Die schwarze Wölfin - Georgia Wingade - E-Book

Die schwarze Wölfin E-Book

Georgia Wingade

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Beschreibung

Es ist der ganz besondere Liebesroman, der unter die Haut geht. Alles ist zugleich so unheimlich und so romantisch wie nirgendwo sonst. Werwölfe, Geisterladies, Spukschlösser, Hexen, Vampire und andere unfassbare Gestalten und Erscheinungen ziehen uns wie magisch in ihren Bann. Moonlight Romance bietet wohlige Schaudergefühle mit Gänsehauteffekt, geeignet, begeisternd für alle, deren Herz für Spannung, Spuk und Liebe schlägt. Immer wieder stellt sich die bange Frage: Gibt es für diese Phänomene eine natürliche Erklärung? Oder haben wir es wirklich mit Geistern und Gespenstern zu tun? Die Antworten darauf sind von Roman zu Roman unterschiedlich, manchmal auch mehrdeutig. Eben das macht die Lektüre so fantastisch... In ihr brodelte es. Sie hatte sich angewöhnt, aus dem Angebot an Männern nur diejenigen auszuwählen, die ihren hohen Ansprüchen einigermaßen genügten. Wenn sie bemerken musste, dass einer der wenigen, denen sie ihre Gunst schenken wollte, von einem anderen weiblichen Wesen angebaggert wurde, konnte sie ihren Ingrimm kaum verbergen. Dieser Zorn wurde leicht zum Auslöser der Verwandlung, die sich ansonsten in mondhellen Nächten vollzog. Dann musste sie schleunigst eines ihrer Einzimmerappartements aufsuchen. Mit Müh und Not erreichte sie die Rue du Marechal Merdin, wo sie sich in der ersten Etage erschöpft auf das Bett fallen ließ. Dann überließ sie sich willenlos der Umwandlung. Innerhalb von kaum mehr als zwei Minuten war ihr Körper mit einem tiefschwarzen Fell bedeckt. »Seit dem 13. Jahrhundert unserer Zeitrechnung gibt es aus der weiträumigen Region um Clermont-Ferrand die Sage von einem dunklen oder schwarzen Untier, das insbesondere immer in den ersten Wochen des Sommers über Einwohner der Gegend, gleich ob bäuerlicher oder bürgerlicher Herkunft, herfällt und sie zerfleischt. Vorzugsweise soll es sich bei den Opfern um junge Frauen unmittelbar nach Beendigung der Pubertät handeln, junge Männer sollen zwar angefallen, aber nie ernstlich verletzt worden sein. Inwieweit diese Sage der Wirklichkeit entspricht, ist aus heutiger Sicht schwer zu beurteilen. Sicher ist lediglich, dass die Chroniken von einer großen Anzahl an Opfern sprechen und dass insbesondere die Kirchen bzw. ihre Repräsentanten (Pfarrer bzw. Priester, je nach Konfession) bemüht waren, durch Hinweise während der Predigten und durch gezielte Hausbesuche in den außerhalb des unmittelbaren Dunstkreises der Stadt gelegenen Bauerngehöften auf die Gefahr aufmerksam zu machen. Allerdings scheinen derartige Ermahnungen und Warnungen wenig bis gar nichts bewirkt zu haben, denn die Anzahl der Überfallenen und Zerfleischten blieb über mehrere Jahrhunderte konstant. Lediglich in neuerer Zeit scheint das Risiko geringer geworden zu sein, die Gründe hierfür sind allerdings unklar. Fragen, um welches Tier es sich dabei handelt, sind insofern nicht beantwortbar, als es auch Hinweise gibt, dass es sich um eine Bestie in Menschengestalt gehandelt haben könnte, gleich welcher Natur oder Wandlungsfähigkeit. Es kann nicht Aufgabe dieser Darstellung sein, derartige Spekulationen hier auszubreiten oder gar weiterzuspinnen; die phantastischen Gedankenspiele führen zu keiner Erklärung des Rätsels. Dennoch bleibt festzuhalten, dass es jene in den historischen Quellen erwähnten Opfer tatsächlich gegeben hat.

