Mord auf dem Eis - Beate Maly - E-Book
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Mord auf dem Eis E-Book

Beate Maly

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Beschreibung

Ein wunderbarer Schmökerkrimi aus dem verschneiten Wien der 20er Jahre. Winter 1924: Während die Stadt im Schnee versinkt, verbringen Ernestine und Anton viel Zeit im Wiener Eislaufverein und vergnügen sich beim beliebten Rundtanz. Doch die winterliche Idylle wird jäh zerstört, als eine junge Eiskunstläuferin ermordet wird. Ernestines und Antons detektivisches Gespür ist gefragt, und die beiden stürzen sich in einen neuen Fall, der erschütternder nicht sein könnte.

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Seitenzahl: 338

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Beate Maly wurde 1970 in Wien geboren, wo sie bis heute mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt. Zum Schreiben kam sie vor rund zwanzig Jahren. Zuerst verfasste sie Kinderbücher und pädagogische Fachbücher. Seit rund zehn Jahren widmet sie sich dem historischen Roman und seit »Tod am Semmering« auch dem Kriminalroman. 2019 war sie mit »Mord auf der Donau« für den Leo-Perutz-Preis nominiert.

www.beatemaly.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/Lunetskaya

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Christine Derrer

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-789-7

Historischer Kriminalroman

Originalausgabe

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In liebevoller Erinnerung an meine Mutter, Monika Maly, die sich auf dieses Buch gefreut hat,

Man wird erst wissen, was die Frauen sind, wenn ihnen nicht mehr vorgeschrieben wird, was sie sein sollen.

PROLOG

Wien, Winter 1899

Die elektrische Lampe neben dem Schminktisch war wieder einmal ausgefallen. Während die Hausarbeiter penibel darauf achteten, dass die Bühne, der Publikumssaal und die Logen des Theaters ausreichend beleuchtet waren, schien es egal zu sein, wie viel Licht den Künstlern in ihren Garderoben zur Verfügung stand. Anastasia hatte eine der alten Petroleumlampen entzündet, die griffbereit neben den Kostümen lagerten. Nun stand die Lampe zwischen Parfümflaschen, Cremetiegeln und Pinseln auf ihrem überfüllten Tisch. Der flackernde Lichtstrahl ließ ihr geschminktes Gesicht im matten Spiegel fremd aussehen. Nach der zweistündigen Aufführung war sie müde. Auch wenn sie bloß eine Nebenrolle in Johann Strauss’ Operette »Wiener Blut« getanzt hatte, war der Abend anstrengend gewesen. Die meisten ihrer Kolleginnen waren schon auf dem Heimweg. Viele würden sich zu Hause waschen und abschminken. Anastasia war geblieben. Die Bassena am Gang in ihrem Wohnhaus war wieder einmal kaputt. Heute Morgen waren nur ein paar rostig braune Tropfen aus dem Wasserhahn gekommen.

Mit einem feuchten Tuch wischte sie den dunklen Kohlestift von ihren Augen und entfernte die absurd kirschroten Kreise auf ihren Wangen. Der Schweiß hatte die kräftigen Farben ineinanderfließen lassen. Dann nahm sie das alberne Krönchen vom Kopf und löste den strengen Knoten ihres Haars. Es war jedes Mal eine Befreiung. So als würde man ein enges Korsett aufschnüren und wieder richtig durchatmen können. Ihre fülligen Locken fielen in weichen Wellen auf ihre Schultern und umrahmten ihr schmales Gesicht. Der matte Rest des Kohlestifts ließ ihre Augen leuchten und geheimnisvoll erscheinen. Sie war eine schöne Frau, das wusste sie. Anastasia hatte es oft genug gehört. Selbst der Theaterdirektor hatte beim Vortanzen kein Blatt vor den Mund genommen. »Tänzerinnen mit Ihrem Talent gibt es wie Sand am Meer. Aber Frauen, die so aussehen wie Sie, nach denen muss man suchen. Ich gebe Ihnen ein fixes Engagement.«

Anastasia war sich bewusst, dass sie es niemals an die Spitze des Ensembles schaffen und immer in der zweiten Reihe tanzen und singen würde. Die Anstellung hatte ihr in den letzten Jahren ein geregeltes Einkommen gesichert. Bald würde Anastasia nicht mehr auf die mickrigen Zahlungen angewiesen sein. Sie hatte dem Drängen einer ihrer Bewunderer nachgegeben und sich verlobt. Ihr Zukünftiger war ein vornehmer Herr, der sich galant um sie bemüht hatte. Leider waren nicht alle ihre Verehrer aus diesem Holz geschnitzt. Es gab auch die Aufdringlichen und jene, vor denen man sich als Frau in Acht nehmen musste. Erst letzte Woche war ihre Kollegin Louise von einem Oberstleutnant der Kavallerie nach der Vorstellung in einem der Separees im Sacher vergewaltigt worden. Sie war nicht die Einzige, der so etwas widerfuhr. Anastasia hatte sich schon einige Male gegen körperliche Übergriffe zur Wehr setzen müssen. Es war das Los der Sängerinnen, Tänzerinnen und Schauspielerinnen. Solange sie auf der Bühne der kaiserlichen und privaten Theater und Hofopern standen, waren sie geschätzte Künstlerinnen, denen man Beifall entgegenbrachte. Sobald sie die Bühne verließen, waren sie für viele nicht mehr wert als einfache Prostituierte. Dass Katherina Schratt, die langjährige Geliebte des Kaisers, eine Schauspielerin war, hatte daran nichts verändert. Im Gegenteil, in den Augen der Männer waren Tänzerinnen Freiwild, dem auch der Kaiser nicht widerstehen konnte – hoch bewundert und heiß begehrt, aber rechtlos und der Lust der Männer ausgeliefert.

Zum Glück waren die Schattenseiten des Künstlerinnendaseins für Anastasia bald Geschichte. Sie tauschte die Bühne gegen Sicherheit, Wohlstand und gesellschaftliche Anerkennung ein. Ein gutes Geschäft, angesichts der Tatsache, dass sie in einer feuchten Ein-Zimmer-Wohnung ohne Wasser und Elektrizität wohnte.

