Sonnenfeuer - J.D. David - E-Book

Sonnenfeuer E-Book

J.D. David

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Beschreibung

Der junge Soldat Daron kehrt seiner Heimat den Rücken, die nach dem Tod des letzten Königs in Chaos versinkt. Als er viele Jahre später nach Valorien reist, sieht er das Land zerrissen zwischen seinen Herzogen und Adeligen. Doch die wahren Feinde stehen außerhalb der Grenzen des Landes. Ihr Verlangen nach Macht geht weit über die Herrschaft eines einzelnen Königreiches hinaus. Die Legende einer Nachfahrin des Königs ist die einzige Hoffnung, die dem Volk bleibt. Diese, und eine große Kraft alter Tage, der sich auch Daron bemächtigt hat.

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J.D. David

Sonnenfeuer

Legenden von Valorien

Sonnenfeuer

Impressum

© 2017 J.D. David

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de 

ISBN 978-3-7450-6798-9

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 

Prolog  770 St. Gilbert

„Pfeile los!“

Es war dieser eine Befehl, den Daron nicht glauben konnte. Aber der Ritter aus Tandor rief ihn mit voller Kraft und wie die anderen Soldaten ließ er die Sehne los. Er schaute noch seinem Pfeil nach. Und den all den anderen Pfeilen, die auf die Reiter zuflogen. Er sah den eigenen Pfeil nicht mehr, fühlte aber, dass er sein Ziel fand. Die Reiter der Kronlande. Die doch gerade noch ihre Verbündeten gewesen waren.

„Ulf, beende diesen Wahnsinn!“, hörte er den Ruf des zweiten Ritters. Alois von Schöngau. Doch der glatzköpfige Anführer schaute nur nach vorne, während Soldaten aus Tandor Alois abführten.

„Weiter schießen. Dies sind Verräter an unserer Heimat. Sie müssen den Tod finden. Pfeile los!“, rief Ulf von Darbenkort mit fester Stimme. Wie in Trance zog Daron den nächsten Pfeil aus dem Köcher und schickte ihn den Hügel hinab.

Während ein fremder Geist ihn dazu zu zwingen schien, wie seine Kameraden neben ihm zu handeln, fragte er sich, wie es soweit hatte kommen können. Gerade noch war er in Rethas gewesen, in seinem Heimatdorf Velken. Zusammen mit seinem Freund Feslan, der ihm nach dem Tod der Eltern fast zum Bruder geworden war. Dazu die anderen Jungs. Der ältere Borchart, der jüngere Dodo, der in seinem Alter war, oder all die anderen Jungen aus Velken. Doch dann war der Befehl von Herzog Helmbrecht gekommen und jeder Junge, der zumindest fünfzehn Sommer gesehen hatte, war in den Krieg gezogen.

Er ließ den nächsten Pfeil fliegen. Die Reiter kamen den Hügel hinauf und kamen näher und näher. Dennoch hatten sie keine Chance. Zu schlecht war ihre Lage, den Hügel aufwärts die Fußsoldaten angreifen zu müssen. Zu groß die Anzahl der Verteidiger, die ihnen mit einer Salve nach der nächsten den Tod schickten. 

Mit zitternden Händen zog er den nächsten Pfeil. Er erinnerte sich in der Bewegung daran, wie sein Vater ihm einst das Bogenschießen beigebracht hatte. In dessen letztem Herbst, bevor er wie die Mutter den Winter nicht überlebte. Daron hatte noch immer die gleichen krausen, schlammbraunen Haare wie damals, die zu allen Seiten abstanden und sich nicht bändigen ließen. Doch sein Gesicht war seitdem strenger geworden, härter. Nicht nur das Alter, sondern auch die Bitterkeit des jungen Lebens hatten ihn gekennzeichnet. Im Winter hatte sich sogar der erste Flaum an seiner Lippe gebildet. Dennoch war er noch mehr Junge als Mann, der Körper nicht voll ausgewachsen oder gestählt.

Erneut ließ er die Sehne los. Mittlerweile schossen die Schützen mehr nach vorne, als nach oben. Die ballistische Flugbahn war nicht mehr notwendig, die Feinde waren schon näher. Doch es waren nur noch wenige, die ihre Pferde weiter trieben. Daron beobachtete die Flugbahn seines Pfeils. Er wollte eigentlich gar nicht sehen, ob er traf. Er wollte nicht für den Tod eines Mannes verantwortlich sein. Doch es war genau dieses Entsetzen, das ihn starren ließ. Er konnte den Blick nicht abwenden. Und dann sah er wie der Pfeil traf.

Zu seiner Verwunderung war es nicht ein Mann, den er traf. Die junge Frau in voller Rüstung schrie auf. Ihr Schild sank nach unten, als sich sein Pfeil in die Schulter bohrte. Er konnte das Wappen gerade noch erkennen. Ein silbernes Schwert auf dunkelblauen Grund, darunter ein silberner Halbmond. Fast wie das Wappen des Reiches, und dennoch anders. Er beobachte die Reiterin. Selbst durch den eigentlich fatalen Treffer schien ihr Angriff nicht zu stoppen zu sein. Sie schaute entschlossen und Daron erkannte die Schönheit der Person. Wie konnten sie nur ihre eigenen Kameraden angreifen? Wie nur etwas so Schönes zerstören? 

„Hey, weiterschießen, sonst erreichen die uns noch.“, hörte Daron die Stimme von Feslan neben sich, die sich sogar über den Lärm der Schlacht erhob. Über die Hufschläge und die fernen Schreie der Sterbenden. Daron nickte und zog den nächsten Pfeil aus dem Köcher. Er legte an, spannte den Bogen und zielte.

Noch immer sah er die Frau, die den Linien näher und näher kam. Noch weitere Pfeile hatten sie getroffen, aber mit unbändigem Willen hielt sie sich im Sattel. Er wusste, dass ein einziger Pfeil das Ende bedeuten konnte. Doch sie ritt weiter und weiter. 

Daron riss den Bogen leicht nach oben und ließ den Pfeil los. Er sah noch, wie dieser flog und über die Ritterin hinweg glitt. Dann ging alles ganz schnell. Mit einem letzten Anritt erreichte diese die erste Linie, tötete einen, dann den nächsten Mann. Er schaute ihr noch nach, als sie ein Banner aus dem Boden riss und die Spitze dem verdutzt schauenden Ulf von Darbenkort, der ihren Angriff befohlen hatte, in die Brust trieb. Beide fielen vom Pferd. Beide schienen tot.

„Haltet ein. Soldaten Valoriens, senkt die Waffen!“, hörte Daron den lauten Ruf eines anderen Mannes. Er drehte sich um und erkannte den zweiten Ritter, der sie angeführt hatte. Mit einer schnellen Bewegung zog dieser seine Waffe und hielt die einstigen Bewacher in Schach. Als der eine Tandorer Anstalten machte, seine Waffe zu ziehen, durchbohrte die prachtvolle Waffe von Alois dessen Leib. Die anderen zogen sich schnell zurück. 

Alois schwang sich auf ein Pferd und ritt vor die Reihen. „Im Namen des Königs, legte alle die Waffen nieder. Dieser Wahnsinn, dieser Verrat ist vorbei. Als Ritter Valoriens führe ich nun dieses Heer.“, sagte er mit kraftvoller Stimme. Nach dem Tod des tandorischen Freiherrn schien ihm niemand widersprechen zu wollen. Viele Soldaten senkten den Blick zu Boden. Eine fast gespenstische Stille legte sich über das Schlachtfeld.

Daron war einer der ersten Männer, die sich regten. Erneut schien es jemand anderes zu sein, der ihn lenkte, aber diesmal ein guter Geist. Er warf den Bogen davon und lief nach vorne. Zu den Verwundeten, die über den Hügel verstreut lagen, dazwischen sich windende Körper sterbender Pferde. Daron wusste nicht wirklich wohin, aber er lief. Er wollte denen helfen, die doch bis vor wenigen Momenten ihre Kameraden gewesen waren.

Es schien, als hätte die Bewegung des Jungen eine Welle ausgelöst. Mehr und mehr Soldaten Valoriens lösten sich, um die Verwundeten zu retten, oder auch nur den Sterbenden das Ende leichter zu machen. Kurz schaute Daron noch hoch auf den Hügel und sah, wie der Ritter Alois zu der gefallenen Ritterin ging und an ihrer Seite niedersank. Dann richtete Daron den Blick wieder nach vorne.

„Hilf mir.“, hörte er die leise Stimme eines Jungen neben sich. Daron wandte sich um und ging auf die Stimme zu. Erst konnte er den Verwundeten gar nicht sehen, aber dann erkannte er unter dem Leib des toten Pferdes einen jungen Soldaten. Obwohl er deutlich größer als Daron selbst aussah, erkannte man an dessen Gesicht, dass er kaum war. Die braunen Haare mit einer rötlichen Tönung waren kurz geschnitten, Sommersprossen bedeckten das Gesicht, über das ein sich eine Blutspur aus einer Platzwunde am Kopf bildete.

„Ich bin eingeklemmt.“, keuchte der Junge. „Bitte töte mich nicht. Ich bin Leon von Aueneck. Du bekommst für mich bestimmt ein großzügiges Kopfgeld.“, sprach er leise weiter. Obwohl er mit dem Tod zu rechnen schien, konnte man keine Angst in dessen Augen erkennen. 