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Moonlight Romance – 25 –

Die schwarze Wölfin

Ihr schauriges Geheul zerreißt die Stille der Nacht

Georgia Wingade

In ihr brodelte es. Sie hatte sich angewöhnt, aus dem Angebot an Männern nur diejenigen auszuwählen, die ihren hohen Ansprüchen einigermaßen genügten. Wenn sie bemerken musste, dass einer der wenigen, denen sie ihre Gunst schenken wollte, von einem anderen weiblichen Wesen angebaggert wurde, konnte sie ihren Ingrimm kaum verbergen. Dieser Zorn wurde leicht zum Auslöser der Verwandlung, die sich ansonsten in mondhellen Nächten vollzog. Dann musste sie schleunigst eines ihrer Einzimmerappartements aufsuchen. Mit Müh und Not erreichte sie die Rue du Marechal Merdin, wo sie sich in der ersten Etage erschöpft auf das Bett fallen ließ. Dann überließ sie sich willenlos der Umwandlung. Innerhalb von kaum mehr als zwei Minuten war ihr Körper mit einem tiefschwarzen Fell bedeckt. Nur mit äußerster Anstrengung unterdrückte sie das Geheul, das in ihrer Kehle aufstieg …

»Seit dem 13. Jahrhundert unserer Zeitrechnung gibt es aus der weiträumigen Region um Clermont-Ferrand die Sage von einem dunklen oder schwarzen Untier, das insbesondere immer in den ersten Wochen des Sommers über Einwohner der Gegend, gleich ob bäuerlicher oder bürgerlicher Herkunft, herfällt und sie zerfleischt. Vorzugsweise soll es sich bei den Opfern um junge Frauen unmittelbar nach Beendigung der Pubertät handeln, junge Männer sollen zwar angefallen, aber nie ernstlich verletzt worden sein.

Inwieweit diese Sage der Wirklichkeit entspricht, ist aus heutiger Sicht schwer zu beurteilen. Sicher ist lediglich, dass die Chroniken von einer großen Anzahl an Opfern sprechen und dass insbesondere die Kirchen bzw. ihre Repräsentanten (Pfarrer bzw. Priester, je nach Konfession) bemüht waren, durch Hinweise während der Predigten und durch gezielte Hausbesuche in den außerhalb des unmittelbaren Dunstkreises der Stadt gelegenen Bauerngehöften auf die Gefahr aufmerksam zu machen. Allerdings scheinen derartige Ermahnungen und Warnungen wenig bis gar nichts bewirkt zu haben, denn die Anzahl der Überfallenen und Zerfleischten blieb über mehrere Jahrhunderte konstant. Lediglich in neuerer Zeit scheint das Risiko geringer geworden zu sein, die Gründe hierfür sind allerdings unklar.

Fragen, um welches Tier es sich dabei handelt, sind insofern nicht beantwortbar, als es auch Hinweise gibt, dass es sich um eine Bestie in Menschengestalt gehandelt haben könnte, gleich welcher Natur oder Wandlungsfähigkeit. Es kann nicht Aufgabe dieser Darstellung sein, derartige Spekulationen hier auszubreiten oder gar weiterzuspinnen; die phantastischen Gedankenspiele führen zu keiner Erklärung des Rätsels. Dennoch bleibt festzuhalten, dass es jene in den historischen Quellen erwähnten Opfer tatsächlich gegeben hat. Sogar deren Namen, Geschlecht und Alter sind überliefert.

Und es bleibt die Hoffnung, dass es in Zukunft derlei Zwischenfälle nicht mehr geben wird. Zur Erleichterung aller, der einfachen wie gebildeten Menschen auf dem Lande wie der damit befassten Behörden in der Stadt Clermont-Ferrand, sei es Verwaltung, Gendarmerie oder Militärdienststellen.

Guy-Philip Leclercque, »Mythes et Légendes du Massif Central d’après anciennes annotations«. Clermont-Ferrand 1902, Seite 234 ff.

