spänen und Kielen aufgewachsen und verband einige meiner schönsten Erinnerungen mit diesem Ort. Genauso wie mit Paps. Seine Leidenschaft für den Schiffsbau und das Meer waren eine gewaltige Inspiration und er mein größtes Vorbild. Okay, er teilte sich diesen Titel mit Krystyna Chojnowska-Liskiewicz, die als erste Frau ganz allein die Welt umsegelt hatte – aber das musste er ja nicht wissen.

Ich fand die gebogenen Planken in einem der Nebenräume, wo wir Lackierarbeiten vornahmen, und klemmte sie mir unter den Arm, ehe ich die Werft verließ und an die frische Luft trat. Es war Montagabend, die Sonne längst untergangen und bis auf die träge im Wasser schwankenden Schiffe lag der Hafen still da. Zielsicher fand ich den Mast meines eigenen Segelbootes, der Möwe, die ich zusammen mit meinem Vater vor ein paar Jahren gebaut hatte. Sofort stieg prickelnde Vorfreude in mir hoch. Nachdem das Wetter in der vergangenen Woche nicht so richtig mitgespielt hatte, würde ich morgen früh endlich wieder raus aufs Meer fahren und mich ein paar Stunden lang in der grenzenlosen Weite da draußen verlieren.

Ich atmete aus und legte die kurze Distanz zu unserem alten dunkelblauen Jeep zurück, den ich mir mit meinem großen Bruder Till teilte. Normalerweise brauchte ich keinen eigenen Wagen, aber heute hatte ich vor der Arbeit noch einen Stapel Geschirr bei meiner Großmutter im Leuchtturm vorbeibringen müssen und deswegen kurzerhand zum Jeep gegriffen, statt wie üblich das Rad zu nehmen. Auf Sylt lagen die wichtigsten Dinge nicht allzu weit voneinander entfernt, denn im Prinzip war die Insel nichts anderes als ein lang gezogenes Dorf.

Genau in dem Moment, als ich den Kofferraum schloss, erschien auch endlich mein Vater und eilte zu mir. Über die Schulter trug er eine Zeichenrolle, in der vermutlich die Pläne steckten, an denen er bis eben gefeilt hatte.

»Tut mir echt leid, dass es so spät geworden ist. Ich weiß, du bist verabredet.«

Ich winkte ab und kletterte auf den Fahrersitz. »Malia und Ida kommen auch noch ein paar Minuten ohne mich aus.«

»Du kannst es ja auf mich schieben. Und auf Klaus, der die Planken unbedingt heute Abend noch haben möchte, um die Bar gleich morgen früh zu reparieren.«

»Ist wirklich kein Ding. Gibt es einen besonderen Grund, warum du heute so lange gearbeitet und die Emil-Zeit derart großzügig ausgenutzt hast?« Ich lenkte den Wagen aus der Hofeinfahrt der Werft und warf ihm einen schnellen Blick zu.

»Emil-Zeit?« Kurz kräuselten sich seine Lippen, dann fügte er – nun wieder ernst – an: »Ein neuer Projektabschluss.«

»Und das sagst du erst jetzt? Worum geht es?«

Tiefe Falten gruben sich in seine Stirn und er wirkte nicht annähernd so euphorisch wie sonst, wenn es um einen frischen Auftrag ging. »Es ist eine Sonderanfertigung. Für ein Hotel. Das Nielsen-Hotel.«

Der Wagen kam einen Tick zu abrupt auf dem kleinen Parkplatz vor der Hafenkneipe zum Stehen. »Das Nielsen-Hotel?«

Diese Großbaustelle war seit Monaten eines der Hauptgesprächsthemen auf der Insel. Aus vielerlei Gründen, von denen keiner wirklich angenehm war.

»Ich weiß, Leni. Du musst das gar nicht so sagen.«

Ich hob eine Braue. »Wie habe ich es denn gesagt?«

Beinahe gequält verzog mein Vater das Gesicht und schnallte sich ab. »Es ist kompliziert. Du kennst die Geschichte und ich … ich denke, ich bin es Sasha schuldig.«

Mein Magen zog sich zusammen, als ich den alten Schmerz in seinen leisen Worten hörte. Aus einem Impuls heraus legte ich ihm eine Hand auf den Arm. »Bist du dir sicher, dass du das machen möchtest? So interessant das Projekt vielleicht auch sein mag, die Sache mit Sasha und dem Hotel …« Ich ließ den Satz unbeendet, denn mein Vater wusste auch so, worauf ich hinauswollte. Auf den Brand im ursprünglichen Nielsen-Hotel vor fünf Jahren, der nicht nur ein klaffendes Loch in der Anlage bei den Roten Klippen hinterlassen hatte, sondern bei dem auch sein bester Freund Sasha und dessen ältester Sohn Liam ums Leben gekommen waren. Danach hatte sich alles verändert.

Vor dem Feuer waren die Nielsens und wir quasi eine große Patchwork-Familie gewesen. Till und ich waren mit Liam und seinem jüngeren Bruder Raffael aufgewachsen, mal bei uns zu Hause, mal bei Thea und Sasha im großen Hotel mitten in den Dünen bei Kampen. Doch dann war der Brand ausgebrochen und hatte innerhalb weniger Stunden unser aller Leben aus den Fugen gerissen. Thea war mit Raffael zu ihrem Bruder nach Kiel gezogen, hatte jeden Kontakt abgebrochen und wir … wir waren plötzlich nur noch eine halbe Familie gewesen.

Und auch wenn das Ganze mittlerweile fast fünf Jahre her war, saßen diese Wunden nach wie vor tief. Nicht selten fragte ich mich, ob sie überhaupt jemals heilen würden. Ob diese Kluft in meiner Brust, die besonders Rafes Verschwinden hineingerissen hatte, sich irgendwann schließen würde. Und ehrlich gesagt hatte ich ziemliche Angst davor, dass dieses neue Projekt bloß alte Narben aufreißen würde.

Paps drückte meine Finger und holte mich aus meinen Gedanken zurück. »Ich weiß, was ich tue, Mäuschen. Und ich denke, dass es der richtige Weg ist. Vielleicht brauchen wir genau diesen Auftrag, um endlich wirklich nach vorne schauen zu können.«

»Hast du schon mit Till darüber gesprochen?«

»Dass ich annehmen werde? Nein, aber seine Firma ist ebenfalls involviert. Sie statten einen Großteil des Hotels aus. Soweit ich gehört habe, sind die Verträge bereits unterschrieben.«

Das wurde ja immer besser. Ich atmete langsam aus und fummelte an dem bunten Anhänger des Autoschlüssels herum.

»Leni, mach dir nicht zu große Sorgen. Der Brand hat … vieles kaputt gemacht, aber das hier ist eine gute Sache. Ich habe schon mit Paul gesprochen und ihm liegt sehr viel am Wiederaufbau und Betrieb des Hotels. Das Projekt könnte die Schatten endlich vertreiben, verstehst du?«

»Paul übernimmt das Hotel?«

Paul Nielsen war der ältere Bruder von Thea und ein angesehener Architekt, der mittlerweile eine eigene Hotelkette besaß. Ich wusste, dass sein Architekturbüro vor ein paar Monaten die Leitung der Baustelle übernommen hatte, doch dass er nun auch als Direktor einsteigen würde, war mir neu.

