Mondschein - J.D. David - E-Book

Mondschein E-Book

J.D. David

0,0

Beschreibung

Als die junge Waise Lora in den Straßen ihrer Heimatstadt einen Jungen rettet, ahnt sie noch nicht, dass dies ihr Schicksal für immer verändern soll. Denn der Gerettete stellt sich als der junge König des Reiches Valorien heraus, und Lora wird in eine Welt von Macht, Krieg, und Intrigen hineingezogen. Während das Königreich noch immer unter den Folgen des letzten Krieges leidet, ist es innerlich zerrissen. Ehrgeizige Adelige ringen um Macht, wilde Horden gefährden den Frieden, und der junge König kann sich nur auf wenige loyale Ritter verlassen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 937

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



J.D. David

Mondschein

Legenden von Valorien

Mondschein

Impressum

© 2016 J.D. David

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7418-3739-5

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Prolog  755 St. Gilbert

König Thanhold von Valorien stand auf dem Wehrgang von Burg Eisentor. Sein Blick war gen Süden gewandt. Die Arbeiten des Feindes waren bald abgeschlossen. Überall waren die Soldaten in den rot-weißen Farben Kargats zu sehen. Bogenschützen, Speerträger, und insbesondere die gefürchteten kargatianischen Schwertkämpfer, mit ihren starken Rüstungen und großen Schilden. Insgesamt maß die Streitkraft des Feindes über fünftausend Mann, angeführt von des Königs Sohn, Kronprinz Beorn. Doch weniger waren es die Männer des Feindes, die dem König Sorgen bereiteten. Es waren die Belagerungswaffen, die am gesamten feindlichen Ufer aufgestellt waren. Der Feind hatte schwere Triboke aufgebaut, die die starken Mauern der Burg Eisentor brechen sollten. Und bald würden sie so weit sein. Bald würde der Angriff starten, und die Hölle über die tapferen Männer Valoriens hereinbrechen.

Burg Eisentor war die erste und wichtigste Verteidigungslinie Valoriens. Sie war das Tor zu dem Land König Thanholds. Würde sie fallen, dann war der Weg durch die weiten Ebenen Valoriens offen, über die vielen kleinen Gehöfte und Dörfer bis zur Hauptstadt Elorath. Die mächtigen Mauern der Feste waren bis zu fünfzehn Schritt hoch und ragten direkt aus den Fluten des großen Flusses Calas. Die Front der Burg wurde von vier Türmen geziert, Mächtige an den Ecken der Burg und zwei weitere die das Tor umschlossen. Das Tor selbst war gut acht Schritt breit und komplett aus Stahl. Von außen war es mit dem Wappen Valoriens geziert, in der Mitte ein nach unten zeigendes Schwert, das oben, rechts und links von drei Sternen umrandet war, die für die drei Herzogtümer standen. Auch auf den Zinnen der Feste waren die blauen Banner mit den silbernen Zeichen zu sehen, die seit jeher die Könige Valoriens zierten.

Nachdem man das stählerne Tor der Burg passiert hatte, endete das Königreich Valorien. Und dort lag die Brücke, die die beiden verfeindeten Reiche Valorien und Kargat trennte. Oft hatten beide Seiten versucht die Brücke zu zerstören, aber nichts konnte dem Bauwerk aus den Zeiten des Alten Reiches etwas anhaben. Sieben Pfeiler aus Marmor stützten die gut gepflasterte Straße, die über die Brücke verlief. Ebenso wie das Tor der Burg Eisentor war auch die Brücke gut acht Schritt breit. Auf der anderen Seite des Flusses endete die Brücke lediglich in einer befestigten Toranlage mit zwei Türmen, die weit weniger mächtig war als die valorische Grenzburg, doch Kargat konnte durch seine überlegene Mannesstärke eine Invasion aus Valorien stets aufhalten. Viele Legenden rankten sich um diese Brücke sowie die zweite, kleinere Brücke, die weiter östlich die beiden Reiche verband. Man erzählte über Zauberei des Alten Reiches, über die Baukunst der Altvorderen und weiteres, das erklären konnte, wieso die beiden Brücken nicht zerstört werden konnten. Zumindest mit keiner Macht, die in Valorien oder Kargat bekannt war.

König Thanhold drehte sich um und sah seinen engsten Getreuen in die Augen. Dort waren die beiden Herzöge Sylvius von Tandor und Helmbrecht von Rethas. Ersterer wirkte deutlich jünger als er war, denn die Kraft strotzte aus seinem entschlossenen Blick und den noch vollkommen schwarzen Haaren, trotz seiner über vierzig Jahre. Helmbrecht dagegen war schon grau, und nur an dem ordentlich gestutzten Vollbart erkannte man die einst rötliche Färbung der Haare. Neben beiden standen die Freiherren Heinrich von Goldheim und Victor von Andtweil, Ritter Roland von Corben und natürlich sein engster Untergebener, Freiherr Geron von Dämmertan, den Thanhold selbst einst in Knappschaft genommen und bis zum Ritterschlag begleitet hatte. Alle sechs waren Ritter Valoriens, die anerkanntesten und edelsten Krieger des Reiches. Seit jeher gab es höchstens zehn Ritter, jeder hatte einen Platz im Rittersaal der Kronburg in Elorath. Den Rittern stand nur noch der König vor, als elfter dieses erlesenen Kreises. Thanhold wusste die östliche Brücke von drei weiteren Rittern unter der Führung des Freiherrn Arthur von Freital bewacht und somit sicher. Der Letzte der Zehn, der Herzog von Fendron, war auf dem Weg um die Streitkräfte der Burg Eisentor zu verstärken. Doch noch war er nicht eingetroffen, was dem König große Sorgen machte.

„Geron, haben wir schon Neuigkeiten von Herzog Richard von Fendron gehört? Wird er bald eintreffen?“, fragte er seinen langjährigen Freund und Untergebenen.

„Nein, Königliche Majestät, haben wir leider nicht“, antwortete dieser in seinem gewohnt zackigen und militärischen Ton. Der König nickte nachdenklich. Er schaute wieder über die Mauer hinweg. Die feindlichen Truppen sammelten sich bereits. Es würde nicht mehr lange dauern, und der Angriff würde beginnen. Vielleicht sogar noch heute, spätestens morgen im ersten Licht der Sonne.

„Majestät, Ihr müsst eine Entscheidung treffen. Vielleicht noch einige Stunden, dann wird der Feind angreifen. Wir wissen nicht, wie lange unsere Mauern gegen diese Belagerungsmaschinen standhalten werden. Ihr müsst entscheiden, wie wir nun vorgehen. Wir können uns nicht mehr auf Herzog Richard verlassen. Wir müssen den Männern, die wir hier haben, vertrauen“, rief Freiherr von Goldheim den König aus seinen Gedanken. Dieser wandte seinen Blick wieder in den eigenen Burghof, wo die Soldaten Valoriens alles auf den nahenden Sturm vorbereiteten. Das Tor wurde noch weiter verstärkt, Pfeile auf den Wehrgängen platziert, und die Soldaten bereiteten sich vor, rüsteten sich, schliffen ihre Waffen. Es fehlte den Männern von Valorien nicht an Entschlossenheit, aber König Thanhold sorgte sich um die Anzahl. Fünftausend Feinden mit schweren Belagerungsmaschinen standen nur etwa eintausend Verteidiger entgegen. Und wenn die Angreifer genug Zeit hatten, würden sie die gesamte Burg in Schutt legen, bevor sie diese dann stürmten.

Thanhold richtete seinen Blick zu seinen Rittern: „Wir können hier nicht tatenlos verharren. Wir können nicht warten, bis die Triboke der Kargatianer unsere stolze Burg zerschmettern und unsere Männer abschlachten. Wir können nicht darauf warten, dass sie das Tor nach Valorien öffnen. Du hast Recht, Heinrich, wir können nicht mehr auf Herzog Richard warten. Er könnte morgen eintreffen, er könnte aber auch erst in einigen Tagen, Wochen eintreffen, wenn alles bereits zu spät ist. Geron, wie viele Reiter können wir aufbringen.“

„Vierhundert der Männer können wir bestimmt auf Pferde setzten, vielleicht fünfhundert. Seit die Truppen aus Tandor angekommen sind, haben wir einen guten Nachschub an Pferden.“

Der König nickte zufrieden.

„Gut. Helmbrecht, du bleibst hier und ordnest alle Männer, die nicht mit uns reiten. Bereite dich darauf vor die Burg solange wie möglich zu halten, sollten wir nicht erfolgreich sein“, befahl der König dem schon alten Herzog von Rethas, der mit ernstem Blick den Befehl mit einem „Jawohl, mein König!“, bestätigte.

„Alle anderen Ritter reiten mit mir. Wir werden mal sehen, ob dieser Sohn einer Hure einen Angriff der valorischen Reiter erwartet. Also, meine Ritter. Auf, auf, die Altvorderen blicken an diesem Tag auf uns.“ Der König zog sein Schwert und reckte es in die Luft. Wie in einer Bewegung zogen die Anwesenden sechs Ritter ihre Schwerter. Es handelte sich hier nicht um normale Schwerter. Sie waren nicht nur von edelstem Material, sondern offensichtlich auch meisterlich geschmiedet, das konnte sogar ein Laie erkennen.