Mein jähes Erwachen aus dem Tiefschlaf war einem unheimlichen, die Stille der Nacht zerreißenden Geheul geschuldet, das verklang, als ich mich in meinem Bett aufrichtete. Es dauerte einen Augenblick, bis ich mich in der neuen Umgebung zurecht fand; schließlich war es meine erste Nacht hier in Buis-sur-Bois, mitten im französischen Massif Central.

Hatte ich dieses Geheul nur im Traum erlebt oder war es Realität? Das war die Frage, die mir durch den Kopf ging, während ich den Wecker vom Beistelltisch nahm und nach der Zeit sah. Es war zwei Uhr morgens und im Haus war alles still. Es hatte den Anschein, als habe niemand außer mir dieses unheimliche Geheul wahrgenommen, das in mir jetzt noch nachhallte.

Verzögert durch etliche Staus auf den Autoroutes und auf der Route Nationale, verursacht durch mehrere Schwertransporte, die irgendwelche riesigen Masten geladen hatten, war ich mit ziemlicher Verspätung in Buis-sur-Bois eingetroffen. Der Rezeptionist im »Hotel du Massif« hatte mich schon sehnsüchtig erwartet, denn sein Dienst war eigentlich seit einer Stunde beendet, und er hatte seinen Auftrag, mir mein Zimmer zu zeigen und die Schlüssel dafür und für die Außentür zu übergeben, ernst genommen. Ab zehn Uhr abends war das Hotel normalerweise geschlossen; und ich war weit über der Zeit.

Martin, der Rezeptionist, war noch so nett, mir aus der Frühstücksküche ein Stück Baguette und ein wenig Käse zu besorgen, dazu ein Glas Rotwein, den er im Kühlschrank fand. Nach einem herzlichen »Merci bien« meinerseits, begab er sich auf den Heimweg und ich mich auf mein Zimmer, wo ich rasch meinen Heißhunger bekämpfte, hatte ich doch seit dem frühen Nachmittags nichts mehr gegessen.

Dann sank ich in mein Bett und war im Handumdrehen »weg«. Ich war von Offenburg in einem Rutsch bis hierher, hinter Clermont-Ferrand, durchgefahren und entsprechend erschöpft in dem Städtchen angekommen. Und dann dieses Geheul, das mich aufgeschreckt hatte. Da aber anschließend nichts mehr zu hören war, legte ich mich wieder hin, nachdem ich aus dem Wasserhahn im Badezimmer einige Schluck Wasser getrunken hatte. Es schien Quellwasser vom Berg zu sein, jedenfalls schmeckte es sehr gut.

Der Rest der Nacht verlief ruhig. Doch das Geheul, das ich in der Nacht vernommen hatte, fand nach dem Aufwachen immer noch in mir sein Echo. Bildete ich mir das nur ein oder hatte ich wirklich unmittelbar unter meinem Fenster einen Wolf heulen gehört? Es war Vollmond, der auch am Morgen, unmittelbar nach meinem Erwachen, noch über dem Horizont zu sehen war. Und bekanntlich war das immer eine willkommene Gelegenheit für Wolfsrudel, ihre Stimme ertönen zu lassen. Aber, war es wirklich das gewesen, was ich gehört hatte?

Mit dieser Frage überraschte ich die Wirtin, Madame Salomone Dorée, die mich bei Eintreten in den Gastraum erst einmal ganz herzlich begrüßt hatte. Gleichzeitig entschuldigte sie sich für den vergangenen Abend, an dem sie wegen einer Sitzung des Stadtrates, dem sie als Mitglied der Freien Bürgervereinigung angehörte, verhindert gewesen sei. Ich lud sie spontan ein, sich zu mir an den Frühstückstisch zu setzen, was sie nach einem kurzen Zögern auch tat.