»Darüber haben wir noch nicht gesprochen. Ich weiß nicht, wer welchen Posten nach der Eröffnung einnehmen wird.«

»Was ist mit Thea und … Raffael?« Ich konnte nicht verhindern, dass mir sein Name verzögert über die Lippen kam. Gefolgt von einem merklichen Ziehen in meiner Brust.

»Darüber hat Paul am Telefon kein Wort verloren, aber ich denke nicht, dass sie zurückkommen werden, nachdem …«

Ich beeilte mich zu nicken.

»Wir reden in den nächsten Tagen in Ruhe über alles, einverstanden? Ich würde dich nämlich sehr gern in die Sache involvieren.«

»Mich? Was ist mit der Stella? Ich dachte, die kleine Segeljacht hat gerade höchste Priorität?« Und das nicht nur, weil der Auftraggeber ein ziemlich fordernder Millionär aus Schottland war, sondern auch, weil sich dahinter die Aussicht auf eine kleine Serie von baugleichen Projekten verbarg. Eine große Sache für die Werft.

»Wie gesagt, wir sprechen noch, in Ordnung?«

Mir lagen tausend Dinge auf der Zunge, die ich jetzt gerne losgeworden wäre. Aber erstens warteten meine Freundinnen immer noch auf mich und meine Verspätung belief sich mittlerweile auf fast dreißig Minuten – und zweitens hatte ich auch so schon genug, was ich erst mal verdauen musste.

Paps schenkte mir sein liebevolles Vater-Lächeln. »Wir kriegen das gebacken, Leni. Wenn nicht wir, wer dann, hm?«

Ich hob nur einen Mundwinkel, während die Gedanken in meinem Kopf immer lauter wurden.

»Ich bringe die Planken schnell zu Klaus. Bin gleich wieder da.« Mein Vater war schon fast ausgestiegen, als er noch einmal zurück ins Innere schaute. »Zerbrich dir nicht zu sehr deinen klugen Kopf darüber, versprochen?«

Nun schaffte es auch mein zweiter Mundwinkel endlich wieder nach oben. Paps kannte mich einfach zu gut. Vermutlich, weil wir einander so ähnlich waren. Absolute Kopfmenschen, die ganze Tage mit ihren Grübeleien verbringen konnten.

»Versprochen.«

Seinem schiefen Schmunzeln nach zu urteilen, wusste er genauso gut wie ich, dass das eine glatte Lüge war.

Ich beobachtete, wie mein Vater die Planken aus dem Kofferraum holte und dann in Richtung Kneipeneingang schlenderte. Erst, als er durch die gedrungene Holztür verschwunden war, atmete ich tief aus.

Das Nielsen-Hotel. Und ausgerechnet wir würden dort Hand anlegen, obwohl wir an diesem Ort so viel verloren hatten. Ich hoffte nur, dass wir wirklich damit klarkommen würden. Die Zeit nach dem Brand war für keinen von uns leicht gewesen. Mein Vater und Till hatten ihre besten Freunde verloren und ich hatte mich so unsagbar einsam gefühlt. Tat es ja noch heute oft genug, nachdem Raffael weggezo–

Ein dumpfes Poltern ließ mich so abrupt hochfahren, dass ich mit dem Ellenbogen gegen die Scheibe stieß und von meinem Musikantenknochen aus eine ganze Schmerzenssymphonie in meinem Arm erklang.

»Verdammt«, murmelte ich und rieb mir die Stelle, ehe ich mich abschnallte und die Tür öffnete.

Irgendetwas war ganz offensichtlich mit meinem Wagen kollidiert – oder besser gesagt: hatte den Jeep gerammt. Da der Parkplatz einzig von ein paar alten Laternen in diffuses gelbliches Licht getaucht wurde, konnte ich auf den ersten Blick nicht besonders viel erkennen. Fröstelnd schlang ich die Arme um meinen Oberkörper und lief zum Heck des Autos. Aus der Kneipe drangen gedämpfte Stimmen zu mir, ein paar Möwen schrien, aber ansonsten war ich allein.

Hatte ich mir den Knall etwa eingebildet? Ich zog die Brauen zusammen und umrundete den Jeep, als ich plötzlich eine Bewegung im Augenwinkel ausmachte. Eine ziemlich unkoordinierte Bewegung einer männlichen Gestalt mit Kapuze, die ganz offensichtlich bereits etwas getrunken hatte.

»Himmel, hast du mich erschreckt!«, rief ich aus und legte den Kopf ein wenig schief. »Alles klar bei dir?«

Der Typ wankte zu mir herum, sein Gesicht ein dunkler Fleck aus Schatten. »Nein. Nichts ist klar«, erwiderte er mit Nachdruck und erstaunlich tiefer Stimme. Eine Stimme, die trotz ihrer Gereiztheit einen Nerv in mir traf. »Doch das wolltest du nicht hören, oder?«

»Ähm.« Meine Antwort war wenig eloquent, allerdings wusste ich auch nicht, was ich sonst darauf hätte erwidern sollen.

»Habe ich mir gedacht. Jeder Idiot stellt diese dämliche Frage, aber niemand interessiert sich wirklich für die Antwort. Warum auch? Es geht dabei ja zur Abwechslung mal nicht um einen selbst.« Sein Unterton war nun härter geworden, während er den Kopf zur Seite drehte, als würde er dort irgendetwas sehen, das mir verborgen blieb. »Also tu mir den Gefallen und hör auf zu fragen.«

Ich fragte mich, woher dieser Schmerz in seiner Stimme kam, der mich unwillkürlich zusammenzucken ließ. Denn genau das war es, was ich unter dieser Härte herausgehört hatte: Schmerz. Mittlerweile war ich ziemlich gut darin geworden, ihn zu bemerken.

Ich kaute auf meiner Unterlippe – eine schlechte Angewohnheit, die ich mir bei meinem Bruder abgeschaut hatte – und lockerte meine verschränkten Arme. »Wie kommst du darauf, dass es mich nicht interessiert? Du bist gegen meinen Wagen geknallt.«

Er lachte freudlos. »Ah, dein Auto. Das ist es also.«

»Nein«, entgegnete ich sofort. »Ich will einfach sichergehen, dass bei dir alles in Ordnung ist und du dich nicht verletzt hast. Das Poltern klang ziemlich … übel.«

Der junge Mann wurde ganz ruhig und sah wieder zu mir – zumindest nahm ich das an, nachdem seine Kapuze noch immer alles verbarg. Bis auf ein Kinn mit dunklen Bartstoppeln und geschwungene Lippen. Ziemlich schöne geschwungene Lippen.

Ehrlich, Leni?

Als er keine Anstalten machte, irgendetwas zu sagen oder zu tun, ging ich einen Schritt in seine Richtung. »Bist du verletzt?«

Meine Frage hing zwischen uns, ein, zwei Atemzüge lang, die als kleine weiße Wölkchen zwischen uns aufstiegen. Dann wich er ruckartig zurück. »Ja, und das schon sehr lange.«

Eine Gänsehaut breitete sich über meinem ganzen Körper aus. Diese Stimme …

»Leni?«

Der Ruf meines Vaters hallte über den Parkplatz und ließ mich herumfahren. Weg von dem jungen Mann, nur einen winzigen Moment. Doch das reichte aus. Als ich zurück zu der Stelle schaute, an der er eben noch gestanden hatte, war er spurlos verschwunden. Wie eine abendliche Fata Morgana.

