Moraltheologie kompakt. - Kerstin Schlögl-Flierl - E-Book

Moraltheologie kompakt. E-Book

Kerstin Schlögl-Flierl

0,0

Beschreibung

Ethische Fragestellungen sind präsenter und drängender denn je, sei es in der schulischen und uni-versitären Ausbildung, im beruflichen oder privaten Kontext: Wie weit verpflichtet mich mein Gewissen? Muss ich meine Organe spenden? Darf ich den Zeitpunkt meines Todes selbst bestimmen? Welcher moralische Anspruch stellt sich mir und anderen im Beziehungsleben und im Umgang mit Umwelt, mit Medien, Krieg und Frieden? Um hierauf begründet Antwort zu geben, vermittelt ‚Moraltheologie kompakt‘ thematisch klar gegliedert und in beeindruckender Prägnanz die unverzichtbaren Argumentationsgrundlagen. Dies erleichtert den Erstkontakt mit ethischen Fragestellungen und regt zudem eine vertiefende Auseinandersetzung an. weniger anzeigen

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 294

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alexander Merkl, Kerstin Schlögl-Flierl

MORALTHEOLOGIE KOMPAKT

Ein theologisch-ethisches Lehrbuch für Schule, Studium und Praxis

Unserem gemeinsamen Lehrer Prof. Dr. Herbert Schlögel OP

Vollständige Ebook-Ausgabe des im Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG erschienenen Werkes Originalausgabe

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2017/2020 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster

ISBN der Ebook-Ausgabe: 978-3-402-20214-2

ISBN der Druckausgabe: 978-3-402-13232-6

Sie finden uns im Internet unter www.aschendorff-buchverlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Einführung

I.Allgemeine Moraltheologie

1.Moraltheologie – Grundbegriffe und Fachverständnis

2.Methodik – wie arbeitet die Theologische Ethik?

3.„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst […]?“ (Ps 8,5) – Anthropologie als unabdingbare Basis für die Moraltheologie

4.Das Gewissen – Inbegriff personaler Verantwortungsfähigkeit

5.Von der Vergebung her zu begreifen – Schuld und Sünde heute

6.Das Naturrecht – vom Menschen unabhängig, Kulturen übergreifend

II.Bioethik

1.Die Vermessung der Welt bzw. der Zukunft des Kindes – pränatale, prädiktive und Präimplantationsdiagnostik

2.Reproduktionsmedizin/Assistierte Fortpflanzung – ethische Grenzziehungen im Angesicht (nahezu) grenzenloser Machbarkeit

3.Schwangerschaftsabbruch – rechtswidrig, straffrei, moralisch abzulehnen

4.Organtransplantation – Für und Wider

5.Suizidbeihilfe/Assistierter Suizid – zwischen individuellem Gewissensentscheid und gesellschaftlicher Signalwirkung

6.Sterbehilfe – Sterben ist Leben, Leben vor dem Tod

III.Beziehungsethik und Sexualmoral

1.Ehe – zeichenhaftes Lebensprojekt und gemeinsames Wagnis in Liebe und Treue

2.Nichteheliche Lebensgemeinschaften – Unterscheidung durch Differenzierung

3.Künstliche Empfängnisverhütung – Methodenfrage oder eine Frage der Haltung?

IV.Weitere Themenbereiche der Speziellen Moraltheologie – Zugänge

1.Friedensethik – ‚vom gerechten Krieg zum gerechten Frieden‘

2.Medienethik – authentische Entfaltung des Menschseins zwischen Virtualität und Inszenierung

3.Umweltethik – kümmere dich um das ‚gemeinsame Haus‘

4.Zum Abschluss: Spiritualität und Moraltheologie – Glauben und Handeln

Abkürzungsverzeichnis

Grundlagenliteratur

Glossar

Einführung

‚Moraltheologie kompakt‘ richtet sich primär an eine LeserInnenschaft, die sich im Rahmen von Schule (SchülerInnen höherer Jahrgangsstufen und Lehrende), Studium, Prüfung und (pastoraler) Praxis (erstmals und kompakt) mit der Moraltheologie auseinandersetzen möchte. Das Lehrbuch hat den Anspruch, den Erstkontakt mit den Voraussetzungen, Fragen und Argumentationen der Moraltheologie themenorientiert zu erleichtern und die nötigen Grundlagen hierfür zu schaffen. Dennoch wird nicht (gänzlich) auf fremdsprachige Formulierungen, Fremdworte oder Fachbegriffe verzichtet, um auch hierfür in ersten Schritten zu sensibilisieren.

Inhaltlich behandelt das Lehrbuch die unverzichtbaren Grundlagen der Fundamentalmoral bzw. der Allgemeinen Moraltheologie (es reflektiert die Grundbegriffe und Methoden des Faches) sowie einige zentrale Themen der Speziellen Moraltheologie (es bedenkt den sittlichen Anspruch innerhalb konkreter Handlungsfelder). Die Schwerpunkte liegen auf der Bio- und Sexualethik. Zugleich sollen erste Zugänge zu weiteren speziellen Ethiken wie der Umwelt-, Friedens- und Medienethik sowie der Spiritualität eröffnet werden. Die Auswahl und Aufbereitung der Themen basiert auf den Erfahrungen mehrjähriger universitärer Lehr- und Prüfungstätigkeit.

Das Buch versteht sich als Hinführung, Brücke und Ergänzung zu den im Fach etablierten Grundlagenwerken und Handbüchern, die sowohl formal als auch inhaltlich zumeist umfangreicher gestaltet und im Grundlagenliteraturverzeichnis (im Anhang) zu finden sind. Um zur weitergehenden Vertiefung und eigenständigen Lektüre zu motivieren, werden am Ende jedes Kapitels ausgewählte Literaturempfehlungen an die Hand gegeben.

Dabei ist zu konstatieren, dass nicht alle der gewählten Themen erschöpfend behandelt werden können. Die Kennzeichnung (➢) weist auf diese inhaltlichen Grenzen hin und empfiehlt weitergehende sowie eigenständige Recherchen über Universitäts- und Zeitschriftenkataloge (www.ixtheo.de) sowie kirchliche Angebote (www.dbk.de; www.vatican.va). Das Buch versucht inhaltlich Wegmarken aufzuzeigen und bleibt daher im Fragmentarischen. Kapitel zu Befreiungs- und Politischer Theologie, zur Diskursethik und zu modernen Theorien der Anerkennung hätten unserer Meinung nach den Umfang eines Einführungsbuches gesprengt.