Daron schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin nicht hier um dich zu töten. Der Ritter, der den Angriff befahl, ist tot. Wir wollen euch helfen.“, sagte er und drückte an dem Pferd. Doch es schien hoffnungslos, zumindest alleine.

Daron drehte sich um, um nach Hilfe zu rufen, als er schon Feslan erkannte, der auf ihn zulief. Seine schwarzen, langen Haare klebten ob des Schweißes an seinem Gesicht, das im Vergleich zu Daron bereits das Gesicht eines Mannes war. Ihm folgten der kräftige Borchart, der trotz junger Jahre eine Glatze trug, und der etwas dickliche Dodo mit seinen blonden Haaren.

„Hey, helft mir.“, rief Daron zu den Jungen, die sofort zu ihm kamen.

„Lebt er noch?“, fragte Feslan und nickte zu Leon, der kurz die Augen geschlossen hatte. Wie eine Antwort schlug der Knappe diese wieder auf und fixierte den Soldaten mit seinem Blick. 

„Ja, helft mir das Pferd runterzuschieben.“, antwortete Daron für Leon und drückte mit den vier Anderen an dem schweren Leib des toten Tieres. Stück für Stück schafften sie es, dieses zur Seite zu drücken, bis Feslan schließlich Leon hinunter hervor ziehen konnte.

Der junge Knappe sah schrecklich aus. Zu der Platzwunde am Kopf kamen eine Pfeilwunde am Arm, sowie die Beine, die unter der Last des Pferdes anscheinend gebrochen waren. Daron bezweifelte, dass der junge Mann je wieder laufen würde.

„Wir müssen ihn ins Heerlager bringen.“, sagte Daron bestimmt. Er zeigte auf gebrochene Speere. „Lasst uns daraus eine Trage bauen.“ Obwohl er deutlich jünger war als zumindest Feslan und Borchart nickten diese nur und folgten den Anweisungen wortlos.

„Hey, ihr. Der Ritter von Schöngau hat befohlen, dass sich alle Unverwundeten sammeln.“, hörte Daron die Stimme eines Offiziers.

„Wir helfen dem hier noch.“, antwortete Feslan für ihn und der Offizier schaute mitleidig auf den verletzten Leon. Dann nickte er. „In Ordnung. Aber kommt dann sofort ins Heerlager. Wir brechen bald auf. Nach Burg Eisentor.“

„Hey, Daron.“

Der junge Soldat schreckte auf. Vor Erschöpfung war er sofort fest eingeschlafen, nachdem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Als er nun die Augen öffnete und Feslan erkannte, der ihn weckte, sah er, dass es noch immer tiefste Nacht war. Nur der Fackelschein durchbrach mit einem rötlichen Flackern die Dunkelheit.

„Was ist?“, fragte Daron den Älteren und schaute sich um. Neben ihm lagen weitere Soldaten schlafend. Neben Feslan stand Borchart, der gerade Dodo weckte.

„Wir hauen hier ab. Sei still.“, antwortete Feslan und legte den Finger auf den Mund. Feslan und Borchart waren am Abend zur Wache eingeteilt worden. Das erklärte, wieso sie wach waren. Aber ihr Plan erschloss sich Daron nicht.

„Nein. Wieso? Wenn sie uns finden, dann werden wir bestraft.“, antwortete er immer noch flüsternd. Die Schlacht, die doch keine gewesen war, war nun zwei Tage her. Sie hatten den verletzten Leon von Aueneck ins Lager gebracht, wo sich einige Frauen seiner angenommen hatten. Dann war das Heer weiter gezogen, nach Süden, in Richtung Burg Eisentor. Alois von Schöngau hatte eine berittene Vorhut vorgeschickt und dennoch die Fußsoldaten zur Eile angetrieben. Die nächtliche Ruhe war meist nur kurz, bevor der Marsch weiterging. Und so wurde das Heer jeden Tag erschöpfter, während sie der Grenzfestung näher kamen.

„Jetzt komm schon. Draußen ist niemand, wir haben geschaut. Bis die merken, dass wir weg sind, sind wir schon auf halbem Weg nach Rethas. Außerdem sucht niemand nach vier Männern.“ Kurz zögerte Daron, als Feslan noch etwas hinzufügte. „Die Adeligen bekämpfen sich gegenseitig. Dafür will ich nicht sterben. Sollen die sich doch alle selber die Köpfe einschlagen.“

Daron wusste nicht genau wieso, aber er nickte nur und stand so leise wie möglich auf. Feslan war ihm wie ein Bruder. Und er vertraute ihm. Wenn er diesen Entschluss gefasst hatte, würde er ihm folgen. Das war sicher.

„Also los.“, sagte Daron und schlich sich mit den drei anderen Deserteuren von den Schlafenden davon.

Als der Morgen des nächsten Tages anbrach, hatten die vier Flüchtenden das Heerlager bereits weit hinter sich gelassen. Die Sonne kroch über den Horizont und wies ihnen den Weg: nach Osten. Nach Rethas. Nach Velken, ihrer gemeinsamen Heimat. Weg von dem Krieg, den Schlachten und dem unnötigen Blutvergießen.

„In Ordnung, wir sollten hier kurz rasten.“, unterbrach Feslan ihren Marsch. Der junge Mann hatte sich schnell als Anführer der Gruppe herausgestellt, war er doch auch schon in der Heimat Wortführer der Jungen des Dorfes gewesen. Dodo ließ sich erschöpft auf den Boden fallen. Auch Daron atmete seufzend aus, denn sie hatten ein scharfes Marschtempo angeschlagen, um schnell voran zu kommen. Nur Borchart schien wenig angestrengt.

„Daron, teile du ein bisschen unserer Vorräte aus. Dodo, ruh dich kurz aus, es geht gleich weiter. Borchart, geh du dort oben auf den Hügel und schau dich ein bisschen um, ob Dörfer oder andere Reisende in der Nähe sind.“, gab Feslan den anderen kurze Befehle. Dodo und Daron nickten stumm, während Borchart brummte, etwas erwidern wollte, es sich dann aber anders überlegt. Mit seinem Bogen in der Hand begann er die kleine Anhöhe hochzusteigen, an dessen Fuß die Gruppe Schutz gesucht hatte.

Daron ließ die Umhängetasche, die er trug, zu Boden sinken und kniete sich hin, um den Inhalt zu inspizieren. In der Eile hatten sie schnell zu einigen Vorräten gegriffen, ohne genau zu gucken, was es war. Die Ausbeute sah nicht schlecht aus. Einige Säckchen mit Körnern, aus denen man Brei kochen konnte, ein größeres Stück Käse, sowie einige Stücke getrocknete Wurst und Schinken. Dazu noch zwei Laibe Brot. Daron griff nach einem der Brote und brach vier Stücke ab, um diese Dodo und Feslan zu geben.

„Hier, das können wir schnell ohne Feuer zu machen essen. Wir sollten mit unseren Vorräten gut haushalten, wenn wir bis nach Rethas Städte meiden wollen. Darum muss das erstmal reichen.“, sagte Daron zu den beiden, während sich Dodo schon über das Stück Brot hermachte.

„Ja, sehr gut Daron.“, bestätigte ihn Feslan und biss dann auch genüsslich in das Brot. Dann ließ er seinen Blick auf den Hügel schweifen. Zu Borchart, der diesen gerade erklomm, und oben angekommen über das Land schaute. Doch dieser Moment dauerte nicht lang.

Ein kurzer Aufschrei von Borchart war noch zu hören und dann brach der kräftige Mann zusammen und rutschte den Hügel hinunter. Selbst von unten konnte man den Pfeil erkennen, der ihm im Leib steckte.

„Verdammt. Lauft!“, rief Feslan nur und ließ das Brot fallen. Er rannte los, auf den kleinen Wald zu, der vor ihnen lag. Daron sprang sofort auf folgte dem Bruder. Er war schon immer ein schneller Läufer gewesen und holte diesen trotz dessen Vorsprung sofort ein. Dodo brauchte länger, um die Situation zu realisieren und seinen schweren Körper aufzurichten, folgte dann aber den beiden anderen.

„Hey, wartet auf mich.“, rief er panisch. Jetzt hörte Daron auch die Hufschläge. Hufschläge, die nichts Gutes bedeuteten. Wäre der Feind auch zu Fuß gewesen, hätten sie eine gute Chance gehabt, zu fliehen. Doch der Weg zum Wald war noch weit und die Verfolger hatten so einen großen Geschwindigkeitsvorteil. Hektisch schaute Daron über die Schulter zurück.

Hinter ihnen sah er die Verfolger. Es waren in der Tat Reiter, bestimmt fast zehn Mann. Wie sie selbst waren sie nur leicht gerüstet und hatten Bögen. Aber an der Art ihrer Kleidung erkannte man genauso wie an dem Reitstil, dass es sich um Urben des Herzogs von Tandor handeln musste. Kurz sah Daron Dodo noch, wie dieser strauchelte. Dann trafen den Jungen schon mehrere Pfeile in den Rücken und er schlug tot auf den Boden auf. Daron wandte sich wieder ab. Er schaute nach vorne. Nur nach vorne. Und rannte, so schnell ihn seine Beine tragen konnten.