„Treu und Ehr!“ rief der König.

„Valorien!“, stimmten die sechs Ritter ein und drehten sich fort, um ihre Aufgaben zu erfüllen.

„Prinzliche Majestät, unsere Truppen sind, wie Ihr befohlen habt, bereit zum Angriff auf das Eisentor. Auch unsere Artillerie ist jetzt bereit, die Mauern der Burg unter Beschuss zu nehmen. Wir warten nur noch auf Euren Befehl. Sollen wir noch heute Nachmittag den Angriff starten? Oder wünscht Ihr erst im Morgengrauen anzugreifen?“, fragte General Taskor Graufels den Oberbefehlshaber der kargatianischen Truppen vor der Burg Eisentor. Er schaute hoch zu dem Prinzen. Der Erbe der Königswürde Kargats war ein stattlicher Mann, der viele seiner Diener überragte. Sein Leib war durch viele Jahre des Kampfes gestählt und zwei kleine Narben zierten sein Gesicht, verliehen ihm eine herausragende Stärke. Diese wurde von den kurzen schwarzen Haaren und dem dunklen Dreitagebart untermauert.

Kronprinz Beorn erhob sich aus seinem Thron, der im Heerführerzelt des kargatianischen Heerlagers stand. Der Thron war recht einfach, aus Holz gefertigt mit hohen Armstützen. Auf der Rückenlehne, über dem Kopf des Kronprinzen, war das Wappen Kargats eingearbeitet. Auf einem viergeteilten rot-weißen Hintergrund war mittig eine Krone zu sehen, zusätzlich war im oberen Teil links auf rotem Grund ein weißer Stern und rechts auf weißem Grund ein roter Stern abgebildet. Der Sitz war mit den Fellen verschiedener Tiere gepolstert.

„Gut, General. Ich wünsche noch heute anzugreifen. Sie dürfen heute Nacht nicht mehr ruhig schlafen. Befiehl den Männern Aufstellung zu nehmen, die Triboke sollen auf meinen Feuerbefehle warten. Lass mein Pferd satteln, und meine Leibgarde soll sich bereit machen, ich werde die Schlacht selbst anführen.“

Der General salutierte kurz und zackig. „Jawohl, mein Herr. Wir sind in einer Stunde angriffsbereit.“

Taskor fluchte innerlich. Er hielt es für keine besonders gute Idee, bereits heute Nachmittag anzugreifen. Natürlich, wenn man noch länger wartete war es möglich, dass Valorien noch Verstärkungen erhalten würde. Aber der Nachmittag war einfach zu kurz, um einen solch massiven Angriff sinnvoll zu starten. In seinen Gedanken versunken wollte General Taskor gerade das Zelt verlassen als der Eingang aufgeschlagen wurde und ein Bote, der offensichtlich sehr in Eile war, hereingeplatzt kam. Sofort verbeugte er sich ehrfurchtsvoll, als er vor dem General stand und den Kronprinzen im hinteren Teil des Saales sah.

„Was willst du?“ fuhr der General den Boten an. Dieser musste erstmal Luft holen, bevor er antworten konnte.

„Prinzliche Majestät, Euer Gnaden, das Eisentor... Es hat sich geöffnet. Und König Thanhold... Er... Er... Er greift uns an.“, keuchte er.

General Taskor schaute schockiert zu Kronprinz Beorn, der sowohl ihn als auch den Boten mit einem bösen Blick bedachte. Der Kronprinz hatte mit vielem gerechnet, mit der Verteidigungsstärke der Valoren, mit ihrer Durchhaltestärke, mit der Härte der Mauern oder des berühmten Tores, aber niemals, niemals hätte er mit einem Angriff gerechnet. Waren ihre Truppen nicht deutlich überlegen? Waren sie nicht die Angreifer? Was dachte sich dieser König Thanhold nur? Was passierte hier?

„General, sofort, alle Mann sollen Aufstellung nehmen. Meine Leibgarde zu den Pferden. Wir werden den valorischen Schweinen zeigen, wo sie ihr Hochmut hinführt.“

Wütend stampfte Beorn aus dem Zelt, dicht gefolgt von General Taskor.

Geron von Dämmertan blickte über die Schulter hinweg über die Männer, die hinter ihnen waren. Sie hatten es wirklich geschafft, gut fünfhundert Reiter zu stellen. Er blickte in entschlossene Gesichter. Alle waren sich der Verantwortung bewusst, die jeder hier gegenüber ihrem Reich und Heimat Valorien hatte. Jeder wusste, dass einige den Abend nicht mehr erleben würden. Doch alle waren bereit, hier an diesem Tage hinter König Thanhold zu reiten. Geron wendete seinen Blick wieder nach vorne. Dort schwangen gerade die beiden schweren Flügel des Eisentors auf und gaben den Blick auf die Brücke über den Calas preis. Auf der anderen Seite war ein Meer aus rot-weiß zu sehen. Doch der Ritter erkannte, dass der Feind auf einen Angriff nicht vorbereitet war. Dieses Überraschungsmoment war es, auf den der waghalsige Plan des Königs baute. Oben auf den Mauern stand Helmbrecht von Rethas mit entschlossenem Blick. Er wusste genau, dass sein hohes Alter einen solchen Plan nicht mehr wirklich erlaubte, dennoch war der alte Ritter traurig darüber, nicht mit seinen jungen Gefährten mit reiten zu können. Sollten sie scheitern, so würde er Burg Eisentor halten, und wenn es seinen letzten Tropfen Blut kosten würde.

König Thanhold wandte sich noch einmal an seine treusten Untergebenen, um die Befehle zu bestätigen: „Sylvius, mein alter Gefährte, du nimmst die linke Flanke, Victor, du wirst die Reiter der rechten Flanke befehligen, Heinrich, du befehligst die Nachhut, Roland, Geron, euch möchte ich an meiner Seite wissen. Achtet darauf, dass alle Triboke zerstört werden. Aber haltet euch nicht zu lange auf. Ihr wisst, dass ich auch einige Männer lebend wieder sehen will. Wenn eure Aufgabe erfüllt ist, dann zieht euch in die Mitte zurück, von dort aus werden wir uns gemeinsam wieder nach Burg Eisentor zurückziehen“

Vor den fünf Rittern war nur noch die Leibgarde des Königs mit ihren schwer gepanzerten Pferden und großen Schilden. Auch wenn sie kaum Beschuss durch den Feind erwarteten, war dies wohl doch ein guter Schutz gegen feindliche Bogenschützen. In der Mitte vor dem König vorweg ritt der Hauptmann der Garde mit dem Banner Valoriens.

„Hauptmann, das Banner!“, rief der König laut und der Hauptmann reckte das blau-silberne Banner in die Höhe. König Thanhold drehte sich zu seinen Männern um.

„Tapfere Recken, Krieger, Männer Valoriens. Die Altvorderen blicken an diesem Tage auf uns. Burg Eisentor ist die Pforte in unsere Heimat. Reiter, ihr werdet heute diese Pforte verteidigen. Der Feind wird die Kraft Valoriens spüren. Auf, meine treuen Untertanen, auf zu Ruhm und Glorie. Treu und Ehr.“

„Valorien!“ erschallte es aus so vielen Kehlen, dass die Mauern der Burg erzitterten und selbst der Feind auf der anderen Flussseite dies hören musste. Dann begab sich der Heertross in Bewegung.

Die Brücke erzitterte unter hunderten von Pferdehufen. Maximal fünf Pferde ritten nebeneinander, was das Bild aber nicht weniger eindrucksvoll machte. Ein scheinbar unendlicher Strom aus valorischen Reitern floss auf die Toranlage zu. Das Tor stand weit offen, da die kargatianischen Truppen ihren eigenen Angriff vorbereitet hatten. Entsprechend waren auch die Türme stark unterbesetzt, die Hauptkraft der Armee Kargats befand sich noch im Heereslager hinter dem Tor. Die Verteidiger versuchten gerade noch das Tor zu schließen, um den Sturm aufzuhalten, doch schnell erkannten sie, dass es bereits zu spät war.

Das Tor war noch nicht halb geschlossen, als die ersten Pferde durch die Verteidiger brachen. Obwohl diese noch Speere hochgerissen hatten konnte die schwere Reiterei nicht mehr aufgehalten werden. Wie ein Keil stießen die valorischen Reiter hinter ihrem König in die Kräfte des Feindes. König Thanhold wurde von vorne und hinten von seiner Leibwache abgeschirmt, an den Seiten waren seine Ritter, sodass dieser zu diesem Zeitpunkt noch keinem Feind begegnen musste. Kurz orientierend schaute er sich nach links und rechts um. Das Torhaus war im Prinzip bereits genommen. Seine Reiter, die nach und nach von der Brücke kamen, schlugen den letzten, kleinen Widerstand nieder. Seine Ritter und Anführer waren noch unverletzt, was ihn deutlich beruhigte. Der erste Teil des waghalsigen Angriffs war gelungen. Thanhold sah, wie sich die Hauptmacht des Feindes sammelte und als Front aus rot-weiß auf ihn zukam. Ihr Angriff durfte nicht stoppen.