Ein weiteres Ziel von ‚Moraltheologie kompakt‘ ist es, für einen angemessenen methodischen Umgang zu sensibilisieren: sowohl durch die exemplarische Gliederung und inhaltliche Kommentierung von Originaltexten als auch durch die Systematisierung der einzelnen Themen mithilfe eingefügter Teilüberschriften. Dadurch sollen die unterschiedlichen Ebenen formaler, inhaltlicher und problemorientierter Betrachtung vor Augen geführt werden.

Die Autorin und der Autor greifen auf medizinische, rechtliche, lehramtliche, traditionelle und aktuelle Textquellen zurück, sodass ein Gefühl für den Facetten- und Voraussetzungsreichtum der Moraltheologie entsteht. Um dabei den Rahmen eines Einführungsbuches nicht zu sprengen, orientiert sich das Buch an klar definierten formalen Vorgaben. Hauptkriterien sind Prägnanz, Kompaktheit und Nachvollziehbarkeit. Dies verleiht den Texten zweifellos eine gewisse Dichte. Um die Lesbarkeit zu erhöhen und den Umfang zu begrenzen, wird auf bisweilen übliche Zitiergewohnheiten innerhalb des Fließtextes (kein Vgl., keine Seiten- oder Werkangaben) ebenso wie auf Fußnoten gänzlich verzichtet. Die Länge der einzelnen Kapitel umfasst nie mehr als neun DIN A4 Seiten. Die zusätzlich für die Behandlung eines Themas verwendete Literatur ist am Ende des jeweiligen Kapitels nach den Literaturempfehlungen zu finden. Mehrfach herangezogene Quellen lassen sich gesammelt dem kompakten Grundlagenliteraturverzeichnis am Ende des Buches entnehmen.

Als Hilfestellung sind im Anhang ein Abkürzungsverzeichnis und ein Glossar beigefügt, sowohl um den Lesenden die genannten Personen, Begriffe und Werke in einigen zentralen Aspekten nahezubringen als auch um das Lesen durch die Verwendung der etablierten Abkürzungen zu erleichtern.

Zu danken ist Claudia Wißmiller, Nina Wehr, Kristina Kieslinger, Anett Hohenleitner, Sophie Pichler und dem ‚Book-Workshop‘ am Institut für Theologie und Frieden in Hamburg.

Augsburg / Hildesheim im Mai 2017

Alexander Merkl

Kerstin Schlögl-Flierl

I. ALLGEMEINE MORALTHEOLOGIE

1.Moraltheologie – Grundbegriffe und Fachverständnis

Grundbegriffe

Als theologisch-ethisches Basisvokabular stellen die im Fach verwendeten Grundbegriffe das unverzichtbare Handwerkszeug für jede Form ethischen Nachdenkens dar. Allen voran gilt es, die Begriffe Ethik – Moral – Ethos zu unterscheiden. Die Ethik im Allgemeinen – ihre Ursprünge liegen v. a. in sokratischem, platonischem und aristotelischem Denken (➢ Nikomachische Ethik) – lässt sich als praxisorientierte Reflexionstheorie von Moral und Ethos mithilfe der Vernunft bestimmen. Die Moral meint dabei die von Menschen bzw. einer Gesellschaft als richtig und wichtig anerkannten Normen und Haltungen des guten und richtigen Verhaltens. Nicht selten synonym dazu verwendet, beschreibt das Ethos die gelebte Moral als Gesamt der persönlichen Lebenseinstellungen und Grundhaltungen von Einzelnen oder Gruppen. Wolfgang Kluxen präzisiert dies: „Ethos meint die konkrete Gestalt sittlichen Lebens: objektiv den Inbegriff sittlicher Normen und normativer Gehalte [...]; subjektiv die entsprechende Einstellung und Gesinnung, den sittlichen Charakter des einzelnen.“ Hier scheint die fundamentale Ausdifferenzierung der Ethik in ihre beiden Grundtypen, die Tugendethik (subjektiv) und die Normethik (objektiv), durch (siehe Kapitel zur Methodik).

Um moraltheologische Überlegungen nachvollziehen oder ausformulieren zu können, bedarf es des sicheren Umgangs mit einigen weiteren zentralen Grundbegriffen. Deren Verwendung innerhalb der wissenschaftlichen Diskussionen ist jedoch keineswegs einheitlich, bisweilen sind die Grenzen zwischen den Begriffen fließend, so dass bspw. bestimmte Werte ebenfalls als Prinzipien und Kriterien oder umgekehrt auftreten. Eine grundlegende Vergewisserung über einige definitorische Eckdaten ist jedoch unabdingbar.

Als Unterscheidungsmerkmale unterstützen Kriterien eine differenzierte und zugleich objektive ethische Urteilsbildung. Sie helfen, Handlungen und somit die Praktikabilität von Normen zu prüfen und verhindern einseitige Verallgemeinerungen und Nivellierungen. Dadurch tragen sie dazu bei, eingeschlagene Wege möglicherweise zu korrigieren. Neben allgemeinen Kriterien wie Geeignetheit, Angemessenheit und Erforderlichkeit können für die Beziehungsethik beispielhaft Treue, Dauer und Entschiedenheit, für die Medienethik Authentizität und Transparenz genannt werden (siehe dazu die entsprechenden Kapitel im Folgenden).

Eng mit dem Normbegriff verbunden ist der Terminus der Pflicht. Allgemein spricht man heute von Pflichten „im Sinne verbindlicher Aufgaben, die mit der spezifischen Funktion einer Person in einer Gruppe oder Gesellschaft verbunden sind“ (O. Höffe). Mit Immanuel Kant kann die Pflicht näherhin als ein „unbedingtes Sollen“ beschrieben werden, „in dem sich die freie Person an das moralische Gesetz der praktischen Vernunft gebunden erfährt.“ Pflichten meinen damit die objektive Gebotenheit einer Handlung und den subjektiv als unbedingt empfundenen Anspruch (der sich gegen die faktischen Bedürfnisse und Wünsche des Subjekts richten kann) aufgrund eines vorgegebenen Gesetzes. Im Weiteren wird zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten, zwischen Rechts- und Tugendpflichten sowie zwischen Pflichten gegen sich selbst und gegenüber anderen Menschen unterschieden (➢). Bei einer Pflichtenkollision bedarf es sowohl der genauen Situationsanalyse, der Vergewisserung über die Dringlichkeit der relevanten Pflichten sowie der Anwendung von Vorzugsregeln (z. B. Vorrang von Verboten vor Geboten). Oftmals sind dann Kompromisse oder die Wahl des geringeren Übels gefordert.