Anastasia stand auf. Ihr Blick fiel auf die langstieligen Rosen auf dem Hocker neben ihr. Seit vier Wochen erhielt sie jeden Abend Blumensträuße, Pralinen und Briefe von einem Unbekannten. Anfangs hatte sie die Briefe gelesen, mittlerweile zerknüllte sie die Kuverts und warf sie ungeöffnet in den Papierkorb. Es waren unverschämte, obszöne Worte, perverse Phantasien, die ihr die Schamesröte ins Gesicht trieben. Dabei war sie wirklich nicht prüde, naiv oder unerfahren. Sie hatte sich in den letzten Jahren an einiges gewöhnt. Doch diese Schreiben waren anders. Sie jagten ihr Angst ein. Die Art, wie der Unbekannte ihren Körper beschrieb und seine Wünsche in Worte fasste, unterschied sich von allen Briefen, die sie je erhalten hatte. Es war, als würde er sie ständig beobachten. Er war über all ihre Schritte informiert, kannte jeden Zentimeter ihres Körpers. Sogar vom Muttermal an einer sehr diskreten Stelle wusste er. Zuerst hatte Anastasia begonnen, ihr Fenster mit einem dicken Tuch zu verhängen. Niemand sollte ihr zusehen können, wenn sie sich auszog und wusch. Trotzdem hatte der Unbekannte im nächsten Brief in allen Einzelheiten beschrieben, wie sie dabei vorging. So, als hätte er durch ihr Schlüsselloch geschaut. Mit jedem Geschenk wuchs Anastasias Unbehagen. Der Mann kannte so viele Details aus ihrem Leben, dass es nur eine Erklärung geben konnte: Er beschattete sie Tag und Nacht. Anastasia hatte die Briefe ihrer Kollegin Emmi gezeigt, die mit einem Polizeibeamten befreundet war. Emmi hatte ihr geraten, die Briefe zum nächsten Revier zu bringen. Doch Anastasia fürchtete, dass sie dort keine Unterstützung erfahren würde. Im besten Fall belächelte man sie mitleidig, im schlimmsten erklärte man ihr mit obszönem Grinsen, dass sie als Tänzerin nichts anderes erwarten durfte und sich über das Interesse freuen sollte.

Natürlich verriet der Schreiber der Briefe seinen wahren Namen nicht. Er nannte sich »Rosenkavalier«, was wenig originell war. Seit Wochen begegnete Anastasia männlichen Zeitgenossen in ihrer Umgebung mit Argwohn. Mittlerweile verdächtigte sie jeden, der sie länger ansah, als notwendig war. Der kleine dicke Beamte, der jeden Abend in der ersten Reihe saß und sie anhimmelte, kam ebenso in Frage wie der Kadett, der sich bloß einen Stehplatz leisten konnte und stets auch dann noch applaudierte, wenn der Vorhang längst gefallen war. Im Grunde konnte jeder Mann ihr diese Briefe schicken. Der Briefträger, der ihre Post brachte, oder der Bäcker, bei dem sie jeden Morgen ihre Semmeln kaufte. Wobei die beiden Letzten wohl kaum genug Geld für langstielige Rosen hatten.

Anastasia schraubte das Glas mit der Creme zu und stellte es zurück auf den Schminktisch. Dann schlüpfte sie aus ihrem Kostüm und zog ihre Unterröcke und ihr Kleid an. Sie verzichtete auf das Korsett. Auf dem Weg nach Hause hatte sie einen Mantel an. Niemand würde sie sehen. Als sie fertig war, nahm sie die Rosen vom Hocker. Wie jeden Abend trug sie den Strauß zu Franz, dem Portier. Er hockte neben dem Eingang und wartete darauf, dass er endlich absperren und in seine Dienstwohnung humpeln durfte. Er hatte als junger Bursche in der Schlacht von Solferino seinen rechten Unterarm verloren. Seither steckte der Ärmel seines Arbeitsmantels leer in der Tasche.

»Für Ihre Frau«, sagte Anastasia.

»Mei, die Poldi weiß schon gar nimmer, was sie mit all den Blumen anfangen soll«, antwortete er und klang enttäuscht. »Die Bonbonniere war ihr lieber.«

Anastasia konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sie bezweifelte, dass die Poldi das teure Demelkonfekt jemals sah. Viel eher vermutete sie, dass die Süßigkeiten in Franz’ Magen landeten. Ihr war es egal, Hauptsache, sie war die unliebsamen Geschenke los.

Sie winkte Franz zum Abschied, wünschte ihm eine Gute Nacht und verließ das Carltheater auf der Praterstraße. Jenes Traditionshaus, das vom berühmten Schauspieler Carl gekauft worden war. Dem Künstler, der Johann Nestroy zu großem Ruhm verholfen hatte, war es gelungen, das Carltheater innerhalb weniger Jahre in eine der angesagtesten Bühnen Wiens zu verwandeln. Eisiger Wind blies Anastasia ins Gesicht. Sie zog den Mantel enger und lief schnell über die Praterstraße stadteinwärts Richtung Donaukanal. Anastasia war erschöpft. Sie wollte nur noch eins: rasch nach Hause und in ihr Bett.

Die Prachtstraße, auf der sich untertags die Wiener und Wienerinnen tummelten, wo sie in einem der vielen Gastgärten der Kaffeehäuser eine Melange oder einen kleinen Braunen genossen, war nun beinahe menschenleer. Anastasia bog in die Zirkusgasse, die ihren Namen dem Zirkus Renz verdankte. Das große Gebäude war jedoch der einzige Prunkbau in der sonst schäbigen Gasse. Hier war nichts vom Glanz der Praterstraße zu spüren. Abseits vom Zirkus standen alte, baufällige Häuser dicht beisammen. Große Abstände gab es nur zwischen den Straßenlaternen, die allesamt mit Gas betrieben wurden. Anastasia beschleunigte ihre Schritte. Ihre Absätze hallten laut vom würfeligen Pflaster wider. Die Geräusche verloren sich in der Dunkelheit der Nacht. Waren da noch andere, festere Tritte zu hören? Sie blieb stehen, lauschte und drehte sich um. Tatsächlich, sie wurde verfolgt. Nun hielt auch ihr Verfolger an. Ein Mann stand direkt neben einer der Gaslaternen. Das fahle Licht fiel auf sein kantiges Gesicht. Für einen Moment setzte Anastasias Herz aus. Die Erkenntnis fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Wie hatte sie so blind sein können? Sie hatte das Offensichtliche nicht sehen wollen. In den letzten Wochen war sie ihm mehrere Male begegnet. Er war ein Wolf im Schafspelz. Die Gier in seinen Augen ließ ihr Blut in den Adern gefrieren. Auch die hatte sie nicht wahrhaben wollen.

Anastasia wog ihre Möglichkeiten ab. Sollte sie um Hilfe rufen? Laut schreien? Einen Skandal provozieren? Aber würde sie überhaupt jemand hören? Sie hatte nur eine Chance. Sie musste schnell sein. Hastig drehte sie sich um, hob ihren Rock an und rannte die dunkle, einsame Gasse entlang. Auch er beschleunigte seine Schritte. Anastasia war eine schnelle Läuferin. Die Müdigkeit war vollständig aus ihren Knochen verschwunden. Die Kälte stach in ihren Lungen. Sie nahm den Schmerz nicht wahr. Als sie den Durchgang zum Innenhof ihres Mietshauses erreichte, wiegte sie sich beinahe in Sicherheit. Nur noch ein paar Schritte, dann konnte sie das Metallgitter vor dem Haustor hinter sich zuschlagen. Genau in dem Moment spürte sie seine Hand auf ihrer Schulter und wusste, dass sie verloren hatte.

