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Ein mordsmäßiges Angebot für das Seniorinnentrio und die beiden Wellensittiche
Old Alley Towns neuer Supermarkt hat alles, was das Herz begehrt: knackiges Obst und Gemüse, erfrischende Getränke – und jetzt auch eine Leiche. Mord im Angebot? So hatte sich Besitzerin Kiera das eigentlich nicht vorgestellt. Kein Wunder also, dass sie in ihrer Verzweiflung sofort Leah Page und ihre Freundinnen kontaktiert. Doch ein Inspector sieht das gar nicht gerne …
Es ist der fünfte Teil der Cosy-Crime-Reihe inmitten der englischen Cotswolds – perfekt zum Mitraten, Entspannen und Wohlfühlen.
Alle bisher erschienenen Bände der »Old Alley Town«-Serie auf einen Blick:
Teil 1: Der Vogel war’s!
Teil 2: Tödlicher Smoothie
Teil 3: Zu Tode frisiert
Teil 4: Der Mörder ist in Feierlaune
Teil 5: Mord im Angebot
Teil 6: Eine mörderische Pirouette
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
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Ich freue mich über deine Rezension
Kostenlose Kurzgeschichte
Über die Cosy-Crime-Serie
Über die Autorin
Klappentext für »Mord im Angebot« von Kiki Lion
Impressum
Mord im Angebot
Old Alley Town
Band 5
von Kiki Lion
Für alle, die sich kein Angebot entgehen lassen.
♥
Zwei Turteltauben vergessen die Zeit.
Sonnenstrahlen schienen zum Fenster hinein und tauchten den Raum in ein helles Licht. Der Zauber des Morgens wurde von Vogelgesang begleitet und schuf so eine besonders gemütliche Atmosphäre im Inneren des Cottages.
Es war einer dieser Momente, in denen die Welt scheinbar perfekt wirkte, nichts, aber auch gar nichts hätte diesen Augenblick zunichtemachen können.
Das Rascheln von Papier erfüllte den Raum, dann war das Schlagen von Flügeln zu hören und schließlich erklang ein leises Kichern, das so etwas Sanftes und Vorsichtiges hatte, dass niemals jemand erahnt hätte, dass es von einer über siebzigjährigen Frau kam.
»Was denn?«, fragte nun eine männliche Stimme und warf ihr einen fragenden, aber zugleich amüsierten Blick zu.
»Schon gut«, sagte sie schnell und blickte ihn erneut verlegen an, als wäre sie ein junges Schulmädchen, das sich zum ersten Mal verliebt. Am Strahlen ihrer Augen sah man, was sie sich noch immer nicht bereit war, einzugestehen: Sie mochte Harvey weitaus mehr als einen Freund.
»Leah«, bat er grinsend, »was hast du denn?«
Sie schüttelte belustigt den Kopf und deutete dann auf ein Foto. »Was ist das?«
Gemeinsam betrachteten sie das Bild, das Harvey mitgebracht hatte, während sie auf dem Sofa dicht beisammensaßen und ihre Schultern sich sanft berührten. Es gab nichts, was sie in diesem Moment ablenken konnte, nicht mal die beiden Wellensittiche, die sie gelegentlich umkreisten, als würden sie einen Platz suchen, um sich zwischen die zwei zu drängen.
»Ich gebe ja zu, die Frisur war nicht ganz vorteilhaft«, kommentierte Harvey dann das, was Leah so amüsiert hatte.
»Nicht ganz vorteilhaft?« Nun gluckste sie wieder. »Du siehst aus, als hättest du einen Wischmopp auf dem Kopf.«
Harvey warf ihr einen gespielt empörten Blick zu, was Leah trotz der gelassenen Stimmung ein wenig schmerzte. War sie zu weit gegangen?
»Ich meine, ich weiß, es waren andere Zeiten … und gewissermaßen schmeichelt es dir ja auch …«
»Es sah furchtbar aus«, schnitt er ihr das Wort ab.
»Nicht direkt.«
»Leah!« Sein Blick durchbohrte sie förmlich und so knickte sie ein.
»Ja, schon, irgendwie.«
Dann brachen sie beide in Gelächter aus und bemerkten nicht, wie die blaue Wellensittich-Dame zum Landeanflug auf den Couchtisch ansetzte. Ihr Ziel war klar: Sie wollte sich ein Stück des aufgeschnittenen Pfirsichs gönnen, den die beiden auf ihrem kleinen Frühstücksbuffet platziert hatten.
Mr Welli schien sich hingegen eher für Harveys Pullunder zu interessieren, den er auf der Sofakante abgelegt hatte.
Während sich Peachy also ein Stück des Obstes schnappte, döste der grüne Wellensittich im weichen Stoff ein.
Niemand nahm Notiz von ihnen, denn die beiden hatten nur Augen füreinander. Es war, als würden sie den Atem anhalten, während sie sich eingehend musterten. Die Herzen schlugen ihnen bis zum Hals und die Wangen färbten sich deutlich rosa ein. Obwohl sie sich bei der letzten Veranstaltung in Old Alley Town wahrhaftig geküsst hatten, wussten sie seither nicht so recht, wie sie weitermachen sollten.
Sie trafen sich oft, sie verbrachten jede Menge Zeit miteinander, aber sie waren weder Freunde noch Verliebte. Sie befanden sich in einer Art seltsamem Zwischenstadium und fast wirkte es so, als würde jeder von ihnen hoffen, dass der ein oder andere es endlich durchbrechen und Klartext reden würde. Sie waren schließlich keine Kinder mehr. Und doch fiel es ihnen genauso schwer, als hätten sie beide nicht bereits ein ganzes Eheleben hinter sich.