Hiervon zu unterscheiden ist die Maxime. In seinem Werk ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ (1788) definiert Immanuel Kant sie als „subjektives Prinzip des Wollens“. Maximen beschreiben in erster Linie subjektive und praktische Lebensgrundsätze, d. h. allgemeine Handlungsregeln eines Menschen, vor deren Horizont dieser sein Leben plant und führt. In seinem Kategorischen Imperativ verlangt Kant die Verallgemeinerbarkeit solcher Maximen: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“

Werte wie Frieden, Sicherheit und Glück sind orientierende Leitvorstellungen von Individuen oder Gruppen bei deren Handlungswahl und Weltgestaltung. Sie fungieren als motivierender Bestimmungsgrund menschlichen Tuns und Leistens und sollen zumeist durch Normen geschützt werden. Ihre Festlegung ist abhängig von sozialen, kulturellen, subjektiven und situativen Faktoren. Unterschieden wird mitunter zwischen moralischen und vormoralischen, subjektiven und objektiven, intrinsischen und extrinsischen sowie religiösen und kulturellen Werten (➢).

Insofern die Tugendethik als Pendant zur Normethik gilt, ist auf den Tugendbegriff hinzuweisen, der durch Aristoteles und dessen Rezeption bei Thomas von Aquin nachhaltig Eingang in die Theologie und Philosophie gefunden hat. Tugenden beschreiben in der Moraltheologie Grundhaltungen wie Hoffnung, Tapferkeit oder Wahrhaftigkeit, die gnadenhaft von Gott geschenkt der steten Einübung auf der Seite des Menschen bedürfen, um zu einer festen Disposition (arist. hexis, thom. habitus) zu werden. Thomas beschreibt in seinem theologischen Hauptwerk, der ‚Summa theologiae‘, die Tugend als das, „was den, der sie besitzt, in seinem Sein und Handeln gut macht“ (STh I–II 55,3).

Dies wirft jedoch die schwierige Frage auf, was ‚gut‘ bzw. ‚das Gute‘ meint. Dessen Bedeutung ist keineswegs eindeutig bestimmt. Dem englischen Philosophen George E. Moore (1873–1958) nach ist es gar gänzlich unmöglich, ‚gut‘ zu definieren. In einer Analogie zur Farbe Gelb stellt er in seinem Werk ‚Principia Ethica‘ fest, dass einer Person, welche die Farbe Gelb nicht kenne, diese auch nicht erklärt werden könne. In der Tradition haben sich in der Konsequenz unterschiedliche Interpretationen des Guten und zuletzt des höchsten Guten (summum bonum – Macht, Freiheit, Glück) herausgebildet. Heute wird das moralisch Gute im Wissen um die semantische Vielfalt der Verwendungsweisen zumeist als das in sich selbst Gute und nicht lediglich als das für jemanden oder für etwas Gute definiert.

Zu unterscheiden hiervon ist die Rede von einem Gut bzw. von Gütern. Dazu zählen neben Grundgütern (Leben, Gesundheit) auch Bedarfsgüter (Nahrung, Grundversorgung) sowie allgemeine Güter (➢ Güterabwägung). Der Begriff ‚Gut‘ wird oft synonym zum Begriff ‚Wert‘ verwendet. Jedoch lassen sich feinnuancierte Unterschiede festmachen, wie folgendes Beispiel zeigt.

„Wenn man also sagt, Gesundheit ist ein Gut, betrachtet man sie als einen Gegenstand, den man als gut beurteilt. Sagt man dagegen, Gesundheit ist ein Wert, betrachtet man sie als einen Gesichtspunkt, unter dem man etwas anderes, z. B. seine Lebensgewohnheiten, bewertet.“ (Ch. Schröer)

Fachverständnis – was ist und will Moraltheologie?

Zu fragen bleibt im Anschluss an diese ersten begrifflichen Klärungen, was die Moraltheologie als theologische Disziplin ausmacht. Mithilfe der folgenden Begriffsbestimmungen sollen drei definitorische Kernelemente herausgestellt werden. Die Moraltheologie ...

—reflektiert „das sittliche Handeln des Christen im Licht des Glaubens“. (KEK II, 21)

—„erschließt die Bedeutung des christlichen Glaubens für das Handeln der Menschen in der Welt von Heute. Die leitende Perspektive ist eindeutig theologisch.“ (G. Marschütz)

—hat „den Anspruch des Glaubens an die sittliche Lebensführung zum Gegenstand.“ (K. Hilpert)

(1) Der Adressatenkreis moraltheologischen Denkens erstreckt sich in besonderer Weise auf die Christgläubigen selbst, jedoch ohne darauf beschränkt zu bleiben. Vielmehr richtet sich die Moraltheologie mit ihren Überlegungen an alle Menschen guten Willens. Der Mensch als Person bildet die Mitte der Ethik. Moraltheologie will nicht eine christliche Sondermoral sein, sondern beansprucht Relevanz über einen kirchlichen Binnenraum hinaus.

(2) Ihr primäres Ziel liegt folgerichtig darin, das sittliche Handeln und die Lebensführung des Menschen anzuleiten und derart zu formen, dass diese glücken können. Es geht um die möglichst optimale Realisierung menschlicher Handlungspotentiale. Dies kann nur dann gelingen, wenn die Moraltheologie Einsicht und Verständnis beim Handelnden erzeugt, keinesfalls jedoch in Gestalt von Indoktrination oder Instruktion.

„Tatsächlich will sie [die Moraltheologie] deren eigenes Urteil nicht ersetzen, indem sie ihnen vorschreibt, wie sie handeln sollen, sondern sie zu eigener Einsicht befähigen. An die Stelle eines doktrinären Instruktionsmodelles, das die Aufgabe der Moraltheologie als Belehrung über das sittlich richtige Handeln definiert, tritt ein maieutisches Verständnis der Ethik. Nach diesem Ansatz versteht sich die Moraltheologie als eine Art Hebammenkunst, die auf das eigene Urteilsvermögen der Gläubigen baut und diesen zu einem reflektierten Verständnis ihres eigenen Lebensentwurfes verhelfen möchte.“ (E. Schockenhoff)

Nur in der Gestalt dieser ‚Hebammenkunst‘ kann die Moraltheologie menschliches Handeln nachhaltig motivieren und dieses (gerade in strittigen Fragen) verlässlich orientieren sowie normieren.