Er spürte, wie rechts und links von ihm Pfeile flogen. Doch weder er noch Feslan, der neben ihm rannte, wurden getroffen. Sie schlugen ein paar Haken, um ein schwerer zu treffendes Ziel zu sein, während sie spürten, wie die Reiter näher und näher kamen. Doch auch der Waldrand kam näher. Und obwohl er es nicht geglaubt hatte, rannte Daron dann zwischen die Bäume. Das Licht der Sonne wich den Schatten der dichten Baumkronen. Die beiden rannten weiter in den Wald, er wagte es nicht mehr, nach hinten zu schauen. Die Bäume und Sträucher wurden dichter und dichter. Hier konnten sie ihnen mit den Pferden nicht folgen, oder?

Vollkommen außer Atem erreichten die beiden eine Lichtung und hielten kurz inne. Feslan schnaufte schon stärker als Daron und beugte sich kurz nach vorne, um sich dann aber gleich aufzurichten. Er schaute sich um. Rings um sie war dichter Wald, nur ein kleiner Pfad schlängelte sich quer über die Lichtung und verschwand dann wieder im dichten Unterholz.

„Haben wir sie abgehängt?“, fragte Daron skeptisch, der zu allen Seiten schaute und versuchte zu lauschen. 

„Ich glaube…“, wollte Feslan antworten, als sie wieder die Hufe hörten. „Nein, hier rein!“, sagte der Ältere und packte Daron am Arm, um im Unterholz zu verschwinden. Er lief zwei Schritte weiter und verharrte dann vor Schreck. Daron schaute auf und erkannte den Mann, der mit einem Grinsen aus dem Wald trat. Er sah verschlagen aus, wie die anderen Urben. Mit seiner Steppenkleidung, den schmaleren Augen und dem fiesen Blick.

Die beiden Rethaner drehten sich weg, um in eine andere Richtung zu fliehen, doch weitere drei Urben traten aus allen Richtungen aus dem Wald. Und dann erreichten die Hufschläge die Lichtung. Von jeder Seite näherten sich zwei Reiter.

Hektisch schaute sich Feslan um, erkannte aber, dass sie umzingelt waren. Mit zitternden Händen löste er die Axt von seinem Gürtel und schaute sich zu den Feinden um, die aber keinerlei Anstalten machten, sie direkt anzugreifen.

„Verschwindet. Wir haben euch nichts getan!“, brüllte Feslan hektisch. Daron hatte ihn noch niemals so ängstlich gesehen. Sein ganzes Leben war Feslan der Starke gewesen, der sich gegen alles wiedersetzt hatte. Bruder und auch Vorbild. Doch nun schien das unausweichliche Ende nah und die Entschlossenheit und der Mut wichen Angst und Verzweiflung. Er selbst stand starr an einer Stelle und vermochte kein Wort zu sprechen. Egal ob er seine Waffe ziehen würde oder nicht, er würde sowieso keine Chance haben.

Der Anführer der Urben lächelte mitleidig ob des jämmerlichen Versuches des jungen Mannes, sich zu retten. In einer langsamen Bewegung zog er seinen Säbel aus dem Gürtel und drückte seinem Pferd die Fersen in die Flanke. Das schnelle Ross lief auf Feslan zu und obwohl dieser noch die Axt zum Schlag erhob, war die scharfe Klinge des Urben schneller. Mit Wucht schnitt sie dem jungen Mann in den Hals. Daron spürte, wie Feslans Blut auf ihn spritzte und der Bruder dann tot zu Boden fiel.

„Nein.“, sagte er leise. Es war nicht mehr entschlossen, oder panisch, es war nur noch ein entkräfteter Laut. Er wusste, dass er sich nicht retten konnte. Niemand würde ihn retten können. Er schaute über die Schulter und sah, wie der Urbe sein Pferd wendete um erneut auf die Mitte der Lichtung zuzureiten. Und sein blutiges Werk zu vollenden.

Das Pferd ritt erneut an. Daron drehte sich um. Blut tropfte vom Säbel des Urben. Er könnte versuchen zu fliehen. Oder zu kämpfen. Aber beides erschien ausweglos. So verharrte er. Starr vor Schreck. In Erwartung des Unausweichlichen. Die Hufe schlugen auf den Waldboden.

Auf einmal erzitterte die Erde unter Daron. Ein Grollen kam aus dem Boden und er schwankte kurz, konnte sich aber auf den Beinen halten. Das Pferd des Urben scheute ob des Schrecks und warf den Reiter ab. Auch die anderen Pferde scheuten und trabten unruhig. Das Beben der Erde dauerte nur wenige Sekunden, aber die Feinde waren so überrascht wie Daron und schauten sich ängstlich um.

Dann hörte Daron einen unerwarteten Laut. Einen Klang, der weder zu diesem Ort, noch zu diesem Moment zu passen schien. Obwohl die Flüche des Urben, der auf den Boden geworfen worden war, diesen übertönten, war der Klang eindeutig. Gesang. Der tiefe und dennoch melodiöse Gesang von einem Mann. Oder sogar mehreren Männern.

Dann erkannte Daron die Männer. Es waren vier, die den Pfad auf die Lichtung kamen, den vorher schon die Reiter gewählt hatten. Hinter den Pferden kamen sie in sein Sichtfeld, wie sie vollkommen ruhig über den Weg gingen. Einer hinter dem anderen. Und sangen. In einer Sprache, die er selber nicht kannte.

Wie er bemerkten auch die Urben die Neuankömmlinge. Die vier Fußsoldaten zogen sofort ihre Bögen aus und richteten die Pfeile auf die Männer. In diesem Moment blieben die vier Fremden stehen und der vorderste Mann schaute auf.

Wie seine vier Begleiter hatte auch er eine einfache braune Kutte an, deren Kapuze zurück geschlagen war. An den Füßen trug er einfache Lederstiefel. Am Gürtel, der eigentlich nur ein Seil war, waren mehrere Täschchen und Säckchen befestigt. Dennoch wirkte er insgesamt ärmlich. Auch die Frisuren der Männer glichen sich. Die Haare waren seitlich und hinten bis auf kleine Stoppeln geschoren. Nur am Schopf waren sie ein bisschen länger gelassen und am Hinterkopf zu einem kleinen Zopf gebunden. Während der vorderste Fremde schon älter wirkte und seine Haare bereits gräulich waren, waren die Männer hinter ihm in ihren Zwanzigern oder Dreißigern.

In einer schnellen Bewegung riss er seine Arme nach oben. Erneut zitterte die Erde und Daron musste mit Schrecken feststellen, wie sich rechts und links von ihm tiefe Spalten in der Erde bildeten. Er hörte die Schreie der Überraschung der vier urbischen Bogenschützen. Obwohl sie ihre Pfeile noch los ließen, wurde der alte Mann nicht getroffen. Die Urben fielen bereits in die Spalten, die sich direkt unter ihnen aufgetan hatten. 

Dann ballte der Ältere die gerade noch offenen Handflächen zu Fäusten. Noch immer bebte die Erde, aber so schnell, wie sich die Spalten im Erdboden aufgetan hatten, schlossen sich diese auch wieder. Neben dem Krachen des Gesteins vernahm Daron auch das Knirschen der Knochen der Urben, die in der Erde ihr ewiges Grab fanden.

Einen kurzen Moment erstarrten die anderen Urben und nur der monotone Gesang der drei anderen Männer lag auf der Lichtung. Dann brach Panik aus. Der Urbe, der den Fremden am nächsten war, zog seinen Säbel und riss am Zügel seines Pferdes. Doch er kam nicht weit. 

Daron erkannte, wie der zweite Mann nach vorne trat. Er war jünger als der alte Anführer, hatte tief braunes Haar und einen festen Blick aus stahlblauen Augen. Dennoch wirkte er mit seiner Kutte und der gleichen Frisur fast unscheinbar. Er riss seine rechte Faust nach oben. Erneut bebte die Erde, als ein Fels aus dem Waldboden schoss. Die Beine des Pferdes brachen, als sich der Fels zwischen diese und in den Leib des Pferdes schob. Das Tier brachte noch einen grotesken Schrei hervor, bevor es sterbend zu Boden fiel und den Reiter unter sich begrub, sein Kopf in einer unnatürlichen Position vom Körper gebeugt.

Die letzten beiden Reiter versuchten gar nicht erst zu kämpfen. Hektisch wendeten sie ihre Pferde und trieben diese in den Wald. Die zwei letzten Fremden traten vor, immer noch singend. Sie unterschieden sich von den Vorderen nur durch ihre tiefschwarzen Haare, die sie beide hatten. Obwohl der eine Mann älter war, waren sie sich wie aus dem Gesicht geschnitten. Beide hoben ihre Arme auf Brusthöhe, die offenen Handflächen nach oben. Dann führten sie ihre Hände zusammen, bis sie diese vor ihrer Brust flach aufeinander legten.

Daron schaute über seine Schulter und hörte noch das Krachen von Holz. Dann sah er schon die Bäume, die von beiden Seiten auf den Weg stürzten und die Reiter samt ihrer Pferde unter sich begruben.