Natürlich ist er das, dachte ich seltsam entrückt und vergrub die Hände tief in den Taschen meiner Jeanslatzhose, unsere letzten Worte als Echo in meinen Ohren.

Bist du verletzt?

Ja, und das schon sehr lange.

Kapitel 2

EIN LEUCHTTURM FÜR VIER

Als ich endlich die Flaschenpost erreichte, war es kurz vor acht und ich damit fast eine ganze Stunde zu spät. Auf meinem Handy waren unzählige Nachrichten von Ida und Malia eingegangen und mittlerweile hatte sich mein schlechtes Gewissen als treuer Begleiter in meinem Nacken festgebissen. Zumindest hatte ich dieses Mal gleich zwei Ausreden, wobei ich mich mehr und mehr fragte, ob ich mir das Ganze gerade nicht doch bloß eingebildet hatte. Eine seltsame Laune meines hoffnungslos überarbeiteten Gehirns, das sich verzweifelt nach etwas sehnte, das nichts mit meiner bevorstehenden Prüfung oder dem Nielsen-Projekt zu tun hatte.

Und dann landest du ausgerechnet bei einer Szene mit einem geheimnisvollen Fremden?

Ich würgte meine innere Stimme ab, noch bevor sie so richtig in Fahrt kommen konnte, und konzentrierte mich stattdessen auf die schmale Lücke, in die ich den Jeep in diesem Moment quetschte. Am anderen Ende des kleinen Parkplatzes ragte der Lange Christian auf – der schwarz-weiße Leuchtturm im Herzen von Kampen, den meine Großmutter Edda von ihren Eltern geerbt und in einen meiner liebsten Orte verwandelt hatte: das Café Flaschenpost. Edda wurde nicht müde, jedem zu erzählen, dass ihr der Name sofort in den Sinn gekommen wäre, weil der Leuchtturm nun einmal eine gewisse Ähnlichkeit mit einer großen Flasche besäße.

Mit viel Fantasie.

Zu dem Turm gehörten ein paar Häuschen, in denen neben dem großen Gastraum für Feiern, einem Lager und dem Wohnhaus meiner Oma auch der Innenausstatter untergebracht war, für den mein Bruder Till arbeitete. Einer der Gründe, warum wir unsere Mittagspausen oft in die Flaschenpost verlegten, wenn ich nicht in der Werft bei unserem Vater blieb. Ein weiterer war, dass Oma einfach den besten Kaffee der ganzen Insel machte und ihre Kuchentheke jede Patisserie der Welt in den Schatten stellte.

Jetzt, um diese späte Uhrzeit, war jedoch nicht mehr sonderlich viel los. Neben dem alten roten Golf meiner besten Freundin Malia – sie hatte ihn liebevoll Marienkäfer getauft – konnte ich nur noch zwei weitere Fahrzeuge ausmachen. Vermutlich Einheimische, die von Omas geheimem Insel-Gewürzwein wussten.

Im Inneren des Leuchtturms begrüßte mich die vertraute Mischung aus leiser Musik, Kaffee und Gebäck und sofort fiel die Anspannung, die mich seit dem Gespräch über das Nielsen-Hotel nicht mehr losgelassen hatte, von mir ab. Der ganz besondere Zauber dieses Ortes. Es gab viele gemütliche Cafés auf der Insel, aber keines war wie die Flaschenpost: drei kreisrunde Etagen, verbunden durch eine alte Eisentreppe, um die Lichterketten geschlungen waren. Holzmöbel, bunte Kissen und Emaille-Vasen mit frischen Blumen. Dazu Regale voll unzähliger Bücher und kleiner selbst gemachter Souvenirs, die Oma für lokale Künstler verkaufte. Ein bisschen wie eine eigene Welt.

Als ich durch das Café lief, fehlte von Edda und Ole – einem pensionierten Seemann samt gestreiftem Hemd und Kapitänsmütze, der mittlerweile zum Inventar der Flaschenpost gehörte – allerdings jede Spur. Vermutlich waren sie im Lager oder in der Küche. Aus Erfahrung wusste ich, dass meine Großmutter aber ohnehin innerhalb kürzester Zeit auftauchen würde, sobald ich einen Fuß in ihr Café gesetzt hatte. Also lief ich direkt hoch.

Der Stammplatz von Malia, Ida und mir befand sich im zweiten Obergeschoss des Leuchtturms, wo statt Stühlen bunte Sessel und kleine Sofas um niedrige Tische standen. In den warmen Sommermonaten zog es uns jedoch meist nach ganz oben auf die Aussichtsplattform, zu der nur Familie und Freunde Zugang hatten. Ich freute mich schon jetzt unglaublich auf unsere Mädelsabende dort.

»Da bist du ja!«, begrüßte mich Malia und sprang lächelnd von ihrem Sessel auf, während sie an Ida gewandt meinte: »Ich kann echt nicht glauben, dass du mit deinen achtundfünfzig Minuten richtiggelegen hast.«

»Jedes Mal ein Vergnügen, diese Wetten zu gewinnen«, verkündete Ida und stand ebenfalls auf.

Ich nahm erst Malia, dann Ida in den Arm, ehe ich gespielt entrüstet das Gesicht verzog. »Als ob ich so oft zu spät komme.«

Ida bedachte mich mit einem vielsagenden Blick.

»In anderen Ländern ist Unpünktlichkeit ein Ausdruck von Respekt«, sagte ich und ließ mich auf die gestreifte Couch neben ihr plumpsen.

Malia rümpfte die Nase und fuhr sich durch ihre kinnlangen schokobraunen Locken. »Vielleicht, aber ganz sicher nicht auf unserer schnuckeligen Insel. Also, was hat dich dieses Mal aufgehalten?« Sie trug noch ihre Arbeitskleidung aus der Tierklinik und hatte sich bloß einen dunkelblauen Hoodie übergezogen, den ich als einen meiner Segel-Pullover wiedererkannte. Eben typisch Malia.

Dankbar griff ich nach der bauchigen Tasse, die sie mir reichte, und nahm einen Schluck des alkoholfreien Gewürzweins. Das war dann wohl der Moment, um meine sorgsam zurechtgelegten Ausreden zu präsentieren. Oder auch nicht. »Was ist mit Elisa? Kommt sie auch noch per Skype dazu?«

Ida und Malia sahen einander bedeutungsvoll an, ehe Erstere erwiderte: »Themenwechsel abgelehnt. Zur Erinnerung: Du hast ihre Nachrichten in E.M.I.L. gelesen, Leni. Du weißt, dass es ihr heute nicht passt.«

Ja, wusste ich. Mist.