»Leah.«
»Ja?«
Ihr Herz machte einen Freudensprung. Würde er sie jetzt wieder küssen? Fast hoffte sie darauf, auch wenn ihre Gefühle sich einen erbosten Kampf lieferten, denn so richtig wohl war ihr noch immer nicht dabei, sich völlig fallen zu lassen – und das, obwohl sie inzwischen wusste, dass das Leben weiterging und ihr verstorbener Mann Will sich seit jeher nur eines gewünscht hatte, nämlich, dass sie glücklich war.
»Ich …« Harvey schluckte, schien die Worte nicht recht über die Lippen zu bekommen.
»Ja?« Fast ärgerte es sie, dass sie beide so ein Aufheben darum machten. Sie sollte den ersten Schritt wagen und ihn darauf ansprechen oder ihn vielleicht sogar einfach küssen. Es war doch nichts dabei!
Harvey räusperte sich und riss sie aus ihren Gedanken. »Ich genieße die Zeit mit dir sehr.«
»Ich auch.«
Wieder lächelten sie sich an.
»Es ist nur so, dass …«
Leah fuhr zurück. Der Augenblick war gestört. Wollte er sie also gar nicht? Es klang ja fast, als würde er … es beenden wollen. Nein! Ihr Herz flatterte aufgebracht.
»Was denn?«, stammelte sie und ihre Stimme versagte beinahe.
Harveys grüne Augen blickten direkt in ihre und es war, als würde er bis in ihre Seele schauen können. »Ich weiß, dass wir es langsam angehen wollten.« Er räusperte sich wieder. »Aber das Ganze geht jetzt schon einige Monate so und ich habe keine Ahnung, woran ich bei dir bin. Denn … « Erneut stockte er und Leah hatte noch immer Sorge, dass er sie nun loswerden wollte. »… es ist so, dass ich dich wirklich gernhabe.« Leah nickte nur, zu sprachlos, um etwas zu erwidern. »Mehr als eine Freundin.«
»Ich …«, stammelte Leah. Er sah sie eindringlich an, als wäre es endlich an der Zeit, dass sie sich dazu äußerte. Leah hatte das Gefühl, ihre Wangen liefen knallrot an. »Also … wie soll ich es sagen?«
»Einfach geradeheraus«, bat Harvey fast schon enttäuscht, als würde er damit rechnen, dass sie ihn nun abfertigen würde.
»Mir geht es da ganz ähnlich wie dir.«
»Wirklich?« Hoffnung trat in seine Augen und Leah konnte nicht anders, als wieder albern zu kichern.
»Ja.«
Er griff nach ihren Händen, was ein Prickeln durch Leahs Körper fahren ließ. »Aber wozu dann das alles? Warum vergeuden wir so viel Zeit, wo wir doch wissen, wie kostbar sie ist?«
»Ich weiß es nicht.« Und das war nicht gelogen. Leah hatte keine Ahnung, warum sie so ein Drama um ihre Beziehung machten. Es war ja nicht so, dass sie nicht selbst frei entscheiden konnten, was sie wollten. Doch es war nun mal so, dass ihre Leben nicht mehr wie eine frische Leinwand vor ihnen lagen. Es gab eine lange Vergangenheit und reichlich Gepäck, das eine Liebesbeziehung erschwerte. Sie führten beide seit vielen Jahren ein unabhängiges Leben und diese zwei eigenständigen Geschichten nun zusammenzuführen, würde einiges durcheinanderwirbeln. Sie würden sich arrangieren müssen, Kompromisse eingehen. Es gab zwar einen gemeinsamen Weg, aber sie hatten bereits so ihre Eigenheiten, nicht so wie in jungen Jahren, wo sie noch weitestgehend ein unbeschriebenes Blatt waren. Es würde nicht einfach werden, aber auch nicht unmöglich.
Und doch musste Leah zugeben, dass sie sich sicher sein wollte, wenn sie diesen Schritt wagte, so sicher, dass sie bereits seit Monaten grübelte und abwägte. Dabei ahnte ihr Herz es schon länger: Sie liebte Harvey und sie würde es mit ihm versuchen wollen, das wusste sie.
»Dann sollten wir diese Albernheiten lassen«, meinte Harvey und verringerte den Abstand zwischen ihnen noch weiter, sodass Leah ein ganz flattriges Gefühl im Bauch bekam. Seine Augen schlossen sich und seine Lippen kamen näher, während er weiterhin ihre Hände hielt. Leah überwand ihre Scheu und ließ sich vollends auf den Moment ein. Sie beugte sich vor, damit ihre Lippen aufeinandertreffen und sie somit ihre neue Beziehung ein für alle Male besiegeln konnten.
Es war der entscheidende Augenblick, der alles verändern würde. Ein Neuanfang für sie beide, ein Schritt, der längst überfällig war.
Noch ehe ihre Münder einander erreichen konnten, ertönte ein schriller Ton, den Leah für ein paar schmerzliche Sekunden als Klingeln in ihren Ohren, eine Art Warnsignal, fehlinterpretierte. Doch als sie das aufgebrachte Schnattern ihrer Wellensittiche vernahm und das Vibrieren auf dem Tisch spürte, begriff sie, dass es ihr Handy war.
Harvey und sie glitten auseinander und diesmal war sie sich sicher, dass die Enttäuschung in seinem Blick auch in ihren Augen zu sehen sein musste.
Was war denn nun wieder los? Wer störte sie? Hoffentlich war es wichtig!
Etwas genervt griff sie zum Telefon. »Entschuldige«, murmelte sie.
»Schon okay«, sagte Harvey anständig und widmete sich dann Mr Welli zu seiner Rechten, der einige Streicheleinheiten einforderte.
Leah nahm gerade das Gespräch an, da erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf Peachy, die sich augenblicklich ertappt fühlte und mit ihrer großen Pfirsichbeute versuchte, in Richtung Käfig zu flattern. Leah war so wütend durch diese verpasste Chance, dass sie ihr Vögelchen am liebsten auf der Stelle zurechtgewiesen hätte, aber dazu sollte es nicht kommen, denn es war bereits ein aufgebrachtes Stimmengewirr im Hörer zu vernehmen.