»Sie sind ja sozusagen ein offizieller Gast«, sagte sie, wie um diese an sich unübliche Vertraulichkeit fremden Gästen gegenüber zu entschuldigen. »Als Austauschlehrerin sind Sie eine wichtige Persönlichkeit in unserem Städtchen. Das ganze Lyceum ist schon voll gespannter Erwartung, auch und vor allem das Lehrpersonal. Und einen Rat wird ihnen jeder Lehrer und jede Lehrerin geben: Seien Sie bitte nicht zu sanftmütig unseren Schülern gegenüber. In Frankreich müssen die Schüler und Schülerinnen strenge Regeln einhalten. In Deutschland soll das ja etwas anders sein.«

Und sie fügte, nach einer kurzen Unterbrechung, hinzu: »Wenigstens erzählt man sich das hier.«

Ich bedankte mich für die Ratschläge, fügte aber dann hinzu: »Noch ist es nicht so weit. Denn ich bin absichtlich eine Woche vor meinem offiziellen Dienstbeginn hergekommen, weil ich die Stadt besichtigen und die Bewohner ein wenig kennen lernen möchte. Es kann ja nicht schaden, wenn ich mich in den Straßen und Gassen nicht permanent verlaufe und zumindest die wichtigsten Einkaufsmöglichkeiten bereits frequentiert habe. Zumal ich in einer Woche, am 3. Juni, die Dienstwohnung im Schulgebäude beziehen werde, die mir das hiesige Schulamt zur Verfügung stellt.«

Inzwischen hatte die Tochter des Hauses, eine hübsche siebzehnjährige Brünette mit Namen Marianne, Kaffee und Baguette sowie frische Croissants aufgetragen, dazu Butter, Marmelade und Käse. Auch ein Glas Orangensaft wurde serviert.

»Sie werden schon noch genügend Zeit haben, unsere schöne Umgebung kennenzulernen, denke ich.« Marianne hatte sich an den Tisch gestellt und beteiligte sich am Gespräch. »Denn während der Ferien sind ja auch hier, oder wollen Sie quer durch ganz Frankreich fahren, um mehr zu sehen?«

»Ich habe mich noch nicht entschieden, aber das wäre durchaus eine Option,« bestätigte ich.

»Sagen Sie nur, was Sie noch brauchen«, ermunterte mich Madame Dorée. »Ich werde mich bemühen, Ihnen alle Wünsche nach Kräften zu erfüllen. Schließlich sollen Sie sich hier in unserem Städtchen wohlfühlen! Und um Ihre Frage von vorhin zu beantworten: Man sagt, dass Wölfe seit Jahrhunderten im Massif Central ausgerottet sind, doch in letzter Zeit gibt es Hinweise, dass eine natürliche Wiederansiedelung stattfindet. Das mag damit zusammenhängen, dass der Naturschutz in den letzten Jahren auch in Frankreich stärker greift. Gegen den ausdrücklichen Willen zahlreicher Jäger, wohlverstanden. Und das ermöglicht es Tieren, die aus Osteuropa über das wiedervereinigte Deutschland zu uns kommen, sich ein Revier zu suchen und sich zu kleinen Rudeln zusammenzuschließen.«

Marianne, die neben dem Tisch stehen geblieben war und aufmerksam zugehört hatte, ergänzte: »Auf dem Lyceum haben wir einen Biologielehrer, der sogar mit einigen anderen Interessierten, Tierschützern und Naturliebhabern, einen ›Verein zur Wiedereinführung des Wolfs in unsere Tierwelt‹ – so nennt sich der Verein – gegründet hat. Monsieur Hublot hat sogar davon gesprochen, Geld dafür zu sammeln, damit in der Sowjetunion oder in Kasachstan gefangene Wölfe aufgekauft und in den Wäldern des Massif Central ausgewildert werden können.«

»Da sei Gott vor!« entfuhr es Madame Dorée. »Dann kann man keinen Sonntagsspaziergang mehr riskieren! Wölfe in unseren Wäldern, ich will mir das gar nicht vorstellen.«

»Maman, du musst nicht dramatisieren, noch ist der Verein nicht sehr aktiv geworden. Und das Geld haben sie auch noch nicht vollständig zusammen«, beruhigte sie Marianne. »Und überhaupt sagt man, dass der Wolf gar kein so schlimmes Raubtier sein soll. Das hat uns unser Bio-Lehrer erzählt.«

Doch ich stellte die Frage noch einmal: »Was also war das, was mag das gewesen sein, das ich mitten in der Nacht gehört habe und das mich so jäh aus dem Schlaf gerissen hat?«

Marianne, die beim ersten Mal meine Frage nicht mitbekommen hatte, sagte ablehnend: »Ein Alptraum?«

Und die Wirtin sprach von einem streunenden Hund, von denen es mehrere in der Stadt und in den nahen Wäldern gebe.