(3) Die Moraltheologie hat den Anspruch, die Moral sowohl in vernunftgemäßer Weise als auch im Lichte des Glaubens zu reflektieren. Sie will den Zusammenhang von Glaube und Vernunft (fides et ratio) veranschaulichen. Durch ihren christlichen Glaubenshorizont unterscheidet sie sich ganz wesentlich von anderen (säkularen) Ethikformen. Die Moraltheologie bestimmt demzufolge die Richtigkeit und Angemessenheit sittlichen Verhaltens vom Welt-, Menschen- und Gottesbild des christlichen Glaubens her. Theologische Eckpunkte wie Schöpfung, Sünde, Menschwerdung, eschatologische Hoffnung, Beziehungshaftigkeit menschlicher Existenz und Erlösung bestimmen ihre Wirklichkeitssicht. Das spezifisch Christliche einer Ethik hat ihren primären Bezugspunkt demnach in den Worten, Taten und Zeichen Jesu Christi. Sittliches Handeln wird so zum Zeichen recht verstandener Christus-Nachfolge. Von ebenso grundlegender Qualität wie die Person Jesu Christi ist das durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) festgelegte Offenbarungsverständnis (➢). Offenbarung ist demzufolge nicht mehr als bloße Instruktion, denn vielmehr als wahre Selbstmitteilung Gottes zu verstehen, auf die der Mensch als schöpferischer Hörer in seinem Tun Antwort gibt. Diese hier angezeigten theologischen Vorentscheidungen und Fundamente hat die Moraltheologie im Diskurs stets offenzulegen. Als Allgemeine und Spezielle Moraltheologie, welche moraltheologische Einzelfragen spezifischer Themenfelder wie der Bioethik, Umweltethik etc. behandelt, macht sie diese für ihr Nachdenken fruchtbar.

Theologische Ethik und/oder Moraltheologie?

Im Wissen um die Grundzüge des Faches lassen sich die Begriffe der ‚Theologischen Ethik‘ und der ‚Moraltheologie‘ in ihrem Zueinander beschreiben. Zwei unterschiedliche Anwendungsweisen sind zu beachten: Zum Ersten werden beide Termini innerhalb der Fachdiskussion mitunter synonym verwendet. Zum Zweiten begegnet die Theologische Ethik vermehrt als Brückenbegriff zwischen Moraltheologie und Christlicher Sozialethik, wobei die Moraltheologie dem individualethischen, die Sozialethik dem sozialethischen Bereich (Gerechtigkeitsfragen, Strukturen, Institutionen) zugeordnet wird. Aufgrund der Komplexität neuer Problembereiche sowie der Tatsache, dass individualethische Fragestellungen zumeist auch eine sozialethische Komponente beinhalten und umgekehrt, ist eine trennscharfe Abgrenzung nicht immer einfach und sinnvoll.

Moraltheologie in Kirche und Gesellschaft

Als dem christlichen Glauben verpflichtete theologische Wissenschaft bleibt die Moraltheologie stets auf die Kirche und ihr universalkirchliches (Weltkirche: z. B. päpstliche Lehrschreiben, Konzilien) wie partikularkirchliches (Ortskirchen: z. B. bischöfliche Hirtenworte) Lehramt verwiesen. Sie leistet einen unverzichtbaren Dienst in und an der Kirche, indem sie deren Traditionen und Lehren immer wieder neu durchdringt und vermittelt. Umgekehrt stellt das kirchliche Lehramt ein zentrales Fundament moraltheologischer Reflexion und Selbstvergewisserung dar. Die Adjektive ‚theologisch-ethisch‘ und ‚kirchlich‘ sind demnach zwar gewiss wechselseitig aufeinander verwiesen, jedoch keineswegs synonym zu verwenden. Es besteht eine grundsätzliche Unterschiedenheit und Eigenständigkeit von Moraltheologie und kirchlichem Lehramt. Überlegungen und Urteile müssen nicht immer deckungsgleich sein. Nicht selten manifestieren sich unterschiedliche inhaltliche Nuancierungen. Dies schließt Zustimmung ebenso ein wie konstruktive Kritik. Die Beziehung von kirchlichem Lehramt und Moraltheologie kann daher durchaus Spannungen ausbilden, weiß sich jedoch stets von Loyalität und Solidarität um der gemeinsamen Sache willen getragen.

Die Reichweite der Moraltheologie ist aber nicht nur auf den kirchlichen Bereich beschränkt. Sie will auch gesellschaftliche Relevanz und Wirkung entfalten und die Anliegen der heute lebenden Menschen wahrnehmen und deuten. Das setzt voraus, Konkurrenz neben sich zu ertragen und durch eigenständige Beiträge in den öffentlichen Diskursen hörbar zu werden, diese zu stimulieren, aber auch zu kritisieren. Eberhard Schockenhoff spricht anschaulich von der „kritischen Zeitgenossenschaft“ der Moraltheologie. Dies kann sowohl im Blick auf die Kirche als auch auf die Gesellschaft gesagt werden. Der Moraltheologie kommt somit die Aufgabe einer Vermittlung in zwei Richtungen zu.

„(1) Sie hat die moraltheologische Tradition und Lehre der Kirche wissenschaftlich zu durchdringen und für die Menschen der heutigen Zeit fruchtbar zu machen bzw. sie so darzustellen, dass sie als Orientierung wahr- und angenommen und in ihrer Verbindlichkeit erkannt werden kann. (2) Andererseits muss sie aber auch über die Lebensbedingungen des Menschen reflektieren sowie deren persönliche sittliche Erfahrungen in ihre Reflexion integrieren und auf diese Weise kirchliche Lehre kritisch darauf hin hinterfragen, ob sie verständlich gemacht werden kann, ob es inhaltlich und formal begründete Akzeptanzschwierigkeiten gibt und ob sie eine effektive Antwort auf die tatsächlichen Nöte und Probleme der Menschheit darstellt.“ (M. Lintner)

Quellen der Moraltheologie

Um ihre Argumente und Urteile rational zu begründen, ist die Moraltheologie auf verschiedenste Quellen verwiesen. Als integrative Wissenschaft steht sie dabei nach innen (intradisziplinär) ebenso wie nach außen (interdisziplinär) in einem beständigen Dialog, der von wechselseitigem Respekt und authentischer Toleranz gegenüber dem Gesprächspartner geprägt ist.