„Die Flanken ausbrechen!“ befahl er laut und Herzog Sylvius von Tandor und Freiherr Victor von Andtweil führten ihre Truppen in energischem Galopp am Flussufer entlang auf die feindlichen Belagerungsmaschinen zu.

Während die Soldaten aus Kargat noch ziemlich ungeordnet durch das Lager liefen war die gesamte Reiterei Valoriens am Tor angekommen. Dort war der letzte Widerstand endgültig niedergeschlagen worden, einige Überlebende liefen auf der großen Straße, die den kleinen Flussdeich etwas abwärts ins Heerlager führte. Der König wusste, dass sie möglichst schnell den Angriff fortführen mussten, um den Vorteil der Überraschung nicht zu verlieren. Dennoch ließ er seine Truppen sich kurz formieren.

„Auf Männer, für unsere Heimat, schickt die verdammten Kargatianer dorthin zurück, wo sie entsprungen sie. Treu und Ehr!“

Mit einem lauten Ruf „Valorien“ rollte die Reiterei wie eine Welle den Hügel hinunter, auf das Heerlager des Feindes zu. König Thanhold sah sein Ziel, das sich gerade vor dem Zelt des Heerführers sammelte. Von seiner Leibgarde umgeben stand dort unter der rot-weißen Flagge Kargats der Feind, den es zu töten galt. Kronprinz Beorn.

Herzog Sylvius von Tandor durchstieß den Leib des kargatianischen Artilleristen mit seinem Schwert. Die Klinge durchglitt die leichte Rüstung des Soldaten ohne großen Widerstand zu erfahren und drang durch den Brustkorb des jungen Mannes. Röchelnd ging dieser zu Boden und gesellte sich damit zu den anderen kargatianischen Soldaten. Sie hatten bereits den zweiten Tribok erreicht und seine Reiter zerstörten diesen gerade.

„Gut. Auf weiter! Uns stehen noch zwei dieser Maschinen bevor, dann können wir unserem König beistehen“, rief er zu seinen Männern und trieb sie zum nächsten Tribok an.

In Gefechtsformation galoppierten sie auf die nächste der Maschinen zu. Sylvius sah mit besorgter Miene die feindlichen Soldaten, die sich mittlerweile bei dem Tribok gesammelt hatten. Bei den ersten beiden Stellungen war ihnen kaum geordneter Widerstand entgegengetreten, dafür war ihr Vorteil der Überraschung noch zu groß gewesen. Aber der Feind schlief nicht und hatte mittlerweile die Absichten der valorischen Reiter durchschaut. Der Hauptangriff auf das Lager, der vom König geführt war, war hauptsächlich Ablenkung, um von den Flankenangriffen auf die Triboke abzulenken. Die kargatianischen Soldaten am Tribok hatten eine passable Defensivformation aufgebaut. Die etwa einhundert Mann bestanden aus Schwertkämpfern und Speerträgern, die abwechselnd in Formation standen. Eine wirklich harte Nuss, besonders für Kavallerie. Aber sie hatten weder Zeit noch Raum, eine andere Taktik als den Frontalangriff zu wählen. Sylvius atmete tief durch.

„Wir müssen da jetzt durch. Treu und Ehr.“, rief er und seine Männer brüllten ein langgezogenes „Valorien!“ als sie auf den Feind zu galoppierten.

„Verdammt!“ brüllte Beorn, als er auf seinem Pferd sitzend Richtung Tor schaute. Er hatte gerade erfahren, dass es offensichtlich einen Ausfall gab, aber dass sie schon das Tor durchbrochen hatten, das hatte er wirklich nicht erwartet. Er war von Versagern umgeben, soviel war sicher. Also musste er das jetzt selbst in die Hand nehmen. Er trieb sein Pferd an und ritt weiter nach vorne, als der Hauptangriff gerade begann.

„Alle Mann zur Verteidigung vorbereiten. Bildet drei Verteidigungslinien mit Schilden und Speeren. Dahinter alles was wir an Schützen haben.“

Die Offiziere gaben die Befehle so schnell wie möglich weiter. Dennoch war sich Kronprinz Beorn sicher, dass sie den Angriff nicht stoppen konnten. Obwohl sie zahlenmäßig weit überlegen waren, war der Haufen, der sich Armee nannte, viel zu unkoordiniert, um die valorischen Reiter zu stoppen. Von wegen bereit zum Angriff. Taskor würde etwas zu hören kommen, wenn das hier zu Ende war.

„General Taskor, diese Reiter müssen aufgehalten werden.“, brüllte der Kronprinz seinen General an.

„Jawohl Prinzliche Majestät, darf ich auf die Flankenausfälle des Feindes hinweisen?“, antwortete dieser.

„Das ist mir doch egal. Diese Welle muss gestoppt werden, dann holt unsere Infanterie diese Schweine schon von ihren Gäulen. Und General, ich rate dir, meine Erwartungen zu erfüllen, oder ich werde sehr ungehalten. Also, auf! Du koordinierst die Verteidigung von vorne.“, brüllte Beorn zurück und schaute sich an, wie Taskor mit einem Nicken verschwand.

Die von König Thanhold angeführte Reiterei bildete erneut einen Keil, um in das Heerlager des Feindes einzudringen. König Thanhold war sich bewusst, dass seine berittenen Truppen ihren großen Vorteil innerhalb der kleinen Zeltstadt verlieren würden. Also galt es möglichst geschlossen durch den Feind auf den Oberbefehlshaber zuzureiten.

Die ersten Versuche einer Verteidigungslinie wurden recht schnell gesprengt. Um sie herum spürte der König erneut die Anzeichen einer Schlacht. Er hatte schon viele gefochten, und kannte die Bilder und Gerüche nur zu genau. Er hörte die Schreie der Männer, er hörte das Stöhnen der Sterbenden und das Wiehern der Pferde. Er roch den Geruch der Schlacht, die Pferde, den aufgewirbelten Schlamm, den Schweiß und das Blut. Sein Schwert färbte sich langsam rot, als sie die zweite Verteidigungslinie erreichten. Die ersten zwei seiner schwer gepanzerten Gardisten waren bereits gefallen. Obwohl auch weitere Reiter zurückblieben lichteten sich ihre Reihen nicht merklich. Und seine beiden treuen Ritter, Geron und Roland, blieben standhaft an seiner Seite.

Der König blickte nach vorne. Die Linie des Feindes war stärker geworden, der Sturm aus Valorien war vorerst gestoppt worden, doch der Kronprinz war schon deutlich in Sicht. König Thanhold hatte das Gefühl ihm für einen kurzen Moment direkt in die Augen zu schauen. Er sah Unbehagen in den Augen des jungen Heerführers. Aber auch Hochmut und Arroganz. Thanhold würde dem Jungspund schon zeigen, was Krieg bedeutete.

„Geron, ich möchte dort durch. Nimm einige der besten Männer und brich diese verdammte Reihe!“

Geron von Dämmertan ritt aus der vordersten Reihe heraus und winkte einige Männer zu sich, die ihm folgten. Er galoppierte an der Schlachtreihe entlang zwischen die Zelte. Einige herumlaufende Männer mussten das Schwert des Ritters spüren, bevor sie sich wirklich zur Wehr setzten konnten.

„Los Männer, wir müssen die Flanke aufreiben, sodass der König die Reihen durchstoßen kann. Für Valorien! Für den König!“, rief er und griff die linke Flanke des Gegners an.

Sylvius von Tandor riss es unvermittelt aus dem Sattel und er wurde nach vorne geschleudert. Sein Pferd schrie auf und ging zu Boden, nachdem sich ein kargatianischer Speer in dessen Leib gebohrt hatte. So schnell wie es in seiner schweren Rüstung ging, rappelte sich der Herzog wieder auf, orientierte sich und sah sich hinter den feindlichen Reihen. Umgehend war er von mehreren Feinden umgeben.

Sylvius sah, dass die Reiterei die feindlichen Linien an mehreren Stellen durchbrochen hatte und nun die kargatianischen Truppen aufrieb. Aber jetzt musste er sich erstmal seiner eigenen Haut erwehren. Mit einem schnellen Ausfall nach vorne versuchte er aus der ungünstigen Situation zu entfliehen. Ein Schlag des Schildes brachte den nächsten feindlichen Soldaten aus dem Gleichgewicht und er durchbohrte ihn mit seinem Schwert. Gerade wollte er aus der Lücke ausbrechen, als er aus dem Augenwinkel einen nahenden Axthieb sah, den er mit hochgerissenem Schild abwehren konnte. Dennoch warf ihn der Schlag zurück zwischen die kargatianischen Soldaten.

Er spürte einen Schwertschlag auf seine linke Schulter und einen weiteren Schlag an seinen Oberschenkel, der ihn einknicken ließ. So schnell wie er konnte fuhr er herum und schlug einen weiteren Angreifer mit seinem Schild nieder. Er parierte einen weiteren Schwerthieb mit seiner Klinge und versenkte sie, nachdem er den Angreifer ins Leere laufen ließ, in dessen Brust.

Er spürte den nächsten Schlag in seinen Rücken. Schmerz durchzog seinen Körper. Ein Hieb auf seinen Helm raubte ihm endgültig die Orientierung. Er hörte die Schreie der Männer, er hörte seinen eigenen keuchenden Atem. Schmerzvoll spürte er, wie ein Speer einen Weg durch seine Rüstung fand. Sein Schwert entglitt ihm aus seinen Händen. Er sah noch die Klinge der valorischen Ritterschaft zu Boden fallen, dann wurde alles schwarz um ihn.

