Monster - Manuel Blötz - E-Book

Monster E-Book

Manuel Blötz

4,9

Beschreibung

Auf der Nordsee wird die Crew einer Yacht brutal ermordet. Der Kapitän ist der einzige Überlebende und behauptet, dass es ein schreckliches Monster gewesen ist. Kommissar Michael Logat beginnt zu ermitteln und gerät dabei selbst in das Visier des grausamen Killers. Doch als er der Lösung des Falles näher kommt, steht er einem neuen, noch viel größerem Gegner gegenüber, dessen Einfluss bis in die höchsten Regierungskreise reicht. Für ihn beginnt ein Kampf auf Leben und Tod

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Nordsee, 30 Seemeilen vor Brunsbüttel, 2014
In der Nähe von Swakopmund, Namibia 2004
Nordsee, 10 Seemeilen vor Brunsbüttel , 2014
Universitätsklinik, Kiel 2014
In der Nähe von Swakopmund, Namibia 2004
Flughafen Hamburg, 2014
A7, zwischen Hamburg und Kiel, 2014
Kiel, Büro von meinem Chef 2014
Kiel, Pathologie 2014
Kiel, Außengelände 2014
Tinnum, Sylt, 2014
In der Nähe von Swakopmund, Namibia 2004
Kieler Hafen, Friedrichsort 2014
Kiel, mein Büro 2014
Kiel, bei mir zu Hause 2014
Auf dem Weg nach Sylt 2014
Tinnum, Sylt 2014
Walvis Bay, Namibia 2004
Kiel, Büro von meinem Chef 2014
Blickstedter Burger 2014
Intercity Hotel Kiel 2014
Kiel, bei mir zu Hause 2014
Kiel, mein Büro 2014
Swakopmund, Namibia 2004
Kiel, mein Büro, 2014
Haus von Jonathan Baumann, Rendsburg 2014
Danksagung

Impressum neobooks

FÜR MEINE LIEBE FRAU

JENNIFER

UND MEINE BEIDEN SÖHNE

LEWIS UND OWEN

MONSTER

„Macht der Vater seinem Sohn ein Geschenk, lachen beide.

Macht der Sohn dem Vater ein Geschenk, weinen beide.“

William Shakespeare

Nordsee, 30 Seemeilen vor Brunsbüttel, 2014

Seine Augen suchten in der Dunkelheit nach einem festen Punkt. Der Mond hatte sich hinter den dicken Wolken versteckt, so dass kein Licht durch die Panoramafenster in den Salon durchdrang. Nicht einmal die Umrisse der Möbel konnte er ausmachen. Er wusste zwar, wo der Mahagonitisch stand und auch die zwölf italienischen Sovrana Stühle, auf denen er und seine Gäste normalerweise gemeinsam zu Abend aßen, aber er konnte sie nicht sehen. Er kannte die Samphire wie seine Westentasche. Jeder Quadratzentimeter hatte sich in den letzten zehn Jahren, seitdem er die sechzig Meter lange Benetti Yacht gekauft hatte, in sein Gedächtnis gebrannt.

Er streckte die Arme nach vorne und versuchte, etwas zu ertasten. Carsten brauchte einen Anhaltspunkt. Seine Hände zitterten, als er die Lehne des ersten Stuhles zu fassen bekam. An der Art wie der Stuhl stand, wusste er, wo er sich befand, und bewegte sich jetzt schneller, um den Salon hinter sich zu lassen und die Brücke zu erreichen.

Er machte einen Schritt nach vorne, doch plötzlich rammte ihn etwas zur Seite, so dass er gegen den Tisch knallte. Carsten wurde auf den Boden geschleudert und die Wucht war so stark, dass er die Orientierung verlor.

Es war also noch da. Er hatte Schwierigkeiten, die Atmung zu kontrollieren. Der Schmerz des Aufpralls und die Panik legten sich wie zwei unsichtbare Hände um seinen Hals und drückten ihm die Luft ab. Er hatte das Gefühl, als würde er ersticken.

»Reiß dich zusammen Carsten. Du bist noch immer der Herr deiner Sinne!« Er musste die Worte laut aussprechen, damit er sie glauben konnte, denn es war ganz und gar nicht so, als wenn er die Kontrolle über sich hatte.

Der größte Teil seiner Erinnerungen aus den letzten Stunden, war wie ausradiert. Es waren nur noch Bruchstücke und nicht einmal in diesem Moment, wo er unter Schmerzen am Boden hockte, konnte er verstehen, was passiert war. Er wurde angegriffen, so viel wusste er. Auch, dass er auf der Flucht vor einem Jäger war. Aber warum?

Er lauschte in die Dunkelheit. Die gespenstische Stille, die ihn umgab, beruhigte und beunruhigte ihn zugleich. Er war sich sicher, dass es ihn beobachtete und mit ihm spielte. Sitzen zu bleiben, war keine Option, also schwang er sich unter Schmerzen auf die Beine und suchte erneut einen Fixpunkt.

Ein Flüstern. Er hörte es zwar, verstand es aber nicht. Verwirrt guckte er in alle Richtungen und versuchte, das Geräusch zu lokalisieren, musste aber einsehen, dass es unmöglich war. Das Geflüster kam von überall. Von oben, von links und von rechts, von vorne und auch von hinten. War es nur einer, der ihn jagte, oder waren es mehrere? Die Panik kam zurück und auch seine Brust schnürte sich wieder zu.

Er machte einen Schritt, hielt jedoch sofort inne. Er konnte nicht glauben, was er sah. Auf dem Boden, genau dort, wo er soeben hintreten wollte, brach plötzlich ein Feuer aus. Er spürte die Hitze und der Geruch nach verbranntem Holz stieg ihm in die Nase. Doch etwas war seltsam. Es brannte. All seine Sinne bestätigten das, aber es gab kein Licht von sich. Dort waren nur die Flamme und der schwarze Hintergrund.

Er hatte keine Zeit, um zu verstehen, wie das möglich war. Er musste fliehen. Er machte einen Schritt nach rechts und in der Sekunde, als er an den Flammen vorbei ging, stieß er gegen etwas Weiches. Ein quiekender Laut entwich seiner Kehle und er erstarrte in der Bewegung. Vorsichtig, beinahe behutsam, hob der die Hände, um zu fühlen, was sich ihm in den Weg gestellt hatte. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er bemerkte, dass es keine Einbildung war. Der linke Zeigefinger traf zuerst auf das Hindernis. Es stand direkt vor ihm, da gab es nicht den Hauch eines Zweifels. Er sog die Luft ein, als er die Haare fühlte, die seine Finger jetzt berührten und sprang zurück.