Der Name unserer WhatsApp-Gruppe setzte sich aus unseren Anfangsbuchstaben zusammen – nach unserem Alter geordnet ergab das Akronym lustigerweise den Namen meines Vaters – und sie war quasi unser heiliges Kommunikationsmittel. Darüber hielten wir in so gut wie jeder Lebenslage Kontakt. Wir waren zu viert: Elisa, Malia, Ida und ich. Zu Schulzeiten hatten wir alles zusammen gemacht – wirklich alles. Doch dann war Elisa kurz nach dem Brand im Nielsen-Hotel zu ihrem Vater nach Australien gezogen und unser übliches Gespann ein wenig geschrumpft. Das Abi hatte schließlich sein Übrigens getan, weil wir plötzlich alle damit beschäftigt waren, unsere neuen Erwachsenenleben auf die Reihe zu bekommen. Elisa studierte in Australien Medizin, wenn sie nicht gerade zur nächsten Goldmedaille schwamm, während Malia auf der Insel in Wennigstedt eine Ausbildung zur Tierarzthelferin machte. Ida pendelte dagegen ununterbrochen zwischen ihrem Biologiestudium in Hamburg und ihrer Großfamilie auf der Insel hin und her und ich hatte alle Hände mit meiner Schiffsbaulehre und der Werft zu tun. E.M.I.L. war unsere Chance, trotzdem am Alltag der anderen teilzunehmen, in Form einer bunten Mischung aus GIFs, schrägen Schnappschüssen und Glückskeksweisheiten. Eben genau wie wir vier.

Ida stellte ihre Tasse auf dem niedrigen Tisch ab und sah mich über den Rand ihrer rahmenlosen Brille hinweg an. »Ist alles in Ordnung, Leni?«

Ihre Frage holte mich aus meinen Gedanken und erinnerte mich an die seltsame Parkplatzbegegnung. Kurz erwog ich, meinen Freundinnen davon zu erzählen, doch eigentlich brannte mir etwas anderes viel mehr auf der Seele. »Mein Vater hat vorhin die Bombe platzen lassen, dass unsere Werft am Nielsen-Hotel beteiligt sein wird.«

Malia verschluckte sich prompt an ihrem Gewürzwein. »Wie bitte?«

»Ist das dein Ernst?«, fragte Ida beinahe im selben Moment und mindestens genauso geschockt.

Ich nickte langsam. »Ja. Unsere Werft soll eine Sonderanfertigung bauen und Tills Firma macht die Inneneinrichtung. Als würden wir fest dazugehören.« So wie früher.

»Und ihr macht da einfach so mit? Trotz der Sache mit dem Brand und eurer … Verbindung?«

Bei Malias Worten spürte ich ein unangenehmes Ziehen in meiner Magengegend. »Schätze schon.«

Verwirrt beugte sich Ida weiter vor. »Eine Sonderanfertigung? Was soll das überhaupt heißen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Noch weiß ich nichts Genaueres darüber. Aber da wir eine Werft sind, gehe ich stark davon aus, dass wir ein Schiff für sie anfertigen werden – auch wenn mir nicht ganz klar ist, wie das mit dem Hotel zusammenpassen soll.«

»Hm-m.« Malia quetschte sich zu uns auf das Sofa und legte mir eine Hand an den Oberarm. »Und … was ist mit Raffael?«, fragte sie vorsichtig.

Kopfschüttelnd starrte ich auf meine Schuhspitzen, als sich ungefragt das Bild eines siebzehnjährigen Jungen mit dunklen Locken und zweifarbigen Augen in meinen Kopf schob. Und mein Herz schneller schlagen ließ. Immer noch. Fünf Jahre waren seitdem vergangen und selbst jetzt reichte die kleinste Erinnerung aus, um dieses Pochen in meiner Brust wieder in Gang zu setzen. Dicht gefolgt von altem Schmerz und Erinnerungen, die ich am liebsten für immer vergessen hätte. Das Lagerfeuer am Strand, das nächtliche Meer, der K–

Hastig verscheuchte ich diese Gedanken. »Hier geht es nicht um ihn oder Thea. Paul übernimmt das alles«, gab ich heftiger zurück als gewollt. Seufzend kniff ich die Lider zusammen. »Tut mir leid.«

Meine besten Freundinnen kannten mich gut genug, um zu wissen, dass Raffael Nielsen das größte Problem an der Sache für mich war. Das, was ihn und mich unsere ganze Kindheit über verbunden hatte und dann von heute auf morgen gerissen war, als er mit seiner Mutter aufs Festland gezogen war. Für mich zählten die Wochen und Monate danach zu den schwersten und düstersten meines Lebens und noch heute überkam es mich eiskalt, wenn ich daran zurückdachte.

Wir alle hatten durch diesen Brand etwas verloren.

»Schon okay. Aber das mit Raffael … das ist doch gut, oder? Wenn er nichts damit zu tun hat?« Idas Stimme war genauso behutsam wie Malias und einmal mehr war ich froh, die allerbesten Freundinnen der Welt an meiner Seite zu haben. Niemand anderes verstand so gut wie sie, was diese Zeit mit mir gemacht hatte, und niemand nahm meine Schwächen genauso selbstverständlich hin wie meine Stärken. Das war es, was unsere Freundschaft auszeichnete und mir so ziemlich alles bedeutete.

Ich atmete tief ein und aus und schaute wieder auf. »Ja, das macht es leichter. Denke ich.« Keine Ahnung, was ich machen würde, stünde ich Raffael von einer Sekunde auf die andere wieder gegenüber.

Ida griff nach meinen Händen und Malia legte ihre kühlen Finger darauf, woraufhin der Druck in meinem Inneren ein wenig nachließ.

»Danke.«

»Ach was, das ist definitiv nichts, wofür du dich bedanken brauchst, Leni. Du weißt hoffentlich, dass wir immer über alles reden können. Es gibt nichts, was eine dicke Beste-Freundinnen-Umarmung nicht zumindest ein kleines bisschen besser machen kann.«

Ida stimmte Malia mit einem nachdrücklichen Nicken zu. »Dafür nehme ich sogar die Katzenhaare auf ihrer Klinikkleidung in Kauf.«

»Versuch du mal, die Norwegische Waldkatze deiner Oma auf dem Arm zu halten, während ihre Krallen untersucht werden. Ich möchte sehen, wie du danach ausschaust.«

Einen Augenblick lang funkelten sich die beiden mit gespielt böser Miene an, dann brach ein helles Lachen aus Ida heraus. »Touché. Jimmy wickelt echt alles und jeden in einen Kokon aus Haaren. Wie ein Seidenspinner oder ein anderes übergroßes Insekt, das sich im Körper einer Katze versteckt.«

Bei ihrer schiefen Grimasse fielen schließlich auch Malia und ich in ihr ansteckendes Lachen ein, wobei ich beinahe mein Getränk verschüttet hätte.

»Ich hätte dein Gesicht fotografieren und in E.M.I.L. verewigen sollen, Ida. Elisa würde es lieben«, meinte Malia, als wir uns wieder etwas beruhigt hatten, und lenkte das Thema subtil in eine andere Richtung. Weg von Raffael und mir, wofür ich ihr unglaublich dankbar war.

»Bloß nicht, sie hätte es genutzt, um mich die nächsten Wochen jeden einzelnen Tag, an dem ich in der stickigen Uni hocken muss, damit aufzuziehen, während sie es sich in Perth am Strand gut gehen lässt.«

Bei der unverhohlenen Missbilligung, mit der sie das Wort Strand aussprach, runzelte ich verwirrt die Stirn. »Ist etwas zwischen dir und Elisa vorgefallen?«

Zwar waren wir vier seit unserer frühesten Kindheit unzertrennlich, aber das bedeutete nicht, dass wir uns nicht auch regelmäßig an den Kragen gingen, und Elisa und Ida waren schon immer eine explosive Mischung gewesen.

