Mord im Rustico -  - E-Book

Mord im Rustico E-Book

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Beschreibung

Die Angestellte eines im Herzen des Malcantone gelegenen Rusticos, das an Touristen vermietet wird, versenkt einen Rucksack im Luganersee. Was sich darin befindet, hat ein Gast nicht ganz freiwillig zurückgelassen … Ein Mann will das Seegrundstück der Familie mit privater Badestelle an seinen neuen Nachbarn verkaufen und nimmt seiner Schwester damit die liebsten Erinnerungen. Aber war ihre Kindheit wirklich so idyllisch, wie sie glaubt? Als die Grand Dame von Ascona stirbt, die ihr beträchtliches Vermögen eingesetzt hat, um die Kultur zu fördern, trauert der ganze Ort. Nur zwei Männer wissen, dass sie nicht ertrunken ist.  Zwischen Lago Maggiore und Luganersee, Palmen und Polenta geht es mitunter weniger idyllisch zu, als man meint. Nach dem Erfolg der Erzählbände Mord in der Badi, Mord im Chalet und Mehr Mord im Chalet, die wochenlang auf der Schweizer Bestsellerliste standen, gilt es jetzt, die kriminellen Machenschaften im Südkanton aufzudecken. Mit dabei sind Schweizer Krimistars wie Andrea Fazioli, Sandra Hughes, Gabriela Kasperski, Marcel Huwyler und viele mehr.

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Seitenzahl: 162

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Mord im Rustico

Krimigeschichten aus dem Tessin

Herausgegeben von Miriam Kunz

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Sandra HughesMord im Rustico

Es war der perfekte Ort, um sich zu verstecken. Falls Lucia je fremdgehen würde, dann hier, im Herzen des Malcantone zwischen Rebstöcken. Hier in den sanften Hügeln, die vom Golfo di Agno am Luganersee bis zum Monte Lema hinauf reichten. Über ihr würden dunkle Trauben hängen, von unten würden sich ausgetrocknete Erdbrocken in ihr Gesäß bohren. Oder es würde im Häuschen mitten im Rebberg passieren. Aber jetzt gerade hatte Lucia nicht vor, ihren Mann zu betrügen. Sie trug eine Tasche mit frischer Bettwäsche über der Schulter und folgte dem schmalen Pfad, der zu dem Häuschen führte. Es bestand aus nur einem Zimmer und gehörte zum Bed & Breakfast Tenuta Vallombrosa in Castelrotto.

»Himmlische Erholung inmitten von Eichen- und Kastanienwäldern«, versprach die Website. »Feinste Degustationen vom Weingut.«

Jedes Zimmer im Vallombrosa war nach einem Tessiner Künstler benannt. Das Häuschen mitten im Rebberg hieß »Rustico Nando«. Als »ideal für Naturliebhaber« pries es die Website. Es lag dreihundert Meter vom Hauptgebäude entfernt, verfügte über ein Doppelbett und eine Kochecke mit kleinem Essbereich.

Was brauchte es mehr?

Wer sich nicht selbst versorgen mochte, reservierte in der Osteria Vallombrosa einen Tisch und ließ sich mit Tagliere di Salumi verwöhnen, einem Risotto al Merlot, Polenta e Brasato. Speck mit Honig und Nüssen gab es hier, gedämpfte Kutteln, Zwiebelsuppe. Insalata Mista, Rib Eye di Manzo. Und alles von roten und weißen Weinen begleitet, die seit mehr als hundert Jahren mit Engagement und Herzblut auf dem Weingut produziert wurden.

Die Gäste der vergangenen Nacht gehörten zu den Selbstversorgern. Sie hatten sich weder gestern Abend noch heute Morgen in der Osteria blicken lassen. Lucia kannte die Gattung der Selbstversorger gut. Sie teilte sie in Kaltesser und Warmesser ein. In jene, die überall im Häuschen braune Apfelbutzen und Hüttenkäsebecher hinterließen, Chipstüten und Krümel von Kraftriegeln. Und in die anderen, deren eingebrannte Tomatensoße Lucia vom Herd kratzte. Spaghetti, die überall festklebten: am Nachttischchen, auf dem Boden, am Tisch und den beiden Stühlen. Bei den Warmessern behandelte Lucia den Bettvorleger mit allerlei Mitteln, bevor sie die roten Flecken aus dem Gewebe zu rubbeln versuchte. Einzig die Reinigung von Handtüchern und Bettwäsche musste nicht Lucias Sorge sein. Sie zog die Laken jeweils mit abgewandtem Blick vom Bett und gab sie dem Wäscheservice. Die blütenweißen Stapel schleppte sie dann wieder dreihundert Meter weit vom Hauptgebäude ins Rustico Nando. So wie jetzt.