Mit zitternden Gliedern stand nur noch der Anführer der Urben. Er hatte seinen Säbel mit beiden Händen umfasst und deutete mit der Spitze auf den älteren Mann.

„Was seid ihr?“, fragte er mit zittriger Stimme und dem krächzenden urbischen Akzent. Daron sah, wie der Mann langsam auf den Urben zuging. Die Spitze seines Schattens berührte ihn fast, als er stehen blieb.

„Wir sind die Boten der Sonne.“, sagte der alte Mann ruhig und führte eine leichte Bewegung mit der linken Hand aus. Ein größerer Stein löste sich vom Boden und noch bevor der Urbe ausweichen konnte, zerschmetterte das fliegende Objekt seinen Schädel und eine Blutlache bildete sich an dem Ort, an dem er zu Boden ging. Mit dem Tod des letzten Urben verstummte auch der Gesang der anderen drei Männer.

Dann schaute der alte Mann zu Daron.

„Bitte tötet mich nicht.“, sagte Daron. Seine Stimme hörte sich wieder erstaunlich ruhig an. Aber wie schon vorher bei der drohenden Gefahr durch die Urben blieb er fest verwurzelt am Boden stehen. An den beiden Reitern hatte man sehen können, dass eine Flucht ausweglos war.

„Wieso sollten wir dich erst retten, um dich nun zu töten?“, fragte der alte Mann, auf dessen hartem Gesicht sich auf einmal ein geradezu unpassendes Lächeln abbildete. 

„Wer seid ihr?“, fragte Daron unsicher und fügte dann gleich die nächste Frage an. „Und wieso habt ihr mich gerettet?“

Der Alte ging einige Schritte nach vorne auf Daron zu und blieb erst kurz vor ihm stehen. Er legte seine Hände auf dessen Schulter und schaute dem Jungen tief in die Augen.

„Ja, du bist es.“, sagte er mysteriös. 

„Wer bin ich?“

„Mein Name ist Prior Cleos.“, beantwortete der Fremde nun Darons erste Frage. „Dies sind Bruder Nexan, Bruder Kortan und Bruder Gregos. Wir sind Mönche des Ordens der Laëa, aus dem Kaiserreich der Sonne.“

Daron schaute verwundert. Die Worte sagten ihm nichts. Er wusste nicht, was ein Mönch tat. Er wusste nicht, wer oder was Laëa war. Nur vom Kaiserreich hatte er Geschichten gehört, Mythen, von diesem fernen Ort. 

„Wie habt ihr das gemacht?“, stellte er aber als nächstes die offensichtlichste Frage und deutete auf die Felsen und Spalten, die den Waldboden durchzogen.

Diesmal war es nicht Cleos, der antwortete, sondern der Braunhaarige, den dieser als Nexan vorgestellt hatte. „Laëa ist die Mutter dieser Erde. Sie durchzieht alles Land. Wir sind ihre demütigen Diener und dafür schenkt sie uns ihre Kraft. Wir beten sie an, auf dass wir diese Kraft gegen unsere Feinde einsetzen können.“

„Ist das Magie?“, fragte Daron vorsichtig, hatte er doch schon so viele Geschichten über die Zauberei der Altvorderen gehört. Wie sie Elorath errichtet hatten. Oder die Brücken über den Calas. Oder mit ihrer Zauberei gegen böse Mächte gekämpft hatten.

Es war wieder Cleos, der antwortete. „Nenne es, wie du willst. Aber es gibt nur wenige, die von Laëa gesegnet sind. Doch sie hat uns den Weg zu dir gezeigt. Und ich erkenne es. Du trägst die Kraft in dir. Laëa hat dich ausgewählt. Begleite uns in das Kaiserreich und werde ihr Diener, junger Daron.“

Daron schaute Cleos verwundert hat. Woher kannte der Alte seinen Namen? Und wieso dachte er, dass er ähnliches vollbringen könnte, wie diese Männer? Er war Valore, hier geboren und aufgewachsen. Und bis er eingezogen worden war, hatte er seine Heimat, Velken, nie verlassen. Und nun wollte Cleos, dass er diese fremden Männer in das weit entfernte Kaiserreich begleitete?

„Ihr müsst Euch täuschen, mein Herr.“, sagte Daron mit zittriger Stimme. „Ich kann solche Dinge nicht vollbringen. Ich bin ein einfacher Junge aus Rethas, aus Valorien.“

Cleos lächelte und schüttelte den Kopf.

„Nein, mein Junge. Du bist alles andere als gewöhnlich. Und du wirst die Wege der Laëa lernen, wenn du das willst.“

Daron zögerte. Er schaute sich um. Traurig blickte er auf den toten Feslan hinunter. Er war ihm ein Bruder gewesen. Und nun war er tot. Genau wie Dodo und Borchart. Genau wie seine Eltern. Genau wie die schöne Ritterin. Und hunderte weiterer Soldaten. Dennoch hatte dieser Krieg doch gerade erst begonnen. Viele Weitere würden genauso sterben. Und Velken, seine Heimat. Es war unklar, wie lange es die kleine Stadt überhaupt noch geben würde. Wenn der Tod seine Klauen aus Krieg, Krankheit und Hunger ausstreckte. Doch Cleos gab ihm eine Hand. Einen Weg. Daron hatte gesehen, was die Macht dieser Göttin im Stande war. Die Mutter Laëa. Was, wenn er wirklich solche Kraft erlangen könnte? Um jene zu schützen, die ihm einst wieder wichtig sein würden. Anders als Feslan, dessen Tod er nur mit ansehen konnte.

Er nickte. „In Ordnung. Ich begleite euch.“

Er hatte schon bald aufgehört, die Tage zu zählen. Doch als er schon glaubte, die Reise würde ewig dauern, zeichnete sich am Horizont ein einsamer Berg ab. Und schließlich erkannte er die Klosteranlage, die auf halber Höhe des Berges war und wie in den Fels geschlagen wirkte. Nur ein kleiner Pfad schlängelte sich zu dieser hoch. Die Architektur erinnerte mehr an eine Burg, denn an einen Tempel. Und gleichzeitig schien die Anlage alt, denn viele der Felsen waren bereits durch Wind und Wetter geschliffen.

„Ist dies das Kloster?“, fragte Daron dann schließlich Bruder Nexan, der neben ihm wanderte. Der ältere Mönch nickte. 

„Ja, dies ist Kloster Sonnfels. Die Heimat unseres Ordens. Der heilige Sitz Laëas.“

„Wie viele Mönche leben hier?“, fragte Daron, kurz bevor sie das schwere hölzerne Tor erreichten, das die Klostermauern mit der Außenwelt verband.

„Im Moment ungefähr fünfzig Brüder. Es ist schwierig, Auserwählte der Laëa zu finden, und wir müssen die gesamte Welt bereisen, wie in deinem Fall.“, antwortete Nexan.

Dann erreichten sie geführt von Prior Cleos die Mauern. Doch bevor er durch das große Holzportal schritt, drehte dieser sich um und schaute Daron an. „Daron, von diesem Tag an bist du ein Novize der Laëa. Lerne fleißig, bete demütig und diene mit Hingabe. Dann wirst auch du einst die Macht unserer Mutter in deinen Händen halten.“ 

Teil 1:

Der Novize

Kapitel 1

Der kalte Wind wehte ihm ins Gesicht und durchdrang selbst den dicken Stoff seiner Kutte, als er auf der kleinen Straße wanderte, die auf die Grenzgarnison zulief. Ein Nordwind, der wohl der letzte Atem des Winters war, der langsam dem Frühling wich. Mit jedem Schritt, den er dem Deich näher kam, wurde der Wind durch ein weiteres Geräusch untermauert: Das grollende Rauschen des Calas, der in der Tiefe reißend gen Westen strömte.

Daron blieb kurz stehen und hielt inne. Er strich die Kapuze vom Kopf, um die frische Luft zu fühlen und den Wind aus Valorien einzuatmen. Er war in all den Jahren natürlich älter geworden, wirkte aber noch jünger als die gut dreißig Jahre, die er mittlerweile zählte. Seine Haare waren in der typischen Frisur der Mönche gebändigt, sein Gesicht so gut rasiert wie die Seiten seines Kopfes, und auch aus den grünlichen Augen strahlten eine jugendliche Stärke. Er schaute der Straße entlang. Der Weg war vor vielen Jahren gepflastert worden, aber offensichtlich war wenig investiert worden, um die Straße auch in einem akzeptablen Zustand zu halten. Auch die kleine Toranlage am Ende wirkte eher brüchig. Doch das würde sich ändern, wenn der kaiserliche Frieden erst über ganz Kargat gebracht war. Die Bauwerke dahinter waren nämlich umso beeindruckender. Die große Brücke war zeitlos. Es schien, als wären die Zeitalter an ihr vorbei gegangen, ohne sie zu berühren. Auch die große Festung mit dem eisernen Tor wirkte in der Realität noch imposanter, als in all den Geschichten. Denn Daron sah diese zum ersten Mal. Als er damals aus Valorien gereist war, hatten sie gemeinsam den Weg über Ostwacht gewählt.