„Celan“, flüsterte er noch. „Mögest du ein würdiger Erbe sein“.

Dann ging Herzog Sylvius von Tandor das letzte Mal zu Boden.

Kronprinz Beorn sah mit Schaudern, wie die valorische Reiterei der zweiten Verteidigungslinie in die Flanke fiel und diese komplett aufrieb. Langsam wurde er unruhig.

„Meine Leibgarde, schart euch um mich.“, rief er und die schweren Reiter schirmten ihn weiter ab. Nur noch durch eine kleine Lücke konnte er die Vorkommnisse der Schlacht sehen. Kurz erwog er, sich zurück zu ziehen, aber der Befehl seines Vaters war klar gewesen: Durchbrecht das Eisentor, mit allen Mitteln!

Würde er sich jetzt zurückziehen, wäre diese Chance endgültig vertan. Und außerdem konnte es nicht sein, dass ein zahlenmäßig deutlich unterlegener Feind die Hauptmacht der kargatianischen Streitmacht aufrieb. Er würde hier standhaft bleiben, bei seiner Ehre.

Die dritte Verteidigungslinie, die in den Hoffnungen des Kronprinzen eigentlich standhalten sollte, wurde geradezu weggefegt, von der hinter König Thanhold stürmenden Reiterei. Es gab nicht mal viel Gegenwehr. Mit Furcht in den Augen hielten viele der dort stehenden Männer nicht stand, zogen sich zurück, zerstreuten sich. Der größte Fehler, den man bei einer heranstürmenden Kavallerie begehen konnte.

Beorn zog seine Streitaxt aus dem Halfter am Sattel. Er hielt nicht viel von Schwertern. Eine wahre Waffe des Krieges war nun einmal die Axt. Und er würde diesen herannahenden Sturm aus Valorien aufhalten. Hier und jetzt.

„Zum Angriff!“, brüllte er und seine Leibgarde und der Rest der kargatianischen Kavallerie stürmten König Thanhold entgegen.

Geron von Dämmertan schloss nach seinem erfolgreichen Manöver wieder zu seinem König auf. Mit einem ernsten Nicken honorierte dieser den Erfolg, konzentrierte sich dann aber wieder auf den Sturm der dritten Verteidigungslinie.

Sie hatten mittlerweile viele tapfere Krieger verloren, von den einstigen fünfzehn Mann der königlichen Leibwache waren nur noch sechs übrig, Ritter Roland war am Bein verletzt, biss aber die Zähne zusammen. Er war ein wahrer Dickkopf, und solch eine kleine Wunde konnte ihn nicht davon abhalten, die wohl wichtigste Schlacht seines Lebens zu schlagen. Also ritten sie weiter, dem Banner mit dem Schwert und den drei Sternen hinterher auf den Feind in rot-weiß zu.

Der Sturm der Kavallerie Valoriens wurde mit dem Gegenangriff des Kronprinzen Kargats zum Erliegen gebracht. Schnell bildete sich ein Kampf Reiter gegen Reiter heraus. Nach und nach umschloss die kargatianische Infanterie die Reiter, auch wenn es der valorischen Nachhut noch gelang, den Weg zum Rückzug freizuhalten. Von den Reitern von Herzog Sylvius und Freiherr Victor war noch nichts zu sehen, sie schienen noch mit dem Angriff auf die Triboke beschäftigt.

König Thanhold stieß sein Schwert in den Bauch eines Reiters aus Kargat. Er sah noch, wie sich der weiße Teil dessen Wappenrocks rot färbte und der Reiter dann von seinem Pferd kippte. Neben ihm hatten Roland und Geron ebenfalls ihre Feinde getötet.

Der König streckte sein Schwert in den Himmel. Sofort sammelte sich der Rest seiner Leibgarde um ihn, alle unter dem Banner des Königs. Thanhold hatte die gesamte Zeit den jungen Kronprinzen Beorn im Auge. Dann gab er seinem Pferd die Sporen und ritt weiter auf sein Ziel zu. Nur noch wenige Schritte, dann hatte er ihn erreicht. Er sah wie einer seiner Leibgardisten von einem Speer durchstochen vom Pferd fiel. Der Speerträger konnte sich jedoch seines Erfolges kaum erfreuen, da sein Schädel sofort darauf von Gerons Schwert gespalten wurde.

Nur noch fünf Schritte.

Zwischen ihnen befanden sich nur noch einige Leibgardisten des Kronprinzen. Der König drängte weiter nach vorne. Die beiden kargatianischen Reiter wurden von Roland und Geron besiegt. Außer diesen befanden sich nur noch drei Leibgardisten in Thanholds Nähe. Dann war niemand mehr zwischen ihm und dem Kronprinzen.

Mit einem letzten Tritt trieb er sein Pferd bis zu dem Prinzen und hob sein Schwert zum Schlag.

Beorn bereitet sich auf den Angriff vor. Schnell sah er, dass seine Leibgarde die Angreifer nicht für immer aufhalten konnte. Zurückweichen war keine Möglichkeit.

„Gebt Taskor das Zeichen.“, befahl er nach hinten. Dort wurde ein Hornstoß gegeben. Dann sah Beorn den Angriff ankommen. Der Kronprinz erkannte sofort, dass es sich um den König handeln musste. Seine edle Rüstung, sein Aussehen, das war definitiv König Thanhold. Der Kronprinz erkannte die dunkelbraunen Haare, die aus dem Helm ragten, und die gleiche Farbe besaßen wie der Bart, der jedoch von ersten grauen Strähnen durchzogen war. Das Gesicht des Königs wirkte hart, entschlossen, und kampferfahren. Beorn hob sein Schild, das unter dem Schlag des Königs erzitterte. Er erkannte ein böses Funkeln in den braunen Augen seines Feindes. Sofort hob er seine Axt zum Gegenangriff.

Obwohl seine Schläge langsamer waren als die Schwerthiebe seines Gegners, steckte in diesen mehr Kraft. Thanholds Schild erzitterte, als die Axt darauf landete. Die Axt hinterließ eine deutliche Kerbe. Der König lenkte sein Pferd näher an Beorns, um den Geschwindigkeitsvorteil seines Schwertes besser ausnutzen zu können. Er ließ eine Folge von mehreren Hieben auf den Gegner nieder, welche Beorn aber mit seinem Schild abwehren konnte. Aus der Deckung heraus startete der Kronprinz einen Angriff, mit dem Thanhold nicht gerechnet hatte. Die Axt hackte sich an den oberen Rand des Schildes an und zog diesen nach vorne. Thanhold sah mit Schreck noch den Schild seines Feindes, der auf ihn zukam, als er schon getroffen war.

Kurz wurde ihm schwarz vor Augen und er spürte, wie er sein Gleichgewicht und damit seinen sicheren Sitz im Sattel verlor. Mit einem metallischen Klirren schlug er auf der Erde auf.

Geron von Dämmertan war von zwei Soldaten der Leibwache gebunden, als er den König von seinem Pferd fallen sah. Aber er konnte sich nicht schnell aus seinem Kampf lösen. Seine Gegner waren wirklich gute Kämpfer, doch er musste dem König beistehen. Die Sorgen von Dämmertan wurden noch größer, als er sah, wie ein großer Trupp Kargatianer angeführt von einem Reiter in schwarzer Rüstung ihnen den Rückzug versperrte und ihre Nachhut aufrieb. Geron ließ einen Angriff seines Gegners an seinem Schild abgleiten, um sein Schwert dann in dessen Brust zu versenken.

Nur noch einer.

Beorn schwang sich von seinem Pferd. Er wuchtete seine Axt auf seine Schulter und ging langsamen Schrittes auf den König zu, der sich nur langsam vom Boden erhob. Thanhold stütze sich auf sein Schwert, doch noch immer drehte sich alles um ihn. Er unternahm einen weiteren Versuch sich aufzurichten, verlor jedoch wieder sein Gleichgewicht. Er sah Beorn auf sich zu kommen. Jetzt ging es also zu Ende, dachte er, als ihm ein Krieger den Weg versperrte.

Der Kronprinz erkannte in dem humpelnden Gerüsteten einen Ritter Valoriens, zumindest zeigten dies Wappenrock und Schwert. Roland stellte sich schützend vor seinen König, auch wenn er offensichtlich in einem schlechten Zustand war. Seines Pferdes beraubt war die Beinwunde sehr störend. Zudem blutete er aus Wunden am rechten Arm, Bauch und Kopf, nachdem er seinen Helm verloren hatte.

„Du wirst dem König Valoriens kein Stück näher kommen.“, sagte er noch als Beorns Axt auf ihn niederfuhr. Roland wehrte den Hieb mit seinem Schild ab, der in der Mitte gespalten wurde, nachdem mehrere vorherige Schläge diesen schon stark beschädigt hatten. Beorn ließ nicht locker und setzte weiter nach. Roland kam kaum dazu, Gegenwehr zu leisten. Ein seitlicher Hieb, den er zu spät kommen sah, wurde ihm zum Verhängnis. Die Axt grub sich tief in Rolands Rüstung und dieser ging schlussendlich zu Boden.