Mit einem ohrenbetäubenden Knall zersprang die Vitrine aus Kristallglas hinter ihm an der Wand. Mit aufgerissenen Augen wartete er auf den unvermeidlichen Aufprall auf dem Boden. Er spürte wie die scharfen Kanten, des zerschmetterten Glases, tiefe Schnitte in seiner Haut hinterließen. Unter ihm breitete sich eine Lache aus einer Mixtur der exklusivsten Whiskeys, Weinbrände, Rums und Wodkas aus.

Wie hatte es so weit kommen können? Noch vor zwei Tagen hatte er die Samphire aus der Werft in Southampton aus der Inspektion abgeholt. Carsten mochte es nicht, wenn er sein geliebtes Schiff aus der Hand geben musste. Für ihn waren die Leute, die die Wartung durchführten, allesamt Stümper. Schmierige Typen, die nach jedem Besuch behaupteten, dass er gerade noch rechtzeitig gekommen sei, um größere Schäden zu verhindern. Ein guter Kapitän aber kennt sein Boot und weiß am besten, was es braucht.

Eine Inspektion und der damit verbundene dreitägige Stopp in England kostete ihn immer ein kleines Vermögen, ganz zu schweigen davon, dass er in dieser Zeit keine Gäste befördern konnte. Normalerweise schwimmt die Samphire in den Gewässern, rund um die Kanarischen Inseln und vor Afrika. Sie bringt die Reichen und Schönen vom Kieler Hafen aus über den Nord-Ostsee Kanal, entlang an der europäischen Küste bis nach Gran Canaria, Teneriffa, Fuerteventura und anschließend den afrikanischen Kontinent hinunter bis nach Kapstadt. Die Reise war nicht besonders günstig. Die Yacht hatte sechs Kabinen, von denen eine für die Crew war und die anderen Fünf für die jeweiligen Gäste. Zeitweise waren zehn Reisende und vier Stewarts an Board. Der Preis für eine Fahrt lag pro Person in einem hohen sechsstelligen Bereich, dafür hatten die Passagiere jedoch alles inklusive und genossen den höchsten Luxus. Es ging also weniger um das Ziel, sondern vielmehr um die Reise.

In den Kreisen der Highsociety kannte man ihn und diese Überfahrten. Die Kunden kamen von überall aus der Welt angereist und jeder, der sich für etwas Besonderes hielt, musste sie mitgemacht haben. Es dauerte teilweise bis zu einem Jahr, um einen Platz auf der Yacht zu bekommen.

Natürlich erwarteten die Gäste für einen so hohen Preis, dass er ein makelloses Wartungsbuch vorweisen könnte.

Wenn die Passagiere schliefen, saß er auf der Brücke und genoss die Aussicht über die dunkle See. Er vermied es, zu schlafen solange es ging, denn ansonsten träumte er jede Nacht von dem Vorfall, der sich vor zehn Jahren abgespielt hatte und wachte dann schweißgebadet in seinem Bett auf.

Da er ohnehin nicht viel Zeit in seiner Kajüte verbrachte, gab es keine Notwendigkeit diese großartig einzurichten.

Drei mal drei Meter, mehr Platz gab es dort nicht, aber es reichte, um ein Bett aus einem einfachen Holzgestell unterzubringen, dass so aussah, als wenn er es aus einer Jugendherberge gestohlen hätte. Aus einem Bullauge in der Mitte des Raumes konnte er auf die offene See blicken und direkt darunter hatte er einen Sekretär untergebracht, auf dem das Logbuch lag. Es gab weder Fotos noch Bilder von Familienmitgliedern, was daran lag, dass seit dem Kauf der Samphire, niemand mehr mit ihm verwandt war.

Carsten hatte seine Kajüte direkt neben der Brücke einbauen lassen, so dass er im Notfall sofort vor Ort wäre.

Seine Exfrau Alisha hatte sich vor sechs Jahren von ihm scheiden lassen und Kinder gab es keine. Carsten war über beide Ohren verliebt und ignorierte die Tatsache, dass eine so junge und wunderschöne Frau sich in einen wie ihn fast unmöglich verlieben würde. Sie war von Anfang an auf sein Geld und eine deutsche Staatsbürgerschaft aus.

Er hatte sie bei seinem Aufenthalt in Afrika kennengelernt. Einen Tag nachdem das grausame Ereignis passierte, welches ihm seither schlaflose Nächte bereitete. Alisha schaffte es in kürzester Zeit, ihn um ihren Finger zu wickeln, indem sie ihn umwarb und auch im Bett keine Grenzen kannte.

Da weder sie noch er eine Familie vorweisen konnte oder Freunde, die es Wert gewesen wären, sie einzuladen, feierten die Beiden ihre Hochzeit nur zu zweit.

Nachdem Alisha es die vorgeschriebenen zwei Jahre mit ihm ausgehalten hatte, schob sie ihm pünktlich zum zweijährigen Hochzeitstag die Scheidungspapiere über den Tisch. Sie machte zuvor nie den Eindruck auf ihn, als wenn sie ihre Gefühle nur vortäuschen würde. Doch an diesem Tag war jegliche Liebe und Zuneigung von ihr gewichen. Sie blickte ihn mit Verachtung an und erst, als er sah, um was es sich handelte, verstand er.

Den Gewinn, den er mit den Überfahrten verdient hatte, musste er mit ihr teilen, was ihr ein paar Millionen einbrachte. Es störte ihn jedoch nicht, er brauchte kein Geld. Er lebte auf der Samphire und alles, was er zum Leben benötigte, hatte er dort.

Erst als sie auch an die Yacht wollte, lief Carsten zur Höchstform auf. Es gab eine Schlammschlacht, die er am Ende für sich entscheiden konnte, da er die Benetti weit vor ihrer Ehe gekauft hatte.

Seine Exfrau kaufte sich von seinem ehemaligen Vermögen ein Haus in Norderstedt. Eine riesige weiße Villa inmitten einer grünen, weitläufigen Landschaft.

Carsten selbst machte einfach da weiter, wo er einen Tag vor ihrem zweiten Hochzeitstag aufgehört hatte. Er brachte Touristen von Kiel nach Afrika. Carsten ließ es sich nicht anmerken, dass er in Scheidung lebte und wenn einer seiner Gäste fragte, wo Alisha war, behauptete er einfach, sie wäre zu ihrer Familie nach Afrika zurückgegangen. Zum Glück stiegen die Passagiere immer in Kapstadt aus und nahmen dann ein Flugzeug für die Heimreise. Er bot grundsätzlich nur eine Hinfahrt an. Die Strecke nach Kiel zurück, fuhr er ausschließlich mit der Mannschaft.