»Leah?«, ertönte Bettys Stimme.
Sofort war Leah hellwach. »Ist alles in Ordnung?«, rief sie automatisch.
»Ja, ja, bestens.« Sie zögerte kurz. »Und bei dir?«
»Alles gut.«
»Okay.« Betty klang verwundert. »Bist du also gleich da?«
»Wo?«
»Na beim Supermarkt.«
»Ich habe noch alles hier.« Leah konnte nicht fassen, dass ihre Freundin sie deshalb störte, auch wenn sie nichts von den jüngsten Ereignissen wissen konnte.
»Aber wir waren doch verabredet.«
»Hat sie es etwa vergessen?«, kam nun Ruths Stimme aus dem Hintergrund.
»Ich habe nichts vergessen«, protestierte Leah und sah Harvey fragend an. »Ich muss nur heute nicht einkaufen.«
»Und das Event?«, wollte Betty wissen.
»Welches Event?« Leah sah zu Harvey, der noch immer ratlos dreinblickte.
»Die Eröffnung!«, rief Betty nun streng, ehe sie ihre Freundin zu durchschauen schien. »Leah, was ist los mit dir?«
»Natürlich …«, meinte Leah und sah noch immer zu Harvey. »Wir kommen später vorbei.«
»Wir?«, hakte Betty grinsend nach.
»Bist du etwa wieder mit Harvey zusammen?«, kam es kichernd von Ruth aus dem Hintergrund.
»Zufälligerweise ja.« Ihr Herz pochte verräterisch und sie wollte das Gespräch schnellstmöglich beenden. »Wir sehen uns dann später.«
»In einer halben Stunde geht es los«, brummte Betty.
»Aber ich denke, Kiera wollte erst um zehn Uhr eröffnen.« Sie sah Harvey fragend an, der sofort auf seine Armbanduhr schaute und ihr diese hinhielt. Tatsache, sie hatten die Zeit vertrödelt.
»Ja genau«, meinte Betty. »Also in dreißig Minuten.«
»Wir sind ja schon auf dem Weg«, log Leah und würgte ihre Freundin ab. »Bis gleich.«
Dann sprangen Harvey und sie auf, so schnell sie konnten. Rasch räumten sie hinter den Vögeln her, ohne diese für ihr Verhalten zu tadeln, und machten, dass sie aus dem Haus kamen, um dem Ereignis beiwohnen zu können. Leah war das Ganze zutiefst peinlich. Noch nie zuvor hatte sie derart die Zeit vergessen, dass sie ihre Freundinnen hatte vertrösten müssen – oder zumindest konnte sie sich nicht mehr daran erinnern. Und damit das auch jetzt nicht geschehen würde, machte sie, dass sie in die Gänge kam.
***
Die Fahrt verbrachten sie nahezu schweigend. Offenbar war es ihnen ein bisschen peinlich, dass sie gestört worden waren und nun auch noch zu spät zu einem Termin kamen.
Leah hatte nicht mal die Gelegenheit bekommen, sich frisch zu machen. Zum Glück hatte sie sich ohnehin schon etwas schicker angezogen. Natürlich nur für sich selbst, nicht für Harvey. Bei dem Gedanken musste sie schmunzeln, es war zwecklos, es zu leugnen.
»Was ist los?«, fragte Harvey vom Fahrersitz aus. Er musste wohl gemerkt haben, dass sie ihn musterte.
»Nichts«, sagte sie rasch und klappte noch einmal den Spiegel herunter, um sich darin zu betrachten. Sie zupfte an ihren grauen Locken herum, als würde sie jede verräterische Spur beseitigen wollen.
»Du siehst perfekt aus«, meinte Harvey und strahlte sie an.
»Danke«, sagte Leah und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht trieb.
Ehe sie noch weitere Zuneigungen austauschen konnten, fuhr Harvey mit seinem Transporter um eine Kurve, kurz dahinter kam der neu renovierte Supermarkt zum Vorschein. Leah hatte ihn schon einige Male bewundert. Zuerst natürlich beim Miniaturwettbewerb, wo Kieras Nichte den ersten Platz gemacht und Old Alley Town damit ein topmodernes Gebäude mehr beschert hatte. In echt wirkten die frischen Farben des Ladens noch mal ganz anders und erinnerten an den Frühling. Auch ein femininer Touch war zu erkennen, der den Supermarkt von so manch staubigem Komplex abhob.
Besonders gut gefiel Leah auch die Dekoration in Form von bunten Ballons und feierlichen Bannern, die rings um das Gebäude angebracht waren. Die Sonne spiegelte sich in den gläsernen Fronten und strahlte geradewegs die Menge an, die sich auf dem Parkplatz versammelt hatte und auf den Einlass wartete.
Leah hatte das Gefühl, dass jeder sie in diesem Augenblick ansah, als Harvey quietschend zum Stehen kam. Sie mochte es nicht, im Mittelpunkt des Geschehens zu sein, und schämte sich ein bisschen, dass sie bei einem so wichtigen Event zu spät waren. Was sollten nur die anderen Bewohner denken? Schlimm genug, dass die Gerüchteküche schon seit Monaten nicht stillstand, auch wenn viele falsche Nachrichten unterwegs waren, die sicherlich auf ihre Erzfeindin Shaunna zurückzuführen waren.
»Bist du bereit?«, fragte Harvey, weil sie noch immer wie angewurzelt auf dem Beifahrersitz saß. Sie wusste, dass Harvey insgeheim nicht nur von der Neueröffnung sprach, sondern vor allem auch davon, dass die zwei es hiermit offiziell machen würden. Und sie wusste nicht, ob sie wirklich dafür bereit war, aber andererseits: Würde sie es jemals sein? Es gab keinen besseren Augenblick als den jetzigen.