EINS

Wien, Dezember 1924

»Papa, wie kannst du seelenruhig in der Küche den Sportteil deiner Zeitung lesen, wenn im Kutscherhäuschen alles drunter und drüber geht?« Antons Tochter Heide hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah ihren Vater verständnislos an.

»Was soll ich deiner Meinung nach tun?« Der pensionierte Apotheker senkte das Zeitungszelt, hinter dem er sich versteckt hatte.

»Hinuntergehen und Ernestine unterstützen. Sie muss sich allein mit den Handwerkern herumstreiten.«

»Sie macht das ganz großartig«, meinte Anton, griff nach seinem Frühstückskipferl und tauchte es in den Kaffee, bevor er genüsslich davon abbiss.

Es war tatsächlich so, dass die ehemalige Lateinlehrerin energischer auftrat und mehr Durchsetzungsvermögen an den Tag legte als Anton. Leider reichte auch das nicht aus, um das Chaos, das seit Anfang November in der Kirchengasse herrschte, zu lindern.

Vor vier Wochen hätten die Umbauarbeiten beginnen sollen. Eigentlich sollte das kleine Häuschen längst entrümpelt, ein paar Mauern errichtet und alles frisch verputzt sein. Doch statt sich um die Einrichtung zu kümmern, waren sie immer noch mit dem Ausmisten beschäftigt. Das Problem lag bei dem Mann, der entrümpeln sollte. Statt kräftig anzupacken, verspätete er sich, redete sich auf Rückenschmerzen oder fehlendes Werkzeug heraus. Wobei fraglich war, welches Werkzeug man beim Ausräumen benötigte. Als der Tischler und der Elektriker vor der Tür standen, hatte Anton sie wieder wegschicken und neue Termine vereinbaren müssen. Der gesamte Zeitplan war zum vierten Mal über den Haufen geschmissen worden. Heute Morgen hatte Anton die Nerven verloren. Verärgert war er in seine Wohnung gestapft.

»Ich hätte diesem Vorhaben niemals zustimmen dürfen!«, hatte er geschimpft. »Am liebsten würde ich die ganze Sache auf der Stelle abblasen. Ich brauche das Kutscherhäuschen nicht. Ich habe eine Wohnung.«

Nun kümmerte sich Ernestine um den unzuverlässigen Handwerker.

Grund für die Aufregung war die bevorstehende Hochzeit zwischen Antons Tochter Heide und deren Freund Erich Felsberg. Heide hatte im Sommer endlich einen der Heiratsanträge des Kriminalkommissars angenommen. Im Frühjahr wollten die beiden sich das Versprechen fürs Leben geben. Damit die kleine Familie genug Platz zum Wohnen haben würde, hatte sich Anton in einer lauen Sommernacht in Kritzendorf bereit erklärt, die Wohnung über seiner ehemaligen Apotheke zu räumen. Auch die kleine Mansardenwohnung, die er an Ernestine vermietet hatte, würde leer werden. Rosa, Antons Enkeltochter, sollte dort ein großzügiges Zimmer bekommen. Anton und Ernestine würden ins renovierte Kutscherhäuschen, einen Anbau im Hinterhof, ziehen. Eine Vorstellung, die Anton durchaus gefallen hatte. Er mochte Ernestine und verspürte jugendlich verliebte Gefühle, sobald er in ihrer Nähe war. Der Gedanke, jeden Morgen mit Ernestine am Frühstückstisch zu sitzen, ließ sein Herz ebenso hochschlagen wie die Aussicht, sich mit ihrem Lächeln im Kopf zum Schlafen zurückzuziehen. Wenn da bloß diese lästigen Umbauarbeiten nicht wären.

»Papa, du musst runtergehen«, wiederholte Heide. Sie klang nun besorgt. »Ernestine hat zuvor den Handwerker beschimpft, weil er einen dritten Becher Kaffee forderte und immer noch nicht mit den Arbeiten begonnen hat.«

»Ernestine hat sich im Ton vergriffen?« Diese Nachricht ließ Anton die Zeitung weglegen. »Was hat sie denn zu dem Mann gesagt?«

»Das will ich nicht wiederholen.« Heides Blick ruhte auf ihrer Tochter Rosa, die eben mit Minna, der Cockerspaniel-Dame der Familie, ins Wohnzimmer kam.

»Ich hab’s gehört«, sagte Rosa. »Sie hat zu dem dicken Mann gesagt, er sei ein Gfrastsackl.« Das Mädchen kicherte, dabei kam ihre Zahnlücke zum Vorschein. Vor zwei Wochen war ihr der rechte Vorderzahn ausgefallen. Jetzt wuchs ein hübscher, großer Schneidezahn nach.

»Ach du liebe Güte.« Anton erkannte sofort den Ernst der Lage. In all den Jahren hatte er noch nie gehört, dass Ernestine jemanden beschimpfte. Dass sie sich über Mitmenschen ärgerte, kam vor. Dass sie neugierig ihre Nase in Angelegenheiten steckte, die sie nichts angingen, gehörte zur Tagesordnung. Aber dass sie die Contenance verlor und zeterte, das war einzigartig und Beweis dafür, wie unverschämt der Arbeiter gewesen war. Anton hatte ganz andere Worte für den Mann auf der Zunge liegen.

»Besser, ich sehe nach dem Rechten«, meinte er.

»Was ist ein Gfrastsackl?«, wollte Rosa wissen.

»Eine durchtriebene, freche Person.«

Rasch trank Anton seinen Kaffee aus, dann ging er zur Wohnungstür.

»Kannst du Rosa und Fritzi am Nachmittag zum Heumarkt bringen?«, rief Heide ihm nach. »Eigentlich bin ich an der Reihe, doch ich muss auf die neue Medikamentenlieferung warten.«

Heide hatte in den letzten Jahren Antons Apotheke übernommen und führte sie mit großem Erfolg. Die Umsätze waren deutlich gestiegen, da Heide das Sortiment erweitert hatte und neben Arzneien auch Kosmetikprodukte verkaufte. Anton half hin und wieder im Laden aus, mischte Hustensaft oder drehte Halspastillen. Die meiste Zeit kam Heide allein zurecht. Hilfe benötigte sie ab und an bei der Betreuung ihrer Tochter.