Er gab sich stets charmant gegenüber seinen Kunden und diese würden ihn als herzensguten Menschen darstellen. Dennoch war Carsten kein geselliger Mann. Er mochte die Ruhe und fühlte sich wohler, wenn er alleine sein konnte. Er hatte ausgerechnet, dass allein die Hinfahrt seine Kosten deckte und einen ordentlichen Gewinn einbrachte. Die Reise zurück nach Kiel nutzte er, um für sich sein zu können. Seine Crew wusste das und ließ den Kapitän mit seinem Ruder alleine.

Die Samphire zu kaufen war eine spontane Idee. Er hatte sich damals schnell in sie verliebt, fast noch schneller als in Alisha. Dieses Boot zog ihn magisch an. Es schien ihm seinerzeit wie ein Wink des Schicksals zu sein. Er bekam die Yacht angeboten und kurz zuvor erst die Mittel, um sie sich überhaupt leisten zu können.

Nie wäre ihm der Gedanke gekommen, dass ein Leben auf See etwas für ihn sein könnte. Er hatte früher einen Doktortitel besessen und war Theoretiker, kein Praxismensch. Die Situation erforderte es jedoch, dass er umdisponieren musste und kaum hatte er den Anker das erste Mal gelichtet, spürte er eine Vertrautheit, wie sie zuvor nie da gewesen war. Er fühlte die Freiheit, verglich sich mit Kapitän Nemo. Der gesamte Ozean der Welt lag ihm zu Füßen, er konnte alles machen, was er wollte. Es gab niemanden mehr, der ihn herumkommandieren würde. Er traf ab jetzt seine Entscheidungen selber.

Ein einziges Bild hing in seiner Kajüte direkt über dem Bett. Es war ein Ölgemälde von ihm selbst. Ein Künstler namens Jacque DeFleur hatte es einst gemalt, während er Gast an Bord der Samphire war. Carsten mochte den Kerl nicht besonders. Er hatte eigentlich so gut wie keine Vorurteile, aber dieses tuntige, metrosexuelle Verhalten, das er an den Tag legte, machte ihn aggressiv. Jede noch so kleine Welle war für Jacque wie ein perfekter Pinselstrich der Natur. Carsten fürchtete die abendlichen Rundgänge über sein Schiff. Er hatte Angst davor, dass er Jacque eines Tages dabei erwischen würde, wie er onanierender Weise an der Reling stand, weil ihm der Anblick des Mondes, wie er sich auf der Wasseroberfläche spiegelte, erregte. Als sie dann im Hafen von Kapstadt einliefen und sich alle voneinander verabschiedeten, überreichte Jacques ihm das Gemälde. Carsten überkam sofort ein schlechtes Gewissen. Hin und wieder schickten die Passagiere ihm eine Ansichtskarte aus dem Urlaub nach der Überfahrt, die er meist direkt in den Müll warf, aber noch nie bekam er etwas so Persönliches von einem Gast geschenkt.

Es war eines der wenigen Bilder von ihm, die er mochte. Dieses kantige, wettergegerbte Gesicht, welches ihm die See über die Jahre verpasst hatte. Die weißen Haare und der Vollbart ließen ihn aussehen, wie Käpt´n Iglo, nur mit einer heroischen und respekteinflößenden Aura. Die Präsenz, die das Gemälde ausstrahlte, schüchterte sogar ihn selber ein.

Die Augen taxierten jeden Betrachter mit einem finsteren Blick, der aus allen Winkeln des Raumes so aussah, als würden sie einen genau beobachten.

Er verbrachte nie viel Zeit in seiner Kajüte. Die Brücke war sein Wohnzimmer und das verließ er nur dann, wenn es unbedingt nötig war. Nur dort fühlte er sich wohl, denn hier hatte er die Kontrolle über sich und alles andere.

Doch heute war es anders. Er saß nicht auf dem lederbezogenen Stuhl hinter den riesigen Fensterscheiben, von wo aus er den Bug und die offene See sehen konnte. Er kommandierte nicht seinen Steuermann und auch nicht die restliche Besatzung. Er war nicht mal auf seiner Brücke.

Er lag in den Scherben der Vitrine, die eben noch mit den teuersten alkoholischen Getränken gefüllt war. Nur sehr langsam kam er wieder zu sich. Er konnte sich an alle Einzelheiten seiner Vergangenheit erinnern. Daran, wie er und Alisha sich zum ersten Mal küssten oder wie er den Rumpf der Samphire mit den Händen berührte, kurz nachdem er sie gekauft hatte. Er besaß ein aldetisches Gedächtnis! Selbst wenn er es wollte, konnte er nichts vergessen. Und dennoch war dort eine Lücke. Jedes noch so kleine Detail brannte sich in seine Erinnerungen ein, als wären es Meilensteine in seiner Geschichte. Nur die letzten vierundzwanzig Stunden fehlten ihm, als wenn sein Gehirn versäumt hätte, sich einzuschalten und die Erlebnisse abzuspeichern.

Carsten drehte sich auf den Bauch. Er blickte wie durch einen Wasserfall, denn seine Tränen sammelten sich vor der Netzhaut. Die Schmerzen, die die Einschnitte des Glases bei jeder Bewegung hinterließen, waren unerträglich. Seine Arme und Beine fühlten sich schlaff an, so als hätte er einen Marathon gelaufen und dabei die ganze Zeit Gewichte gestemmt.

Nur mit viel Mühe richtete er sich auf und seine Hände griffen nach dem Mahagonitisch. Das Feuer, das er eben noch sah, war erloschen. Es gab keine Glut. Keinen beißenden Geruch. Nichts, was auf einen Brand hinwies. Spielte sein Gehirn ihm Streiche? Dachte er sich das alles nur aus?

Sein Blick ging verwirrt zu den Punkten im Raum, an denen er die Türen vermutete. Es war noch immer stockdunkel. Jemand musste den Strom abgeschaltet haben. Aber wer? Und wiese sprang die Notbeleuchtung nicht an? Normalerweise dauerte es nur zwanzig Sekunden. Er irrte jedoch seit mehreren Minuten in der Finsternis herum.

Carsten tastete sich langsam in Richtung der Treppe vor, die zur Brücke hoch führte. Er wurde wieder panisch und sein Herz klopfte vor Angst so heftig unter der Brust, dass es jeden Moment zu explodieren drohte. Im fiel wieder ein, dass er gejagt wurde.