Aus intradisziplinärer Sicht ist an exponierter Stelle an die Heilige Schrift zu denken. In seinem Dekret über die Ausbildung der Priester ‚Optatam totius‘ hält das Zweite Vatikanische Konzil dies wie folgt in der Nummer 16 fest.

„Besondere Sorge verwende man auf die Vervollkommnung der Moraltheologie, die, reicher genährt aus der Lehre der Schrift, in wissenschaftlicher Darlegung die Erhabenheit der Berufung der Gläubigen in Christus und ihre Verpflichtung, in der Liebe Frucht zu tragen für das Leben der Welt, erhellen soll.“

Damit dies gelingt, bedarf es eines verantwortlichen Umgangs mit den biblischen Texten. Eine tragfähige Bibelhermeneutik hat neben den kulturellen und zeitgeschichtlichen Hintergründen auch die Intertextualität, d. h. den Bezug der Einzeltexte zur Gesamtheit der anderen biblischen Schriften, zu berücksichtigen. Beide Testamente sind als kontextuell bedingte Bezeugungen des christlichen Glaubens zu begreifen. Nur so sind falsche und voreilige Verkürzungen, zu kurz gegriffene Übertragungen sowie daraus resultierende ethische Fehlurteile zu vermeiden. Die Heilige Schrift darf nicht zum ‚Steinbruch‘ ethischer Normbegründung verkommen.

Eine weitere höchst bedeutsame Quelle der Moraltheologie repräsentiert das weite Feld kirchlicher und theologischer Tradition (Überlieferung). Tradition meint die Weitergabe von erworbenen Einsichten, Glaubensvorstellungen und Handlungsmustern zur Bewahrung von Kontinuität und Identität. Zu denken ist aus moraltheologischer Sicht vor allem an Kirchenväter bzw. -lehrer wie Augustinus (354–430) oder Thomas von Aquin (1225–1274), deren Denken die moraltheologische Systematik in weiten Teilen bis heute prägt und durchzieht.

Daneben gilt es, an die weiteren theologischen Disziplinen in ihren vielfältigen Synergien mit der Moraltheologie zu erinnern. Zu nennen sind insbesondere die Dogmatik (bspw. Anthropologie, Christologie), die Fundamental- und die Pastoraltheologie, die Sozialethik sowie die Spirituelle Theologie (bspw. Gebet, Sakramente, Biographie). Grundsätzlich lassen sich inhaltliche Verbindungen zu allen Disziplinen des theologischen Fächerkanons erkennen.

Das Feld interdisziplinärer Gesprächspartner der Moraltheologie ist nahezu grenzenlos. Eine besondere geistesgeschichtliche Bedeutung kommt der Philosophie zu. Gleichfalls relevant sind (insbesondere für die Fragestellungen der Speziellen Moraltheologie) die vielfältigen Erkenntnisse der empirischen Forschungen, der Natur- (bspw. Biologie, Medizin), der Geistes- (bspw. Geschichts- und Kulturwissenschaft) und der Humanwissenschaften (bspw. Psychologie, Soziologie). Jedes verantwortungsvolle ethische Urteil setzt die sachbezogene Auseinandersetzung mit den jeweils themenrelevanten Wissenschaftsfeldern unbedingt voraus.

Schluss

Zusammenfassend bleibt damit zu konstatieren: Als systematischer, ethischer und theologischer Disziplin geht es der Moraltheologie um eine stimulierende, motivierende, integrierende und kritische Reflexion des sittlichen Handelns des Menschen vor einem christlichen Sinnhorizont. Als normative und praxisorientierte Wissenschaft schöpft sie aus einer Vielzahl an inter- und intradisziplinären Quellen, um auf der Basis rationaler Argumentation ihren Dienst in und an der Kirche zu erfüllen, Nachfolge Jesu Christi zu ermöglichen und gesellschaftliche Relevanz zu entfalten.

Zur Vertiefung

HILPERT,KONRAD, Die Fragestellung der Moraltheologie, in: Hilpert, Konrad/Leimgruber, Stephan (Hrsg.), Theologie im Durchblick. Ein Grundkurs, Freiburg i. Br. 2008, 134–147.

LINTNER,MARTINM., Wie theologisch muss/darf die Theologische Ethik sein?, in: Platzer, Johann/Zissler, Elisabeth (Hrsg.), Bioethik und Religion. Theologische Ethik im öffentlichen Diskurs, Baden-Baden 2014, 175–195.

Verwendete Literatur

BEAUCHAMP,TOM L./CHILDRESS, JAMES F., Principles of biomedical ethics, New York u. a. 72013.

BREITSAMETER,CHRISTOF, Handeln verantworten, in: Baranzke, Heike u. a. (Hrsg.), Handeln verantworten. Grundlagen – Kriterien – Kompetenzen (Theologische Module 11), Freiburg i. Br. 2010, 7–45.

ERNST,STEPHAN, Einführung in die Moraltheologie, in: Ruhstorfer, Karlheinz (Hrsg.), Systematische Theologie. Theologie studieren – Modul 3, Paderborn 2012, 189–232.

ERNST,STEPHAN, Moraltheologie als Theologische Ethik. Die Bedeutung des christlichen Glaubens für das ethische Handeln, in: Garhammer, Erich (Hrsg.), Theologie, wohin? Blicke von außen und von innen, Würzburg 2011, 161–178.

HILPERT,KONRAD, Art. Moraltheologie, in: LThK3 7 (2009), 462–467.

HÖFFE,OTFRIED, Lexikon der Ethik, München 72008.

KANT,IMMANUEL, Kritik der praktischen Vernunft, hrsg. von Otfried Höffe, Berlin 2002.

KORFF,WILHELM, Art. Norm, in: LThK3 7 (2009), 907–909.

KLUXEN,WOLFGANG, Art. Ethos, in: LThK3 3 (2009), 939–940.

MARSCHÜTZ,GERHARD, theologisch ethisch nachdenken. Band 1: Grundlagen, Würzburg 22014.

MOORE,GEORGE E., Principia Ethica, Stuttgart 1970.