Und so nickte sie. »Lass uns gehen.«
Harvey strahlte und half ihr aus dem Fahrzeug, dann ergriff er ihre Hand und sie schlenderten wie selbstverständlich auf das Gebäude zu, während die Menge sie musterte. Einige steckten schon ihre Köpfe zusammen und tuschelten.
Leah gefiel das alles nicht, aber sie wollte herausfinden, was da zwischen ihnen war, und dafür würde sie sich überwinden müssen.
»Da seid ihr ja!«, rief Betty abgehetzt und bahnte sich mit einer todschicken Ruth ihren Weg durch die Menschenmenge. Als ihre Freundinnen die beiden erblickten, wirkten sie überrascht und für einen Augenblick ganz irritiert, doch dann grinsten sie und verstanden offenbar sofort.
»Wurde aber auch Zeit!«, schrie Betty begeistert und es war klar, dass sie damit nicht ihre Ankunft meinte.
»Ich freue mich ja so!«, stieß Ruth aus und fiel ihr um den Hals, weshalb Leah Harveys Hand losließ.
»Ich will zuerst!«, protestierte Betty und kam nun ebenfalls auf sie zu, sodass sie sich zu dritt umarmten. Leah war das alles so unfassbar peinlich, aber sie freute sich auch, dass die beiden immer für sie da waren und das Glück mit ihr teilten.
Kaum hatten sich ihre Freundinnen aus der Umarmung gelöst, da ging Betty ein bisschen drohend auf Harvey zu, der augenblicklich zurückzuckte.
»Wehe, wenn du nicht gut zu ihr bist, dann hast du mich am Hals!«
»Betty!«, rief Ruth erschrocken und Leah fiel kurzerhand mit ein.
»Aber ihr wisst doch, ich würde niemandem etwas zuleide tun«, sagte Harvey abwehrend.
»Entschuldige«, meinte Ruth und ging auf ihn zu. »Betty hat es nicht immer so mit den Manieren.«
»Bitte?«, kam es von dieser, doch Ruth warf ihr nur einen vielsagenden Blick zu, ehe sie sich wieder Harvey zuwandte. »Aber um eins klarzustellen: Sie hat schon recht, für unsere Leah würden wir alles tun.«
»Das weiß ich doch«, meinte Harvey und lachte. »Und ich genauso.«
Leah errötete wieder und fragte sich langsam, ob das ein Dauerzustand werden würde.
Das knirschende Geräusch eines Mikrofons ertönte, was zu Leahs Freude jeden kurz ablenkte. Dann hörte man Kieras Stimme.
»Hallo zusammen. Im Namen aller Mitarbeitenden und meiner gesamten Familie heiße ich Sie recht herzlich willkommen zur Neueröffnung unseres Supermarktes.«
Jubel brach aus und die Freundinnen drängten sich gemeinsam mit Harvey weiter vor, um ebenfalls Beifall zu klatschen.
»Wie ihr alle wisst, geht mit diesem Projekt ein langer Herzenswunsch in Erfüllung.« Kiera kämpfte sichtlich mit den Tränen und ihre Frau Winnie drückte sie fest an sich. Sohn Jadoo, der auf Winnies Arm war, versuchte, mit seinen kleinen Fingern nach Kiera zu greifen, als würde er es seinen Eltern gleichtun wollen.
Die Menge war sichtlich gerührt, als sie bemerkten, dass Kiera gar nicht mehr in der Lage war zu reden. Sie ließ ihrer Nichte Emily den Vortritt, die dieses Megaprojekt überhaupt erst möglich gemacht hatte.
»Hi«, meinte sie etwas schüchtern ins Mikrofon, und als ihre Familie ihr Mut zusprach, taute sie langsam auf. »Ich hätte nie gedacht, dass dieses Gebäude in echt so cool aussehen würde.« Sie lief rot an, aber die Menge applaudierte wieder. Als sie begann, von ihren anfänglichen Ideen zu erzählen, und wie sie das alles geplant hatte, stand Bürgermeister Gowin bewundernd und nickend neben ihr. Offenbar erkannte auch er ihr Talent und sah sie schon als zukünftige Architektin Old Alley Towns.
Die drei Freundinnen warfen sich belustigte Blicke zu, nicht, weil sie Emily das nicht gönnten, sie hatte wahrlich Talent und würde ihren Weg gehen, es lag vielmehr an Gowin, der wieder mal das ganz große Geld witterte.
Kurz nachdem die Nichte ihre Erzählungen beendet hatte, lobte der Bürgermeister sie auch schon in den höchsten Tönen, wobei er die Menschen nicht vergessen ließ, dass er es ja immer geahnt hatte.
»Er kannte Em doch nicht mal«, murrte Betty.
»Kein Stück«, beteuerte Ruth.
Leah lachte. »Wenn dem so wäre, hätte er längst halb Old Alley Town neu bauen lassen und sich daran bereichert.«
»Na, das ist aber nicht gerade nett«, meinte Harvey, doch er grinste, weil sie wussten, wie Gowin sein konnte, so freundlich er auch war. Sein Image war ihm stets wichtig und für seinen Posten würde er alles geben.
Bald darauf ergriff Kiera wieder das Wort und erklärte den Supermarkt für eröffnet. Die Menge jubelte und bahnte sich ihren Weg zum Eingang. Leah konnte es kaum erwarten, die neuen Hallen vom Nahen zu inspizieren.
Das halbe Örtchen kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus – bis jemand ein Angebot der besonderen Art findet.
Sie schritten durch eine moderne Einkaufshalle, die von einem gläsernen Dach gesäumt war. Pflanzen waren an unzähligen Stellen platziert – an den Balken über ihnen, an den Säulen, ja sogar an den Kassen selbst wuchsen Rankpflanzen empor und sorgten so für ein grünes Paradies, das nichts mehr mit einem muffigen Supermarkt gemeinsam hatte.