Er hörte Schritte. Schwere Schritte. Er spürte, wie es ihn beobachtete.

Ich kann es hören, es wird mich töten. Er wollte nicht sterben.

Wieder ein Flüstern. Dann schlug eine große Welle gegen die Samphire und brachte sie fast zum Kentern. Die anderen Gläser und Flaschen rissen aus ihren Halterungen und wurden an die holzvertäfelte Wand geschleudert. Sie zersprangen laut in ihre Einzelteile. Carsten wurde erneut auf die Seite gerissen.

Als sich das Boot wieder aufrichtete, kam er zurück auf die Beine und verstand die Welt nicht mehr. Noch vor ein paar Sekunden lag die Samphire ruhig in der See und plötzlich waren sie in einen Hurrikane geraten?

Er spürte einen Windzug, dann einen warmen Hauch in seinem Nacken, so als würde jemand hinter ihm stehen. Er wirbelte herum, doch als seine Hände in die Dunkelheit griffen, war dort nur der leere Raum.

Wo war es hin? Hatte es ihn mittlerweile umkreist? Lauerte es auf dem Tisch und kostete seine Angst aus? Ich kann es hören. Ich höre, wie es atmet.

Carsten suchte wieder nach der Treppe. Er lauschte angestrengt, woher das Atemgeräusch kam.

Flüstern. Und dann war es still. Kein Geräusch, keine Atmung mehr. Nur seine Eigene. Die Samphire lag wieder ruhig in der See. Carsten tastete in seiner Umgebung nach bekannten Gegenständen, um sich erneut zu orientieren. Er griff nach links und nach rechts. Suchte nach dem Tisch, konnte ihn aber nicht finden. Eben war er doch noch da. Wo war er hin? Stattdessen ertasteten seine Finger etwas, was ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er spürte die Haare und war sich sicher, dass es keine Einbildung war. Es stand jetzt direkt neben ihm.

Seine Gedanken überschlugen sich, die Augen suchten fieberhaft in der Dunkelheit nach der Treppe, doch er sah nur Schwärze und hatte plötzlich keine Ahnung mehr, wo er war.

Doch plötzlich sprang die Notbeleuchtung an und tauchte den Raum in ein bedrohliches Rot. Waren tatsächlich nur zwanzig Sekunden vergangen? Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Wie konnte das sein? Oder wurde sie manipuliert?

Carsten war erleichtert, doch als die Umrisse vor ihm anfingen, Formen anzunehmen, verschlug es ihm den Atem. Für einen kurzen Moment stand er auf der Stelle. Unfähig auch nur einen Muskel zu bewegen und versteinert vor Angst. Jetzt war es soweit, die Jagd hatte ein Ende. Es kauerte direkt vor ihm, keinen Meter entfernt und regte sich nicht. Sein Herz sprang ihm fast aus der Brust. Er schloss die Augen und rannte los, in der Hoffnung den Körper vor ihm aus dem Weg zu rammen. Durch das Notlicht wusste er nun, wo die Treppe war und während er darauf zu rannte, prallte er ständig gegen etwas Weiches. Hände griffen nach ihm, versuchten, ihn festzuhalten. Er wandte sich, wich aus. Wie schaffte es dieses Ding, immer wieder ihn zu überholen und sich ihm in den Weg zu stellen?

»Lass mich los, lass mich in Ruhe!«, brüllte Carsten. Er erreichte den Aufgang und nahm jeweils zwei Stufen auf einmal. Er hielt inne. Die dicke graue Stahltür, die die Brücke vom Rest des Schiffes trennte, war verschlossen. Er hatte sie offen gelassen. Er sperrte sie nicht ab, wenn er keine Gäste beförderte.

Er griff nach dem großen Hebel und versuchte ihn nach unten zu ziehen, doch sie schien zu klemmen. Wieder Schritte. Dieses mal deutlich lauter. Es gab keinen Zweifel. Es ging auf ihn zu. Panisch mobilisierte er seine letzten Kraftreserven und schaffte es schließlich, den Hebel nach unten zu ziehen. Er sprang durch die Tür und wollte sie gerade zuwerfen, als er einen Schatten sah, der die Treppe hochkam.

Carsten drehte sich um. Er stand auf der Brücke.

Sein Blick ging durch den Raum. Er suchte den Schatten, doch er war alleine.

Wieder ein Flüstern. Carsten schloss die Augen. Er presste die Lider so stark zusammen, wie er nur konnte. Das Alles musste er sich einbilden. Anders konnte er es sich nicht erklären.

Er atmete einmal tief ein und wieder aus, bevor er die Augen öffnete.

Sein Herz setzt einen Schlag aus, als er aus dem Fenster vor sich sah. Der Horizont kippte plötzlich nach oben und er selber drohte nach hinten zu fallen. Instinktiv krallte er sich an dem Kapitänsstuhl fest und wartete auf das Unvermeidliche. Er konnte kurz einen leichten Schimmer sehen, an der Stelle wo der Mond hinter den Wolken lag. Ein paar Sekunden lang herrschte Stille. Fast so, als hätte jemand die Zeit eingefroren. Dann kippte die Samphire von der Welle und rauschte nach unten. Carsten sah die harte Wasseroberfläche, auf die sein Schiff jetzt zuraste.

Für Sekunden war er schwerelos und seine Beine hoben ab. Sein Griff wurde vom Stuhl gelöst und als der Bug einschlug, konnte er sich nicht mehr festhalten und wurde auf das Steuerpult geschleudert. Noch nie in seinem Leben hatte er einen solchen Schmerz wie diesen gespürt. Es gab ein lautes Knacken, als die Hebel und Knöpfe seine Rippen brachen und es raubte ihm fast die Sinne. Ihn überkam eine Müdigkeit, so als wenn sein Verstand in die Bewusstlosigkeit abtauchen wollte.Aber er durfte nicht einschlafen. Nicht so lange es ihn noch jagte.

Das Schiff schoss wieder aus dem Wasser hervor und er wurde auf den Boden vor dem Pult geschleudert. Er knallte dabei mit dem Kopf auf die Halterung des Stuhles und sah für kurze Zeit Sterne. Er spürte, wie aus der Platzwunde an der Stirn warmes Blut über sein Gesicht lief. Er raffte sich trotz starker Schmerzen wieder auf.

Flüstern. Er blickte aus dem Fenster in Richtung Bug. Die Wellen waren weg. Die Nordsee lag glatt wie ein Teppich vor ihm. Fast so, als wenn es nie einen Sturm gegeben hätte.