MÜLLER,SIGRID, Die Kirchlichkeit der Moraltheologie. Impulse aus katholisch-theologischer Perspektive, in: Platzer, Johann/Zissler, Elisabeth (Hrsg.), Bioethik und Religion. Theologische Ethik im öffentlichen Diskurs, Baden-Baden 2014, 197–216.

SCHLÖGEL,HERBERT, Kirche und theologische Ethik: mehr als Lehramt und Moraltheologie, in: Guggenberger, Wilhelm/Ladner, Gertraud (Hrsg.), Christlicher Glaube. Theologie und Ethik (StdM 27), Münster 2002, 175–186.

SCHOCKENHOFF,EBERHARD, Theologische Ethik, in: Sajak, Clauß Peter (Hrsg.), Christliches Handeln in Verantwortung für die Welt. Theologie studieren – Modul 12, Paderborn 2015, 113–168.

SCHOCKENHOFF,EBERHARD, Vom Ethos der Moraltheologie, in: Sautermeister, Jochen (Hrsg.), Verantwortung und Integrität heute. Theologische Ethik unter dem Anspruch der Redlichkeit. FS für Konrad Hilpert, Freiburg i. Br. 2013, 54–69.

SCHRÖER,CHRISTIAN, Gebot, Tugend, Pflicht, in: Korff, Wilhelm/Vogt, Markus (Hrsg.), Gliederungssysteme angewandter Ethik. Ein Handbuch, Freiburg i. Br. 2016, 39–71.

THOMAS VONAQUIN, Grundlagen der menschlichen Handlung (DThA 11), Graz u. a. 1940.

WILDFEUER,ARMIN G., Art. Wert, in: NHpG 3 (2011), 2484–2504.

2.Methodik – wie arbeitet die Theologische Ethik?

Wie arbeiten MoraltheologInnen? Dies stellt eine grundsätzliche Frage dar, da sowohl aus der theologischen Warte an die einzelnen Themen methodisch herangegangen werden kann (z. B. Bezug zur Bibel, Tradition, Lehramt) als auch im Dialog mit philosophischen Ethikansätzen (z. B. Vertragstheorie, Diskursethik, Interessenfundierte Ethik). Den einen oder anderen Weg einzuschlagen, führt natürlich zu unterschiedlichen Schwerpunktbildungen. In diesem Kapitel sollen grundsätzliche Möglichkeiten aufgezeigt und heutige moraltheologische Strömungen veranschaulicht werden. Im Grunde geht es um die Frage, wie man das Theologische im ethischen Diskurs zur Geltung bringt.

Vorauszuschicken ist, dass in der Moraltheologie kognitivistisch gearbeitet, also auf die Rationalität der Urteile, die als Ergebnis eines Prozesses der praktischen Vernunft verstanden werden, abgehoben wird, und non-kognitivistische Ansätze wie Emotivismus (➢ Begründung durch Gefühle) und Dezisionismus (➢ Entscheidung ohne Begründung) in Deutschland nicht weiter verfolgt werden. Diese kommen häufig auch bei ethischen Debatten, besonders bei emotional geführten, mit hinein, sind aber nicht Gegenstand dieser Reflexionsebene.

Ausgangspunkt(e) moraltheologischer Überlegungen

„Ihre [der Moraltheologie] wissenschaftliche Methodik ist daran orientiert, die in Gottes Herrschaft hineinführende christliche Nachfolgepraxis als Ausrichtung menschlichen Handelns am gemeinsamen Guten auszulegen und vernünftig auszuweisen – und dies auf mindestens vier einander überschneidenden Diskursfeldern.“ (J. Werbick)

Als vier Felder des ‚Moraltheologietreibens‘ nennt der Theologe Jürgen Werbick die diskursiv-ethische Auseinandersetzung um die unabdingbaren Verpflichtungen, die Diskussion um Prinzipien, das Feld der ethischen Modellbildung und die gesellschaftlich-politische Meinungs- und Urteilsbildung.

Die Auslegung und die vernünftige Ausweisung der Nachfolgepraxis hat Jürgen Werbick der Moraltheologie ins Aufgabenbuch geschrieben. Nachfolge meint hierbei aber nicht die einfache Übernahme bereits vorliegender Weisungen, sei es in der Bibel und/oder der Offenbarung. Hier bedarf es aneignender, aber dadurch nicht verfremdender Interpretation. Auch der Rekurs, dies sei doch der Wille Gottes und deswegen müsse so und nicht anders gehandelt werden, muss erst moraltheologisch durchdacht werden.

Wenn sich jemand auf den Willen Gottes beruft, um seine Norm zu begründen oder sein Urteil zu bilden, ist dies im ersten Moment und dem ersten Anschein nach eine legitime Begründung: man vollbringe den Willen Gottes – für eine Lebensberufung, sei es diejenige in der Ehe oder diejenige im Orden, auf jeden Fall eine bedeutsame Orientierung. Beim Thema der Normen aber muss noch genauer untersucht werden, auf was sich diese Orientierung am Willen Gottes genau bezieht. Im Grunde handelt es sich um eine autoritative Normsetzung.

Vor allem an einem Beispiel soll die Problematik noch einmal deutlich gemacht werden: Es entspreche nicht dem Willen Gottes, sich selbst das Leben zu nehmen, sondern Gott allein verfüge über Leben und Tod. Wie ist dieses Hoheitsrecht Gottes zu deuten? Allein aus dem (mutmaßlichen) Willen Gottes auf eine Norm zu schließen, ist für eine Begründung dürftig. Bei aller Schwierigkeit ist aber der Rekurs auf den Willen Gottes nicht einfach vom Tisch zu wischen, da in der Bibel bereits vom Willen Gottes und seinem Eingreifen in das Heilsgeschehen berichtet wurde. Wie kann der Wille Gottes seinen legitimen Platz im Diskurs vor allem auch mit der säkularen Vernunft behalten? Dies kann geschehen, indem man den Ort der Berufung auf den Willen Gottes reflektiert, nicht in der jeweiligen Lebensentscheidung, sondern im Rückgriff auf ihn. Nicht aus dem Willen Gottes sollte die Normbegründung abgeleitet, sondern sie sollte im Normbildungsprozess auf ihn zurückgeführt werden.