Fast sechzehn Jahre waren vergangen, seit er die Heimat mit Prior Cleos verlassen hatte, um ein Mönch der Laëa zu werden. Ein Weg, der länger war, als er sich damals vorgestellt hatte. Ein Weg voller Entbehrungen, Hindernisse und Lasten. Jeder Tag war sowohl strikt geregelt, als auch sehr anstrengend gewesen. Vor dem Sonnenaufgang aufstehen. Gebete im Sonnenaufgang. Ein karges Frühstück. Morgendliche Arbeiten oder Ertüchtigungen. Ein noch kargeres Mittagsmahl. Gebet und Meditation. Körperliche Anstrengungen. Ein Abendmahl. Wieder Beten. Dann spät, nachdem die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, wieder in das harte Bett. Tag ein, Tag aus. Dennoch hatte er sein Ziel noch immer nicht erreicht. Er war ein Novize. Sein Weg war noch nicht abgeschlossen, doch durch seine Reise nach Valorien sollte dies geschehen. So hatte es ihm Cleos aufgetragen.

Mit jedem Schritt, den er der Grenze näher kam, spürte er die geheimnisvolle Kraft seines Landes. Als sich seine Fähigkeiten langsam aufgebaut hatten, er die Kraft von Laëa immer mehr spürte, hatte ihm Cleos erzählt, wie er Valorien wahrgenommen hatte. In der ganzen Welt gab es Orte, die eine besondere Nähe zur Mutter Laëa boten. Hier war es einfacher, die Kraft der Erde unter sich zu spüren, die Macht der Natur zu befehlen. Und Valorien war ein solcher Ort. Es hatte Daron fasziniert, wie beeindruckt Cleos von seinem Heimatland gewesen war. Kein Ort, selbst Kloster Sonnfels, hätte eine stärkere Ausstrahlung auf ihn gehabt. Jetzt, da er wieder in das Land zurückkehrte, spürte er es auch. Schon von den alten Bauwerken schien diese Macht auszugehen, vom reißenden Calas, und noch viel mehr von dem Land dahinter.

„Halt, Fremder.“, hörte er die harsche Stimme der Wache, als er sich dem kargatianischen Grenztor näherte. „Hier endet das Königreich Kargat. Kehre am besten um.“

Daron hielt in der Tat inne und musterte den Soldaten kurz. Es war ein junger Mann in den Farben Kargats. Rot und weiß. Kaum älter als zwanzig Jahre. Hier, im nördlichsten Winkel des Königreiches, gab es noch die Soldaten von König Magnus. Doch auch dies würde sich wohl bald ändern. 

Daron lächelte den Soldaten an. „Vielen Dank für die Warnung, guter Mann. Allerdings liegt das Ziel meiner Reise jenseits des Flusses und wenn nichts dagegen spricht, würde ich nun gerne passieren.“

„Vor uns liegt das Königreich Valorien. Dort herrscht Krieg.“, mahnte der junge Mann. Doch Daron behielt sein Lächeln bei.

„Ohh, hinter mir liegt auch Krieg. Doch wie ein Sturm im Sommer, werden diese Kriege auch wieder vorbei gehen. Also kann ich auch dorthin reisen.“

Der Soldat wirkte irritiert. Es kam nicht oft vor, dass sich Reisende auf diese Straße verirrten. Und die meisten drehten nach einer Warnung um. Doch sein Gegenüber schien fest entschlossen, das kleine Königreich im Norden zu bereisen.

„Wie steht es im Krieg im Süden?“, fragte er den Fremden, der doch offensichtlich aus dem Süden kam. Das erste Mal schwand das Lächeln von Daron und seine Stirn legte sich in leichte Falten.

„Das ist wohl immer eine Frage der Sicht. Jedoch hoffe ich, dass die Kämpfe bald beendet sein werden.“, antwortete er ungenau. Der junge Mann wirkte ein bisschen erleichtert.

„Sehr gut. Ich hatte schon befürchtet, auch noch in die Schlacht kommandiert zu werden. In Ordnung, dann geh weiter.“

Daron lächelte wieder und verbeugte sich leicht. „Hab Dank!“ Dann ging er durch den kleinen Spalt im Tor, den der Soldat geöffnet hatte, und schritt auf die große Brücke, die die verfeindeten Königreiche verband.

In einem leichten Trab führte Alois sein Pferd in den Burghof der Grenzfestung. Er schaute die Mauern hoch und beobachtete die Soldaten, die auf den Wehrgängen patrouillierten. Es waren mittlerweile nur noch wenige, die das Eisentor schützten. Zu viele Männer wurden benötigt, um die Kämpfe im Kernland des Königreiches auszutragen. Dennoch schien es ausreichend zu sein, denn Kargat hatte seine eigenen Probleme. So hörte er zumindest.

„Euer Gnaden, ich hatte nicht mit Eurem Besuch gerechnet.“, hörte Alois die Stimme des Kommandanten, der auf ihn zukam. Der Ritter schwang sich aus dem Sattel, so langsam und kontrolliert er konnte. Jeden Tag spürte er, wie ihm das Alter weiter zusetzte. Seine Locken, einst hellbraun und kräftig, waren fast vollständig grau, und bildeten an der Stirn schon deutliche Ecken. Sein Gesicht wirkte leicht eingefallen. Und dennoch war es nicht das fortschreitende Alter alleine, das ihn so gekennzeichnet hatte. Es waren die Sorgen um sein Königreich und die große Pflicht, die so schwer auf ihm lasteten.

„Es war nicht von langer Hand geplant.“, antwortete der Reichsverweser matt. Er hatte sich angewöhnt, seine Kräfte, und insbesondere seine Stimme, für Situationen zu schonen, wenn sie wirklich benötigt wurden. Für Diskussionen mit anderen Adeligen. Für Kommandos im Feld. Oder auch nur für eine Ansprache, um dem Volk Mut zu machen. Obwohl es aktuell in Valorien nicht viel gab, was Mut machen konnte.

„Es ist gut dich zu sehen, Wieland. Wie steht es um Eisentor? Haben wir Neuigkeiten über die Situation in Kargat?“, fragte er den jüngeren Kommandanten und schritt an dessen Seite in Richtung der imposanten Toranlage.

„Ich hatte Euch ja bereits von den Engpässen der Garnison berichtet. Im Moment können wir die Wachen noch besetzen, aber im letzten Monat hatten wir erneut zehn Deserteure und zwei Todesfälle, die noch nicht ersetzt wurden.“, begann der Kommandant über seine Sorgen zu sprechen. Nach dem Tod seines Vaters Diethard hatte Alois Wieland von Felden als den neuen Freiherrn des Freiherrentums in den Kronlanden eingesetzt. Seine Familie hatte stets treu zur Krone und den Erben St. Gilberts gestanden, selbst in den schweren Zerwürfnissen der letzten Jahre. So vertraute er, dass Wieland auch ihm als Reichsverweser Valoriens treu dienen würde. Ihm die Verantwortung der Grenzverteidigung zu übertragen war so nur konsequent gewesen.

„Verstanden. Ich werde sehen, was ich tun kann, wenn ich wieder in Elorath bin.“, antwortete Alois, während sie die Treppe auf die Mauer hochstiegen. Wieland lächelte bitter.

„Also werde ich wieder keine neuen Männer bekommen.“, konsternierte er.

Alois nickte bedächtig. Der Mann war ein Realist. Obwohl er wie versprochen schauen würde, ob er weitere Männer nach Eisentor schicken konnte, war er sich fast sicher, dass dies ein nicht mögliches Unterfangen war.

„Wahrscheinlich nicht.“, gab Alois zu, als sie die Zinnen erreichten und auf die Brücke und den reißenden Fluss schauten. „Hast du Nachrichten aus Kargat erhalten?“

Der Kommandant schüttelte den Kopf. Grundsätzlich war es schwierig, Nachrichten von jenseits des Calas zu erhalten. Seit jedoch der Krieg im Nachbarland ausgebrochen war, schienen noch weniger Männer den Weg über die Brücke nach Valorien zu finden. 

„Nein, Euer Gnaden. Unsere letzten Informationen sind schon einige Monate alt. Demnach stand das Kaiserreich im Hügelland von Balor.“

Alois nickte, seinen Blick immer noch auf die Brücke gerichtet. „In Ordnung.“, antwortete er. Im Prinzip war es alles gut so. Valorien hatte genug mit sich selbst zu tun. Wenn Kargat auch beschäftigt war, gab es immerhin aus dieser Richtung nichts zu befürchten. Andererseits erhöhte sich dadurch die Gefahr, auf dem Eisentor nachlässig zu werden. Insbesondere, wenn es sowieso schon zu wenige Männer waren.

„Was, wenn Kargat fällt?“, fragte der Kommandant den älteren Ritter. Alois legte die Stirn in Falten und überlegte. Eine gute Frage, die doch so ungeheuerlich erschien. Seit hunderten Jahren war der Konflikt zwischen Valorien und Kargat eine Konstante der Geschichte gewesen. Obwohl man auch in dem nördlichen Königreich von vielen Konflikten gehört hatte, die der südliche Nachbar um seine Grenzen führen musste, erschien eine vollständige Auslöschung des Königreiches unglaublich. Doch die Nachrichten, die sie Anfang des Jahres erreicht hatten, waren besorgniserregend. Das Kaiserreich der Sonne, das eigentlich weit im Süden lag, drängte nach Norden. Und es führte große Armeen.