Direkt im Eingangsbereich standen bequem aussehende dicke Polstersessel und -sofas in Bordeauxrot herum, in der Mitte gab es kleine schwarze Tische, die ebenfalls mit Blumen geschmückt waren und so für eine entspannte Auszeit sorgen würden.
Bevor es überhaupt in den Laden ging, entdeckten sie eine Bäckerei, einen kleinen Kiosk und einen Blumenladen sowie ein paar Stände mit Snacks. Darunter befand sich auch ein Verkaufsstand von Haferbauer Spencer und seiner Familie, die offenbar einige regionale Köstlichkeiten anboten. Leah liebte es, wie wenig Konkurrenz zwischen Kiera und Spencer herrschte, was gut war, denn sie ergänzten sich perfekt und verstanden es, den Kunden das Beste aus beiden Welten zu präsentieren.
Da Kiera selbst viel zu beschäftigt damit war, Fragen zu beantworten, beschlossen die vier, direkt in den Laden zu gehen und sich umzusehen. Kiera hatte etwas von ein paar besonderen Aktionen erzählt, die sie natürlich auch entdecken wollten, obwohl Leah tatsächlich gar nichts brauchte. Selbstverständlich würde sie es sich nicht nehmen lassen, ihre Freundin zu unterstützen.
»Vielleicht sollten wir uns denen anschließen«, meinte Betty und deutete auf eine der Angestellten mit braunem, langem Haar, die gerade dabei war, ein Grüppchen durch den Laden zu führen.
»Das ist ja wie im Museum«, meinte Ruth und klang begeistert.
Leah nickte und sah Harvey fragend an. Dieser zuckte nur mit den Schultern und ergriff Leahs Hand, was diese sehr unvorbereitet traf und erröten ließ. Ihre Freundinnen kicherten.
»Wir sollten uns beeilen«, erklärte Leah und versuchte, vom Geschehen abzulenken, doch die beiden schienen sich gar nicht mehr einzukriegen und machten sich ganz und gar lächerlich.
»Die sind ja bloß neidisch«, hauchte Harvey ihr ins Ohr, was sie erschaudern ließ. Offenbar konnte er Gedanken lesen.
»Ja, wahrscheinlich«, meinte Leah und musste auf einmal grinsen. Vielleicht hatte Harvey da gar nicht mal so unrecht und sie sollte dafür sorgen, dass die beiden auch ihr Glück fanden, so würde sie ihres nämlich besser genießen können. Die zwei würden ja keine Ruhe geben, das wusste sie genau. Und nachdem Betty erst kürzlich enttäuscht worden war und Ruth sowieso für jeden Mann schwärmte, der gut gekleidet war, würde sie den beiden einen großen Gefallen tun. Sie sah sich schon als Kupplerin wie in jungen Jahren. Ja, dieser Gedanke gefiel ihr durchaus.
»Jetzt lassen Sie los!«, rief eine ältere Frau und sorgte dafür, dass Leah wieder im Hier und Jetzt ankam.
Die Köpfe der vier glitten zu der grimmigen Dame herüber. Sie hatte ledrige, rosig sonnengegärbte Haut voller tiefer Falten, die Augenbrauen hingen besonders weit unten und ließen ihre blassblauen Augen regelrecht böse erscheinen.
»Loslassen, habe ich gesagt!«, schrie sie wieder und riss an der Tasche, was ihre kurzen weißen Locken wippen ließ.
»Entschuldigen Sie bitte, Madam, ich muss das nur gerade untersuchen«, erwiderte ein Mann mit beigem T-Shirt und dunkelgrüner Sicherheitsweste betont freundlich.
»Das geht Sie gar nichts an!«, blaffte die Frau zurück und schaffte es tatsächlich, die Oberhand zu gewinnen, obwohl der Mann deutlich stärker zu sein schien. Zumindest ließ dies ein Hauch von Muskelmasse auf seinen dunkelbraunen Armen erahnen, was im Kontrast zu seinem leichten Bauchansatz stand.
»Hey!«, rief er und eilte ihr hinterher, doch die Frau war für ihr Alter recht flink und schaffte es, in der Menge unterzutauchen.
Seufzend griff er nach seinem Walkie-Talkie, das in seiner Brusttasche klemmte, und informierte jemanden darüber. Da kurz darauf auch schon Kiera erschien, wurde klar, dass er sich direkt an die Chefin gewandt haben musste.
»Meint ihr, sie hat was geklaut?«, wollte Ruth erschrocken wissen und umklammerte ihre Handtasche fester.
»Und warum sollte sie dann wieder in den Laden rennen?«, gab Betty zu bedenken.
»Vielleicht war es ihr einziger Fluchtweg«, mutmaßte Leah und deutete auf die alleinige Eingangstür.
»Dann wird sie wohl gleich sowieso geschnappt werden«, mischte sich nun auch Harvey ein, ehe er auf die Verkäuferin zeigte. »Aber wenn ihr eure Führung noch haben wollt, sollten wir uns wirklich beeilen.«
Die drei sahen ihn überrascht an, weil er sonst immer recht schweigsam war. Betty schien, als würde sie das kommentieren wollen, doch offenbar überlegte sie es sich anders und so machten sie sich gemeinsam auf den Weg, um zur Gruppe aufzuschließen.
Und tatsächlich: Auch im Inneren wirkte dieser Supermarkt mehr wie eine Verweiloase und nicht wie ein klassischer Laden. Die Lichter waren angenehm gedimmt, die Pflanzen sorgten für einen prächtigen Blickfang und im Hintergrund erklang gedämpft Musik. Überall standen kleine Erholungsinseln bereit, was Leah ganz besonders gefiel. Kieras Nichte hatte wirklich an alles gedacht und verstanden, dass sich Menschen auf diese Weise viel länger im Geschäft aufhalten würden als in einem mit grellem Licht ausgeleuchteten grauen Kasten, der einen nicht schnell genug wieder ausspucken konnte.