»Nando sollte frei sein«, hatte der direttore vorhin zu Lucia gesagt. »Du kannst putzen.«

Deshalb war Lucia etwas irritiert, als ihr vom Rustico eine Gestalt entgegenkam. Es war ein Mann. Groß, schlank, schlendernd. So, wie nur ein Tourist sich bewegte. Als würde er die Rebstöcke links und rechts betrachten. Für eine Tessinerin das Langweiligste der Welt: den Trauben beim Wachsen zuzusehen. Der Mann nickte freundlich lächelnd und trat zur Seite, um Lucia auf dem schmalen Pfad passieren zu lassen. Gutaussehend war der Mann, fand Lucia. Kein Gast des Bed & Breakfast Tenuta Vallombrosa, wie sie jetzt feststellte. Sie blieb trotz der schweren Tasche stehen und drehte sich zu ihm um. Der Mann trug einen Rucksack. Er hatte seine Schritte beschleunigt, betrachtete jetzt keine Rebstöcke mehr. Lucia zuckte zusammen, als er sich abrupt umwandte. Er sah sie an. Sein Lächeln war verschwunden. Hastig wandte Lucia sich ab. Beim Weitergehen betrachtete sie die Trauben links und rechts des Weges, richtete den Blick zum blauen Himmel hoch, der sich über den Hügeln des Malcantone wölbte. Sie bemühte sich, das Bild zu vertreiben, das sich in ihr festgesetzt hatte: die Rolle, die aus dem Rucksack des Mannes ragte. Ein Stück Textil, dessen Oberfläche ihr so vertraut war wie der Popo ihres Sohnes, als der noch ein Baby war. Hunderte Male hatte sie sich darüber gebeugt, hunderte Male daran herumgewischt. Lucia schüttelte den Kopf über sich selbst. Aber es gab keinen Zweifel. Es war der Bettvorleger aus dem Rustico Nando, den der fremde Mann in seinem Rucksack hatte. Zum Teufel, wozu?

Lucia wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ließ die Tasche zu Boden gleiten, rieb sich die Schulter. Die Riemen hatten ihr ins Fleisch geschnitten. Wie jedes Mal, wenn sie diese verdammte Tasche ins Rustico Nando schleppen musste. Wieso bloß ließ der direttore nichts zu, was ihr die Arbeit erleichtern würde? Nicht einmal ein Wägelchen, mit dem sie alles ziehen könnte? Wäsche, Putzmittel, Putztücher? So viele Jahre schon ließ Lucia sich schinden zum Mindestlohn. Warum ging sie nicht einfach weg, auf und davon? Lucia kannte die Antwort. Weil ihr Lohn nicht auch noch fehlen durfte. Es reichte, wenn derjenige ihres Ehemanns jeweils Mitte des Monats weg war, in Abendrunden investiert, über die Lucia schon lange nichts mehr wissen wollte. Egal, ob Lucia Suiten im Grand Hotel Villa Castagnola putzte, Marmorfliesen in der mondänen Via Nassa oder Künstlerzimmer im Bed & Breakfast Tenuta Vallombrosa: Sie würde eine schlecht bezahlte Reinigungskraft bleiben. Sie würde weiterhin einer Handvoll Männer dienen, die ihre Zuverlässigkeit im Bödenwischen und Mietezahlen schätzten. Zum Kotzen. Wie sehr ihr das alles zum Hals heraushing. Wie gerne ginge sie einfach auf und davon.