»Ja, bitte, Opa«, bettelte Rosa. »Dann kannst du sehen, dass ich viel schneller bin als der Fritzi.«

Fritzi Gerstner war der Nachbarsjunge. Er besuchte mit Rosa die zweite Klasse der Montessori-Volksschule von Lili Roubicek und war ihr allerbester Freund. Seit Oktober nahmen die beiden an einem Kurs für Eisschnelllauf im Wiener Eislaufverein teil. Als Heide davon gehört hatte, dass auch Mädchen diese neue Sportart ausübten, hatte sie ihre Tochter auf der Stelle einschreiben lassen. Rosa war begeistert.

»Und was mache ich mit Minna?«, fragte Anton.

»Die Thekla kann auf sie aufpassen«, sagte Rosa fröhlich.

»Wer ist Thekla?«, wollte Anton wissen.

»Die Frau vom Teesalon, dem Buffet im Eislaufverein. Sie liebt Hunde«, erklärte Rosa.

»Hm.« Anton überlegte. Ein Nachmittag im Buffet des Eislaufvereins war sicher netter als weitere Stunden mit einem arbeitsscheuen Handwerker. Angeblich gab es am Heumarkt die besten Frankfurter der Stadt. Anton hatte sie schon lange mal probieren wollen. Er war bekannt für seine Vorliebe für gutes Essen, auch wenn man es ihm nicht ansah. Anton war immer noch groß und hager.

»Ich bringe dich und den Fritzi zum Heumarkt«, sagte er.

Rosa nutzte ihre Filzpantoffeln und glitt mit den Bewegungen einer Eisschnellläuferin übers Parkett ins Nebenzimmer, Minna folgte ihr bellend.

»Und jetzt kümmerst du dich um Ernestine«, sagte Heide streng. »Bevor die Arme einen Nervenzusammenbruch erleidet.«

ZWEI

»Ach, Anton. Ich fühle mich schrecklich«, jammerte Ernestine. In einer Hand trug sie ihre Schlittschuhe, mit der anderen hatte sie sich bei Anton untergehakt. Ihre kurzen grauen Locken schauten unter der bunten Wollhaube hervor. »Ich habe den armen Mann angeherrscht. Aber er hat mich wirklich wütend gemacht.«

Anton konnte spüren, wie Ernestines Körper sich bei der Erinnerung an den Disput anspannte.

»Der ›arme Mann‹, wie du ihn nennst, hat dir eine Rechnung überreicht, in der er eine ganze Woche Arbeitsstunden angeführt hat, die er ausschließlich mit Kaffeetrinken verbracht hat. Ich werde nicht einen Heller davon bezahlen. Was du zu ihm gesagt hast, war noch viel zu harmlos.« Anton schnaufte empört.

»Ich hätte mich niemals dazu hinreißen lassen dürfen.« Ernestine ging hart mit sich ins Gericht.

»Unsinn«, sagte Anton. »Gleich am Montag werde ich einen neuen Handwerker beauftragen. Wir werden uns nicht weiter mit diesem –« Ernestine kniff Anton in den Unterarm, um ihn daran zu hindern, ebenfalls ein Schimpfwort auszusprechen. Gehorsam schluckte er das Wort, das ihm auf der Zunge lag, und beendete seinen Satz mit: »… Kerl herumstreiten.«

Sie hatten das Konzerthaus passiert und die Absperrung zum Eislaufverein erreicht. Über den Zaun konnte man zur Eisfläche blicken, wo einige Sporthungrige mehr oder weniger elegant übers glatte Eisparkett glitten.

Der Wiener Eislaufverein war eine Institution, die seit über fünfzig Jahren Bestand hatte. Ursprünglich war der Eislaufplatz neben der Lagerhalle des Hauptzollamts gelegen. Carl Freiherr von Hasenauer, der später für die Pläne der beiden großen Museen auf der Ringstraße mitverantwortlich war, hatte dort einen herrschaftlichen Holzpavillon für die Eisläufer bauen lassen. Doch mit der Stadterweiterung mussten Pavillon und Eislaufplatz weichen. Wegen der ständig steigenden Popularität des Sports war ein neuer Ort gesucht worden. Mit der umfassenden Regulierung des Wienflusses und der Verlegung der kaiserlichen Reservegärten in die Vorgartenstraße entstand am Heumarkt eine ungenutzte Fläche. Kaiser Franz Josef höchstpersönlich hatte dem Eislaufverein die Anmietung dieses Areals genehmigt. Ein modernes Jugendstilgebäude wurde errichtet, das an Größe und Eleganz Hasenauers Holzpavillon weit übertraf, und jeder, der in der Habsburgermonarchie Rang und Namen hatte, wurde Mitglied im Sportverein. Die Monarchie war nun Geschichte, aber die Bälle am Eis gehörten nach wie vor zu den Höhepunkten der Wiener Faschingssaison, und das Nikolauskränzchen im Advent war legendär. Daran hatte auch der schrecklichste Krieg aller Zeiten nichts verändert. Die Zahl der Mitglieder im Eislaufverein stieg stetig und mit ihr auch die Erfolge österreichischer Eiskunstläufer. Erst im Februar hatte Herma Szabó bei der Olympiade in Chamonix Gold für Österreich geholt.

Anton, Ernestine, Rosa und ihr Freund Fritzi hatten das helle Jugendstilgebäude erreicht, über dessen Eingang in großen Buchstaben »Wiener Eislaufverein« prangte. An beiden Seiten des symmetrisch angelegten Baus befanden sich je sieben hohe Doppelfenster, die im Stil zu den drei Eingangstüren passten. Blumengirlanden aus Stein schmückten die zwei Wappen rechts und links des Portals. Anton öffnete eine der Doppelflügeltüren und hielt sie für Ernestine und die Kinder auf. Er folgte mit Minna und löste Tageskarten für sich und Ernestine an der Kassa. Rosa und Fritzi konnten als Vereinsmitglieder auch so das Drehkreuz passieren.

»Der Hund darf nicht aufs Eis«, sagte die Frau an der Kassa streng. Sie sah über den Rand ihrer Metallbrille und zeigte auf Minna.

Anton hatte nicht vorgehabt, die Hundedame auf die spiegelglatte Fläche zu lassen. Er selbst würde sich auch davor hüten. Es war Jahre her, dass er das letzte Mal auf Kufen gestanden hatte.

»Ich passe auf den Hund auf«, versprach er.

»Meinetwegen. Aber er muss an der Leine bleiben.« Die Frau winkte alle durch. Nach der Kassa ging es zu den allgemeinen Garderoben. Gleich beim Eingang gab es einen Schlittschuhverleih. Die wenigsten Tagesgäste brachten ihre eigenen Schuhe mit. Vor der Theke hatte sich eine Menschentraube versammelt, die geduldig auf die Ausgabe passender Schuhe wartete. Anton sah sich um. Im lang gestreckten Raum standen einfache Holzbänke bereit, auf denen man beim Umziehen Platz nehmen konnte. An der Längsseite warteten hinter einem Tresen zwei Frauen in dunkelgrauen Arbeitsmänteln. Sie nahmen die Straßenschuhe und Taschen der Gäste entgegen und verstauten sie gegen ein paar Kronen in den Regalen. Der Geruch nach feuchten Socken und verschwitzter Kleidung hing in der Luft. Er erinnerte Anton an seine Zeit als Jugendlicher beim Fußballspiel.