Carsten legte eine Hand an die Stelle, an der seine gebrochenen Rippen schmerzten und humpelte zur Konsole hinüber, an dem das Funkgerät angebracht war.

Er hörte Schritte und drehte sich zu Tür um, durch die er eben selber die Brücke betreten hatte. Er erschrak, denn da stand es. Blickte ihn direkt an. Carsten machte einen Schritt zurück und stolperte, so dass er auf dem Hintern landete. Er neigte den Kopf zur Seite und sah, dass er nicht mehr weit weg vom Funkgerät war. Er robbte rückwärts zur Konsole und guckte dabei zum Eingang. Es war groß, hatte ein getigertes Fell und dunkle schwarze Augen, die mit einer leuchtenden gelben Iris durchzogen waren. Es sah aus wie ein Tiger, nur dass es nicht auf allen Vieren lief, sondern aufrecht stand. An den Pfoten prangten lange scharfe Krallen und in seinem Maul konnte er die Reißzähne erkennen, an denen der Speichel herablief. Es hatte den Kopf auf die Seite gelegt, so als würde es sich erstmal anschauen, was sein Opfer als Nächstes machen wollte. Ohne dabei die Gefahr zu sehen, dass es ihm entkam.

Carsten stieß mit dem Rücken gegen die Konsole und griff mit der rechten Hand nach oben, um den Hörer vom Pult zu nehmen. In diesem Moment kam es mit langsamen Schritten auf ihn zu.

Er drückte den Sprechknopf.

»SOS! Hilfe! Bitte helfen Sie uns! SOS!«, brüllte er.

»Hier spricht die Küstenwache. Identifizieren Sie sich und nennen Sie uns ihre Position!«

»Mein Name ist Käpt´n Carsten Svensson, ich bin auf der Samphire.«

»Bitte geben Sie uns ihre Position durch.«

»Wir brauchen Hilfe!« Es stand bereits fast vor ihm.

»Was haben Sie für einen Notfall?«

»Es hat alle getötet und jetzt ist es hinter mir her.«

»Carsten, Sie müssen mir sagen, wo Sie sind, ansonsten...« Der Funk wurde kurz unterbrochen. »Warten Sie, ich habe Ihr AIS Signal lokalisiert. Bleiben Sie ruhig, wir schicken jemanden zu Ihrer Position.«

Nur noch zwei Schritte, dann würde es direkt über ihm stehen.

»Zu spät! Es wird mich töten.«

»Wer wird Sie töten? Carsten?«

»Das Monster!«

Carsten sackte am Pult zusammen und der Hörer fiel ihm aus der Hand. Er legte sich auf die Seite. Der Kopf des Monsters war direkt über ihm. Carsten zog die Beine an seine Brust und fing an, vor und zurück zu wippen. Er schloss die Augen und begann, ein Gebet zu sprechen. Er spürte den warmen Hauch von der Bestie, die jetzt bis zu seinem Gesicht an ihn herangekommen war. Er fühlte die Haare, die ihn berührten, roch den stinkigen Atem und hörte das Knurren, das aus der Kehle kam.

Er hatte Angst. Aber er wusste, dass er nichts tun konnte, um seinem Schicksal zu entrinnen. Ein brennender Schmerz begann sich in seiner Brust auszubreiten und dehnte sich aus, so als würde er aufgeschlitzt werden. Er wollte sich nicht mehr wehren. Es sollte endlich vorbei sein.

Der Schmerz wurde unerträglich und er schrie noch einmal laut auf, bevor sein Verstand die Oberhand gewann und Carsten in eine tiefe Dunkelheit schickte.

In der Nähe von Swakopmund, Namibia 2004

Der kleine Junge saß auf dem Dach seines Elternhauses und genoss die unendliche Weite, die er von dort überblicken konnte. Der rote Sand der Savanne und die flirrende Luft darüber wirkten so, als würde der Boden wie ein schier endloser Teppich aus kleinen Flammen ewig brennen. Die dicken Stämme der Schirmakazien ragten aus dem lodernden Boden heraus und ihre Blätterdächer, die wie grüne aufgespannte Sonnenschirme aussahen, spendeten den Gazellen, die darunter lagen, ein wenig Schatten. Einige fraßen die dürren Halme des ausgetrockneten Steppengrases, andere wiederum dösten einfach vor sich hin.

Nico konnte bis an den Horizont blicken, wo sich die Berge vom Namib Naukluft Park in den tiefen blauen Himmel erstreckten. Sie wirkten mit einer unheimlichen Anziehungskraft auf ihn. Manchmal verfingen sich ein paar Wolken an ihren weißen Spitzen und als wären die hohen Gipfel mit etwas Klebrigen eingeschmiert worden, dauerte es sehr lange, bis diese sich wieder lösen konnten. Er wusste, dass es dort einen Ferienkomplex gab, aber dieser Ort lag viele Kilometer von ihm entfernt.

Obwohl es nicht viel war, was es zwischen dem Haus, in dem er lebte und den Bergen zu sehen gab, kannte er keine schönere Beschäftigung als seinen Blick über die Wüste gehen zu lassen.

Sein Vater hatte die Lehmhütte vor vielen Jahren mit Hilfe der anderen Einwohner dieses kleinen Dorfes am Rande von Swakopmund gebaut. Es gab insgesamt zehn weitere Familien, die hier lebten. Alle hatten ihre Häuser so aufgebaut, dass sie in einem Halbkreis nebeneinander standen. Zwischen den Gebäuden gab es viel Platz, da einige Dorfbewohner Tiere hielten und andere Gemüse anpflanzten. Sie versorgten sich gegenseitig mit Nahrung und nur, wenn etwas übrig blieb, fuhren die Männer mit den Waren in die Stadt und verkauften sie an die dortigen Straßenhändler. Das verdiente Geld wurde aufgeteilt und für Material ausgegeben, um die Häuser zu reparieren oder zu renovieren.

Das Frühjahr lief gut für Nicos Familie, so dass sein Vater von dem Geld Holz kaufte und die Wände des Wohnzimmers damit verkleidete. Es sah jetzt sehr luxuriös aus und der Junge war stolz darauf. Die anderen Räume des Hauses waren von innen wie auch von außen aus Lehm. Die Fenster waren mit dreckigen Laken verdeckt, die tagsüber mit Wasser benetzt wurden, damit es in den Zimmern ein wenig Abkühlung gab. Leider gab es keine anderen Kinder in der Siedlung, so dass er sich alleine beschäftigen musste. Sein Vater hatte den ganzen Tag mit den Ziegen im Stall zu tun und seine Mutter kümmerte sich um das Gemüse im Garten.