»Das nenne ich mal Luxus«, meinte Betty und probierte auch schon einen der Sessel aus. »An uns alte Leute haben sie gedacht, dass ich das noch erleben darf.«
Ruth nestelte nervös an ihrem blonden kurzen Haar. »Na ja, so alt sind wir nun auch wieder nicht.« Sie kicherte verlegen. Auf ihr Alter wollte sie nie angesprochen werden.
»Ach«, sagte Harvey und löste sich von Leah, um sich ebenfalls hinzusetzen. »Das ist auch bestimmt was für so junge Leute wie uns.« Er grinste breit.
»Meine Rede«, kam es von Betty, die sich offenbar häuslich niederlassen wollte.
Leah beobachtete, wie die Verkäuferin bereits mit der Gruppe voranschritt und da sie drohten, alles zu verpassen, scheuchte sie ihre Freunde hoch.
»Los, wir müssen weiter!«
Schnell schoben sie sich an den bekannten und unbekannten Gesichtern vorbei. Sie erblickten Friseurin Millie Short in der Drogerieabteilung, wo ein älterer Mann mit grüner Jacke gerade etwas aufwischte. Er schien dabei die Ruhe weg zu haben, der Trubel und die Hektik konnten seiner Arbeit nichts anhaben. Wahrscheinlich war er darin schon geübt.
Schnell grüßten sie auch Pfarrer Anthony, der sich das Spektakel genauso wenig entgehen lassen wollte wie Deorwine Walsh, der nur äußerst beschämt dreinblickte, als er Leah sah, weil er sich wohl daran erinnern musste, welche Lektion sie ihm erteilt hatte.
Bei den Spirituosen erspähten sie Pubbesitzer Bobby Watts und in der Feinkostabteilung deckten sich gerade Duane und Neva Deshazo vom örtlichen Café mit neuen Leckereien ein.
Etwas abseits bemerkte Leah sogar ihre Nachbarin Ladonna Sherman, die offenbar in Begleitung von Werkstattbesitzerin Yolimar Escalona und deren Sohn Ansaldo hier war. Es freute sie immer wieder, wenn sie sah, wie gut sich Ladonna inzwischen in Old Alley Town eingelebt und Freundschaft geschlossen hatte.
Gerade wollte sie den beiden Frauen Hallo sagen, da bemerkte sie Shaunna, die im gleichen Gang auftauchte, und so entschloss sie sich rasch dagegen. Ohnehin zerrten ihre Freundinnen und Harvey sie unerbittlich weiter. Die Gruppe hatte wirklich ein Mordstempo drauf.
Im Laden war es so laut, dass Leah gar nicht verstehen konnte, was die Verkäuferin erzählte, dafür nahm sie umso begieriger die ein oder andere köstliche Probe entgegen. Sie würde noch mal in Ruhe herkommen und sich alles ansehen müssen. Das war ja viel zu hektisch, man könnte meinen, das ganze Dorf wäre hier.
Als sie in Richtung Kassenbereich kamen, wurde es zu Leahs Erleichterung etwas ruhiger und da die Führung wohl bald enden würde, entschieden sich die ersten Leute dazu, bereits zu bezahlen und den Laden wieder zu verlassen.
Das kam Leah gerade recht, denn endlich konnte sie auch mitbekommen, was es zu erzählen gab.
»Hier ist dann noch die Obst- und Gemüseabteilung«, erklärte die Frau mit dem roten Poloshirt und deutete mit ihren perfekt manikürten Fingern auf das reichhaltige Angebot.
Aus dem Augenwinkel sah Leah, dass Bürgermeister Gowin Kiera in einiger Entfernung aufgebracht die Hand schüttelte, während sie von Reporterin Florence Bales und Fotograf Mr Morrison gleichermaßen abgelichtet wurden.
»Haben Sie etwas im Angebot?«, hakte eine zierliche ältere Frau nach, die sich so dicht an die Verkäuferin gestellt hatte, damit sie auch ja nichts verpasste. Wie Leah das hasste! Am liebsten hätte sie den Platz mit ihr getauscht.
»Ja, natürlich«, erklärte die Brünette prompt. »Da gibt es zum Beispiel regionale Äpfel, frisch vom Haferbauern. Oder wie wäre es mit …« Sie hielt inne, als ein Schrei durch die Gruppe ging. Es war die zierliche Frau, die automatisch alle anderen damit ansteckte.
»O mein Gott, was ist das?«, schrie sie atemlos und vor ihnen rückten alle ein Stück zurück, dabei wollte Leah so unbedingt nach vorn. Was ging denn da vor sich?
Die Freundinnen sahen sich an, dann nickten sie sich zu, ließen Harvey zurück und huschten an der Gruppe vorbei, um auch etwas sehen zu können.
Und da erblickten sie den leblosen Körper, der bei den Wassermelonen lag, als würde er dazugehören. Nur das Blut, das sich um seinen Kopf gebildet hatte, ließ erahnen, dass ihm sämtliches Leben ausgehaucht war.
Ruth stieg automatisch ins Gekreische mit ein, während Betty wie selbstverständlich näher trat. Leah zuckte zwar zurück, folgte ihr dann aber vorsichtig.
»Mausetot«, bestätigte Betty, als sie den jungen Mann vom Nahen erblickten, der mit dem Hinterkopf voran in die Melonen gestürzt sein musste.
Leah verschlug es die Sprache, der Tumult um sie herum begann jetzt erst, so richtig loszugehen.
»Ach das«, meinte nun die Verkäuferin leichthin und trat neben die beiden. »Das ist doch nichts.« Sie blickte wieder in die wütende Menge. »Bitte beruhigen Sie sich alle. Das hier ist nur einer unserer Kunden.«
Leah und Betty warfen sich verständnislose Blicke zu. War das etwa der neue Kundenumgang, den sie hier pflegten?
Sie sahen zu Ruth und Harvey hinüber, die sich offenbar keinen Millimeter näher trauten.