Auch Ernestine schien an alte Zeiten zu denken. »Wie im Turnsaal«, sagte sie fröhlich.

»Dort hinten ist die Olivia.« Rosa zeigte auf eine junge Frau in praktischen Sporthosen. Sie war die Trainerin der Kinder. Rosa liebte Olivia Potz. Sie himmelte sie an.

Als sie Rosa entdeckte, kam sie mit raschen, energischen Schritten auf Anton und Ernestine zu. Sie streckte ihm die Hand entgegen.

»Guten Tag, Sie müssen Rosas Großvater sein. Ich bin Olivia Potz.« Die junge Frau hatte einen erstaunlich festen Händedruck. Unter ihrer roten Wollmütze lugten zwei blonde Zöpfe hervor, ähnlich wie die von Rosa. Ihre hellblauen Augen leuchteten. Olivia Potz wandte sich an Ernestine. »Und Sie müssen die Freundin der Familie sein, Fräulein Kirsch.«

»Rosa hat ja schon eine Menge von uns erzählt«, meinte Anton überrascht.

»Das ist ganz normal«, lachte Olivia Potz. »Wir verbringen so viel Zeit zusammen, da erfährt man einiges von den Kindern.« Sie zwinkerte Rosa und Fritzi fröhlich zu.

»Ich nehme die zwei jetzt mit«, sagte sie. »Unsere Garderoben sind weiter hinten.« Sie zeigte zu zwei Türen am Ende des langen Saals. Eine führte in einen Umkleideraum für Frauen, die andere in den für Männer. Rosa und Fritzi bewahrten ihre Eislaufschuhe dort in Spinden auf.

»Komm«, rief Fritzi. Der Junge, dessen Kleidung und Haarschopf immer ein bisschen unordentlich waren, lief los. Rosa folgte ihm. Die Kinder verschwanden hinter unterschiedlichen Türen.

»Sie können sich in der Zwischenzeit Schlittschuhe ausborgen«, sagte Olivia Potz und nickte Anton zu.

»Oh, ich muss leider auf Minna aufpassen. Sie darf nicht aufs Eis.« Anton täuschte Bedauern vor.

»Thekla kann das übernehmen. Sie liebt Tiere«, sagte Olivia Potz.

Genau dasselbe hatte Rosa behauptet.

»Das wäre großartig!« Ernestine strahlte begeistert. »Dann können wir am Rundtanzen teilnehmen.« Sie hatte ein hellgelbes Plakat entdeckt, das an der Garderobenwand hing. In geschwungenen Lettern wurde das wöchentlich stattfindende Eistanzen unter Anleitung von Profieisläufern angekündigt. »Tanzen Sie mit unseren Stars und lernen Sie von Ihnen!«

»Das Rundtanzen wird Ihnen mit Sicherheit gefallen«, war Olivia Potz überzeugt. »Heute führen die Tanzpaare Veronika Kibitz und Norbert Haslinger sowie Melitta Schäfer und Alois Kurz durch die Stunde.«

»Sie meinen die beiden Eiskunstpaare, die für Österreich an den Olympischen Winterspielen in Chamonix teilgenommen haben?«

»Ja«, versicherte Olivia Potz. »Es ist ein ehrenamtlicher Beitrag, den die Profisportler für unsere Mitglieder leisten.« Sie richtete sich aufmunternd an Ernestine: »Ich kann ein gutes Wort für Sie beide einlegen, damit man Ihnen ein paar Extraschritte zeigt.«

»Eine hervorragende Idee.« Ernestine klatschte vor Freude in die Hände.

Bestürzt sah Anton, wie ihre Augen leuchteten. Vergessen war ihr schlechtes Gewissen wegen ihrer verbalen Entgleisung heute Morgen. »Ich brauche keine Extraschritte«, widersprach er so leise, dass weder Ernestine noch Olivia Potz ihn hören konnten.

»Anton, du musst dir unbedingt Schlittschuhe ausborgen. Diese Gelegenheit dürfen wir uns nicht entgehen lassen«, drängte Ernestine.

»Hm, also ich weiß nicht.«

»Geben Sie mir Ihre Minna«, schlug Olivia Potz vor. »Ich bringe sie zu Thekla. Wenn Sie sich mit dem Umziehen beeilen, kommen Sie noch rechtzeitig aufs Eis. In zehn Minuten geht es los.«

Schon schnappte die Trainerin nach Minnas Leine, und die treulose Cockerspaniel-Dame trabte seelenruhig neben einer Wildfremden her. Fassungslos sah Anton der Hündin nach. Er hätte die Leine festhalten sollen. Doch dazu war es nun zu spät. Jeder Protest war zwecklos. Ernestine würde unbarmherzig aufs Rundtanzen bestehen.

»Komm, schnell, Anton. Wir dürfen keine Zeit verlieren.« Ungeduldig schob Ernestine ihn Richtung Schlittschuhverleih. Während er immer noch nach einem Ausweg suchte, orderte Ernestine ein Paar Herrenschuhe für ihn, und kurz darauf saß Anton auf einer der Holzbänke und zwängte sich in die unbequemen Schlittschuhe, die vom Vorgänger noch feucht waren. Was tat er da bloß?

»Sollen wir nicht lieber zusehen?«, meinte er. »Es ist Jahre her, dass ich zuletzt auf dem Eis war.«

»So etwas verlernt man nicht«, sagte Ernestine zuversichtlich, während sie sich ihre mitgebrachten Schlittschuhe anzog.

Anton erinnerte sich mit Schrecken an einen Tangotanzkurs, an dem sie gemeinsam vor einiger Zeit teilgenommen hatten. Ernestine war eine bewundernswerte Frau, die er zutiefst verehrte. Aber sie war eine lausige Tänzerin. Wenn sie am Eis ebenso vehement die Führung übernehmen wollte wie auf dem Tanzparkett, würde der Nachmittag im besten Fall in einer Diskussion, im schlimmsten Fall im Krankenhaus enden. Noch konnte Anton Schmerzen in den Knien vortäuschen, die ihm wirklich von Zeit zu Zeit zusetzten. Aber die Chance, dass Ernestine ihm glauben würde, war gering. Er gab sich geschlagen. Seufzend begann er widerwillig, die endlos langen Schuhbänder zu schnüren.