Die Sonne brannte unerbittlich auf ihn herab, doch die Hitze machte ihm nichts aus. Seine hellbraune Haut absorbierte die Strahlen. Die Mittagszeit war die heißeste Phase eines Tages in Namibia. Das Thermometer zeigte vierzig Grad im Schatten an und auf offener Fläche herrschten bis zu fünfzig Grad.

Nicht einmal sein Vater schaffte es lange in der Wärme auszuhalten und das, obwohl er in Namibia geboren wurde. Er hatte bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr hier gelebt und war dann nach Deutschland ausgewandert, um dort zu studieren.

Auch heute hatten sich ein paar Gazellen in einiger Entfernung zum Grasen niedergelassen. Die meisten von ihnen hockten auf dem Boden und hatten ihre Augen geschlossen. Nur vereinzelt standen welche und fraßen. Immer wieder streckten sie die Köpfe hoch, um nach Feinden Ausschau zu halten und wenn sie sich in Sicherheit wähnten, fraßen sie weiter.

Der Junge hatte schon oft gesehen, wie Löwen die Gazellen jagten. Erst trennten sie die schwächeren Tiere von der Herde. Es waren meistens die Jüngeren oder Kranken und dann schnappten sie gnadenlos zu. Er war fasziniert davon, wie effektiv, erbarmungslos und gezielt diese Jagd ablief. An diesem Tag jedoch schien es keinen Angriff mehr zu geben. Manchmal stellte er sich vor, dass er ein Tiger war, der auf die Jagd ging und dann die Löwen verfolgte. Er wäre der König der Wüste. Er wusste, dass es keine Tiger in Afrika gab, deshalb war er sich sicher, dass er der unangefochtene Herrscher über alle Tiere sein würde.

Am Vormittag fuhr sein Vater ihn mit einem alten Toyota nach Swakopmund, wo er zur Schule ging. Obwohl der Wagen den Dorfbewohnern gemeinsam gehörte, war sein Vater der Einzige, der ihn nutzte.

Er ging sehr gerne zur Schule und war der Beste in seiner Klasse. Seine Lieblingsfächer waren Deutsch und Chemie. Er lernte sehr viel mit seinem Vater, der selber Chemiker geworden war und ihm alles zeigte, was er wusste. Das Periodensystem kannte er bereits auswendig, noch bevor er in die vierte Klasse ging und auch im Deutschunterricht war er allen anderen Kindern einen großen Schritt voraus. Seine Mutter kam aus Deutschland. Sie war eine hübsche Frau, wie er selber fand und obwohl sie täglich der Sonne ausgesetzt war, weil sie im Garten Gemüse anpflanzte und fast den ganzen Tag damit beschäftigt war es zu hegen, blieb ihre Haut blass. Sie war blond und damit fiel sie in der Bevölkerung Namibias natürlich auf. In der Stadt nannte man sie bloß die Duitse, was afrikaans für »die Deutsche« war. Es war jedoch nicht abfällig gemeint. Die Leute liebten sie, weil sie freundlich und warmherzig war. Sie gab den Menschen in den Geschäften immer Tipps, wie man die deutschen Gerichte würzen sollte und hin und wieder brachte sie dann einen großen Topf voller Essen mit nach Hause. Die Leute wollten, dass sie es probierte und ihnen sagte, ob sie es gut machten. Gestern gab es Königsberger Klopse und sie meinte, dass es fast wie zu Hause schmeckte.

Seine Eltern waren ausgewandert, als er ein Jahr alt war. Sein Vater ist gebürtiger Namibier und träumte immer davon eines Tages wieder zurück in seine Heimat zu gehen. Seine Mutter war anfangs nicht begeistert davon, aber nachdem sie hier beide einen Urlaub verbracht hatten, konnte sie gar nicht mehr aufhören von der Lebensfreude der Menschen zu sprechen. Der Junge wurde zwar nicht in Namibia geboren, aber seine Eltern erzählten ihm, er sei hier gezeugt worden und das machte ihn stolz.

Seine Großeltern aus Deutschland waren nicht glücklich darüber, dass sie hierher gezogen sind. Die Eltern von Antonia, seiner Mutter, waren die einzigen Großeltern, die er noch hatte. Die seines Vaters waren schon vor sehr langer Zeit gestorben.

Seine Oma und sein Opa waren natürlich besondern traurig darüber, dass sie ihren einzigen Enkel nur dann sehen konnten, wenn sie nach Namibia reisten.

Er freute sich jedes Mal, wenn sie zu Besuch kamen, und lauschte gespannt den Geschichten, die sie aus ihrer Heimat mitbrachten. Sie redeten in Deutsch mit ihm, was er sehr gut fand und sie lobten ihn immer, wie toll er die Sprache beherrschte. Sie brachten Fußballsammelkarten mit und er war ein großer Fan des FC Bayern München. In seinem Zimmer hingen Poster von der Mannschaft und er trug so oft es ging das Trikot seines Lieblingsvereins.

An einem Abend hörte er, wie sich seine Eltern mit seinen Großeltern stritten. Vorher hatten sie noch gemeinsam zu Abend gegessen. Seine Mutter hatte einen typisch afrikanischen Kürbis-Lamm-Eintopf gemacht, der sehr lecker geschmeckt hatte. Dazu gab es Rotwein, den seine Großeltern mitgebracht hatten.

»Mein Junge, du musst jetzt sehr stark sein, aber dieses Jahr wird wohl Werder Bremen die Meisterschaft gewinnen.«, sagte sein Opa mit gespielter Traurigkeit.

»Das macht nichts Opa, dann gewinnen sie eben im nächsten Jahr.« Nico stellte sich vor, wie er im Stadion sitzen und seine Mannschaft nach vorne brüllen würde.

Wie es in Namibia üblich ist, gab es als Nachtisch einen Karottenkuchen. Nachdem er diesen aufgegessen hatte, schickten seine Eltern ihn unter Protest ins Bett. Er wollte natürlich noch nicht schlafen gehen, aber sein Vater bestand darauf. Viel lieber hätte er mit seinem Opa noch über Fußball gefachsimpelt.

Seine Oma hatte ihm das aktuelle Poster vom FC Bayern München aus dem Kicker mitgebracht und er hatte es an die Decke über seinem Bett geklebt. Da er nicht schlafen konnte, lag er einfach nur da und starrte auf das Bild.