»Der Mann ist tot!«, schrie die zierliche kleine Frau, die stark an Farbe eingebüßt hatte und nun zitterte, als wäre plötzlich der Winter eingebrochen.
»Aber nein«, erklärte die Verkäuferin, seufzte und ging auf die Wassermelonen zu, neben denen Leah und Betty noch immer wie festgewurzelt standen. »Das ist nur eine Puppe. Er erlaubt sich einen Scherz.«
»Puppen bluten für gewöhnlich nicht«, wies Betty sie auf die Wunde hin.
Die Frau beugte sich über ihn und sah ihn nun genauer an. Die Menge hielt den Atem an und offenbar wartete alles auf ihr Urteil. »Ach so«, meinte sie nur, als würde sie das öfter sehen, holte mit dem Fuß aus und trat einmal fest gegen sein Bein.
Leah sah erschrocken zu Betty, doch diese grinste nur. Anscheinend gefiel ihr, dass die Frau nicht zimperlich war.
»Hey, aufwachen!«, rief sie. »Wir haben deine Show durchschaut.« Sie drehte sich zu den Freundinnen, dann zu der Menge. »Ist doch keine Puppe, nur ein Kunde, der sich einen Spaß erlaubt.« Weil er sich nicht regte und die Gesichtsfarbe bereits aschfahl war, trat sie wieder beherzt zu. »Jetzt steh schon auf!«
Leah konnte nicht mehr mit ansehen, was die Frau da tat, und ging auf sie zu. »Hören Sie doch auf! Sehen Sie denn nicht, dass er tot ist?«
»Tot?«, kreischte Ruth von hinten und auch die Menge begann nun wieder zu schaudern.
»Nein, nein«, sagte die Verkäuferin. »Seien Sie unbesorgt, das macht er wirklich öfter.«
»Er liegt in den Wassermelonen und blutet?«, fragte Betty belustigt.
»Nein, seine Puppe«, meinte die junge Frau.
»Das ist aber keine Puppe«, wies Leah sie zurecht. »Das ist ein Mensch und er lebt nicht mehr.«
»Nein«, sagte sie, wirkte nun allerdings weniger überzeugt. »Sie meinen … er ist diesmal wirklich tot?«
Leah nickte.
»Mausetot«, erklärte Betty wieder.
Spätestens als die Verkäuferin den Verstand verlor und nun nicht mehr so selbstsicher wirkte, drehte auch die Menge durch und schnell war ein Geschrei und Gedränge im Laden zu bemerken.
Ruth wurde unterdessen von Harvey gestützt und zum Ausgang gebracht. Das alles musste zu viel für ihre Nerven gewesen sein.
»Betty!«, zischte Leah, weil diese noch immer wie fasziniert vor der Leiche stand, während sich alle um sie herum entfernten. »Warum musst du gleich so drastisch werden?«
Betty zuckte nur mit den Schultern. »’tschuldigung.« Von Leahs Tadel unbeeindruckt, ging sie näher auf die Leiche zu und nahm sie in Augenschein. »Der liegt, glaube ich, schon was länger hier.«
»Blödsinn«, meinte Leah und riskierte einen erneuten Blick, obwohl das nicht gerade ihre Lieblingsaufgabe war. Aber ein paar Mordfälle hatten sie etwas abgehärtet, auch wenn sie sich sicher nie ganz daran gewöhnen würde. »Und jetzt komm weg hier, nicht, dass du noch irgendwelche Spuren verwischst.«
»Dann denkst du also, es war Mord?«, fragte Betty und grinste.
»Ich weiß es nicht, aber wir müssen raus hier, uns um Ruth kümmern.«
»Ach, Harvey ist doch bei ihr.« Betty beugte sich so weit vor, dass Leah nur noch übler wurde. Wie konnte ihre Freundin so etwas mit ansehen?
»Was suchst du denn?«, fragte Leah.
»Nichts Bestimmtes, aber ich will zusehen, dass ich mir das Ganze einpräge, ehe der Inspector wieder alles vermasselt.«
Spätestens damit hatte sie Leahs Neugierde geweckt und so sah sie sich den Bereich rund um den Leichenfund genauer an, ohne im Detail auf den jungen Mann zu achten, den ihre Freundin da musterte.
Leah erblickte zunächst nichts, was weiter ungewöhnlich war. Das Obst und Gemüse stand in Reih und Glied, die Regale ringsum waren prall gefüllt. Nur hier inmitten der Melonen lag der Mann, der nicht ins Bild passen wollte. Er musste wirklich schon länger hier liegen, das Blut schien inzwischen getrocknet und seine Gesichtsfarbe ließ darauf schließen, dass ihm das Leben bereits vor einiger Zeit ausgehaucht worden war. Warum also hatte ihn niemand zuvor bemerkt? Und wieso war die Verkäuferin so völlig unbekümmert gewesen, als sie auf den Leichnam aufmerksam gemacht worden war?
Während sie in Gedanken schon dabei war, erste Szenarien tiefer zu ergründen, fiel ihr die Leiter auf, die kurz vor der Obstabteilung platziert war. Sie sah nach oben und erkannte, dass jemand versucht haben musste, etwas aufzuhängen. Eine Vorbereitung für die Neueröffnung? Ob das irgendwie in Verbindung stand?
»Hey!«, zischte Betty und kam auf sie zu. Ihre Augen glitzerten vor Freude. »Schau mal.« Sie deutete auf die Leiche, die sich Leah nun noch mal widerwillig genauer ansah. Der Mann hatte eine Art Schnur in der Hand.
»Was ist das?«, hakte Leah verständnislos nach.
Betty zuckte nur mit den Schultern und war gerade im Begriff, ihm die Schnur aus der Hand zu ziehen, da bremste Leah sie aus.