Der König war mittlerweile wieder auf einem Knie und wollte sich gerade erheben, als sich Beorn vor ihm aufbaute.

„Dann bringt es zu Ende, Kronprinz Beorn.“, sagte Thanhold und blickte mit ernstem Blick seinem Ende entgegen. Beorn ließ mit einem Lächeln die Axt in die Brust des Königs fahren. Die Rüstung barst und die Axt schlug tief in den Brustkorb. Mit einem Husten spuckte Thanhold Blut aus, doch noch hielt er sich auf den Knien. Sein Blick war ungebrochen. Der Kronprinz zog die Axt aus der Brust des Königs und hob diese, um den Kopf des Königs von dessen Leib zu trennen.

Mit Schwung ließ er die Axt niederfahren.

Gerons Schild erzitterte, als die Axt darauf schlug. Eine Platzwunde auf seiner Stirn tränkte sein Gesicht in Blut, was ihm ein wirklich schauriges Aussehen verlieh. Geron von Dämmertan hatte schon vor einiger Zeit eine schlimme Verletzung im Gesicht erlitten, die ihm eine hässliche Narbe gebracht und das halbe linke Ohr gekostet hatte. Mit diesem sowohl furchteinflößenden als auch entschlossenen Blick stieß er sein Schwert in den Bauch seines Feindes.

Beorn war von Gerons Eingreifen völlig überrascht und konnte keine Gegenwehr leisten. Seine Augen weiteten sich und blickten fassungslos in das grausige Gesicht seines nahenden Todes. Kraftlos ging er auf die Knie, als der Ritter sein Schwert aus ihm zog. Kleine Bluttropfen spritzten auf Geron, als er zu einem schnellen Schlag ausholte. Mit einem sauberen Hieb der messerscharfen Klinge beendete der Ritter das Leben des kargatianischen Thronfolgers. Trotz des Lärms der Schlacht vernahm er den dumpfen Ton, als Kopf und Körper getrennt auf den Boden schlugen.

Kurz verharrte der junge Ritter vor der Leiche seines Feindes. War dies nun das Ende dieses Krieges? Doch dann riss ihn das Stöhnen des Königs aus den Gedanken. Er fuhr herum und sank auf die Knie. Um ihn herum hatten sich die letzten Überlebenden der Leibgarde und weitere Reiter vorgekämpft, die ihn und König Thanhold schützend umgaben.

„Majestät.“, sagte Geron leise, erkannte aber, das es schlecht um seinen Rittervater stand, der ihm so viel in seinem Leben mitgegeben hatte. Hatte er als Ritter versagt? Seinem Schwur zu entsprechen, seinen König zu schützen? Noch nicht. Noch lebte er. Geron hob seinen ehemaligen Rittervater, den König Valoriens, auf sein eigenes Pferd. Mit einem weiteren Griff schnappte er des Königs Banner, das nicht weit von ihnen auf dem Boden lag. Dann schwang sich Geron in den Sattel und reckte das Banner Valoriens in die Luft. Obwohl er sah, dass ihre Hauptmacht umzingelt war, keimte Hoffnung in ihm, hier noch heraus zu kommen. Er erkannte von beiden Flügeln den Rest der Reiterei heranstürmen. Die größere Kraft wurde von Victor von Andtweil angeführt, von Sylvius von Tandor war nichts zu sehen.

„Rückzug!“ rief Geron laut über die Reihen. „Rückzug nach Burg Eisentor!“ brüllte er und ritt in vollem Galopp Richtung Tor und Brücke zurück. Erleichtert sah er, wie die Reihen des Feindes von den herannahenden valorischen Reitern auseinandergetrieben wurden. Er durchbrach die Reihen und ritt Richtung Tor. Dann über die Brücke. Ihm folgte der Rest der valorischen Reiterei, auch wenn es leider erschreckend wenig war. Aber das kümmerte den Ritter nicht mehr. Es ging jetzt nur noch darum, das Leben des Königs zu retten. Er trieb sein Pferd, das über die Brücke rannte, das Banner flog in der Luft. In vollem Galopp passierte er das Eisentor.

„Holt einen Heiler herbei. Der König braucht Hilfe.“, brüllte er, als er das Tor passierte. Im Hof angekommen hob er den König vom Pferd und legte ihn auf den Boden. Sofort eilten einige Soldaten und schnell auch der angeforderte Heiler herbei. Dieser sah den König an, fühlte dessen Puls und schaute dann den daneben knienden Ritter von Dämmertan mit ernstem Blick an. Der Heiler schüttelte mit dem Kopf.

„Er ist schon auf dem Weg, ich kann nicht mehr helfen.“ Geron beugte sich zum König herunter, dessen Lippen zitterten, als wollte er etwas sagen. Er hielt sein Ohr an den Mund des Königs.

„Geron, alter Freund.“, stammelte dieser leise. „Bitte, bitte kümmere dich um meinen Sohn. Erziehe ihn zu einem Ritter, wie du einer geworden bist. Treu und Ehr, mein Freund.“

Dann seufzte er und gab seinen letzten Lebenshauch von sich.

„Valorien“, sagte Geron leise und blickte in das Gesicht seines gefallenen Königs. Erleichterung war dessen Blick zu sehen, denn er wusste, dass der edelste und beste Ritter Valoriens sich um seinen Sohn kümmern würde.

Rot und golden war das Sonnenlicht, als die Sonne sich langsam über den Horizont erhob. Der Himmel war klar, nur vereinzelte Wolken wurden von dem Licht des neuen Morgen rötlich gefärbt. Ein einsames Pferd ritt auf die Kronburg in Elorath zu. Ein neuer Morgen war angebrochen, ein neuer Tag, aber auch eine neue Zeit. Eine neue Zeit für Valorien.

Das blau-silberne Banner Valoriens wehte über dem einzelnen Reiter, der sich der Kronburg in Elorath näherte. Dem Ritter Valoriens, der das Wappen des Königs trug, wurde ohne weitere Nachfragen das Tor geöffnet. Die Nachricht der Ankunft des Herrn von Dämmertan hatte sich schon herumgesprochen, bevor er das Burgtor passierte. Im Hof der Burg warteten schon viele Menschen - Soldaten, Hofdamen, Bedienstete und natürlich in der Mitte die Königin, Margeth, mit ihren schier unendlich langen, hellbraunen Haaren. An der Hand hielt sie einen etwa dreijährigen Jungen. Geron schwang sich aus dem Sattel und ging auf die beiden zu. Er sank auf die Knie und senkte das Banner.

„Erheb dich, Geron, und berichte!“, sagte die Königin. Geron schaute der Königin ernst ins Gesicht und erhob dann seine Stimme.

„Thanhold II. von Valorien ist glorreich in der Schlacht zur Verteidigung unserer Heimat gefallen. Ich schwöre Treue dem neuen König Valoriens, Priovan I. von Valorien.“

Teil 1:

Die Knappin

764

Kapitel 1

Die hellen Strahlen der sommerlichen Mittagssonne wärmten die leicht gebräunte Haut des Mädchens, das an der Kaimauer des Hafens von Tjemin saß und seine Füße leicht im Wasser der Gronde baumeln ließ. Ihre Schuhe, ziemlich abgewetzte und zerrissene braune Lederstiefel, standen neben ihr auf der Mauer. Auch ihre sonstige Kleidung zeigte, dass sie zur armen Bevölkerung der Hauptstadt des Herzogtums Fendron gehörte. Eine bis zu den Waden reichende, einstmals helle Hose wurde von einer, ihr deutlich zu großen, dunkelroten Tunika überdeckt. Das Ganze wurde von einem schwarzen Ledergürtel zusammengehalten. Im Sommer war diese Kleidung angenehm kühl, für den Winter musste sich das Mädchen jedes Mal aufs Neues etwas ausdenken. Den Kopf hatte sie leicht in den Nacken gelegt. Ihr dunkelblondes, etwa schulterlanges Haar war als Zopf zusammengebunden, darauf trug sie zum Schutz gegen die pralle Sonne einen alten Schlapphut, der mit einer Gänsefeder verziert war. Die etwa Vierzehnjährige sah wirklich wie jemand aus, die einfach so in jeden Tag hinein lebte.

Das bunte Treiben des Hafens war dem Mädchen mehr als bekannt. Sie lebte nun schon mehrere Jahre in der großen Stadt, in der Waisenkinder auf der Straße noch die besten Chancen hatten, irgendwie durchzukommen. Tjemin war immerhin die drittgrößte Stadt des Reiches. Auf dem Land oder in kleineren Städten wäre das Mädchen wohl nicht so lange durchgekommen, doch hier in der Stadt gab es immer wieder reiche Kaufleute, großzügige Händler oder andere barmherzige Personen, die das Überleben von Menschen wie ihr sicherten. Und alles in allem war das ihre auch gar nicht so schlecht.

Sie schloss die Augen und ließ alle Sinneseindrücke auf sich wirken. Eine leichte Brise strich ihr durch die Haare und über das Gesicht und gewährte so eine angenehme Kühlung von der warmen Sonne. Sie nahm die Düfte des Hafens auf, wenn man den von Fisch dominierten Gestank Duft nennen konnte. Sie hörte das hektische Treiben, die Schiffe, die entladen wurden, Lasten, die umher getragen wurden und auch Händler, die ihre Waren anpriesen.