Als die Stimmen aus dem Wohnzimmer lauter wurden, stand er auf und schlich sich an die Tür um besser zu verstehen, worum es ging.

»Es fehlt ihm an nichts. Er geht zur Schule, bekommt regelmäßig zu Essen und fühlt sich hier wohl.« Er kannte die Stimme seines Vaters und erkannte am Klang, dass er sich bemühte, nicht die Fassung zu verlieren.

»Ihr lebt in einer verdammten Lehmhütte irgendwo im nirgendwo« Es war sein Opa. »Meine Tochter ist den ganzen Tag damit beschäftigt, draußen im Garten eure Lebensmittel zu wässern.«

»Mir geht es gut, Vater.« Seine Mutter mischte sich mit ein, wobei ihre Stimme eher verhalten klang.

»Natürlich geht es dir gut.« Der Sarkasmus war nicht zu überhören. »Wieso solltest du auch in Deutschland leben, wo dein Mann in meiner Firma arbeiten und gutes Geld verdienen könnte? Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du dieses Leben hier freiwillig vorziehst?!«

»Papa, ich liebe meinen Mann. Ich möchte, dass es ihm gut geht und außerdem lebe ich gerne hier.«

»Es ist, als würde ich gegen eine Wand reden. Du hattest früher so große Pläne, du wolltest Ärztin werden und jetzt sieh dich an. Du lebst Tür an Tür mit Ziegen.«

Er hatte diese Gespräche schon oft gehört, wenn seine Großeltern hier waren. Sie und seine Eltern tranken zu viel Wein und stritten sich anschließend immer darüber, warum sie nicht in Deutschland leben würden. Irgendwann gingen alle ins Bett und am nächsten Morgen sprachen sie nicht weiter über dieses Thema.

Er wusste nicht, ob er überhaupt in Hamburg leben wollte. Hier hatte er seine Freunde in der Schule und es fehlte ihm tatsächlich an nichts.

Aber es war auch spannend darüber zu grübeln, wie es sein würde auf eine deutsche Schule zu gehen.

Wenn er wollte, könnte er sich die Bayern-Spiele im Fernsehen anschauen und vielleicht sogar mal mit dem Zug ins Stadion fahren. Aber das würde er ja ohnehin bald machen. Sein Opa wollte ihn zu seinem dreizehnten Geburtstag abholen und für vier Wochen mit nach Deutschland nehmen.

Nach einer Woche reisten seine Großeltern wieder ab. Sie verbrachten nie viel Zeit in Namibia. Sie fühlten sich hier nicht besonders wohl. Doch dieses mal war es anders. Sie waren angespannt und er bemerkte, dass sein Opa sich seinem Vater gegenüber nicht wie üblich verhielt. Irgendetwas musste bei dem Streit doch anders verlaufen sein, denn sie sprachen kein Wort mehr miteinander.

Sie aßen noch einen weiteren Abend zusammen, aber es wurde nicht mehr viel geredet. Sie saßen still auf ihren Plätzen und hatten die Blicke auf ihre Teller gerichtet. Nachdem sie aufgegessen hatten, standen alle auf und seine Großeltern fuhren mit ihrem Mietwagen in die Stadt. Bisher hatte sie sich nie ein Hotel genommen, sondern blieben die komplette Woche im Dorf. Sie feierten die abendlichen Partys mit, die die Einwohner ihnen zu ehren gaben und machten dabei auch immer den Eindruck, als wenn es ihnen gefallen würde. Natürlich war es dann am letzten Tag immer ein tränenreicher Abschied, wenn sie zum Flughafen zurückfuhren.

Er machte sich große Sorgen um seine Großeltern, weil sie nur kurz am letzten Tag vorbeischauten, um sich zu verabschieden. Seine Oma weinte mehr als sonst und er hatte das Gefühl, dass ihre Tränen dieses mal nicht ihm galten, sondern mehr seiner Mutter. Sein Opa hingegen würdigte seinem Vater keines Blickes.

Wenn Nico seinen Vater fragte, was denn los war, bekam er stets keine Antwort.

So verstrich die Zeit und bald darauf hatte er den Zwischenfall wieder vergessen.

Es waren nur noch 4 Tage, bis sein Opa ihn abholen wollte und er hatte ein bisschen Angst davor. Er war noch nie lange von zu Hause weg gewesen und er hatte auch noch nie in einem Flugzeug gesessen. Hin und wieder flog mal eines über sein Haus hinweg, aber er hatte noch keines von ganz nah gesehen. »Machst du dir Sorgen?« Seine Mutter war die Leiter hochgeklettert und ihr Kopf lugte über den Rand des Daches. Verdammt, dachte er sich. Wie konnte sie sich so anschleichen? Er hatte es nicht mitbekommen. Ein toller Tiger bist du.

»Nein Mama. Du weißt doch, dass ein Tiger keine Angst hat.«

»Es ist aber keine Schande Angst zu haben. Auch Raubtiere fürchten sich hin und wieder vor Dingen. Weißt du, das muss so sein, denn Angst kann auch etwas Gutes sein.«

»Ja? Wieso ist es gut, wenn man Angst hat?«

»Weil sie dich davor bewahren kann, etwas Dummes zu tun.« Nico nickte und sie lächelte ihn müde an. Er war ihr kleiner Sonnenschein.

Antonia und Lemalian hatten lange Zeit versucht, ein Baby zu bekommen, aber es hatte nicht funktioniert. Sie ließen sich auf alles testen, aber es gab keinen Grund dafür, dass sie nicht schwanger wurde. Irgendwann fassten sie den Entschluss, in eine Klinik zu gehen und sich künstlich befruchten zu lassen. Den Preis dafür, konnten sie jedoch nicht aufbringen. Antonia weinte sich jeden Abend in den Schlaf, sie sehnte sich so sehr nach einem Baby. Lemalian wollte ihr dieses Glück schenken, aber er wusste nicht wie.

Eines Abends lagen sie gemeinsam im Bett und schauten sich eine Dokumentation über Namibia an. Sie verfolgten aufmerksam, wie der Reporter sich mit einem Zelt durch die Wüste schlug und dabei erklärte, wie man den Gefahren der Savanne in die Augen sehen musste.

»Vermisst du es?«, fragte Antonia mit leiser Stimme.