Neben der Frage nach dem Willen Gottes gelten als grundlegende Quellen der theologisch-ethischen Urteilsbildung die bereits angesprochene Orientierung an der Bibel, an der Tradition und dem kirchlichen Lehramt (siehe einleitendes Kapitel zum Fachverständnis). Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist im Zuge der Erkenntnis und Einbeziehung der ‚Zeichen der Zeit‘ der Rekurs auf weitere wissenschaftliche Bezugsquellen, die bei den jeweiligen Themen notwendig sind, nach vorne gebracht worden, um zu einer theologisch-ethischen Urteilsbildung, die dem zeitgenössischen Stand der Wissenschaften entspricht, zu gelangen. Vor allem bei Themen aus der Speziellen Moraltheologie ist die Bedeutsamkeit des Expertenrates nicht von der Hand zu weisen. So finden sich in den verschiedenen Kapiteln des vorliegenden Buches Einrichtungen wie die Bundesärztekammer, der Deutsche Ethikrat oder auf europäischer Ebene die European Group on Ethics, deren Richtlinien, Empfehlungen und Stellungnahmen als eine mögliche Erkenntnisquelle, aber auch als Ort inhaltlicher Auseinandersetzung dienen.

Im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde sehr ausdauernd u. a. um die Reihenfolge des Rückbezugs auf die verschiedenen Quellen gerungen.

„Die ‚Glaubensethiker‘ betrachten die Theologie als Grundlage, um daraus moralische Normen abzuleiten. Unter Berücksichtigung hermeneutisch- und historisch-kritischer Methoden der Auslegung der Quellen des Glaubens sollten moralische Normen durch differenzierte, argumentative Deduktion gewonnen werden. Um der Forderung nach vernunftgemäßer Nachvollziehbarkeit moralischer Normen entsprechen zu können, galt es, die jeweiligen Ebenen zu unterscheiden und die entsprechenden Methoden der Argumentation einzusetzen, wenn aus den Quellen des Glaubens ein christliches Ethos herausgearbeitet und mit philosophischen Mitteln plausibilisiert werden sollte.

Die ‚autonome Moral im christlichen Kontext‘ griff moralische Fragen der Lebenswelt auf und bearbeitete diese vor dem Hintergrund sozial- und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse mit philosophischen Methoden. Die christlichen Propria bzw. die Theologie kamen zu einem methodisch späteren Zeitpunkt im Sinne einer ‚Subsidiarität‘ ins Spiel.“ (M. Bobbert/D. Mieth)

Monika Bobbert und Dietmar Mieth fassen diese vergangene Auseinandersetzung sehr gut ins Wort. Ist die Theologie Ausgangspunkt der moraltheologischen Überlegungen oder kommen theologische Erkenntnisse zu einem späteren Zeitpunkt hinzu, nachdem andere Quellen wie die Lebenswelt, sozial- und naturwissenschaftliche Studien und philosophische Überlegungen bearbeitet wurden?

Ähnliches kann am Rückbezug auf die Bibel exemplarisch veranschaulicht werden. Ist die Bibel Ausgangspunkt meiner Überlegungen oder stütze ich meine Argumentation erst im Nachhinein auf biblische Aussagen? Nicht bei allen moraltheologischen Themen ist der Bezug zur Bibel auch sofort evident (z. B. Präimplantationsdiagnostik), aber z. B. durch den Einbezug der Theologischen Anthropologie (siehe das folgende Kapitel) samt ihrer biblischen Fundierung durchaus machbar.

„Theologie hat sich ihrem Gegenstand, der Offenbarung Gottes in der Geschichte, zu stellen und von daher nach Methoden zu fragen, mit denen sie ihre Erkenntnisse vor dem heute fragenden Menschen überzeugend vermitteln kann. Da dieser Mensch unausweichlich von wissenschaftlichen Erwartungen mitgeprägt wird, muss sie diesen Erwartungen die gebührende Beachtung schenken.“ (F. Böckle)

Mit Franz Böckle kann also sowohl der Rückbezug auf die Theologie als Wesenskennzeichen einer Moraltheologie als auch das Erfassen und Deuten des heutigen Menschseins anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse in ihrer Komplementarität und beiderseitigen Notwendigkeit deutlich gemacht werden.

Grundsätzliche Klärungen

Um die Bewertung einer Handlung vornehmen zu können, müssen verschiedene Bestandteile einer Handlungsstruktur unterschieden und jeweils einzeln betrachtet werden: Ziel, Umstände, Gegenstand. Auf der Zielebene sind Intention (was wird mit der Handlung direkt angestrebt/ intendiert?) und Motiv (welchen Grund bzw. welche Gründe gibt es für die Handlung?) voneinander zu trennen. Betrachtet man diese beiden, so geht man von einer willentlichen und vernunftgeprägten Handlung aus (im Gegensatz zu einer von Affekten oder Leidenschaften geprägten). Bei den Umständen sind folgende Fragen leitend: Wie sind die Mittel zu bestimmen? Welche (Neben-)Folgen ergeben sich? Sind diese intendiert oder nicht? Wie wird die Handlung ausgeführt?

Bei den Handlungen selbst kann unterschieden werden zwischen in sich schlechten (verbotenen), sittlich neutralen (erlaubten), pflichtgemäßen (gebotenen) oder supererogatorischen (über Gebühr, geratenen) Handlungen, was einen je unterschiedlichen Anspruch bedeutet. Eine typische supererogatorische Handlung ist z. B. die Lebendorganspende (siehe Kapitel zur Organtransplantation), eine in sich schlechte Handlung Folter.

Um für die moralische Bewertung ein Raster zu bekommen, wird von folgenden Vorzugsregeln (➢) gesprochen: Unterlassungspflichten vor Handlungspflichten, Handlungspflichten vor Verbot. Es geht um Regeln zur Bewertung von ethischen Dilemmata. Einer Unterlassungspflicht kommt Vorrang vor einer Handlungspflicht zu (d. h. man darf nicht einem Menschen schaden, um einem anderen zu helfen). Es muss einem verletzten Menschen geholfen werden (Handlungspflicht), auch wenn Verkehrsregeln gebrochen werden.

Ethikansätze

Zunächst muss zwischen zwei unterschiedlichen Ethikansätzen unterschieden werden: Norm- und Tugendethik. Geht es der Normethik um Aufstellung und Begründung von Normen, so beschäftigt sich die Tugendethik bzw. deren Vertreter wie Aristoteles und vor allem Thomas von Aquin mit Haltungen wie den Kardinaltugenden (Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß, Klugheit) oder den drei theologischen Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung).