Sie hielt sich gerne im Hafen auf. Hier war immer etwas los, und durch die anliegenden Lagerhallen und Kontore war auch nicht nur die arme Bevölkerung hier anwesend, wie es zum Beispiel im Gerberviertel der Fall war.

Das Mädchen zog die Füße aus dem Wasser und stand auf. Sie zog ihre Schuhe wieder an und streckte sich kurz. Genug ausgeruht, dachte sie, denn langsam beschlich sie der Hunger. Also musste sie etwas zu essen besorgen. Sie wusste, dass es bei der Bäckerei des alten Xavers eigentlich immer ein bisschen altbackenes Brot gab, das dieser auch gerne an die gab, die es brauchten. Der alte Mann war eine wirklich gutmütige Seele, fast jedes Kind auf der Straße kannte und mochte ihn. Dazu hatte das Mädchen noch ein bisschen getrocknete Wurst vom Vortag, was das Ganze zu einer alles in allem guten Mahlzeit machte. Also lief sie los durch den Hafen, um dann in eine der vielen kleinen Gassen des Viertels einzubiegen.

Finn lief so schnell wie er konnte, auch wenn er in den vielen kleinen Gassen des hinteren Hafenviertels schon längst die Orientierung verloren hatte. Tjemin war wirklich ein heißes Pflaster, besonders wenn man sich von den großen Plätzen und Straßen entfernte, so musste er gerade schmerzhaft feststellen. Dass er selbst in solchen Ärger kommen würde, damit hatte der Zwölfjährige wirklich nicht gerechnet. Er hätte wohl hören und nicht nur seinem eigenen Willen nachgehen sollen. Aber dafür war es jetzt wirklich zu spät. Er sah kurz über die Schulter und sah seine Verfolger um die Ecke biegen. Vor ihm tat sich schon wieder eine Kreuzung auf. Links, Rechts oder geradeaus? Es war eigentlich völlig egal, er wusste sowieso nicht, was das Beste war. Ohne weiter nachzudenken bog er rechts ab. Er musste einfach nur möglichst viele Haken schlagen und hinter Ecken verschwinden. Dann würde er seine Verfolger schon irgendwie abhängen, wie ein Hase einen Fuchs, der ihn jagte. Finn lief weiter.

Das Mädchen kaute genüsslich an einem nicht allzu kleinen Stück Brot. Xaver war wirklich gut drauf gewesen, was bei so einem Wetter auch kein Wunder war. Sie war gerade wieder auf dem Weg zum Hafen als hinter einer Ecke ein Junge hervorgeschossen kam. Wortlos lief er an dem Mädchen vorbei ohne sie wirklich zu bemerken und bog in wenigen Schritten die nächste Abbiegung nach links. Das Mädchen zog sich sofort in einen Hauseingang zurück, um nicht gesehen zu werden. Wenn jemand so durch die Gassen raste, dann konnte das nur Ärger bedeuten. Und das war bestimmt Ärger, in den sie nicht hereingezogen werden wollte.

Ihr Verdacht bestätigte sich, als sie drei Männer an die Kreuzung kommen sah. Alle sahen wie Gestalten aus, die man nicht gerade als vertrauenserweckend bezeichnen konnte. Ihre Kleidung war mindestens ebenso abgerissene wie ihre, sie hatten einen wirklich fiesen Blick und zudem trugen zwei von ihnen Holzknüppel. In ihrem Leben war es eine ihrer Hauptbeschäftigungen gewesen, solchen Gestalten auszuweichen.

Nach kurzer Absprache teilten sich die Gestalten auf, um dem Jungen zu folgen. Der Verfolgte tat dem Mädchen wirklich leid. Offensichtlich kannte er sich in den Gassen von Tjemin nicht aus. Immerhin war die Gasse, in die er gerade gelaufen war, eine Sackgasse. Und die Gestalten sahen nicht so aus, als würden sie den Jungen zum Essen abholen wollen. Dennoch war genau das die Art von Ärger, die sie eigentlich vermeiden wollte. Aber der Junge war maximal zwölf, dreizehn Jahre alt. Wie hatte er sich überhaupt solchen Ärger eingehandelt? Gewissensbisse plagten sie.

Dann entschied sie sich und ging los.

Finn schaute noch mal über die Schulter, bevor er in die nächste Gasse einbog. Sehr gut, dachte er. Seine Verfolger waren noch nicht um die Ecke. Das war vielleicht die Möglichkeit, diese Gestalten endlich abzuhängen. Seine freudig, hoffnungsvolle Stimmung verflog ziemlich plötzlich, als er wieder nach vorne schaute. Eine Mauer tat sich vor ihm auf, die Hinterwand eines Hauses.

Wer hatte das denn hierher gebaut? Wer war nur der verdammte Konstrukteur dieser verdammten Stadt? Finn hatte schon jetzt einen Hass auf Tjemin, obwohl er erst einige Stunden hier war. Trotzdem schaltete er schnell. Vielleicht konnte er noch entfliehen. Er drehte sich um, um weiter weg zu laufen. Da stockte ihm der Atem. Einer seiner Verfolger stand am Ausgang der Gasse. Er trug einen zerlumpten braunen Mantel, sein Gesicht wurde von einer Narbe geziert und in seiner Hand hatte er einen Holzknüppel mit einigen Nägeln am Kopf, den er drohend in seine andere Handfläche schlug.

„Da haben wir dich, Jungchen. Hey Jungs, ich habe ihn!“, rief er laut und ging langsam auf Finn zu. Dieser wankte weiter zurück. Er hatte noch nicht wirklich einen Plan, wie er hier wieder herauskommen konnte. Er hätte wirklich hören sollen, oder zumindest eine Waffe hätte er mitnehmen sollen. Tjemin muss doch sicher sein, das hatte er gedacht. Aber er hatte die Sicherheit der Stadt deutlich überschätzt. Wurde ihm das jetzt zum Verhängnis?

Finn hatte die Person hinter der finsteren Gestalt kaum wahrgenommen, da hörte er schon das dumpfe Geräusch von Holz, das jemand über den Kopf gezogen wurde. Der Mann ging sofort mit einer blutenden Platzwunde zu Boden. Dahinter stand ein Mädchen mit einem Holzbrett in der Hand, dass sie neben den Mann warf. Jetzt erst erkannte das Mädchen den Jungen genauer.

Er hatte relativ kurze, tiefschwarze Haare, die ordentlich geschnitten aussahen. Sein Gesicht war noch jungenhaft, deutete aber schon den Übergang zum Mann an. Seine tiefbraunen Augen schauten aufgeregt. Auch sonst wirkte er nicht wie jemand, der an einen solchen armen Ort gehörte. Der graue Wollmantel, der eigentlich viel zu warm für die Jahreszeit war, verdeckte jedoch den Reichtum des Jungen ganz gut. Der Mantel hatte offensichtlich auch schon einiges mitbekommen. Darunter trug der Junge einen wattierten Wappenrock, wie es sonst nur Stadtwachen oder andere Soldaten oder Söldner taten. Er war viergeteilt in weiß-grün. Auch seine Hose sah fein gewebt aus. Doch am deutlichsten stach der Gürtel hervor. Er schwarz, aus Leder, und wurde von einer silbernen Schnalle gehalten, neben der er mit goldenen und silbernen Zeichen beschlagen war. Zudem trug der Junge mehrere Gürteltaschen, nur ein Schwert fehlte noch, um das Bild eines jungen Adeligen zu vervollständigen. Immerhin würde es sich vielleicht lohnen, diesen Jungen zu retten, dachte sich das Mädchen noch, obwohl sie sich schon längst entschieden hatte, ihm zu helfen, egal wie viel Gold er im Beutel trug.

„Schnell, komm mit.“ sagte das Mädchen und packte den Jungen am Arm. Dieser lief, noch ziemlich verwirrt von seiner jähen Retterin, ohne weitere Widerworte mit. Das Mädchen hatte noch genau die anderen beiden Verfolger im Sinn, die nach dem Ruf ihres Kameraden bestimmt schon auf dem Weg waren.  Sie zog den Jungen zur Mauer der Sackgasse. Diese war gut drei Schritt hoch, gerade so viel, dass man sie alleine nicht erklimmen konnte.

„Nimm deine Hände zusammen, dass ich sie als Trittbrett nehmen kann.“, befahl sie Finn und schwang sich dann mit dessen Hilfe die Mauer hoch, die sich als flaches Dach eines Gebäudes herausstellte. Dort oben angekommen beugte sie sich herunter um dem Jungen ebenfalls hoch zu helfen. Nach einer mehr schlechten als rechten Kletterei lagen die beiden etwas schwerer atmend oben auf dem Dach.

Das Mädchen schaute nach unten und sah die beiden Gestalten gerade in die Gasse einbiegen und ihren Kameraden finden. Sie zog den Jungen auch herunter, sodass sie nicht zu sehen waren. Trotzdem  glaubte sie daran, dass diese Verfolgung bald weitergehen würde. Aber erstmal mussten sie kurz durchschnaufen.