„Ich weiß es nicht. Wir werden sehen, was die Zukunft bringt. Wenn unsere Worte des Friedens kein Gehör finden, werden wir diese Mauern mit dem Schwert in der Hand verteidigen.“, sagte Alois entschlossen.

„Wenn wir dann noch Männer auf den Mauern haben.“, merkte Wieland schmerzlich an und schaute sich um. Alois nickte zustimmend. Er hatte das Eisentor noch nie so leer gesehen, wie in den letzten Monaten.

„Du hast Recht, wir sollten Burg Eisentor wieder stärker besetzen. Ich werde nach meiner Ankunft in Elorath nach den Rittern des Reiches schicken. Denen, die noch übrig sind. Vielleicht erkennen selbst Celan in seinem Hochmut und Forgat in seinem Wahn, dass ein Fall des Eisentors gravierender ist, als jeder Kampf, den wir innerhalb Valoriens führen können.“

Wieland schaute skeptisch. War es nicht der Herzog von Tandor, der zumindest in großem Verdacht stand, schon den ersten Fall der Grenzfeste begünstigt zu haben? Dennoch wagte er es nicht dem Reichsverweser zu widersprechen. Das Wesen von Alois, das über die Zeit immer wieder zwischen strenger Entschlossenheit und naiver Vergebung gegenüber anderen schwankte, war vielleicht der Grund, wieso das Reich noch nicht vollkommen in Flammen versunken war. Ein jähzorniger Mann wie der einstige Reichsverweser Heinrich von Goldheim hätte schon längst einen großen Krieg gegen Celan geführt. Vielleicht auch gegen Forgat. Doch Alois hatte selbst in den schwersten Stunden einen Ausgleich mit den Herzögen gesucht. Selbst einigen Eroberungen Tandors stattgegeben, wenn ein Gegenangriff nicht erfolgsversprechend war. Umso entschlossener hatte er die verbleibenden Länder der Kronlande verteidigt. Vielleicht war es gerade diese Unberechenbarkeit, die Celan, den ewig strategisch Berechnenden, bisher von einem endgültigen Sieg abgehalten hatte.

„Sieh!“ Die Stimme von Alois riss Wieland aus seinen Gedanken. Er hatte dem Ritter und Reichsverweser seine Bedenken nicht mitgeteilt. Es war wohl besser so. Dann lenkte dieser aber die Aufmerksamkeit auf die Brücke. Auch Wieland erkannte, wie das Tor auf der kargatianischen Seite geöffnet wurde und ein einzelner Wanderer auf die große Brücke über den Calas trat.

„Ein Reisender, der wie gerufen kommt.“, antwortete Wieland. „Womöglich bringt er Neuigkeiten aus dem Süden.“

Alois nickte. „Ja, wenn sich schon mal ein Wanderer hierher verirrt, sollten wir auf gute Nachrichten hoffen.“, sagte er und ging mit Wieland den Wehrgang hinunter. Nur wusste er leider selber nicht genau, was er als gute Nachrichten erhoffte. Einen Sieg Kargats? Eine Niederlage? Oder einfach ein endloser Krieg, der das Nachbarland beherrschte, so wie die Herzöge Valoriens dieses Land in ihren Händen und im Krieg hielten. 

„Halt. Nenn deinen Namen und dein Belangen, wenn du das Eisentor nach Valorien durchschreiten willst.“, hörte Daron die feste Stimme einer Wache und legte den Kopf in den Nacken. Die Mauern ragten hoch aus dem Tal des Flusses hinaus und im Licht der Sonne konnte er die Konturen des Mannes nur erahnen, der ihn angesprochen hatte. Um ihn ein bisschen besser zu sehen, wenn er antwortete, legte er seine Hand auf die Stirn und schirmte seine Augen gegen die hellen Sonnenstrahlen ab.

„Mein Name ist Daron. Ich bin einfacher Wanderer aus Vadenfall, einer großen Stadt im Ylonischen Bund. Ich bin auf der Reise, um alle Länder dieser Welt kennen zu lernen.“, rief er entgegen. Es war am einfachsten, sich als Wanderer auszugeben. Und nicht zu sagen, dass er aus dem Kaiserreich stammte. Denn der Ruf des ehrgeizigen Kaisers und seiner schlagkräftigen Armeen eilte ihm voraus.

„Du hast einen langen Weg hinter dir, Reisender.“, hörte er die Antwort von den Zinnen. Dann tat sich erstmal nichts. Etwas unsicher stand Daron vor dem verschlossenen Tor. Die Wachen schienen nicht gewillt, ihm Einlass zu gewähren. Nun gut, im schlimmsten Fall würde sich seine Mission verzögern. Dann musste er eben nach Ostwacht weiter. Oder ein Schiff nach Lyth Valor suchen. Es gab genug Routen, um nach Valorien zu kommen, wenn man entschlossen genug war.

Doch dann hörte er zu seiner Überraschung Rufe aus der Burg. Er konnte die Worte hinter den Mauern nicht verstehen, hörte dann aber den mechanischen Laut des Riegels, der zurückgezogen wurde. Im nächsten Moment öffnete sich einer der Flügel mit einem Quietschen, sodass ein Spalt offen stand, weit genug, um hindurchzutreten. Unsicher ging er weiter auf das Tor zu und schritt dann schließlich hindurch.

Hinter dem schweren Eisentor standen drei Wachen mit Speeren in der Hand, die in skeptisch begutachteten. Sie trugen die dunkelblauen Wappenröcke Valoriens.

„Ein Reisender aus dem Ylonischen Bund?“, fragte einer der Männer mit hochgezogener Augenbraue und musterte Daron von Kopf bis Fuß. „Immerhin anscheinend unbewaffnet.“, stellte er fest, als auf einmal zwei weitere Männer hinzutraten und die Wachen respektvoll zurückwichen und sich verneigten.

Der jüngere der beiden Männer lief einen halben Schritt hinter dem Anderen. Seine dunkelbraunen Haare waren kurz geschoren, sein Gesicht pockenvernarbt, und dennoch war es der feste Blick, der ihm die Aura eines Anführers gab. Dies wurde auch durch die aufwändige Rüstung untermauert, die ihn als einen Adeligen auswies. Dennoch schien er dem älteren Mann untergeordnet, der weniger herrschaftlich, ja fast erschöpft wirkte. Trotz all der Jahre erkannte Daron den Ritter sofort. Alois von Schöngau.

„Verschwindet, ich übernehme das.“, herrschte der Kommandant seine Wachen an, die sich sofort wieder daran machten, das Tor zu verschließen und auf ihre Posten zu gehen. 

Daron verneigte sich leicht vor den Männern. „Habt Dank, dass Ihr mich in Euer Land gelassen habt.“, sprach er Alois an. „Es ist mir eine Ehre und Freude, einem wahrhaften Ritter Valoriens zu begegnen.“

Alois hob skeptisch eine Augenbraue. „Woher weißt du wer ich bin?“, fragte er den Fremden. Daron ertappte sich, dass er mehr preisgegeben hatte, als vielleicht ratsam war. Natürlich, er würde das Bild des gelockten Ritters, der sich über die sterbende Ritterin von Mondschein gebeugt hatte, niemals aus den Erinnerungen verlieren. Aber er machte sich wohl in der Tat verdächtig, wenn er als Fremder die Adeligen Valoriens erkannte. Dann schaute er auf das Schwert, das Alois an seinem Gürtel trug. Eine silberne Scheide mit violetten Amethysten. Zweifellos eine meisterhafte Arbeit.

„Das weiß ich leider nicht, mein Herr. Doch die Geschichten über die legendären Ritter Valoriens erschallen weiter über die Grenzen Eures Reiches hinaus. Mein Name ist übrigens Daron.“, sagte er und verneigte sich erneut.

Alois Züge entspannten sich und er nickte. „Wohl wahr. Ich bin Alois von Schöngau, Ritter und Reichsverweser Valoriens. Dies ist Wieland von Felden, Kommandant von Burg Eisentor. Sag, Daron, du kommst aus dem Süden, oder? Kannst du uns Neuigkeiten über Kargat bringen? Wie steht der Krieg mit dem Kaiserreich?“

Daron senkte kurz den Kopf um zu überlegen. „Mein Herr, ich bin leider kein Stratege oder Krieger, um das beurteilen zu können.“, begann er zu sprechen. „Allerdings ist es deutlich, dass die Truppen unter der Sonne des Kaisers große Teile Kargats bereits besetzt halten. Ich selbst bin Soldaten aus dem Weg gegangen, aber die südlichen und östlichen Länder sind fest in der Hand der Kaiserlichen. Man sagt, es wird nicht mehr lange dauern, bis der Kaiser seine Hand auch nach weiteren Ländern ausstreckt. Die Angst, das nächste Ziel zu sein, ist in meiner Heimat, dem Ylonischen Bund, groß. Aber vielleicht richtet er seinen Blick auch nach Norden.“, sprach Daron wenig konkret. Natürlich wusste er es besser. Er wusste genau, wo die Soldaten standen. Aber eine Mischung aus Realität mit vagen Andeutungen sollte genug sein, um Alois von seiner Aufrichtigkeit zu überzeugen.