Eine Berührung an der Schulter ließ Lucia herumfahren. Dicht hinter ihr stand der Mann. Er lächelte wieder sein schönes Lächeln und senkte langsam den Kopf. Lucia folgte seinem Blick. Seine Hand schwebte vor ihrem Bauch – hatte er vorhin auch schon Handschuhe getragen, an einem sonnigen Morgen im September? Lucia brauchte einen Moment, um zu erkennen, was sie um ein Haar berührte. Eine Messerklinge mit Tomatensoße. Als Lucia ihren Kopf wieder hob und den Mann ansah, spürte sie ein panisches Kichern in der Kehle. Ihr Blick ging zu der Rolle, die über seine Schulter ragte. Der Bettvorleger aus dem Rustico Nando mit roten Flecken. Lucias Herz raste. Sie spürte eine sanfte Berührung auf ihren Lippen. Es war ein behandschuhter Finger des Mannes. Der Finger blieb dort einen Moment lang liegen, bevor er zu den Lippen des Mannes wechselte. Er lächelte nicht mehr, aber seine Augen sahen Lucia freundlich an. Er hielt die Klinge weiterhin gegen sie gerichtet, als er sich bückte und ihre Tasche schulterte. Dann deutete er mit dem Messer auf den Pfad, der zum Rustico Nando führte. Lucia spürte eine leichte Berührung im Rücken, während sie voranging. Eine Ewigkeit schien es ihr her, seit sie zum Rustico Nando aufgebrochen war. Sie hörte die Schritte des Mannes dicht hinter sich. Sie folgte dem Schatten, den die Sonne vor ihnen auf den Boden warf: eine dunkle Gestalt, der Umriss unförmig dort ausgebeult, wo sich Bettvorleger und Wäschetasche befanden. Lucia und der Mann, zu einem Monster vereint, das sich durch den Rebberg der Tenuta Vallombrosa bewegte. Als links am Hang das Rustico Nando auftauchte, verstärkte sich die Berührung in Lucias Rücken. Sie wagte nur für einen Augenblick, den Kopf zu wenden. Der Eingang war von hier nicht zu sehen. Die grünen Läden vor den beiden Fenstern waren geschlossen. Der Pfad endete hier. Lucia wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Sonne schien ihr nun ins Gesicht, während sie hangabwärts über ausgetrocknete Erdbrocken stolperte und dann zwischen Rebstöcken ging, in großem Bogen dahin zurück, wo das Hauptgebäude lag. Bevor sie den Parkplatz erreichten, ging der Mann an Lucias Seite, und als er ihr die Tür eines silbergrauen Autos öffnete, stieg sie ein. Während sie im Innenspiegel zusah, wie er Rucksack und Wäschetasche im Kofferraum verstaute, tastete sie nach der Handytasche. Ein Geschenk ihres Sohnes, das sie nie ablegte. »Damit du immer alles bei dir hast, mamma«, hatte er gesagt und ihr die Fächer für die Karten gezeigt. »Für alle Fälle«, hatte er gesagt, und sie hatte gedacht: Für welche Fälle?

Wieder stieg ein Kichern in Lucias Kehle hoch, diesmal ohne Panik. Ihr Herz hatte sich beruhigt, es fühlte sich stark und lebendig an. Wann hatte sie es das letzte Mal so gespürt? Der Mann hatte neben ihr auf dem Beifahrersitz Platz genommen, legte ihr stumm den Zündschlüssel auf den Schoß. Lucia fuhr ein leichter Schauer über den Rücken, als seine Finger ihren rechten Oberschenkel berührten. Sie schaute nochmals zum Bed & Breakfast hinüber, dann startete sie den Motor. Als sie den Blinker setzte, um in die Richtung zu fahren, in die der Mann sie wies, wusste Lucia, warum sie das Täschchen mit Fächern für alle Karten immer umgehängt hatte: Für den Fall, dass sie einfach auf und davon fuhr.

***

Unterdessen schickte ein verärgerter direttore die nächste Putzfrau ins Rustico Nando, um den Gästen dort Beine zu machen. Das Paar hatte mitnichten ausgecheckt, hatte der direttore feststellen müssen, und bezahlt schon gar nicht. Eine Fehlinformation an der Rezeption. Einmal mehr. Der zunehmenden Digitalisierung von Abläufen geschuldet oder seiner Frau, die manchmal den Überblick verlor.