»Was vermissen?«

»Deine Heimat. Vermisst du es, dort zu sein?«

»Natürlich. Aber ich würde dich viel mehr vermissen.«

»Das ist lieb von dir, dass du das sagst.« Sie legte ihren Kopf auf seine Brust und streichelte ihn sanft mit dem Zeigefinger. »Was vermisst du am meisten?«

»Das ist nicht so einfach zu erklären.« Er atmete tief ein. »Das Gefühl dort zu sein, ist ein anderes als hier. Hier geht es nur um Geld und um Besitz. In Namibia geht es um Gemeinschaft, zumindest da, wo ich herkomme.«

»Was hältst du davon, wenn wir da hinfahren?«

»Wir sparen für unser Glück, mein Schatz. Wir haben kein Geld dafür.«

»Es ist mir egal. Wir müssen auf andere Gedanken kommen, hier gehen wir kaputt.« Sie sprang auf und das erste mal seit Langem war das Lächeln wieder in ihr Gesicht zurückgekehrt.

Sie verbrachten zwei Wochen in einem kleinen Hotel in Namibia und besuchten die Sehenswürdigkeiten. Antonia verstand sehr schnell, was Lemalian meinte, als er das Lebensgefühl beschreiben wollte. Die Menschen waren warmherzig und freundlich. Nicht weil sie es mussten, sondern weil sie es wollten. Antonia verliebte sich in die Leute und in das Land.

Gleich am ersten Tag vergaßen sie ihre Sorgen und wenn sie sich liebten, dann aus purer Lust und nicht, weil sie ein Ziel hatten.

Antonia war traurig, als sie am Ende in Namibia in das Flugzeug stiegen, um wieder nach Deutschland zurückzukehren. Sie vermisste die Kultur und die lieben Menschen, die sie auf ihrer Reise kennengelernt hatten.

Einen Monat später bemerkte sie, dass ihre Periode ausgeblieben war und als sie eines Morgens einen Test machte, konnte sie es kaum glauben, als sie das kleine Pluszeichen auf dem Schwangerschaftstest sah.

Sie war außer sich vor Freude und wollte es am liebsten gleich in die Welt hinausschreien, aber sie wusste auch, dass man es nicht vor der zwölften Woche bekannt geben sollte, weil es bis dahin immer passieren kann, dass man das Kind wieder verliert. Sie wollte nicht, dass es passiert und auch auf gar keinen Fall, dass die Leute dann Mitleid mit ihr hatten.

Als Lemalian abends nach Hause kam, empfing sie ihn mit einem Essen aus seiner Heimat und sie stellte zwei Babyschühchen auf seinen Teller. Er hatte es erst gar nicht bemerkt, aber als er sich an seinen Platz setzte, ging ihm ein Licht auf. Antonia beobachtete ihn genau, um seine Reaktion zu sehen und freute sich umso mehr, als sich seine Mundwinkel nach oben zogen und er freudestrahlend aufsprang.

»Soll das bedeuten wir bekommen ein Baby?« Er hielt in seiner Freude kurz inne. Aber als sie mit Tränen in den Augen nickte und ihn anlächelte, gab es kein Halten mehr. Er fing an, vor Freude zu schreien. Er ging auf sie zu und nahm sie vorsichtig in den Arm.

»Wir bekommen ein Baby!« Er schrie es laut heraus und Antonia musste ihn bremsen.

»Nicht so laut, es soll doch noch keiner wissen.«

»Wieso? Ich will, dass es alle wissen.«

»Wir müssen noch warten. Es kann leider noch einiges passieren, deshalb wartet man zwölf Wochen, dann können wir es erzählen.«

Er legte seine Hände an ihre Schultern und blickte ihr mit ernster Miene in die Augen.

»Dann darf nichts passieren. Du wirst morgen deinen Job kündigen und du wirst nichts Schweres mehr heben. Ich mach das alles, du kümmerst dich um euch.« Er ging um den Esstisch herum und zog ihren Stuhl zurück. »Setz dich. Ich mach das mit dem Essen.«

»Das ist nicht so schwer, das kann ich schon alleine.«

»Nein. Du brauchst Ruhe. Keine Widerrede.«

Sie setzte sich hin und lächelte. Der Moment war perfekt.

Zehn Monate später kam der kleine Nico zur Welt. Als der Arzt ihn auf ihren Arm legte, blickten sich Antonia und Lemalian an und beide wussten, was der andere dachte.

Ein Jahr später wanderten sie nach Namibia aus. Lemalian baute ein Haus in der Nähe von Swakopmund. Sie wollten nicht mehr in einem Land leben, in dem es darum ging Geld zu verdienen, um zu leben, sie wollten für einander da sein und das tun, worauf sie Lust hatten.

Jetzt saß er hier vor ihr. Sie nannte ihn immer ihr kleines Wunder. Er war so schnell groß geworden. Sie konnte immer noch seinen kleinen Körper auf ihrer Brust spüren, wenn er am Anfang noch mit in ihrem Bett geschlafen hatte. Er war doch eben erst geboren und schon war aus ihm ein Teenager geworden, der selbstbewusst und stark war. Gerade noch hatte sie den Wunsch, ein Kind zu bekommen und schon bald würde er auf eine Uni gehen und studieren. Sie sehnte sich nach der Zeit, als er ein Baby war.

»Du musst bald herunter kommen, Schatz. Wir bekommen gleich Besuch und du musst dich noch waschen.« Nico sorgte sich ein bisschen um seine Mutter. Sie wirkte in den letzten Wochen sehr müde und ihre Haut war noch blasser als sonst. Sie hatte ihm zwar gesagt, sie hätte nur eine Erkältung, aber diese dauerte jetzt schon ein paar Tage.

»Kann ich nicht hier oben bleiben? Ich möchte nicht mit diesen Leuten reden.«

»Dein Vater möchte einen guten Eindruck machen, da ist es nicht hilfreich, wenn sein Sohn auf dem Dach sitzt. Also komm bitte gleich runter.« Sie lächelte ihn an.

»Okay Mama.«

Sie war bereits wieder auf dem Weg nach unten. Er wollte nicht runter. Viel lieber wollte er die letzten Tage, die er vor seiner Abreise noch hatte, hier oben verbringen. Er wusste, dass es in Deutschland im September sehr kalt sein konnte und da wollte er noch etwas Sonne tanken.

Er guckte in die Ferne, dieses Mal jedoch in die andere Richtung. Dorthin, wo die Staubwolke zu sehen war, die von dem Auto stammte, das gerade eine Gruppe Männer zu ihrem Haus brachte. Sie waren noch ein paar Kilometer entfernt und obwohl Nico nicht wusste wieso, bekam er große Angst.

Vielleicht wäre ja alles anders gekommen, wenn er damals auf sein schlechtes Gefühl gehört hätte.

Nordsee, 10 Seemeilen vor Brunsbüttel , 2014