»Nicht!«
»Warum?«
»Du könntest Spuren hinterlassen und dich verdächtig machen.«
Betty ließ es widerwillig bleiben und nickte nur. »Hast recht.«
Leah sah noch einmal zur Leiter, dann zurück zur Leiche. Sie erblickte ein ähnliches Stück der Schnur, das bereits an der Decke des Supermarktes befestigt worden war. Oben hing schon ein roter Luftballon und jetzt, wo sie sich genauer umsah, erkannte sie, dass einzelne Ballons in der Gemüseabteilung verstreut herumlagen.
Leah deutete auf ihre Entdeckungen. »Ich glaube, er hat etwas aufgehangen, und muss gestürzt sein.«
»Also ein Unfall?«, fragte Betty und klang dabei fast schon enttäuscht.
»Es sieht so aus«, sagte Leah etwas zögerlich, während sie sich umsah. »Aber meinte die Verkäuferin nicht, er sei ein Kunde?«
Betty nickte.
»Warum sollte er dann hier etwas aufhängen?«
Betty zuckte nur mit den Schultern. »Vielleicht hat er ausgeholfen.«
»Aber warum schien es der Frau dann so egal zu sein, dass er hier lag?«
»Das ist in der Tat eigenartig.«
»Etwas stimmt hier nicht«, sagte Leah und wirkte fest entschlossen. »Ich spüre es. Das war bestimmt kein Unfall, irgendwas ist faul.«
»Das sehe ich auch so«, erwiderte Betty und sie nickten sich vielsagend zu. Es war klar, dass sie nicht eher ruhen würden, bis sich das hier aufgeklärt hatte.
Die Polizei ist also doch dein Freund und Helfer.
Nachdem Leah und Betty vom Tatort verscheucht worden waren, um den Arzt durchzulassen, der ohnehin nichts mehr würde ausrichten können, außer den Tod festzustellen, hatten sie sich mit Harvey, Ruth und anderen fassungslosen Bürgern vor dem Gebäude versammelt.
Kiera lief aufgebracht umher und versuchte, alle zu beruhigen und ihnen zu versichern, dass sich das Ganze aufklären würde.
»Was ist passiert?«, wimmerte Ruth nun zum unzähligsten Male und auch Harvey hatte die Augen vor Schreck weit aufgerissen.
»Ich weiß es nicht«, sagte Leah, während Betty ihre Freundin umarmte und zu beruhigen versuchte.
Harvey schlang seine Arme um Leah und gab ihr Halt in dieser schrecklichen Situation. »Alles in Ordnung?«, fragte er und sie nickte nur in Gedanken versunken. Es war schön, dass er für sie da war, auch wenn sie sich erst noch daran gewöhnen musste.
»Ich verstehe das einfach nicht«, schluchzte Ruth. »Warum passiert das denn nur immer wieder?«
»Ist ja gut«, sagte Betty. »Es wird alles in Ordnung kommen. Bitte beruhige dich.«
Betty warf Leah einen besorgten Blick zu, der ihr zu verstehen gab, dass es besser war, Ruth hier wegzubringen. Das war einfach zu viel für sie.
»Vielleicht sollten wir sie nach Hause bringen«, erklärte Leah, und Betty nickte.
In diesem Moment teilte sich die Menge und ein paar wichtig aussehende Fahrzeuge wurden vorbeigelassen. Darunter ein Leichenwagen. Als Ruth das sah, schluchzte sie noch mehr. »O Gott!«
»Komm!«, sagte Betty und zog ihre Freundin weg.
Dann erblickte Leah ein Auto, das ihr nur allzu bekannt vorkam. Es war der Wagen von Inspector Dowling.
»Ich sollte nur kurz …«, meinte Leah, weil sie fürchtete, die Ermittlungen könnten ohne sie losgehen.
»Kommst du alleine klar?«, fragte Betty besorgt.
»Ich bleibe bei ihr«, sagte Harvey, was Leah aus irgendeinem Grund nicht behagte. Sie brauchte doch keinen Aufpasser!
»Nein, ist schon gut«, erwiderte sie deshalb schnell.
»Ich gehe nur, wenn Harvey bleibt«, erklärte Betty, während Ruth wieder schluchzte und die Dringlichkeit verdeutlichte.
Leah nickte etwas widerwillig und wusste selbst nicht mal, was sie dagegen haben sollte. »Okay.«
Kaum dass Betty außer Hörweite war, wandte sich Leah an Harvey: »Du kannst ruhig zurück in den Buchladen fahren. Das hier wird dauern und ich weiß doch, wie viel du zu tun hast.«
Nun grinste er. »Möchtest du mich loswerden?«
Sie schüttelte den Kopf einen Ticken zu schnell. »Nein, es ist nur so, dass ich dich nicht aufhalten will.«
»Das tust du nicht.« Er lächelte sie an.
»Und das hier ist ja auch nicht jedermanns Sache.«
Harvey wirkte auf einmal ganz selbstsicher, obwohl ihm die Angst deutlich ins Gesicht geschrieben stand. »Denkst du etwa, ich würde mich fürchten?«
»Natürlich nicht.« Leah wollte ihn irgendwie nicht dabeihaben, musste sich aber entscheiden, denn Dowling stieg bereits aus dem Wagen und suchte das Gelände mit seinem grimmigen Blick ab.
Offenbar hatte Harvey ihn nun auch gesehen und nickte fest entschlossen. »Ich bleibe.«
Leah, die nach wie vor einen unbegründeten Konkurrenzkampf zwischen den beiden witterte, verdrehte die Augen und beschloss, dass es zwecklos war, weiter zu diskutieren, und so ging sie auf den Inspector zu.
Harvey folgte ihr schnell und griff nach ihrer Hand, was Leah ein wenig zu viel des Guten war. Doch es war bereits zu spät. Dowling hatte die beiden erblickt und grinste spöttisch. Na super!
»Mrs Page!«, rief er eine Spur zu belustigt. »Heute in Begleitung hier?«