Das Bild, das sich der armen Angestellten im Rustico Nando bot, überstieg das menschliche Vorstellungsvermögen. Die Putzfrau übergab sich und rannte schreiend zum Hauptgebäude zurück. Der direttore rief sofort die Polizei und versuchte vergeblich, seine sensationshungrigen Gäste davon abzuhalten, zum Rustico zu stürmen. Die ersten Bilder kursierten in den sozialen Medien, bevor der Ermittler vom Commissariato di Lugano vor Ort war. Der Commissario verscheuchte die Gaffer. Der Verbreitung von Bildern und Gerüchten konnte er nichts entgegenhalten außer eine nüchterne Medienmitteilung ein paar Stunden später. Ein gewaltsamer Tod, hieß es da, wahrscheinlich ein Beziehungsdelikt. Die beiden Opfer waren identifiziert worden, Abklärungen zur Täterschaft waren im Gang. Auf die Frage, ob dem weiblichen Opfer tatsächlich die Arme abgetrennt worden waren, nahm die Pressemitteilung nicht Bezug. Umso mehr kursierten Mutmaßungen auf allen Kanälen: Vom gehörnten Ehemann, der die jahrelangen Eskapaden seiner Frau mit einer Blutorgie beendet hatte. Vom netten Menschen, der der mutmaßliche Mörder bis zu diesem sonnigen Morgen im September gewesen war. Vom Krug, der zum Brunnen geht, bis er bricht. Von zwei abgehackten Armen, die nie mehr einen Geliebten umarmen konnten. Es wurde darüber spekuliert, ob der Mörder sich unterdessen längst selbst gerichtet hatte. Ob er erschossen irgendwo im Kastanienwald des Alto Malcantone lag. Vielleicht klebte so viel Blut an ihm, dass er längst aufgespürt worden war, von den Wölfen, die in der Tessiner Wildnis lebten, oder von Touristen, die alles argwöhnisch prüften, was ihnen südlich der Alpen unter die Augen kam.

***

Nach der italienischen Grenze hatten sie Plätze getauscht. Der Mann lenkte das Auto. Lucia ließ ab und zu den Blick zu ihm hinüber schweifen. Sie betrachtete seine Hände, die entspannt das Lenkrad umfassten. Ab und zu drehte er ihr flüchtig den Kopf zu, und wenn sich ihre Blicke trafen, bildeten sich Fältchen um seine Augen. Er lächelte. Lucia stellte die Rückenlehne etwas weniger steil, legte den Kopf ins Polster, schloss die Augen. Sie sah den Golfo di Agno wieder vor sich, sein tiefes Blau. Sah die Gischt hochspritzen, hörte das Geräusch, das entstand, wenn etwas Schweres auf die glatte Wasseroberfläche traf. Der Mann und Lucia waren nebeneinander den Weg zur Bucht gegangen, von ihrem ausgebeulten Schattenmonster begleitet. Den Rucksack und die Wäschetasche hatten sie zuvor wortlos aus dem Kofferraum geholt. Am Ufer nahm der Mann Anlauf und warf den Rucksack mit aller Kraft von sich. Lucia tat es ihm mit der Wäschetasche nach. Ihre Lasten waren zuerst still in den Tessiner Himmel gestiegen und dann mit einem kräftigen Platschen im See versunken. Jetzt lagen blütenweiße Wäschestapel im silbernen Sand des Golfo di Agno, bis sie grau wurden und sich zersetzten. Aus dem Bettvorleger des Rustico Nando würden die Wasser des Luganersees mit der Zeit alle Flecken waschen. Bestimmt würde ab und zu ein neugieriger Fisch vorbeischauen und eine Runde um die Rolle drehen. Er würde versuchen, an ihr Inneres zu gelangen. Wenn es ihm gelang, würden seine Lippen sich an der köstlichen Substanz festsaugen und sie fressen. Bis auf die Knochen.

Benjamin StückelbergerGanz Ascona trauert

Ganz Ascona trauert.« Giuseppe Giubellini, oder Giugiu, wie ihn seine Freunde nannten, legte die Zeitung auf den Tisch, biss in sein Brötchen und spülte es mit einem Schluck caffè herunter. Noch einmal las er die Schlagzeile: »Ganz Ascona trauert.« Wirklich ganz Ascona? Giugiu hatte seine Zweifel.

 

Vor einer Woche war Giordana Maria von Bismarck Borromeo, oder einfach »die Giordana«, bei einem Badeunfall ertrunken. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht in Ascona verbreitet. Die erst zweiundfünfzigjährige Grande Dame war während der letzten rund fünfundzwanzig Jahre so etwas wie der gesellschaftliche Mittelpunkt Asconas gewesen. Aus altem italienischen Geschlecht stammend, war sie früh nach Ascona gezogen, wo sie einen Nachkommen der von Bismarcks kennengelernt hatte. Schon die Hochzeit mit dem deutlich älteren Herrn hatte weit über die Grenzen Asconas hinaus für Aufsehen gesorgt. Nach vier Jahren war das Feuer der Ehe wieder erloschen. Es kam zur Scheidung, und Siegfried Schubert von Bismarck verließ Ascona Richtung Norden. Zurück blieb die Giordana mit einem ansehnlichen Vermögen und in einer gesellschaftlichen Position, die sie nicht mehr aufzugeben gedachte.