Der Ritter blickte zu seinem Kommandanten, der ernst nickte. Beide schienen sich bestätigt zu fühlen, teilten ihre Gedanken aber nicht mit Daron. 

„Danke, Daron.“, sagte Alois. „Noch einmal zu dir: Was suchst du in Valorien?“

Daron lächelte und seine Augen funkelten. Obwohl sein Auftrag, von Prior Cleos ausgesprochen, wohl ein anderer war, war es für ihn ein leichtes, den Grund seiner Reise zu nennen. Denn neben seinen Pflichten als Diener der Laëa war es ihm in der Tat ein großes Anliegen, das Land seiner Herkunft und dessen Helden kennen zu lernen.

„Ich reise durch die Länder dieser Welt, um mein Wissen und meine Erfahrungen zu mehren. Und ich kam nach Valorien, um den Geschichten über die großen Ritter nachzugehen. Und jene über die Herzöge, die gemeinsam mit dem König das Land beherrschen. Sagt, Herr von Schöngau, wo befinden sich die anderen Ritter des Reiches?“

Daron sah, wie Wieland verächtlich schnaubte. In Alois Blick hingegen sah er Enttäuschung. Und Traurigkeit. Doch es war der Kommandant, der das Wort ergriff.

„Die Ritter des Reiches gibt es so im Moment nicht. Sie scheinen wie ein Relikt aus besseren Tagen.“, antwortete er enttäuscht. Alois wandte seinen Blick zu ihm. „Wieland.“, sagte er scharf, wusste aber auch nicht, was er erwidern sollte. Denn genau genommen hatte der Kommandant Recht. Also atmete er kurz durch und wandte sich dann wieder an den Fremden.

„Es ist, wie Wieland sagte. In dieser Zeit gibt es nicht mehr viele Ritter, und jene, die noch existieren, bekämpfen sich gegenseitig. Als Reichsverweser habe ich stets versucht, das Reich zusammen zu halten, aber es scheint jeden Tag mehr auseinander zu gleiten. Ich bin ein Ritter, doch neben mir gibt es nur noch vier Männer, die diesen Titel tragen. Graf Valentin wacht über Ostwacht, doch seine Loyalität ist zweifelhaft. Der alte Helmbrecht von Rethas hat sich schon lange von der Krone und Elorath abgewandt, und sein Leben will nicht enden. Herzog Celan von Tandor führt einen erbitterten Kampf um das Land, der immer mal wieder aufflammt, aber in den letzten Monaten ruhig war. Und Arthur von Freital ist ein geächteter Verräter, der sich in den Wäldern Rethas verschanzt. Geron von Dämmertan verschwand vor vielen Jahren aus dem Reich, genauso wie das Schwert von Fendron. Sein eigentlicher Träger, Forgat, befindet sich in seinem Herzogtum in einem religiösen Wahn. Drei weitere Ritterschwerter befinden sich ohne Nutzen und ohne Träger im Rittersaal in Elorath. Du siehst, Daron, es steht nicht gut um das Reich, das du erkunden willst.“, schloss Alois ab.

„Es ist keine gute Zeit, um Valorien zu bereisen.“, fügte Wieland hinzu. Daron senkte den Kopf, hob ihn dann aber wieder mit einem hoffnungsvollen Lächeln.

„Jetzt bin ich ja bereits hinter dem Eisentor. Und es scheint in jedem Land Krieg zu herrschen. Ich glaube, die Hoffnung der Menschen auf Frieden ist stets größer und wird die Konflikte besiegen. Wenn Ihr erlaubt, Herr von Schöngau, würde ich gerne an meinem Plan festhalten, Euer Land zu bereisen.“

Die beiden Männer wirkten ob des Optimismus von Daron verwirrt, schauten sich kurz an. Aber dann nickte Alois und konnte sogar auch leicht lächeln.

„Es sei dir gestattet. Wenn du willst, kannst du dich meiner Reisegruppe anschließen. Ich werde morgen wieder nach Elorath aufbrechen. Ein paar Geschichten aus fernen Landen mögen mich auf andere Gedanken bringen. Bessere jedenfalls, als die Realität meines Landes erlaubt.“, bot er Daron an. 

Der Novize lächelte und verbeugte sich erneut. „Es wäre mir eine große Freude und Ehre, Euer Gnaden.“

Kapitel 2

Taskor rannte durch die Gänge der Festung von Härengar. Seine Schritte hallten durch die alten Mauern, und dennoch wirkte dies wie ein unwichtiges Hintergrundgeräusch. Der wahre Lärm des Momentes kam von draußen, von der Stadt.

Da waren zuerst die Schreie. So viele Schreie. Vor Angst. Vor Schmerzen. Vor Entsetzen. Oder auch nur die Rufe der Befehle. Soldaten lagen sterbend in den Straßen. Zivilisten rannten vor dem heranrückenden Feind, um irgendwo einen Ort der Sicherheit zu finden. Doch diesen Platz gab es wohl in ganz Härengar nicht. Nicht mal in der großen Festung des Königs. Die letzten kargatianischen Truppen, die noch kämpften, versuchten eine Verteidigung zu koordinieren. Tapfere Offiziere voran. Doch Taskor glaubte nicht mehr daran, dass ihr Leben gerettet werden konnte.

Dann war da das Krachen der Belagerungsmaschinen. Der Feind hatte Katapulte um die Stadt herum aufgebaut, die feurige Kugeln nach Härengar schleuderten, damit ein Teil der Stadt nach dem anderen in Flammen aufging. Es war die wohl effektivste Angriffsmethode gewesen, denn die Sorge um ihre Familien hatte viele Soldaten dazu gebracht, ihre Waffen niederzuwerfen und zu ihren Liebsten zu eilen, um diese aus den Flammen zu retten. Obwohl der Feind schon längst in der Stadt war, waren noch vereinzelte Brandgeschosse zu hören. Das entfernte Klacken der Katapulte. Das Surren in der Luft. Der krachende Aufprall.

Die Flammen waren ein weiterer Klang, der an seine Ohren drang. Er hielt kurz inne, als er aus dem Augenwinkel das gelbe Flackern sah und schaute zum Fenster hinaus. Der Ostturm stand vollkommen in Flammen. Sie knisterten und das Knacken von Balken war zu hören, die von den Flammen geschwächt brachen. So wie die Geräusche der Brände lag auch schwarzer Rauch über der gesamten Stadt. Taskor rieb sich kurz die Augen, die ob des Rauches brannten. Der Ostturm war verloren. Und damit eine weitere Hoffnung Kargats. Eigentlich war dies sein Ziel gewesen, denn die beiden Zwillinge waren dort untergebracht. Tyl und Adela von Kargat, die jüngsten Kinder von Kronprinz Liam. Doch der Turm war verloren, wie auch seine Bewohner. Er könnte vielleicht noch hinein laufen, aber dadurch würde er nur sein eigenes Leben wegwerfen. Nein, das Leben der Kinder war verloren.

Er wandte sich ab und rannte an der Abzweigung vorbei, die ihn zum Ostturm geführt hätte. Das Klirren der Klingen schien näher zu kommen. Überall in der Stadt hörte man kämpfende Männer. Stahl, der auf Stahl, Holz, oder in Knochen schlug. 

All diese Geräusche und Wahrnehmungen waren ihm bekannt. Es schien ihm selbst, als schaute er auf hunderte Schlachten und Belagerungen zurück, in denen er all diese Eindrücke ein ums andere Mal wahrgenommen hatte. Aber in dieser Schlacht kam ein neues Geräusch hinzu, das alles zugleich untermalte als auch überlagerte. Es war ein neues Geräusch dieses Krieges. Und dieses Feindes. Dem Kaiserreich der Sonne.

Trommeln und Flöten. Klänge, die er schon so oft auf Festen gehört hatte. Das schnelle Rattern von Trommeln, die im Takt geschlagen wurden. Die hohen Töne von Flötenmelodien, die selbst großen Lärm überlagerten konnten. Doch von nun an würde diese für ihn immer mit Schrecken belegt sein. Die Art zu kämpfen, in die Schlacht zu ziehen, hatte er so noch nie bei einem Feind gesehen. Dennoch war das Resultat mehr als beeindruckend. Es war erschreckend.

Im Vergleich zu den Truppen Kargats schickte das Kaiserreich fast ausschließlich Fußsoldaten in eine Schlacht, die in genau gleiche Truppenteile aufgeteilt waren. Immer einhundert Mann, immer die gleiche Bewaffnung, immer die gleiche Befehlsstruktur. Von diesen Gruppen gab es Dutzende, die in monotonem Gleichschritt dem Feind entgegen marschierten. Getrieben und begleitet von dem Spiel einer Trommel und einer Flöte. Nun marschierten sie durch die Straßen von Härengar. Und er, General Taskor Graufels, konnte sein Heil und das Heil des Königreiches nur noch in der Flucht suchen. Mit dem Versuch, die letzten lebenden Mitglieder des Königsgeschlechts zu retten.

“Majestät, die Stadt ist verloren.“, sagte er schwer atmend, als er die Tür am Ende des Korridors aufschlug. Es gab allen Grund zur Eile und keinen Grund an den Tatsachen vorbei zu reden. Erst als er die Tür hinter sich zuschlug konnte er den Raum kurz mustern. 