»Ich weiß vom Nachbarn, der oft auf die Jagd geht, dass er immer wieder auf die Köter trifft. Er versucht, sie abzuschießen, damit sie kein Wild reißen, aber diese Hunde sind einfach zu schlau. Raffiniert aus Hunger.«

Madame Dorée schaute auf die Standuhr, die den Speiseraum mit ihrem schweren Gehäuse dominierte: »Ich entschuldige mich. Die Arbeit, wissen Sie!«

Und zu Marianne gewandt: »Und du musst mir helfen, wenigstens diese Woche noch, ehe die Schule wieder beginnt.«

Damit war ich allein gelassen, denn außer mir war kein weiterer Gast anwesend. Jetzt im Mai war noch keine Saison und die Touristen tauchten nur spärlich auf.

Ich beendete mein Frühstück. An diesem Vormittag wollte ich den ersten Stadtbummel unternehmen.

*

Der alte Stadtkern von Buis-sur-Bois gruppierte sich um den Marktplatz, der eingerahmt war von Bürgerhäusern, die wahrscheinlich um die Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert aus Naturstein errichtet worden waren. Damals war dies noch eine arme Gegend gewesen; die Landwirtschaft konnte nur mit mageren Erträgen rechnen und das Holz der Wälder brachte auch nur mäßige Preise. Was es an natürlichen Ressourcen gab, hatte man ausgenutzt; allein schon deswegen waren diese einhundert Jahre alten Gebäude fast durchweg mit Schieferplatten gedeckt. Ein Anblick, der ein wenig an die alte deutsche Bauweise erinnerte.

Mitten auf dem Platz gab es einen Drei-Rohre-Brunnen, dessen sprudelndes Wasser eiskalt war, als ich meine Hände darunter hielt. Als ich mich schwungvoll umdrehte, schließlich wollte ich von der Stadt mehr sehen als nur Marktplatz und Brunnen, stieß ich beinahe mit einem Rollstuhl zusammen, in dem ein schätzungsweise 80-jähriger Mann mit weißem Haarkranz saß, der mich mit spöttischen Blick musterte.

» Man müsste eben auch hinten Augen haben, nicht wahr?« sagte er fragend.

»Oder den Hals einer Eule«, erwiderte ich, froh, dass mir das blitzschnell einfiel. »Denn dann könnte man den Kopf rundherum drehen!«

»Bingo!« sagte die Frau, die den Rollstuhl schob. Sie war etwa schätzungsweise zehn Jahre jünger als ihr – vermutlicher – Mann. Sie musste in der Jugend blendend ausgesehen haben, selbst jetzt im Alter besaß sie noch eine Ausstrahlung, die selten genug war. Da störten die Fältchen und Krähenfüße kein Bisschen. Kein Zweifel, vor mir stand eine Dame. Eine richtige Dame, und davon hat es meiner Überzeugung nach noch nie sehr viele gegeben.

»Excusez – Entschuldigen Sie!«, sagte ich. »Ich hoffe, ich habe niemanden …«

»Wir fühlen uns nicht gestört, es ist ja nichts passiert, ich konnte gerade noch ausweichen«, sagte die Frau. »Ich vermute … Nun, ich denke, Ihrem leichten Akzent nach zu urteilen, sind Sie die Austauschlehrerin für unser Lyceum. Wir sind die Salambas, sind vor einigen Jahrzehnten aus Italien hierhergekommen und geblieben, wie man sehen kann.«

»Sophie Martens«, stellte nun auch ich mich vor. »Ich sehe mich ein wenig in der Stadt um. Bis jetzt gefällt es mir recht gut.«

»Ich bin Roberto Salamba«, stellte sich nun auch der Mann im Rollstuhl vor. »Meine Frau heißt Marthe. Und ursprünglich kommen wir aus der Nähe von Mailand.«

»Wollen wir nicht einen kleinen Kaffee nehmen?« fragte Marthe Salamba. »Da fällt das Beschnuppern leichter.«

Das war ein guter Vorschlag, und so saßen wir bald in der Morgensonne vor dem »Café Puy de Sancy«. Es herrschte ein reges Treiben auf dem Marktplatz, die verschiedenen Verkaufsstände waren gut besucht. Es gab vor allem landwirtschaftliche Produkte, Gemüse und Obst aller Art, aber auch Fisch und Fleischwaren.