Die Giordana war groß gewachsen und mit langen Beinen begabt. Ihr südländischer Teint versprühte Italianità, und ihr Dekolleté hätte selbst Sophia Loren neidisch gemacht. Ihre großen mandelförmigen Augen lagen neben einer zierlichen Nase, und in neckischer Selbstverständlichkeit umspielten kastanienbraune Locken ihr rundes Gesicht. Wenn sie lachte, erstrahlten ihre makellos weißen Zähne, und wenn sie sprach, ließ ihre warme Stimme niemanden unberührt.

 

Sie entstammte zwar dem italienischen Adelsgeschlecht der Borromeo, ihr Familienzweig aber war, zumindest in finanzieller Hinsicht, längst in normalbürgerlichen Verhältnissen angelangt. Durch die Heirat mit Siegfried Schubert von Bismarck wurde sie nicht nur ökonomisch in eine andere Liga gehoben, sie fand sich auch in gesellschaftlicher Hinsicht von einem Tag auf den anderen in den besseren Kreisen wieder: Borromeo war der Name, der bei den alteingesessenen Ticinesi eine gewisse Anerkennung aufleben ließ. Von Bismarck hatte im Gegenzug für die deutschen Dauergäste etwas Anziehendes.

Bei keinem Empfang durfte das Ehepaar von Bismarck-Borromeo fehlen. Auch als Siegfried Schubert wieder durch den Gotthard nach den deutschen Landen gezogen war, wollte niemand mehr auf die schöne Giordana verzichten. Denn sie war nicht nur eine attraktive Erscheinung. Sie war auch eine geistreiche Gesprächspartnerin. Sie verstand es, ihrem Gegenüber das Gefühl zu geben, dass sie oder er besonders interessant oder lustig oder einfach für diesen Abend wichtig sei. Noch so gerne ließen sich die Männer von ihrem Charme einnehmen. Gleichzeitig hatte die Giordana den Dreh raus, die Frauen so miteinzubeziehen, dass diese keine Angst um ihre Ehemänner haben mussten. Ihr beträchtliches Vermögen setzte die Giordana gezielt ein, um die Kultur in und um Ascona zu fördern. JazzAscona konnte ebenso auf ihre Unterstützung zählen wie das Filmfestival im benachbarten Locarno. Und wenn ihre Verbindungen für die Kultur im Großraum Ascona von Nutzen waren, ließ sie ebenso großzügig ihre Beziehungen spielen. Mindestens einmal im Jahr gab sie einen Empfang in ihrer Villa am See, der regelmäßig ein gesellschaftliches Ereignis wurde.

Auch Giugiu war in den vergangenen Jahren zu diesen Empfängen eingeladen worden. Die Musik, die dort geboten, das Essen, das dargereicht wurde, und die Gespräche, die geführt wurden, waren – das musste er neidlos anerkennen – tatsächlich stets außerordentlich. Die Giordana gab jedem Gast das Gefühl, den Empfang im Grunde nur für ihn gegeben zu haben. Entsprechend waren alle besonders aufgekratzt und zeigten sich von ihrer besten Seite. Dennoch verließen Giugiu auch in den beschwingtesten Momenten gewisse Zweifel nicht.

 

Und heute war nun also die Trauerfeier. In einer Art Vorschau berichtete der Corriere del Ticino von dem bevorstehenden Anlass. Der Präsident der Stadt, Luigi Piselli, konnte nicht oft genug betonen, wie sehr ihn der Verlust schmerzte. »Sie war nicht nur mir persönlich eine Freundin. Sie war auch Ascona, ja, dem ganzen Tessin in Treue und Großzügigkeit verbunden.« Der Präsident von JazzAscona, Edoardo Gattuso, ließ verlauten, dass so manches Festival in den vergangenen Jahren nur dank ihrer großzügigen finanziellen Hilfe hatte stattfinden können. Und Pietro Manzocchi, der Präsident des Locarno Film Festivals, hob hervor, wie Giordanas schiere Präsenz so manches Mal seinem Festival insgeheim die Krone aufgesetzt habe.