„Hallo, übrigens.“, sagte das Mädchen lächelnd zu dem Jungen. „Mein Name ist Lora. Du solltest dir nicht in fremden Städten Ärger einhandeln, wo du nicht weißt, wie du entkommst.“

„Ja, äh, danke erstmal, für die Rettung.“, antwortete Finn, der aus seinem kurzzeitigen Schock wieder erwacht war. „Mein Name ist Finn. Und ich habe mir den Ärger nicht gesucht, er kam einfach auf mich zu. Weißt du, wie wir jetzt hier am besten heraus kommen?“

„Folg mir einfach. Es gibt hier einen kurzen Weg über die Dächer, dann kommen wir Richtung Hafenmarkt, von dort kann man gut untertauchen. Also los.“, sagte Lora und lugte vorsichtig über den Rand des Daches. Sie sah niemanden, und ging geduckt voran. Doch auf einmal hörte sie wieder Stimmen von unten.

Die  Gestalten hatten sie wieder bemerkt und nahmen die Verfolgung sofort wieder auf. Lora sprang auf und rannte los. Finn lief ihr nach. Sie sprangen gemeinsam über einige Dächer, ihre Verfolger blieben in den Gassen. Einige Male dachten sie gerade, sie abgeschüttelt zu haben, als sie wieder auftauchten. Als sie über mehrere Häuser hinweg waren, erreichten sie ein größeres Lagerhaus. Lora sprang vor und kletterte das geziegelte Dach hoch bis zu einer Dachluke. Sie öffnete die Luke, um darin einen besseren Stand zu erlangen. Dann gab sie Finn die Hand und half ihm hoch zu der Luke. Sie spürte, dass er einen festen Händedruck hatte. Auch beim Laufen hatte sie bemerkte, dass der Junge gut trainiert, wendig und schnell war. Alles in allem bestätigte sich zumindest ihr Vorurteil über einen faulen, fetten, adeligen Jungen nicht, das sie bisher über die Angehörigen dieser Schicht hatte. Aber Ausnahmen bestätigten nun mal die Regel, dass sagte auch der alte Xaver immer.

Nachdem Finn bei ihr oben war kletterte Lora die Luke herunter, einfach davon ausgehend, dass dieser ihr folgen würde. In dieser Gegend kannte sie sich sehr gut aus, und diese Lagerhalle hatte sie schon oft benutzt. Die Luke führte zuerst zu einem Speicher, auf dem sich nichts wirklich Bedeutendes befand. Gerade im Winter war das hier oben ein ganz guter Schlafplatz. Außer ein paar kaputten Kisten, Truhen und Werkzeugen lag hier oben nichts, wenn man von der dicken Staubschicht einmal absah. Lora führte Finn quer durch den Speicher bis zu einer weiteren Luke, die nach unten führte.

„So, ab hier müssen wir jetzt ein bisschen vorsichtig sein“, warnte Lora den Jungen. „Unten werden wahrscheinlich ein paar Arbeiter sein. Halte dich einfach immer in Deckung, sei möglichst leise und folge mir. Wenn wir gesehen werden, dann lauf mir einfach nach, so schnell wie es geht. Danach kommen wir auf den Marktplatz. Dort wird um diese Uhrzeit ziemlich viel los sein, also pass auf, dass du mich nicht in der Menge verlierst. Wenn wir dort durch sind, sollten wir die Verfolger endgültig abgehängt haben.“

Finn nickte ruhig und atmete noch mal tief durch. Dann öffnete Lora die Luke nach unten.

Von der Luke führte eine Leiter herunter in die Lagerhalle. Diese bestand aus zwei Ebenen, wobei die obere Ebene nur ein Holzweg war, der einmal rund herum führte. In der Lagerhalle waren Kisten, Fässer und Truhen gestapelt. Drei Männer arbeiteten in einer Ecke der Halle, die nicht auf dem Weg der beiden Kinder lag. Die Halle hatte ein großes Ausgangstor, für Kutschen oder Karren, und daneben einen kleinen Ausgang für Personen, der offen stand. Licht wurde einerseits durch Fenster, die rundherum im Gebäude waren, andererseits durch einige Fackeln in die Halle gebracht.

Lora stieg so leise wie sie konnte die Leiter auf die obere Ebene herunter. Von dort führte eine weitere Leiter wenige Schritte weiter bis auf den Boden. Finn folgte ihr, nicht ganz so lautlos, aber dennoch so leise, dass sie nicht von den Arbeitern bemerkt wurden. Leise schlichen die Beiden durch die Halle. Sie hatten die Tür fast erreicht, als Finn gegen etwas stieß. Auf dem Boden war eine kleine Kiste, die er im schwachen Licht nicht gesehen hatte. Finn versuchte sich noch irgendwo festzuhalten, verlor aber das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Schmerzhaft spürte er sein Knie über den Grund rutschen und schrie vor Schmerz auf. Sofort erinnerte er sich an ihre aktuelle Lage und versuchte den Ruf zu unterdrücken, aber da war es schon zu spät. Die Männer drehten sich von dem Schrei aufmerksam gemacht um und kamen auf Lora und Finn zu.

„Hey, wer ist da?“ rief einer und leuchtete mit einer Fackel in die Richtung der Beiden. Lora reagierte schnell. Dieser Tollpatsch, fast wären sie draußen gewesen. Sie packte Finn am Arm und zog ihn hoch.

„Los, mir nach“, rief sie und rannte mit Finn im Schlepptau durch die Tür auf den Platz des Hafenmarktes.

Sofort kam ihnen wieder der Gestank von Fisch entgegen, eines der Haupthandelsgüter des Marktes. Sonst wurden Waren wie Netze, Seile und Taue aber auch Handelsgüter, die über die Gronde nach Tjemin gebracht wurden, hier feilgeboten. Auf dem Marktplatz war eine ziemlich große Menschenmenge unterwegs. Nur früh am Morgen war es noch voller, aber das reifte Lora und Finn jetzt zum Vorteil. Sofort tauchten die beiden in der Menge unter, die Arbeiter von der Lagerhalle hatten offensichtlich kein gesteigertes Interesse daran, den Beiden zu folgen. Von ihren anderen Verfolgern konnten sie nichts sehen. Lora wusste recht genau, wo sie hin wollte. Von dem Platz führten mehrere Straßen. Sie lief Richtung Westen, dort wo die Straßen in die obere Stadt führten. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Finn eher dorthin gehörte als hier unten in den Hafen oder gar ins Gerberviertel.

Lora schaffte es ohne weitere Probleme Finn von dem Platz zu führen. Sie kamen in die größere Gasse, die vom Markt weg führte und Lora bog in die nächste kleinere Gasse ein. Dort blieb sie recht plötzlich stehen und drehte sich zu Finn um.

„So, und jetzt erzählst du mir mal erstens, wer du bist, zweitens, was du dort unten im Hafen gemacht hast, drittens, wie du dir solchen Ärger eingehandelt hast und viertens, wo du jetzt hingehörst.“

Lora hatte mittlerweile einen leicht zornigen Unterton. Sie mochte es nicht wirklich, quer durch das Hafenviertel von Tjemin vor irgendwelchen dunklen Gestalten davon zu laufen. Genauso wenig mochte sie es eigentlich, irgendwelchen Gestalten bekannt zu sein, die vielleicht noch öfter in dem Gebiet, in dem sie wohnte, herumliefen. Und was sie am allerwenigsten mochte war, irgendwelchen Fremden zu helfen, von denen sie nicht mal wusste, wer sie waren, was sie wollten und wieso sie Ärger hatten. Innerlich fragte sie sich noch immer, wieso sie das eigentlich getan hatte, aber glücklicherweise war ja alles gut gelaufen.

Finn wollte gerade ansetzten zu antworten als die beiden eine dunkle, gehässige Stimme hörten.

„Na ihr beiden Turteltäubchen, da haben wir euch endlich.“ Lora schaute die Straße entlang. Verdammt, sie hatte gerade so sehr auf Finn geachtet, dass sie ihre Verfolger gar nicht gesehen hatte. Einer war auf der einen Seite und die anderen beiden auf der anderen, wobei der eine immer noch ein bisschen wankte. Seine Haare waren durch das Blut verklebt. Er war deutlich schlecht gelaunt und hatte offensichtlich mit Lora noch ein Hühnchen zu rupfen.

„Irgendwelche Pläne?“, fragte Finn Lora, die ihre Umgebung möglichst genau musterte, aber ihre Situation war offensichtlich ziemlich mies. Die Wände der Häuser zwischen denen sie standen waren zu hoch, um hoch zu klettern. Zwischen ihnen und den Gestalten waren auch keine Türen mehr, in die man fliehen konnte. Die einzige Möglichkeit wäre zu versuchen an dem einzelnen Mann vorbei zu laufen. Aber sein Knüppel würde mindestens einen von ihnen erwischen.

„Sieht ziemlich schlecht aus“, antwortete sie nur. Verdammt, dachte sie sich wieder, wieso hatte sie sich auf diesen Mist eingelassen. Mehrere Jahre die Straßen von Tjemin überlebt. Würde das jetzt enden, nur weil sie einem kleinen adeligen Schnösel geholfen hatte? Das war wirklich nicht fair.