»In der Lokalzeitung, dem ›Observateur du Massif‹, gab es einen Bericht über Sie«, erzählte Marthe Salamba, »Ich habe ihn aufgehoben und kann ihn Ihnen bei Gelegenheit übereignen. »Danach sind Sie Halbfranzösin aus Offenburg, das liegt in Südwestdeutschland, oder?«

»In Südbaden, genauer: im Ortenaukreis. Und ja, meine Mutter ist Französin, eine geborene Daumont aus Lyon.«

Offenbar hatte man sich genau nach meiner Person erkundigt; es war das erste Mal, dass etwas über mich in der Zeitung stand. Und natürlich wollte ich das gerne lesen.

»Könnte ich mir davon eine Kopie anfertigen lassen?« fragte ich. »Meine Eltern würden das sicherlich auch gerne lesen.«

Frau Salamba lachte: »Ich glaube, ich habe mich falsch ausgedrückt. Ich habe natürlich zwei Exemplare des Berichts zurückgelegt. Ich werde eine Ausgabe an der Rezeption Ihres Hotels hinterlegen.«

Jetzt musste ich mich erst recht bedanken. Doch beide Eheleute winkten ab.

Ich kam noch einmal auf das Thema zu sprechen, das mir seit heute Nacht im Kopf herumging. Anders als Madame Dorée, die Hoteliersfrau, widersprachen die Salambas nicht sofort.

»Die Frage ist durchaus berechtigt«, sagte Roberto, der trotz seines Rollstuhls und seines Alters auf mich einen durchaus positiven Eindruck machte. Er strahlte Zuversicht aus und schien mir im Rahmen dessen, was ein Rollstuhlinsasse leisten kann, durchaus fit zu sein. »Sie müssen wissen, meine Frau Marthe und ich haben uns der Mythenforschung verschrieben. Nicht als Wissenschaft, versteht sich, dazu fehlt uns die Vorbildung, aber rein hobbymäßig beschäftigen wir uns damit, was Sagen und Legenden, aber auch Stammtischgespräche über die Vergangenheit – manchmal auch über die Gegenwart – der Region zu erzählen haben.«

»Hallo!« wurden wir unterbrochen. »Ihr in reizender Gesellschaft! Wen haben wir denn da?«

Unvermittelt war vor uns ein junger Mann von vielleicht 25 Jahren aufgetaucht, der ein kleines Mädchen an der Hand führte, das mich mit neugierigen Augen bestaunte.

»Ah, du bist es, Jean-Marc!«, sagte Madame Salamba. »Du hast Recht, wir haben sehr angenehme Gesellschaft.«

Sie nickte in meine Richtung: »Darf ich vorstellen? Das ist Monsieur LeGuy, unser junger Filialleiter der Banc du Peuple mit Claire, seiner kleinen Tochter.«

»Ich bin nicht mehr klein!«, protestierte das Mädchen, das mit seinem kurzen Haarschnitt und den kecken Augen etwas Jungenhaftes ausstrahlte. »Ich bin schon fast fünf Jahre alt und komme bald in die Schule.«

Der Bankchef lächelte mich an; es war ein verhaltener, eher beobachtender Blick, den er mir zuwarf. Dann entspannte sich sein Gesicht.

»Ich vermute, Sie sind die neue Austauschlehrerin aus Deutschland. Sophie … entschuldigen Sie, nun habe ich unhöflicher Kerl Ihren Namen vergessen.«

Ich musste lachen, nahm aber die Hand, die er mir entgegenstreckte: »Ich bin erst in einer Woche offiziell im Dienst. Erst ab diesem Datum sollten Sie sich an mich erinnern, falls ich bei Ihnen um einen Kredit nachfragen sollte.«