Die Trauerfeier war auf 15:30 Uhr in der Chiesa dei Santi Pietro e Paulo angesetzt. Die von Bismarcks waren zwar evangelisch, und Gerüchten zufolge war Giordana vor ihrer Hochzeit mit Siegfried Schubert zur Evangelischen Kirche übergetreten, aber danach fragte niemand. Im Tessin war man katholisch, und die Menschen aus Ascona und Umgebung wollten nach katholischem Ritus von ihrer Giordana Abschied nehmen. Das wusste auch ihr zweiter Mann, Lorenzo Tobler, weshalb er sogleich zustimmte, als ihm Luigi Piselli zusammen mit dem Priester Taddeo Vancchini einen Kondolenzbesuch abstattete. »Schließlich ist sie ja auch katholisch getauft worden«, betonte Vancchini. Und bevor Tobler antworten konnte, fügte Piselli an: »Selbstverständlich wird die Gemeinde von Ascona den Empfang nach der Trauerfeier im Hotel Eden Roc ausrichten. Ihnen ist das Eden Roc doch genehm, hoffe ich?« Lorenzo Tobler war das alles sehr genehm. Das Eden Roc war so ziemlich die beste Adresse im Ort, und er hatte kein Problem damit, die Beisetzung und die anschließende Trauerfeier von Vancchini gestalten zu lassen.

Eine große Trauergemeinde kam in der Kirche zusammen. Auch dieser letzte Auftritt Giordanas wurde zu einem gesellschaftlichen Ereignis. Niemand, der zu Lebzeiten ihre Nähe gesucht hatte, konnte es sich erlauben, nicht auf der Trauerfeier zu erscheinen. Schon früh war die Kirche brechend voll. Wer sich nicht rechtzeitig einen Platz gesichert hatte, musste an den Seitenwänden oder im Eingangsbereich stehen. Giugiu hatte gerade noch einen Platz in den hinteren Reihen gefunden. Vorne am Altar angelehnt war ein großes Porträt der Giordana zu sehen. Ein strahlendes Lächeln sandte sie zum Abschied in den Raum. In der vordersten Reihe saß der Witwer Lorenzo Tobler und wartete. Einsam und irgendwie verloren wirkte er, wie er so allein in seiner Bank saß. Niemand war bei ihm. Kein Freund, keine Familienangehörigen. Gleichzeitig schien er ganz in sich zu ruhen, als müsste er nur kurz in einem Vorzimmer warten, weil er etwas zu früh zu einem Geschäftstermin eingetroffen war. Dann ging die Seitentür auf, und eine aufmerksame Stille legte sich über die Anwesenden. Ein altes Ehepaar betrat den Raum, begleitet vom Sakristan, der sie zur vordersten Bank neben Tobler führte. Schwarz verschleiert war die Frau, groß gewachsen und mit schlohweißem Haar der Mann.

»Das werden wohl die Eltern der Giordana sein«, dachte Giugiu. Durch die freundlich-distanzierte und leicht unbeholfene Art, wie Tobler das Paar begrüßte, fühlte sich Giugiu in seiner Annahme bestätigt. Das alte Paar setzte sich. Auch Tobler nahm wieder Platz, und bei allen anderen löste sich die neugierige Anspannung. Dann, wenige Minuten bevor die Feier beginnen sollte, kam noch einmal Unruhe auf. Ein Mann, der als Adlat des Stadtpräsidenten bekannt war, bahnte sich vom Hauptportal her einen Weg durch die Wartenden. Ihm folgte eine Dame, die der Verstorbenen erstaunlich ähnelte. Sie musste ihre jüngere Schwester sein. Mit ernster Miene schritt sie hinter dem städtischen Beamten her, ohne es besonders eilig zu haben. Sie schaute nicht nach links oder rechts, genoss aber sichtlich die Blicke, die sie musterten. Wieder setzte für einen Moment ehrerbietiges Schweigen ein. Doch schneller als zuvor bei den Eltern, wich die Aufmerksamkeit der Menge den üblichen flüsternden Seitengesprächen. Alle hatten gesehen, dass die Schwester nicht über die Grandezza verfügte, wie sie die Giordana an den Tag gelegt hatte. Ihre Pose wirkte einstudiert, und ihr schwarzes Kleid war nur auf den ersten Blick elegant. Selbst Giugiu sah sogleich, dass es mindestens eine Nummer zu klein war und mit Gewalt über die üppigen Rundungen hatte gezogen werden müssen. Zudem konnte ihr Schmuck dem prüfenden Blick der Damen nicht standhalten.

Auch für die Schwester fand sich in der vordersten Reihe Platz. Die Begrüßung war von ihrer Seite her affektiert, von Seiten Toblers korrekt und seitens der Eltern aufrichtig, aber distanziert.