Ist die Normethik in einer Dritte-Person-Perspektive mehr mit dem Sollen zugange (‚was soll ich tun?‘), so fokussiert sich die Tugendethik in einer Erste-Person-Perspektive mehr auf das Können einer Person (‚wie soll ich sein?‘). Die Tugendethik ist demgemäß eher akteurzentriert, während die Normethik eher aktzentriert arbeitet. Sind die Kategorien für eine Normethik richtig und falsch, arbeitet die Tugendethik mit denjenigen von gut und schlecht.

Tugendethik

Bezüglich einer Tugendethik muss auch zwischen verschiedenen Ansätzen unterschieden werden: Es gibt diejenigen mehr philosophischer Herkunft wie bei Aristoteles und diejenigen mehr theologischer Herkunft wie bei Thomas von Aquin. Bei Aristoteles ist die Tugend das Beste, das ein Mensch besitzen kann, um selbst gut zu sein und ein gutes Leben zu führen. Er unterscheidet zwischen intellektuellen Tugenden (durch Bildung theoretisch erlernt) und Charaktertugenden (durch Gewöhnung und Übung erlernt). Tugend ist dabei eine Haltung in Bezug auf die Mitte, nicht aber Mittelmäßigkeit: als Mitte zwischen zwei Extremen in Bezug auf uns. Das meint: Die Tugend der Tapferkeit liegt zwischen Feigheit und Tollkühnheit, wobei sich diese individuell je unterschiedlich ausdrücken kann.

Bei Thomas von Aquin kommt in seiner Tugendethik vor allem die Frage nach dem Gottesbezug mit hinein, um die systematisch angemessene Vermittlung der philosophischen mit den theologischen Tugenden zu erreichen. Der mittelalterliche Kirchenlehrer entwickelt in seiner ‚Summa theologiae‘ die Lehre der von Gott eingegossenen Tugenden (➢). Habitus versteht er als eine durch Gott erst ermöglichte Haltung, Glaube, Liebe und Hoffnung als Gnadengeschenk Gottes. Tugend ist somit ein Habitus, den der Mensch sich letztlich nicht aus eigenen Kräften heraus erwirbt, sondern ein Geschenk Gottes. Durch die Zustimmung des Menschen zu diesem Geschenk wird gutes Handeln möglich.

Tugendethik im 21. Jahrhundert, die sowohl in der philosophischen als auch in der theologischen Debatte eine Renaissance erfährt, hält diverse Entwürfe einer moralischen ‚Lebenskönnerschaft‘ bereit. Tugenden zeigen an, was zur „optimalen Ausführung des Eigenseins des Menschen und seiner Eigenheiten“ (H.-J. Höhn) dienen könnte. Sie sind durch Einübung erlangte Grundhaltungen, die helfen, einen dauerhaften, nicht nur zufälligen und punktuellen, sondern auch klugen und moralisch richtigen Umgang mit inneren (Affekte, Begierden, Leidenschaften) und äußeren (widrige und weniger widrige Umstände, gerade auch, wenn Normen in Konflikt geraten) Einflüssen auf die Lebensführung zu erlangen.

Um ein ausgewogenes Bild der Tugendethik zu erhalten, sollen die kritischen Positionen nicht unerwähnt bleiben. Schon ein Blick in die Ereignisgeschichte zeigt, dass mit Hilfe von Tugenden als Verhaltensschablonen autoritäre Gemeinschaften das Verhalten ihrer Mitglieder disziplinieren können sowie ein spießbürgerlicher Moralkanon sich in Tugenden entladen kann (Pflichtbewusstsein). Hierbei werden unter Tugenden eher Verhaltensnormierungen und weniger Haltungen gefasst, die im Laufe eines Lebens, einer moralischen Lebensführung, immer mehr ausgebildet werden. Der prozesshafte Charakter, der gerade dem Tugendgedanken als Haltung eigen ist, wird ins Schablonenhafte verkehrt, also verkommen Tugenden zu Normen.

Aber nicht nur grundlegende Missverständnisse hinsichtlich des Tugendgedankens sind als bleibende Anfragen zu benennen. In der Tugendethik sind Anthropologie (die Frage nach dem Menschen) und Ethik enger miteinander verbunden, als dies bei der Normethik der Fall ist. Im 21. Jahrhundert, in einer pluralistischen Gesellschaft, ist dieser Ausgangspunkt einer allgemein geteilten Lehre vom Bild des Menschen und einer damit zusammenhängenden Frage nach der Universalisierung eines guten Lebens, einer von allen geteilten Vorstellung vom gelingenden und glückenden Leben, nicht mehr in gleicher Weise bestimm- und handhabbar, verglichen mit früheren Zeiten.

Aufgrund dieser Gemengelage erstarkte lange Zeit eher die Linie von Sollen und Pflicht (Kantsche Ethik mit dem Kategorischen Imperativ), von Nutzen (➢ Utilitarismus: der größtmögliche Nutzen der größtmöglichen Zahl als Handlungsziel, J. Bentham) und von Interesse (➢ Interessenfundierte Ethik, N. Hoerster) als Hauptreferenzpunkt. Seit den 1980er Jahren besteht – ausgehend von Arbeiten aus dem angelsächsischen Raum (➢ A. MacIntyre, M. C. Nussbaum, Ph. Foot) – jedoch ein neues Interesse am Format der Tugendethik.

Normethik

Nach aller Differenzierung sei aber angesprochen, dass Norm- und Tugendethik nicht dichotomisch gesehen werden können und sollen, d. h. kein Gegensatz zwischen beiden aufgebaut werden sollte. Normethische Überlegungen fließen in tugendethische mit hinein und umgekehrt. Normen können sozialer, rechtlicher oder moralischer Natur sein; sie sind Übereinkünfte bzw. Richtschnüre für sittlich richtiges Verhalten und werden auf unterschiedliche Weise begründet: teleologisch und deontologisch. Hinzu kommt noch die hermeneutische Normbegründung. Normen sind Ankerpunkte der Orientierung in sittlichen Fragen.

Diese drei sollen nunmehr an einem Beispieltext aus der Süddeutschen Zeitung illustriert werden.

Christian Endt, „Dogmatiker bevorzugt. Einen Menschen opfern, um fünf zu retten? Wer das moralische Dilemma mit pauschalen Prinzipien löst, genießt mehr Vertrauen“, 7.4.2016.