Ernestine war schneller. Mit fest sitzenden Schlittschuhen stand sie auf und gab ihre und auch Antons Straßenschuhe an der Garderobe ab. Als sie zurückkam und er immer noch trödelte, bückte sie sich und band kurzerhand seine Schuhe. Anton blieb keine Zeit zum Protest.

»So, es kann losgehen.« Sie reichte ihm die Hand und zog ihn hoch.

Es gab kein Entrinnen mehr. Schon das Gehen mit den Metallkufen an den Füßen war ungewohnt. Anton stöckelte ungelenk über den Holzboden. Die Bretter hatten tiefe Einkerbungen und Hacker von den Kufen der Sportler. Anton blieb in den Rillen hängen, konnte ein Stolpern aber verhindern. Die Türen ins Freie standen offen. Die gleißende Wintersonne spiegelte sich auf der glatten Eisfläche. Auf der gegenüberliegenden Seite ragte das Konzerthaus in den wolkenlosen Himmel. Ein heller Prunkbau, der sich harmonisch ins Gesamtbild einfügte und wie die Kulisse einer Operettenbühne anmutete.

»Ist es nicht märchenhaft?«, schwärmte Ernestine. Sie stieg aufs Eis und drehte sich elegant. Anton antwortete nicht. Er blickte sich um. Auf der Eisfläche tummelten sich Kinder und Erwachsene. Der hintere Teil war mit einem Seil abgetrennt. Dort trainierten Rosa, Fritzi und die anderen Eisschnellläufer. Als Anton von seiner Enkelin entdeckt wurde, winkte sie ihm aufgeregt zu. Sie sprach kurz mit Fräulein Potz und sauste dann zu ihm. Unglaublich, wie flink sie war. Wann hatte Rosa so gut Eislaufen gelernt? Fritzi folgte ihr und holte sie beinahe ein. Doch Rosa war schneller und bremste schließlich mit einem scharfen Schwung vor Anton ab. Winzige Eiskristalle staubten auf seine dunkle Hose. Fritzi kam zum Stehen, indem er sich an Rosa festhielt. Beide Kinder hatten rote Wangen.

»Bravo, kleines Fräulein«, sagte Anton beeindruckt. Er verbeugte sich. Noch stand er auf sicheren Holzplanken und konnte sich solche Bewegungen leisten.

»Komm, Opa. Wir dürfen eine Runde mit dir drehen, bevor wir mit dem Training beginnen.«

»Also, ich dachte, dass ich lieber –« Weiter kam er nicht. Rosa schnappte seine rechte, Fritzi die linke Hand, und los ging es.

»Das macht Spaß, Herr Böck«, versicherte Fritzi.

Anton betrat nach dreißig Jahren zum ersten Mal das Eis. Wackelig machte er seine ersten Schritte. Er wollte es langsam angehen, doch die Kinder zogen ihn erbarmungslos mit.

»Komm, Opa. Schneller!«, forderte Rosa.

Anton gab sein Bestes. Statt elegant zu gleiten, zappelte er hölzern übers Eis. Zum Glück hatte er rechts und links Halt. Er konzentrierte sich aufs Gleichgewicht. Tatsächlich lief es besser, als er befürchtet hatte. Vielleicht stimmte, was Ernestine behauptet hatte. Möglich, dass man Eislaufen nicht verlernte. Wo war sie eigentlich? Er verdrehte den Kopf in alle Richtungen. Ein Fehler, sofort geriet er aus der Balance.

»Aufpassen, Opa«, rief Rosa. »Sonst fällst du hin.«

»Das ist leichter gesagt als getan«, antwortete er mit zusammengebissenen Zähnen.

»Wir müssen wieder zurück«, sagte Rosa. Gleichzeitig ließen sie und Fritzi Antons Hände los. Die Kraft des Abstoßes brachte ihn vollends aus dem Konzept. Er ruderte mit beiden Armen, fasste gerade noch rechtzeitig nach der Holzbande, die den Platz begrenzte, und hielt sich sehr tollpatschig mit beiden Armen fest. Nun zitterten seine Knie, und sein Herz raste. Er hätte sich niemals überreden lassen dürfen. Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder beruhigte. Die Erholungspause währte nicht lange, kaum war sein Pulsschlag regelmäßig, erschien Ernestine. Sie tauchte aus dem Nichts auf. Anton hatte keine Ahnung, wo sie eben gewesen war. Erbarmungslos drängte sie ihn mitzukommen.

»Die Tanzpaare versammeln sich!«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich schon so weit bin …«

Ernestine packte seine Hand. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

Im Zentrum der Eisfläche hatte man mit Bändern und verschiebbaren Ständern aus Holz einen kreisrunden Bereich abgetrennt. Mehrere Paare glitten über die glitzernde Eisfläche. Ihre Bewegungen waren geschmeidig. Der Tanz sah spielerisch einfach aus. Aus einem Lautsprecher ertönte eine Walzermelodie von Johann Strauss. Die Musik klang blechern, was dem schönen Bild der Tänzer keinen Abbruch tat.

»Sieht das nicht wundervoll aus?«, schwärmte Ernestine. »So werden wir auch bald übers Eis schweben.«

»Hm.« Anton wagte nicht zu widersprechen.

Zwei Paare erweckten seine Aufmerksamkeit. Ihre Schritte waren präzise und graziös. Ihre Drehungen sahen kinderleicht und selbstverständlich aus. So als wären sie mit den Kufen an den Füßen zur Welt gekommen und hätten sich nie anders fortbewegt. Es bestand kein Zweifel, es musste sich um die Profisportler handeln.

»Die große, schlanke Frau im dunkelblauen Wollpullover und mit dem langen blonden Pferdeschwanz ist Melitta Schäfer. Sie tanzt mit Alois Kurz«, erklärte Ernestine. »Das dort drüben ist Veronika Kibitz. Der junge Mann, mit dem sie tanzt, ist Norbert Haslinger. Hat er nicht einen feschen Schnurrbart?«

Anton kannte Herma Szabó und Willy Böckl, die Olympiagewinner von Chamonix. Würde er den beiden hier begegnen, würde er sie zweifelsohne erkennen. Ihre Bilder waren im vergangenen Februar durch alle Zeitungen gegangen. Beide waren Mitglieder im Eislaufverein. Doch diese vier jungen Leute, die ihn nun in die Geheimnisse des Eistanzes einweihen sollten, waren ihm gänzlich unbekannt. Mit beeindruckender Leichtigkeit drehten sich die zwei Paare im Kreis. Nur die harten, schneidenden Geräusche der Kufen erinnerten daran, dass sie auf Metall übers Eis fuhren.

»Die beiden Damen scheinen sich nicht zu mögen«, sagte Ernestine leise.