Neben ihm waren zwei Frauen und ein Soldat im Raum. Der Soldat stand in den Farben Kargats stramm an der Tür. Sein junges Gesicht war starr vor Angst und Anspannung. Die blonden Haare gaben ihm etwas Jungenhaftes. In der Tat war er wohl noch keine zwanzig Jahre alt. Doch Taskor ignorierte ihn und ging sofort auf die ältere Frau zu, die gerade aus ihrem Stuhl aufsprang, und kniete vor ihr nieder.

„Wir sollten so schnell wie möglich versuchen, aus Härengar zu fliehen, um Euch und Eure Tochter in Sicherheit zu bringen.“, fuhr Taskor fort, bevor sie antworten konnte.

„Wieso bist du nicht bei Liams Söhnen?“, fuhr ihn die Frau an, obwohl die Stimme mehr verzweifelt als wirklich wütend war. Taskor erhob sich nach einem kurzen Zeichen und musterte sie. Trotz ihres vorangeschrittenen Alters, waren ihre Haare noch immer hellbraun wie in früheren Tagen. Lediglich ihr Gesicht wirkte matter und schwächer, und dennoch erkannte man die Schönheit, die Hega von Kargat einst ausgestrahlt hatte.

„Es war Kronprinz Magnus, der mich angewiesen hat, Euch und Eure Kinder in Sicherheit zu bringen, Majestät. Ich wollte dem nicht zustimmen, aber der Befehl war eindeutig.“

„Was ist mit ihm? Und meinem Mann? Und mit Wolf? Und wo sind die anderen Kinder von Liam? Wo sind Tyl und Adela?“, fragte Hega aufgebracht.

Taskor senkte den Kopf. Es war schwierig, solche Nachrichten zu überbringen. Besonders in einer solchen Stunde, da es keine zwei Tage her war, seit die Königin ihren Stiefsohn verloren hatte. Obwohl Kronprinz Liam nicht ihr leiblicher Sohn gewesen war, war ihr Verhältnis immer gut gewesen. Oder vielleicht genau deshalb, waren die beiden doch fast im gleichen Alter. Es waren auch die Umstände dieses Verlustes gewesen, die nicht nur die Königin, sondern ganz Kargat entsetzt hatten. Der Plan des alten Königs war sehr gut gewesen. Das heranrückende Heer von Kronprinz Liam sollte dem Feind in den Rücken fallen, der doch gerade erst damit begann, eine Belagerung um Härengar zu legen. Gleichzeitig führten dessen Söhne, Wolf und Magnus, einen Ausfall aus der Stadt, um den Feind in einer Zangenbewegung niederzuringen. Doch der Plan war gescheitert. Die Kampfkraft der kaiserlichen Truppen war überragend gewesen, vernichtend für das kargatianische Heer. Während die beiden Söhne des Kronprinzen noch den Rückzug in die Stadt befehlen konnten, war Liam verloren gewesen. So wie sein Bruder Beorn einst war er heldenhaft in der Schlacht gefallen. Es waren die Tage der schweren Nachrichten. Doch es gab keinen Grund, diese zurück zu halten.

„Majestät, Euer Mann starb heldenhaft in der ersten Angriffswelle, die er selber zurückschlagen wollte.“, sagte Taskor anerkennend. Er selbst spürte langsam die Last des Alters in seinen Knochen. König Magnus war ungleich älter, und dennoch hatte ihn sein schierer Wille erneut in die Rüstung und vor seine Männer getrieben, um seine Stadt, seine Heimat zu verteidigen. Ein ehrenhaftes Ende für einen großen König.

Hega nickte traurig. Magnus, der große König der letzten Jahrzehnte, hatte sein eigenes, würdiges Ende gefunden. Irgendwie war sie erleichtert für ihren Mann. Doch sie konnte nichts sagen, bevor Taskor weitersprach, nun mit deutlich gesenkter Stimme.

„Magnus der Jüngere und Wolf…“, sprach der General leise und mit gesenktem Kopf, „…nachdem sie mir den Befehl gaben, Euch in Sicherheit zu bringen, konnte ich von der Mauer noch sehen, wie ihre Linien überrannt wurden. Wolf ging von mehreren Bolzen getroffen zu Boden. Magnus wurde von mehreren Soldaten umzingelt. Vielleicht ist er gefangen genommen, allerdings müssen wir davon ausgehen, dass er ebenso wie sein Bruder und sein Großvater gefallen ist.“

Taskor erkannte, wie Hega langsam schwächer wurde. Er trat vor und hielt sie am Arm, half ihr wieder Platz zu nehmen. Doch die Königin konnte nichts sagen. Brachte kein Wort des Wehklagens hervor. Und Taskor war immer noch nicht am Ende seines Berichts der Trauer.

„Tyl und Adela. Sie… nun… ein Geschoss traf den Ostturm. Er steht in Flammen. Ich konnte nicht mehr rechtzeitig vordringen. Anscheinend hat es niemand mehr hinaus geschafft. Der Eingang ist eingestürzt. Es gibt keine Hoffnung.“

Hega schlug die Hände vor das Gesicht. Taskor hörte ein Schluchzen und dann einen leisen Satz. „Es ist alles verloren.“

Er wusste nicht wirklich, wie er mit der Situation umgehen sollte. So viele Schlachten waren vergangen, in denen er sich bewähren musste. In denen immer wieder Männer gefallen waren, deren Tod er den Familien erklären musste. Auch damals, als er König Magnus vom Tode Beorns hatte berichten müssen. Aber die Fülle der schlimmen Nachrichten, die Schutzlosigkeit der Königin, dieser Moment der Hoffnungslosigkeit. Dafür wusste Taskor keine Lösung.

„Mutter.“, sagte die andere Frau leise, als sie auf Königin Hega zuging. Sonya von Kargat hatte die gleichen, hellbraunen Haare wie ihre Mutter, die aber im Vergleich zu ihr leicht gelockt waren. Ihre tiefgrünen Augen gaben ihr etwas Mysteriöses, das doch ihre Schönheit nur hervorhob. Taskor war in diesem Moment dankbar über die beeindruckende Stärke, die die Prinzessin an den Tag legte. Immerhin waren es auch ihre Brüder und Neffen gewesen, die ihr Leben verloren hatten. dennoch wirkte sie gefasst, legte ihre Hand tröstend auf den Arm der Mutter.

„Nein, Majestät, noch ist nicht alles verloren.“, sagte Taskor etwas steif. „Noch gibt es eine Nachfahrin Wulfrics, die das Königsgeschlecht weiterführen kann. Majestät, prinzliche Hoheit, wir müssen so schnell es geht aus Härengar fliehen. Die Stadt ist gefallen, aber so lange das Volk Kargats noch auf eine Königin hoffen kann, ist das Land noch nicht verloren.“

Hega schaute ungläubig auf und fixierte Taskor erneut fast wütend. Ihre Augen waren rot, Tränen rannen über ihre Wangen. Aber Hega von Kargat war immer eine starke Frau gewesen. Wut war ihr näher als Trauer. Sie schaute den General giftig an.

„Über was für eine Hoffnung redest du, Taskor? Du hättest an der Seite meiner Enkel stehen sollen, um tapfer mit ihnen zu sterben. Wie ein Feigling bist du in die Burg geflohen, um deine eigene Haut zu retten. Und nun willst du, dass ich genauso davon laufe? Niemals. Wenn das Königshaus von Kargat zu Grunde geht, dann mit erhobenem Haupt. Hier und heute.“

„Mutter.“, sagte Sonya beruhigend und sofort wich die Wut Hegas ob der sanften Worte ihrer Tochter. „General Graufels hat Recht. Ich bin mir sicher, dass er mit Freuden als erstes gefallen wäre um unser Leben und das Leben der Prinzen zu schützen. Aber die Zeit lässt sich nicht zurück drehen. Lass uns fliehen, wenn wir können.“

Taskor nickte wortlos. Er hatte die Wut von Hega verdient. Und konnte über die Stärke von Sonya nur staunen. Sie hatte Recht. In jedem Moment, den sie zögerten, kamen die kaiserlichen Truppen näher. Ohne weiter auf eine Entscheidung der Frauen zu warten, drehte sich Taskor zu dem jungen Soldaten an der Tür um.

„Du, wie ist dein Name?“

„Be…Benno. Benno Mühlknecht.“, antworte der junge Mann stotternd. Die Angst stand ihm im Gesicht.

„Gut, Benno. Du wirst uns begleiten. Du bist für das Leben der Königin und der Prinzessin verantwortlich. Du wirst sie keine Sekunde aus den Augen lassen. So wie ich wirst du dich mit Freuden in jede Klinge stürzen, die ihnen zu nahe kommt, verstanden?“, sprach der alte General in zackigem Befehlston. 

Benno spannte den ganzen Körper an und verbeugte sich leicht. „Natürlich, mein General. Aber wie wollen wir fliehen?“

Taskor legte die Stirn in Falten. Der Weg über den Burghof war zu gefährlich. Auch den Weg an die Anlegestelle der Festung konnten sie nicht nehmen, denn die Schiffe des Kaisers hatten den Hafen unter Belagerung genommen.