„Verschwindet, ihr Pack, wenn euch etwas an eurem Leben liegt“, hallte eine tiefe Stimme durch die Gasse. Die beiden Kerle drehten sich um und sahen einen Mann in der Straße stehen. Der offensichtliche Anführer wollte gerade dem Fremden entgegnen, als er diesen sah, was ihm die Stimme verschlug. Der Neuankömmling war etwa Anfang Dreißig, ein Schritt und Achtzig groß und wirklich furchteinflößend, besonders für solch dunkle Gestalten, die nicht wirklich auf der Seite von Recht und Gesetz standen. Eine hässliche Narbe zeichnete sein Gesicht, der obere Teil des linken Ohres war abgeschlagen. Seine Kleidung zeigte die edle Herkunft des Mannes. Ebenso wie Finn trug er einen wattierten Wappenrock und eine Hose, beide waren dunkelgrün. An den Füßen trug er schwere, braune Schnabelstiefel. Sein brauner Gürtel war nicht ganz so reich verziert wie der des Jungen. Auf den Schultern trug er eine weiß-grüne Kapuze. Auf dem Wappenrock war ein Wappen gezeichnet, was den des Mannes von Finns unterschied. Das Wappen war vertikal weiß-grün geteilt. In der Mitte war ein Baum, der auch mittig getrennt wurde und in der entsprechend anderen Farbe als der Hintergrund war. Darunter waren zwei Lilien in grün und weiß auf dem jeweils anderen Hintergrund. Doch am eindrucksvollsten war das Schwert, das der Mann am Gürtel trug. Die Waffe befand sich in einer silbernen Scheide, die mit grünen Edelsteinen verziert war, die ein Kenner als Diopside erkennen würde. Im Knauf des Schwertes war ebenso ein solcher Edelstein eingearbeitet. Solch verzierte Schwerter waren berühmt in Valorien, und auch wenn bei der einfachen Bevölkerung nicht alle bekannt waren, wusste man doch, dass es nur zehn Schwerter dieser Art gab. Und diese wurden von den Rittern Valoriens getragen. Ein ebensolcher stand in der Gasse und verhinderte, dass Lora und Finn von den Gestalten zu Brei geschlagen wurden.

Geron von Dämmertan ging langsam weiter in die Gasse auf seinen jungen Schützling zu. Um die finsteren Gestalten kümmerte er sich nicht weiter, sie waren es gar nicht wert die Waffe zu ziehen. Die drei Verfolger bemerkten auch schnell, dass hier jeglicher Widerstand hinfällig war. Die Ritter Valoriens galten zu Recht als die besten Kämpfer des Reiches, und mit zwei lausigen Holzknüppeln war hier nichts zu machen. Nachdem sie den Schock des Auftritts des Ritters verdaut hatten, drehten sie sich um und nahmen die Beine in die Hände. So plötzlich, wie sie in der Gasse erschienen waren, verschwanden sie auch wieder.

„Nun, mein junger Knappe, ich glaube wir haben einige Worte zu reden, nicht wahr? Vielleicht kannst du mir mal erklären, was du hier machst, wieso du nicht an meiner Seite geblieben bist und wieso du keine Waffe trägst, wie es sich für dich als Knappe geziemt“, ging Geron auf Finn zu.

Er hatte sich noch keine entsprechende Strafe überlegt, irgendetwas würde ihm schon einfallen, da war er sich sicher. Er packte den Jungen an der Schulter und wollte mit ihm losgehen. Das kleine Bettlermädchen ignorierte er vollkommen.

„Wartet, Herr!“, wehrte sich Finn. „Mein Herr, darf ich Euch Lora vorstellen. Sie ist der Grund, wieso ich noch lebe. Sie hat mir geholfen, vor diesen Gestalten wegzurennen, und sie hat mich auch in einer Gasse gerettet. Ich meine, dafür sollte sie wenigstens belohnt werden, nicht wahr? Ihr habt mir doch immer beigebracht, dass Leistung belohnt werden muss, egal ob von einem Bauern oder einem Adeligen?“

Lora schaute etwas verwirrt zu dem Ritter, dann wieder zu Finn, dann wieder zu dem Ritter. Geron musterte das Mädchen und schien kurz zu überlegen.

„Halt, halt, halt“, unterbrach Lora die Gedanken von Geron. „Was geht hier eigentlich vor, wer seid Ihr, Euer Gnaden? Und wer bist du eigentlich, Finn?“

Geron blickte erneut ernst zu seinem Knappen. „Finn? Du nennst dich Finn? Ich verstehe es ja, wenn du nicht überall deine Herkunft mitteilen willst, so will ich das ja auch, aber du solltest dich trotzdem mit deinem richtigen Namen vorstellen. Und du solltest auch erwähnen, dass du mein Knappe bist. Wir haben wirklich ein Wörtchen miteinander zu reden.“

Finn schluckte schwer. Er senkte seinen Blick zum Boden. Dann wandte Geron seinen Blick zu Lora.

„Also, zu dir, junges Fräulein. Natürlich werde ich mir von meinem Knappen noch mal genau berichten lassen, was hier vorgefallen ist, aber anscheinend hast du dich wirklich verdient gemacht. Komm mit uns mit, dann möchte ich dir alles sagen und du wirst entsprechen belohnt werden. Und für jetzt, mein Name ist Geron von Dämmertan, Freiherr von Dämmertan und Ritter Valoriens.“

Dann packte Geron Finn wieder an der Schulter und lief in Richtung der besseren Viertel. Lora folgte den beiden wortlos.

Nach einigen Minuten Fußmarsch in den westlichen Teil der Stadt erreichten sie ein relativ gutes Gasthaus. Auf das Holzschild, das über der Tür hing, war ein Speichenrad aus Messing geschlagen. Darüber stand in ebensolchen Lettern der Name des Gasthauses „Zum goldenen Rad“. Das Fachwerkhaus hatte zwei Etagen und die drei passierten eine stabile Eichentür. Natürlich hätte der Herr von Dämmertan auch in der Residenz des Herzogs unterkommen können. Aber er bevorzugte es, in einem einfachen Gasthaus zu bleiben, um nicht so stark an die starren Protokolle eines Adelshofs gebunden zu sein. Außerdem sah er es auch als einen guten Teil der Ausbildung seines Knappens, ab und zu beim einfachen Volk zu sein, auch wenn die Gäste des „Goldenen Rads“ bestimmt nicht zum wirklich „einfachen“ Volk gehörten. In seinen vergangenen Reisen hatte Geron die Erfahrung gesammelt, dass man manchmal besser an einem dreckigen Wirtshaustisch als einer Adelstafel saß, um bestimmte Dinge in Erfahrung zu bringen oder zu erledigen.

Der Gastraum, den man betrat, war dem Haus entsprechend eingerichtet. Die Tische und Stühle waren offensichtlich von einem talentierten Schreiner angefertigt und hatten verschieden farbige Tischdecken. Der Gastraum bot einen Kamin mit einigen gemütlichen Sesseln davor, durch einen Durchgang sah man ein weiteres Kaminzimmer. Um diese Uhrzeit war fast nichts los, nur ein älteres Ehepaar, offensichtlich ehemals Kaufleute, saßen an einem Tisch und aßen Mittagessen. Der Wirt, der hinter dem Tresen stand, grüßte den Herrn mit seinen beiden Begleitern mit einer respektvollen Verbeugung. Geron ging ohne ihn weiter zu beachten die Treppe hoch und bis in den zweiten Stock. Am Ende des Treppenhauses waren nur zwei Türen. Der Ritter trat in den linken Raum. Er war geräumig eingerichtet und bot durch ein Fenster einen guten Blick über den Platz vor dem Gasthaus. Dazu gab es noch zwei Dachfenster. Zwischen den beiden Betten stand auf einem kleinen Tisch eine Waschschüssel. An einem Tisch am Fenster standen zwei normale Stühle und noch zwei Hocker.

„Setz dich, Lora!“, sagte Geron und zeigte auf einen der beiden Stühle. Nachdem sich das Mädchen niedergelassen hatte, setzte sich Geron gegenüber von ihr.

„Priovan“, rief er seinen Knappen her. „Geh herunter und lass dir vom Wirt einen Krug mit Wasser, einen Krug mit Milch und einen ordentliche Schüssel mit heißem Eintopf geben. Dann komm sofort wieder hoch.“ Der Knappe nickte kurz und zackig und war dann schon wieder aus der Tür verschwunden.

„Also, Lora, dann erzähl mir doch erstmal ein bisschen über dich und das, was vorhin vorgefallen ist. Danach werde ich dir gerne auch mehr Auskunft über mich und meinen Knappen geben.“

Lora hatte den Namen Priovan schon mal gehört, aber sie konnte ihn im Moment noch nicht wirklich zuordnen. Aber dem Ritter folgend würde sie es bestimmt bald erfahren.

„Nun, wie Ihr schon wisst, hoher Herr, ist mein Name Lora, genauer gesagt Eleonora. Über mich gibt es nicht wirklich viel zu erzählen. Ich wohne hier auf den Straßen von Tjemin. Meine Eltern sind schon lange tot, mein Vater kehrte aus dem Krieg nicht zurück, meine Mutter starb kurz darauf. Seitdem lebe ich eben in den Tag und versuche jeden Tag genug Essen zu bekommen, wenn es geht auch mal einen warmen Platz zum Schlafen.“ Der Ritter nickte und signalisierte Lora weiter zu erzählen.