Wie immer lag ihr Fokus auf zwischenmenschlichen Details, die Anton meist verborgen blieben. Tatsächlich warfen die Eiskunstläuferinnen einander feindselige Blicke zu. Anton hatte die grimmige Mimik auf die körperliche Anstrengung zurückgeführt. Wer konnte schon lächeln, wenn er von seinem Partner in die Höhe gehoben wurde und sich dort steif wie ein Brett halten musste? Doch jetzt, wo Ernestine ihn darauf aufmerksam machte, bemerkte auch Anton die Ressentiments, die die beiden gegeneinander hegten. Vielleicht hatten sie zuvor eine Meinungsverschiedenheit gehabt.

Veronika Kibitz, eine kleine zierliche Frau mit schwarzen Zöpfen, wurde von Norbert Haslinger wieder auf der Tanzfläche abgesetzt. Sie glitt auf Anton und Ernestine zu.

»Sind Sie zum ersten Mal beim Rundtanzen?« Ihr mürrischer Blick war einem charmanten Gesichtsausdruck gewichen.

»Ich bin zum ersten Mal seit dreißig Jahren auf dem Eis«, erwiderte Anton in der Hoffnung, sie würde auf seine Defizite Rücksicht nehmen oder ihn zurück zu den Zuschauern am Rand schicken.

»Wir sind höchst motiviert und werden uns große Mühe geben«, fiel ihm Ernestine ins Wort.

»Na, dann lassen Sie uns keine Zeit verlieren«, meinte Veronika Kibitz gut gelaunt. Sie hob das Absperrband, und Ernestine fuhr geschickt unten durch. Anton folgte ihr. Als er in die Knie ging, krachte es gefährlich laut. Er fasste vorsichtig an seine Kniescheibe.

»Alles in Ordnung?«, fragte Veronika Kibitz.

Jetzt wäre die Gelegenheit, sich elegant aus der Sache zu winden. Doch als Anton in Ernestines Augen sah, brachte er es nicht übers Herz, sie zu enttäuschen.

»Alles bestens«, log er.

»Wir beginnen mit ein paar Aufwärmübungen«, erklärte Veronika Kibitz. »Um zu sehen, wie es mit dem Rückwärtsfahren und dem Übersteigen klappt.«

Sie drehte sich nach Norbert Haslinger um. Der junge, schmale Mann mit ungewöhnlich hoher Stirn war im Nu neben ihr. Auf seinem Schnurrbart hatten sich winzige Eiskristalle gebildet. Er begrüßte Ernestine, fasste sie an den Händen, während Veronika Kibitz Anton unter die Fittiche nahm. Die beiden Eiskunstläufer vergeudeten keine Zeit.

»Sie haben Glück«, meinte sie. »Die Paare, die heute zum Kurs gekommen sind, tanzen alle schon sehr passabel. Norbert und ich können uns voll und ganz auf Sie und Ihre Partnerin konzentrieren.«

Antons Lächeln gefror. Er war sich nicht sicher, ob er sich über diesen Umstand freuen sollte.

Die nächste Stunde frischte die ambitionierte Trainerin seine eingerosteten Fertigkeiten auf. Er mühte sich mit komplizierten Rückwärtsbewegungen ab. Unter der strengen Fürsorge von Veronika Kibitz klappte sogar das Rückwärtsübersteigen. Anton war zufrieden mit sich, doch ihr kam kein Lob über die Lippen. Sie forderte noch Schwierigeres.

»Jetzt zum Ende der Einheit setzen wir das eben Erlernte in Tanzhaltung um.« Sie zog Anton energisch zu sich, legte seine Hand um ihre Taille und die ihre auf seine Schulter. »Es ist wie auf dem Parkett«, meinte sie. »Nur viel eleganter.«

Zu Antons Erstaunen drehten sie sich kurz darauf zum Walzerklang aus dem Lautsprecher auf dem Eis. Veronika Kibitz übernahm die Führung und schob Anton geschickt zwischen den anderen Paaren über die kreisrunde Eisfläche. Alles, was er dazu beitragen musste, war, sich aufrecht zu halten und nicht hinzufallen. Es wäre ihm furchtbar peinlich, vor den Augen aller einen Fritzelack hinzulegen. Doch warum lief Fräulein Kibitz so schnell? Ging das alles nicht etwas gemütlicher? Aus den Augenwinkeln sah er Ernestine und Norbert Haslinger. Die beiden waren ebenfalls zur Tanzhaltung übergegangen. Gerade als er anfing, sich an die ungewohnten Bewegungen zu gewöhnen, fuhr ein Paar so flink und knapp an ihm vorbei, dass es ihn beinahe rempelte. Anton erschrak, wich aus und geriet ins Stolpern. Im letzten Moment fasste Veronika Kibitz ihn am Ärmel seines Pullovers und verhinderte so, dass er stürzte.

»Passt doch auf«, schimpfte sie dem Paar hinterher. »Wir üben mit Anfängern!«

Anton war empört. Was hieß hier Anfänger? Er hielt sich wacker auf dem Eis. Das Paar, das ihn beinahe gerammt hatte, waren Melitta Schäfer und Alois Kurz gewesen. Die blonde junge Frau mit dem Pferdeschwanz warf Fräulein Kibitz einen gehässigen Blick zu. Ihre hellgrünen Augen funkelten böse. Auch ihrem Tanzpartner schien das Missgeschick nicht leidzutun, er grinste schadenfroh. Es bestand kein Zweifel, das war eine absichtliche Attacke gewesen.

Veronika Kibitz schob ihn zum äußersten Rand des Kreises. »Besser, wir beenden die Stunde etwas abseits«, meinte sie. »Das Miststück wird es erneut probieren. So lange, bis wir aus dem Takt kommen und einer von uns beiden hinfällt.«

Anton war verwirrt. »Ich dachte, die junge Dame ist auch eine professionelle Tänzerin, die heute hier unterrichtet.« Er sah dem Paar hinterher, das sich nun wieder den Kursteilnehmern widmete.

»Ha, dass ich nicht lache«, stieß Veronika Kibitz ärgerlich hervor. »Die Schäfer würde sich doch niemals dazu herablassen, sich mit tollpatschigen Anfängern abzugeben. Sie kümmert sich lieber um die erfahrenen Eisläufer. Sie nutzt diese Stunden nur für eins: sich ins Rampenlicht zu stellen und anzugeben.«

Hatte Anton sich eben verhört? Meinte sie mit »tollpatschigen Anfängern« etwa ihn? Wäre er ein blutiger Debütant, könnte er sich wohl kaum zum Walzer am Eis drehen. Er verzog säuerlich den Mund und schwieg den Rest der Stunde. Es waren ohnehin nur noch ein paar Minuten. Als der große Zeiger der Uhr auf dem kunstvoll verzierten Jugendstilportal über dem Eingang zu den Garderoben auf zwölf sprang, bremste Fräulein Kibitz abrupt ab.