»Nein, nein«, wehrte sie jedoch sofort ab und rutschte tiefer in die Polster. »In meiner Familie hängt nur mal wieder der Haussegen schief. Ich möchte euch auch gar nicht damit runterziehen, du hast schon genug mit der Nielsen-Sache am Hut.«

»Hey«, erwiderte ich sanft, aber bestimmt, »deine Probleme sind nicht weniger wichtig, nur, weil sie dir nicht so groß erscheinen wie Malias oder meine. Sie zählen genauso.«

»Ganz richtig.« Nun lehnte sich auch Malia weiter nach vorne, um an mir vorbei zu Ida schauen zu können. »Ist es wieder wegen Kai?«

Ida zögerte kurz, dann nickte sie. »Immer, wenn man glaubt, er hätte es endlich kapiert, belehrt uns mein Bruder eines Besseren. Ich sag’s euch: Wäre es meinen Eltern und Geschwistern und vor allen Dingen Oma Mathilda nicht so wichtig, könnte er meinetwegen bleiben, wo der verfluchte Pfeffer wächst. Schließlich geht es um den fünfundsiebzigsten Geburtstag meiner Großmutter im Herbst. Die ganze Insel wird da sein, alle außer ihr ach so wichtiger Influencer-Enkel.«

Malia verzog mitfühlend das Gesicht. »Was ist es denn dieses Mal?«

»Irgendeine Kooperation am Strand von Malaysia. Oder war es Myanmar? Ist mir auch egal«, brummte Ida und begann, gedankenverloren an dem Zier-Loch in ihrer Jeans zu pulen. »Wie kann ihm das alles wichtiger sein als seine Familie?«

Früher war Kai unser Held gewesen, der coolste große Bruder der Welt, mit dem nicht einmal Till und Mik mithalten konnten. Aber seit er vor ein paar Jahren als Extremfotograf und Reiseblogger quasi über Nacht berühmt geworden war, hatte sich in Idas Familie alles verändert. Und das nicht unbedingt zum Besseren.

Mitfühlend legte ich ihr eine Hand aufs Bein. »Früher oder später wird Kai schon merken, dass ihr mehr wert seid als alle Follower und Kooperationen der Welt zusammen. Selbst wenn sie in Malaysia-Myanmar sind.«

Ida stieß eine Mischung aus Lachen und Schnauben hervor und umfasste meine Finger. »Danke, Leni.«

»Darauf sollten wir anstoßen«, meinte Malia und hob ihren Gewürzwein. »Auf Freundschaft, Familie und ein echtes Zuhause.«

Ida und ich griffen ebenfalls nach unseren Tassen und wiederholten feierlich ihre Worte, ehe wir die letzten Reste unserer Getränke vernichteten. Genau das hatte ich nach dem Kuddelmuddel der letzten Stunde wirklich gebraucht.

»Soll ich uns noch eine Runde holen?«

Als wäre Malias Frage ihr Stichwort gewesen, tauchte in diesem Moment der grauweiße Haarschopf meiner Großmutter an der Treppe auf. »Moin, Lenchen. Hab dich gar nicht kommen sehen.«

Lächelnd stand ich auf, um meiner Großmutter einen Kuss auf die Wange zu geben und ihr das Tablett mit den vier dampfenden Tassen abzunehmen. »Hallo, Oma. Perfektes Timing.«

»Ach was, ich weiß doch, was ihr für eure geheimen Treffen immer alles so braucht.« Edda winkte mit einem Schmunzeln auf ihren Lippen ab. »Ihr hättet euch doch den Ofen anmachen können.« Ganze Strahlen von feinen Lachfältchen breiteten sich um ihre blauen Augen herum aus. Edda Wilke war vielleicht vierundsiebzig auf ihrem Ausweis, aber sowohl im Herzen als auch körperlich bewundernswert jung geblieben.

»Wir haben Ende April«, meinte Ida vielsagend und schnappte sich eine Tasse vom Tablett, als ich in unsere kleine Sitzecke zurückkehrte.

»Für einen Bullofen ist es nie zu früh oder spät im Jahr. Außerdem ist es heute wirklich außerordentlich kalt für Ende April.« Meine Großmutter betonte die beiden letzten Worte genau wie Ida zuvor, was Malia und mir ein breites Grinsen auf die Lippen zauberte.

»Setz dich doch noch ein bisschen zu uns, Oma.«

»Ich möchte euch Mädchen nicht bei euren wichtigen Gesprächen stören. Und Ole wollte mir noch mit den zwei Mehlsäcken helfen …«

Ich kam nicht umhin zu bemerken, wie ihr Lächeln noch ein kleines Stückchen breiter wurde, als der Name des ehemaligen Seemanns fiel. Interessant.

»Das kann warten. Und du störst doch nie«, widersprach Malia sofort und klopfte auf den Platz neben sich, wo ich bis eben gesessen hatte. »Außerdem sind wir bei dir an der besten Adresse für Neuigkeiten aller Art, oder nicht?«

Womit meine beste Freundin direkt ins Schwarze traf. Niemand wusste mehr über Sylt und was hier so vor sich ging als Edda Wilke. Die Flaschenpost war quasi der Dreh- und Angelpunkt des Inselfunks.

Meine Oma griff nun ihrerseits nach einer der Tassen und setzte sie ganz unschuldig an den Mund. »Ist das so?«

Ich lachte in mich hinein und ließ mich im Schneidersitz auf dem Sessel nieder. »Darauf möchtest du nicht wirklich eine Antwort haben, oder?«

»Momentan scheint es mir, als wüsstest du mehr als ich.«

»Hast du mit Paps gesprochen?«, fragte ich zögerlich.

Ida und Malia tauschten einen raschen Blick, vermutlich, weil ihnen klar war, dass ich a) eigentlich nicht mehr über das Hotel sprechen wollte und b) sich das sehr schlecht mit Omas Gespür für Neuigkeiten vertrug. Blieb zu hoffen, dass sie wenigstens nicht nach Raffael fragen würde.

»Allerdings«, bestätigte Edda. »Aber er hat genauso wenig verraten wie dein Bruder vorhin beim Kaffee.«

»Vermutlich, weil er auch gerade erst davon erfahren hat und genauso wenig weiß wie ich.«

Nachdenklich fuhr sich Oma Edda über das Kinn und ich konnte förmlich sehen, wie sich die Schubladen in dem schier endlosen Netzwerk ihres Elefantengedächtnisses öffneten und schlossen. »Dabei bin ich so gespannt, was Paul Nielsen daraus macht.«

»Hat er nicht ohnehin eine große Hotelkette in Deutschland und Österreich?«, fragte Malia und schaute zu mir, als wollte sie sichergehen, dass das Thema okay für mich war.

»Ja, ich glaube schon.« Ich stellte meine Tasse ab und legte die Stirn in Falten. »Wie dem auch sei, morgen bin ich schlauer.«

Meine Großmutter warf mir einen milden Blick zu. »Wenn das jemand hinbekommt, dann ihr. Dein Vater hatte schon immer ein Händchen für besondere Angelegenheiten.«

Ich hoffe es.

»Wird das neue Hotel eigentlich auch wieder Dünenschloss heißen?«, fragte Malia.

Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

»Ah! Hier kann ich mit Informationen dienen.« Meine Großmutter hob die Brauen und verschränkte die Hände in ihrem Schoß. »Mathilda hat gehört, wie sich zwei Leute von der Baustelle bei ihr in der Bäckerei darüber unterhalten haben.«

»Jetzt mach es doch nicht so spannend, Oma Edda.« Ida rutschte, wenn überhaupt möglich, noch näher an meine Großmutter heran, was diese mit einem wissenden Lächeln bedachte.

»Meeresrauschen«, antwortete sie schließlich mit verschwörerischer Stimme. »Es wird Meeresrauschen heißen.« Ich kam nicht umhin zu bemerken, wie sich bei mir die feinen Härchen aufstellten.

In diesem Moment fühlte es sich ein bisschen so an, als würde dieser Name zusammen mit allem, was die Baustelle für uns bereithielt, eine turmhohe Welle heraufbeschwören. Eine Welle am Horizont, die uns entweder einen Neuanfang bringen würde – oder nichts als alte Erinnerungen.

Kapitel 3

BLINDER PASSAGIER

Der Wind stand an diesem Dienstag ideal, das Wetter war perfekt und am Himmel, der jenes besondere Blau eines frühen Morgens trug, zeigte sich nicht eine Wolke. Kurz gesagt, es war genau der richtige Zeitpunkt, um aufs Meer hinauszusegeln und den Alltag für ein paar Stunden Alltag sein zu lassen. Etwas, das ich nach dem gestrigen Abend definitiv brauchen konnte.

Konzentriert überprüfte ich ein letztes Mal, dass die Fender – große mit Luft gefüllte Stoßdämpfer, die das Schiff im Hafen schützten – an der Seereling festgebunden waren, und lief dann über das Deck achtern – nach hinten. Die letzten Fender würde ich erst kurz nach dem Losfahren einholen, sobald ich genügend Abstand zu den anderen Booten hatte. Um aus dem Hafen zu kommen, benötigte ich für die ersten Meter noch den kleinen Hilfsmotor, ehe ich draußen auf dem Meer die Windkraft nutzen könnte. Mit routinierten Handgriffen startete ich den Motor, kontrollierte zum dritten Mal den Tiefenmesser und griff dann nach der Pinne – dem Stab, mit dem das Ruder am Heck gesteuert wurde. Ich musste über keine meiner Bewegungen groß nachdenken, jeder einzelne Schritt geschah intuitiv, war mir in all den Jahren in Fleisch und Blut übergegangen. Und genau das liebte ich so sehr. Dass das Segeln eins der wenigen Dinge war, bei denen ich meinen Kopf einfach mal abschalten konnte.

Als sich die Möwe in Bewegung setzte, spürte ich die vertraute Euphorie, den Drang nach Freiheit und Weite, der jedes Mal hier draußen in mir aufstieg. Beinahe wie ein Rausch, den die salzige Luft, der frische Wind und die Aussicht auf Grenzenlosigkeit in mir auslösten.

Eine Hand fest an der Pinne schaltete ich den Motor von rückwärts auf vorwärts, als ich weit genug aus dem Liegeplatz gefahren war, und lenkte die Möwe in Richtung Molenausgang. Vorne auf der Kaimauer entdeckte ich den Hafenwärter von Munkmarsch, der gerade einen der Signal-Poller überprüfte, und winkte ihm zu.

»Moin, Leni! Du bist aber früh auf!« Seine tiefe Stimme vermischte sich mit den Schreien der echten Möwen.

»Das Wetter ist zu gut, um nicht zu segeln!«, rief ich ihm über das Dröhnen des Motors hinweg zu, woraufhin er einen Daumen in die Höhe reckte und antwortete: »Gute Fahrt!«

Kaum hatte ich genug Abstand zwischen den Hafen und mich gebracht, schaltete ich den Motor ab und machte mich daran, das Segel freizugeben. Ich kannte die Strecke im Schlaf – erst nach Norden raus aus dem Wattenmeer, dann durch das Pandertief nach List und schließlich um den Ellenbogen von Sylt herum aufs offene Meer hinaus. Trotzdem überprüfte ich immer wieder die Richtung und behielt den Tiefenmesser durchgehend im Auge, während ich die Möwe in den Wind lenkte. Innerhalb kürzester Zeit gewann ich an Fahrt. Das Großsegel blähte sich auf und zog gemeinsam mit dem Vorsegel an den Leinen. Hastig fixierte ich das Ruder und justierte die Seile so, dass die Möwe perfekt der Luv-Seite – dem Wind – zugewandt war und Munkmarsch schon nach wenigen Minuten hinter mir verschwand.

Ich liebte die Ruhe beim Segeln. Wenn einzig das Plätschern des Wassers, das gegen den Rumpf schlug, und das Rascheln des Windes die Luft erfüllten und jeden Gedanken auslöschten. Für mich war Segeln pure Magie. Ein Zauber, der sich über alles legte und eine Klarheit verschaffte, die ich sonst nirgends fand. So war es von der Sekunde an gewesen, als mich mein Vater mit drei Jahren das erste Mal auf ein Segelschiff gebracht hatte, und daran hatte sich in all der Zeit nicht das Geringste geändert. Wenn überhaupt, war diese Magie nur noch stärker geworden.

Es dauerte nicht lang und ich erreichte den Hafen von List, den ich jedoch wortwörtlich links liegen ließ. Stattdessen segelte ich nach Norden, immer weiter, bis ich Sylt umfuhr und nach ein paar Wenden aufs offene Meer traf. Frischer Wind, der unverwechselbar nach Nordsee schmeckte, blies mir ins Gesicht und verwirbelte die langen hellbraunen Strähnen, die sich aus meinem französischen Zopf gelöst hatten. Genau diesen Moment suchte sich mein Magen aus, um mich lautstark daran zu erinnern, dass ich außer einer Tasse Kaffee heute noch nichts zu mir genommen hatte.

Kurzerhand holte ich das Segel aus dem Wind und befestigte sämtliche Leinen, sodass die Möwe in Ruhe lag. Dieser Augenblick war so gut wie jeder andere, um das Frühstück nachzuholen, bevor ich es etwas sportlicher angehen würde. Mit einem letzten prüfenden Blick auf den Horizont stand ich von meinem Platz am Ruder auf und lief zu dem schmalen Durchgang. Ich wollte gerade unter Deck treten, als …

… ich eine fremde, tiefe Stimme hörte.

Nein, nicht einfach eine Stimme, sondern vielmehr einen scharfen Fluch, gefolgt von einem vernehmlichen Ächzen, das aus meiner Kajüte kam.

Mein Atem beschleunigte sich merklich, während meine Euphorie verschwand und langsam, aber sicher einer leisen Panik Platz machte. Irgendjemand war auf meinem Schiff und ich war hier draußen auf dem Meer voll und ganz auf mich allein gestellt. Mangels eines besseren Einfalls schnappte ich mir, ohne zu zögern, eines der Notpaddel. Wie eine Harpune hielt ich es vor mich, trat unter Deck und –

Heilige Scheiße!

Vor mir auf dem Boden lag ein junger Mann mit schwarzbraunen Locken, zusammengekniffenen Lidern und einem gequälten Ausdruck auf den Zügen. Züge, die mir seltsam vertraut vorkamen …

In diesem Moment riss der Kerl die Augen auf und fuhr erschrocken zurück. »Fuck!«, knurrte er in derselben Sekunde, in der ich »Was zum Teufel?!« hervorbrachte.

Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf die Beine und stieß sich dabei prompt den Kopf an der niedrigen Decke an, was ihn ein weiteres Mal fluchen ließ.

»Verdammt, wo bin ich?« Brummend rieb er sich über den Hinterkopf, wobei er sichtlich schwankte. Schwer zu sagen, ob das an dem leichten Seegang oder dem Alkohol lag, dessen Geruch von ihm ausging.

Großartig, was für ein Fang.

Ich schluckte und löste mich endlich aus meiner Starre. »Du bist auf meinem Schiff. Und die bessere Frage ist wohl: Wer bist du und was hast du hier zu suchen?«

»Genau genommen sind das zwei Fragen«, erwiderte er und trat aus dem dämmrigen Dunkel weiter ins Licht, sodass ich endlich sein ganzes Gesicht sehen konnte – und mich am liebsten direkt seinen Flüchen angeschlossen hätte.

Das darf doch nicht wahr sein …

Entgeistert fixierte ich meinen blinden Passagier und ließ vor Schreck das Paddel fallen. Ich musste träumen, denn eine andere Erklärung konnte es ganz einfach nicht dafür geben, dass Raffael Nielsen auf meinem Segelschiff war. Der Raffael Nielsen.

Er schien mich im selben Herzschlag zu erkennen wie ich ihn, denn nur einen Sekundenbruchteil später zog er seine dunklen Brauen zusammen und machte einen holprigen Schritt rückwärts.

»Helena?« Verblüffung und Unglaube schlichen sich in seine Augen, die noch genauso außergewöhnlich waren, wie ich sie in Erinnerung hatte. Das rechte hellgrün, das linke so blau wie der Ozean. Früher hatte sich Raffael dafür geschämt, das wusste ich noch, doch mich hatten seine Augen schon immer fasziniert. Es war mir so leichtgefallen, mich darin zu verlieren. Und selbst jetzt, da er als Überraschungsgast unterm Deck der Möwe stand, spürte ich bereits wieder diesen Sog.

Hastig riss ich mich von seinen markanten Zügen los und verschränkte die Arme. »Ja«, gab ich schließlich zurück. »Die einzig wahre.«

»Verdammt«, nuschelte Raffael erneut und lehnte sich an den kleinen Tisch der Kajüte. »Und wir sind auf einem … Schiff? Das erklärt zumindest dieses ätzende Geschaukel.«

Gegen meinen Willen zuckte einer meiner Mundwinkel nach oben. »Das nennt man Seegang. Ganz üblich draußen auf dem Meer. Wie genau bist du eigentlich hier gelandet?«

»Das wüsste ich auch gern.« Verlegen fuhr sich Raffael durch seine kurzen schwarzbraunen Locken, die davor schon in alle Richtungen abgestanden hatten. Als Kind hatte er sie länger getragen, so wie sein älterer Bruder Liam, aber bei dem Raffael vor mir erinnerte bis auf die Augen ohnehin nichts mehr an den schlaksigen Teenager von vor fünf Jahren. Er war groß, ein bisschen zu groß für die Möwe, sodass er sich regelmäßig den Kopf anstieß. Breite Schultern und straffe Muskeln zeichneten sich unter seinem dunklen T-Shirt ab …

Himmel!

Ruckartig schaute ich wieder auf und biss mir auf die Unterlippe, als mir bewusst wurde, dass ich Raffael Nielsen gerade angestarrt hatte. Noch im selben Moment stieg mir eine verräterische Hitze in die Wangen und ich verfluchte meinen hellen Teint, der jeden noch so kleinen Anflug von Röte sofort verriet. Ganz im Gegensatz zu Raffaels, bei dem man immer meinen könnte, er hätte die letzten sechs Monate in der Südsee verbracht. Selbst im tiefsten Winter. Den leicht südländischen Einschlag hatte er von seinem Vater Sasha geerbt, der puerto-ricanische Wurzeln gehabt hatte.

Mein Blick fiel an Raffael vorbei auf die dunkle Kapuzenjacke, die auf dem Boden lag und ihm offensichtlich als Kopfkissen gedient hatte. Diese Jacke … irgendetwas daran kam mir seltsam vertraut vor. Die bunten Kapuzenbänder! Ich hatte sie schon einmal gesehen. Gestern Abend. Auf dem Parkplatz. Bedeutete das etwa …? War Raffael der Fremde vor der Hafenkneipe gewesen?

Ohne dass ich etwas dagegen hätte tun können, rauschte die Erinnerung noch einmal durch mich hindurch.

Bist du verletzt?

Ja, und das schon sehr lange.

Raffael räusperte sich vernehmlich. »Sorry.« Seine Stimme war rau und klang so erschöpft, wie er aussah. »Ich meine, dass ich hier so reingeplatzt bin und nicht einmal mehr weiß, warum.«

Konnte er sich nicht an unsere Begegnung auf dem Parkplatz erinnern? An die Dinge, die er gesagt hatte? Den Zusammenstoß?

»Ach was, ich habe nur nicht damit gerechnet«, beeilte ich mich zu sagen und winkte möglichst lässig ab. So lässig, wie man eben sein konnte, wenn der Typ, in den man seit frühester Kindheit bis über beide Ohren verliebt gewesen war und der einem dann mit seinem Verschwinden das Herz aus der Brust gerissen hatte, plötzlich wieder vor einem stand. »Es ist einfach … ziemlich lange her.«

»Ja, das ist es.«

Eine kleinere Welle schlug gegen den Rumpf der Möwe, was sie in eine schwache Krängung versetzte und Raffael leise stöhnen ließ.

Ich hob eine Braue. »Wirst du seekrank?«

»Ich denke, das liegt mehr an der vergangenen Nacht als an dem Wellengang.«

Ein schiefes Lächeln zupfte an meinen Lippen. »Seegang. Komm mit raus, da ist es leichter.«

»Bist du sicher?«

»Ziemlich sicher. Kleine dunkle Räume verstärken das Schaukeln, aber wenn du draußen an der frischen Luft bist und den Horizont im Auge behältst …« Ich verstummte, als ich den intensiven Blick bemerkte, mit dem er mich bedachte. Nun war es definitiv Raffael, der mich anstarrte. Vermutlich, weil meine langen Haare hoffnungslos vom Wind verstrubbelt waren, mein Gesicht sowohl von dieser unerwarteten Begegnung als auch von dem Adrenalin des Segelns glühte und ich in meinen lockersten Klamotten vor ihm stand.

Und das macht dir etwas aus, jetzt, da Raffael dich darin sieht?

Ach, sei doch still, fuhr ich meine innere Stimme an, die sich stets zu den unpassendsten Momenten meldete, und deutete stattdessen hinter mich. »Vertrau mir, draußen wird es besser.« Dann schnappte ich mir das Paddel vom Boden und lief zurück aufs Achterdeck. Oder eher: flüchtete.