»So, das war’s für heute«, sagte sie und machte sich nicht die Mühe, ihre Erleichterung zu verbergen. »Ich muss jetzt meine eigenen Übungen absolvieren. Ich wünsche Ihnen noch viel Vergnügen.«

Anton blieb kaum Zeit, sich von ihr zu verabschieden oder sich zu bedanken. Schon sauste sie davon. Norbert Haslinger wartete bereits auf sie. Auch er hatte die Stunde pünktlich beendet und Ernestine allein zurückgelassen. Die beiden Eiskunsttänzer begaben sich in den hinteren Bereich, dorthin, wo Rosa und Fritzi immer noch trainierten.

Ernestine kam zu Anton. »Es war wundervoll«, schwärmte sie. Ihre Wangen waren von der frischen Luft und der Bewegung erhitzt, ihre strahlend blauen Augen glänzten. Anton fand, sie sah entzückend aus. »Schade, dass die jungen Leute es nicht erwarten konnten, ihr eigenes Trainingsprogramm zu absolvieren«, seufzte Ernestine.

»Ich glaube, dass die Rundtanzstunden ihnen lästig sind«, sagte Anton.

»Den Eindruck hatte ich auch. Außerdem scheinen die beiden Paare einander regelrecht zu hassen. Wann immer sie konnten, schnitten sie einander den Weg ab. Ich wäre beinahe gestürzt, weil Melitta Schäfer und Alois Kurz uns touchiert haben. Ich könnte schwören, dass sie es mit Absicht getan haben.«

»Mir ging es genauso«, sagte Anton.

»Wollen wir noch ein paar Runden drehen?«, fragte Ernestine erwartungsvoll.

»Gern.« Anton ergriff Ernestines Hand. Gemeinsam glitten sie unaufgeregt und gemächlich übers Eis. Keine Drehungen, kein Übersteigen, kein Rückwärtsfahren. Einfach gemütliches Eislaufen neben Ernestine. Das war ganz nach Antons Geschmack. Rosas Einheit war ebenfalls zu Ende. Sie und Fritzi sausten zu ihnen.

»Opa, lass uns Fangen spielen«, forderte Rosa.

»Dazu bin ich nicht schnell genug.«

»Dann tanz mit mir!«

»Ich spiel mit dir zu Hause ›Mensch ärgere Dich nicht‹«, schlug Anton vor.

»Komm, ich fang dich.« Fritzi ließ Rosa einen kurzen Vorsprung. Dann lief er los. Die Kinder flitzten geschickt zwischen anderen Eisläufern hindurch. Allein vom Zusehen wurde Anton übel.

»Ich finde, dass wir uns jetzt die berühmten Frankfurter verdient haben«, sagte er.

Dagegen hatte Ernestine nichts einzuwenden. »Eine hervorragende Idee.«

Wieder normale Straßenschuhe anzuhaben, war herrlich befreiend. Jeder Schritt fühlte sich luftig leicht an, so als ginge Anton auf Wolken. Mit einem zufriedenen Lächeln gab er die Schlittschuhe wieder zurück.

»Wenn du dir eigene Eislaufschuhe zulegst, ersparst du dir beim nächsten Mal das Anstellen beim Verleih«, meinte Ernestine.

»Nächstes Mal?«, fragte Anton alarmiert.

»Wir werden doch wiederkommen, oder?«

Schon wollte Anton widersprechen, aber dann erinnerte er sich daran, wie gut es sich angefühlt hatte, Ernestines Hand zu halten, und er verkniff sich den Protest. Stattdessen antwortete er: »Wenn wir erneut zum Rundtanz gehen, werde ich mir wieder Schuhe ausleihen.« Er wollte es mit dem sportlichen Einsatz nicht übertreiben.

Ernestine zuckte mit den Schultern. »Wie du meinst.«

Sie traten ins Freie, winkten Rosa und Fritzi zu und sagten den Kindern, dass sie im Buffet auf sie warteten. Über eine großzügige Terrasse gingen sie in den Café- und Teesalon, der sich gegenüber von den Garderoben befand. Das Gebäude war im gleichen Stil gehalten wie das Haupthaus. Ein heller Bau mit hübschen großen Holzfenstern und verspielten Blütengirlanden aus Stuck unterhalb des Dachs. An besonders sonnigen Wintertagen wurden im Freien Stühle und Sessel aufgestellt, damit die Gäste sich bei Melange, Kuchen oder Tee und Frankfurtern am Treiben auf dem Eis erfreuen konnten. Heute musste man sich mit einem Platz an einem der Fenster im Inneren des Lokals begnügen.

Anton öffnete die holzgerahmte Glastür und hielt sie für Ernestine auf. Sie betrat als Erste den warmen Innenraum. Anton folgte ihr. Nach der muffigen Garderobe und den feuchten Socken erschien ihm die köstliche Geruchsmischung aus Kaffee, Kuchen und Rindssuppe wie der Himmel auf Erden.

»Hm, wie das duftet.«

Mit einem einfachen Sport-Buffet, das er von Fußballplätzen kannte, hatte dieses Lokal nichts zu tun. Im Saal, der durch Säulen und große Grünpflanzen untergliedert wurde, befanden sich mindestens zwanzig Tische. Auf allen waren weiße Tücher ausgebreitet. Von der Holzdecke baumelten große Kronleuchter und erhellten den Raum. Die geschliffenen Glassteine funkelten in den elektrischen Lichtern. Die Wände waren mit altrosa Tapeten mit dezentem Rosenmuster geschmückt. Auch hingen zahlreiche Ölgemälde und Fotografien daran. Die Bilder zeigten Mitglieder des ehemaligen Kaiserhauses, Adelige, Politiker und andere Prominente. Alle hatten Schlittschuhe an, und ihre Gesichter verrieten, wie wohl oder unwohl sie sich auf dem Eis fühlten. Frauen in knöchellangen Röcken und Pelzmuffs, in denen sie ihre Hände wärmten, standen neben Männern in Anzügen und Zylinderhüten. Die meisten schauten ernst in die Kamera. In einer Ecke waren modernere Fotografien von sportlichen Wettbewerben und gesellschaftlichen Höhepunkten der letzten Jahre angebracht. Anton suchte die Galerie nach Herma Szabó ab. Doch seine Aufmerksamkeit blieb an einer alten Sepiafotografie hängen. Sie zeigte Damen in langen Abendkleidern und Militärs in ihren Uniformen. Es handelte sich eindeutig um einen Ball. Sollte Rosa im Fasching immer noch begeistert das Eisschnelllaufen trainieren, brauchte Anton bis dahin eine gute Ausrede. Ernestine würde darauf bestehen, diese Kulturveranstaltung zu besuchen.

Ein Bellen unterbrach seine Überlegungen. Minna trottete schwanzwedelnd auf ihn zu und begrüßte ihn.