Mein Puls ging unnatürlich schnell und ich fragte mich, wie es sein konnte, dass Raffael nach all der Zeit noch immer diese Wirkung auf mich hatte. Klar, ich hatte lange – und ziemlich intensiv – für den besten Freund meines großen Bruders geschwärmt. Beinahe unser ganzes Leben lang hatten wir einander umkreist, fast jede Sekunde zusammen verbracht. Als Kinder, als Jugendliche, als Freunde und irgendwann als … etwas anderes. Doch das war fünf Jahre her. Fünf Jahre! Und sein Abgang war sozusagen wie ein Kübel Eiswasser gewesen, der mein Herz gefroren und dann in unzählige Splitter zerbrochen hatte. Außerdem war es ja nicht so, als wären da nicht andere Jungs in den letzten Jahren gewesen. Aber die Sache mit Raffael …

Bevor ich diese Gedanken noch weiter vertiefen konnte, machte ich mich daran, die Möwe wieder in den Wind zu bekommen. Vielleicht würde mich das Segeln endlich von dem Kribbeln in meiner Magengegend ablenken.

»Wow, wir sind ja wirklich mitten auf dem Meer.« Raffael trat blinzelnd aus der Kajüte und hielt eine Hand gegen die Sonne.

»Nur etwa acht Seemeilen von der Küste entfernt. Nordwestlich«, gab ich zurück und löste die Leinen, die ich zur Fixierung des Segels genutzt hatte. Mit Raffaels Blick im Nacken fiel mir das ungewohnt schwer – mehr, als ich zuzugeben bereit gewesen wäre.

»Du hast mittlerweile also tatsächlich dein eigenes Segelschiff.«

Ich sah über die Schulter hinweg zu ihm, das raue Tau weiterhin zwischen den Fingern. »Mein Vater und ich haben die Möwe vor ein paar Jahren gemeinsam gebaut.«

Raffael nickte langsam und trat an die Reling. Der Wind erfasste seine dunkle Kleidung sowie die kurzen Locken und vertrieb einen Teil der Schatten aus seinen Zügen. »Sie ist sehr schön geworden.«

»Danke«, gab ich leise zurück und konzentrierte mich wieder auf das Fieren, damit der Wind die Segel blähen konnte.

Ein paar Sekunden lang wurde es still zwischen uns. Raffael blieb reglos an der Reling stehen, während die Möwe langsam an Fahrt aufnahm und ich uns wieder Richtung Festland steuerte.

»Darf ich nach vorne laufen?«, fragte Raffael dann und legte den Kopf leicht schief, wobei das Licht die helleren Sprenkel in seinen Augen aufleuchten ließ. Keine Frage, Raffael Nielsen war ein schöner Mann. Ein verdammt schöner Mann.

Du weißt noch nicht mal, warum er überhaupt hier ist. Oder weshalb er sich heute Nacht so sehr die Kante gegeben hat, dass er mit einem derartigen Filmriss auf deinem Schiff gelandet ist. Definitiv nicht der richtige Zeitpunkt für alte Schwärmereien.

Ich schluckte trocken. »Klar, ich gebe dir Bescheid, wenn ich das Segel auf die andere Seite führe.« Verwirrung schlich sich auf seine Züge und ich erinnerte mich wieder daran, dass er sich ähnlich wie Till nie groß für den Segelsport interessiert hatte. Also fügte ich an: »Beim Segeln fährt man verschiedene Manöver. Wenden, Halsen … Durch die meisten gewinnt oder verringert man die Geschwindigkeit, indem das Vorsegel von der einen auf die andere Seite gebracht wird. Dabei lässt man die Leinen kontrolliert los, sodass der Baum, also der Balken da vorne, rüberschwingt. Wenn man nicht aufpasst und den an den Kopf bekommt … Na ja, deswegen die Kommandos.«

Zu meiner Überraschung breitete sich ein kleines Lächeln auf seinen Zügen aus. Ein Lächeln, das sich unwillkürlich auch auf meine Lippen übertrug und ein warmes Gefühl in meinen Bauch trieb.

Meine Güte, noch genauso machtlos gegen ihn wie früher.

»Okay, schon verstanden. Auf den Baum aufpassen.«

»Unbedingt.«

Erstaunlich leichtfüßig lief Raffael an der Reling entlang zum Bug und hielt sich dort an der Vorstag fest. In diesem Moment, dort vorne auf meinem Schiff, wirkte er beinahe unwirklich. Hätte mir heute Morgen jemand gesagt, dass Raffael Nielsen später an der Spitze meiner Möwe stehen würde, während ich uns zurück in den Hafen brachte … Gegen meinen Willen sprudelte ein lautes Lachen aus mir heraus. In dem vielleicht eine Spur Hysterie lag. Verrückt, absolut verrückt. Glücklicherweise verschluckte der Wind das erste Anzeichen dafür, dass ich auf dem besten Wege war, vollends den Verstand zu verlieren.

Kopfschüttelnd löste ich den Knoten, der die Leine an der Winsch hielt, und rief dann: »Klar zur Halse!«

Raffael fuhr zu mir herum. »Was?«

»Achtung, Baum!«, erklärte ich – wieder mit einem Lachen –, woraufhin sich Raffael mit einem filmreifen Sprung aus der Reichweite des Balkens rettete, an dem das bewegliche Vorsegel hing.

»Jetzt verstehe ich«, meinte er, als er zurück zu mir kam und sich ein paar windverwirbelte Strähnen aus der Stirn strich. »Das Ding ist gemeingefährlich.«

»Nur wenn man es aus den Augen verliert. Der Baum braucht eben seine Aufmerksamkeit.«

Ein kleines Schmunzeln umspielte seine Lippen, kaum ein solches zu nennen und dennoch … machte es irgendetwas mit mir.

»Bei dir sieht das ziemlich einfach aus.« Stirnrunzelnd nickte er auf meine Finger.

»Übungssache.« Ich zuckte mit den Schultern und räusperte mich, als würde dadurch das vertraute Flattern aus meinem Bauch verschwinden. Was es natürlich nicht tat. »Irgendwann muss man gar nicht mehr darüber nachdenken.«

Raffael setzte sich auf die andere Seite und stützte die Ellenbogen auf die Knie. »Dann ist es das, was du jetzt machst? Segeln?«

»Schön wär’s. Segeln ist immer noch mein Hobby. Ich mache in unserer Werft eine Ausbildung zur Schiffsbauerin. Zum Glück versteht mein Vater meine Leidenschaft für morgendliche Törns, sodass ich oft vor der Arbeit rausfahren kann.« In dieser Hinsicht hatte ich wirklich einen großen Papa-Bonus. »Was ist mit dir?«

Als hätte meine Frage einen unsichtbaren Schalter in ihm umgelegt, verschwand das Strahlen, das der Wind und das Meer in seine Augen gebracht hatten. »Ich habe Architektur studiert und arbeite jetzt bei meinem Onkel.«

Ein ungutes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus. »Bist du deswegen hier? Unsere Werft hat einen Auftrag für das neue Hotel bekommen. Allerdings dachte ich, dass wir mit Paul zusammenarbeit–«

»Ja«, fuhr er mir harsch ins Wort und die Kälte, die in dieser einen Silbe lag, ließ mich zusammenzucken.

»Es … tut mir leid«, murmelte ich. Vermutlich hätte ich gar nicht erst mit diesem Thema anfangen sollen, denn seiner Miene nach zu urteilen, war ich nicht nur ins Fettnäpfchen getreten, sondern direkt hineingesprungen.

Raffaels Blick traf meinen. »Das ist alles, was sie immer wieder sagen, nicht wahr?«

Perplex öffnete ich den Mund und starrte ihn an. »Ich … Also ja, wenn ich dir mit meiner Frage zu nahe getreten bin, dann tut es mir leid