Mord mit Nebenwirkungen - Bernhard Hatterscheidt - E-Book

Mord mit Nebenwirkungen E-Book

Bernhard Hatterscheidt

4,0

Beschreibung

Ein Bombenanschlag vor einer Kölner Flüchtlingsunterkunft erschüttert die Stadt. Schnell gerät die rechtsgesinnte Gruppierung FDK (Freie Denker Köln), die der Staatsschutz schon länger im Visier hat, in den Fokus der Ermittlungen. Aber sind die Anschläge wirklich fremdenfeindlich motiviert? Das neue Ermittlerteam der Mordkommission Köln, zu dem die attraktive Kommissarin Melanie Maria �MMS� Seibl und Kommissar Giuseppe �Pino� Pincetta gehören, stellt Nachforschungen an. Auch die Streifenpolizistin Yesim Arslan mischt sich in die Ermittlungen ein, um ihrer Freundin Peggy zu helfen, die vor ihrem gewalttätigen Mann geflohen ist. Und welche Rolle spielen hierbei die Fleischfabrikantin Sigrid Findeklee und ihr Ehemann Lars, der keine Affäre auslässt? Was weiß der schottische Flaschensammler? Und dann ist da noch der Vorsitzende der FDK, Björn Zuckermann, der ebenfalls ein Geheimnis zu verbergen scheint ... In diesem Krimi hat jeder etwas auf seine Weise zu erledigen.

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Inhalt

Vorwort

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Epilog

Vorwort:

Die Geschichte „Mord mit Nebenwirkungen“ beruht teilweise auf einer wahren Begebenheit.

Die dargestellten Ermittlungen sind jedoch Fiktion und zeigen nicht die Wirklichkeit des kriminalistischen Alltags.

Im Gegensatz zu seinen authentischen KRIMINAListenROMANEN hat der Autor hier seiner Kreativität und Fantasie oftmals freien Lauf gelassen. Keine der genannten Personen ist existent, die Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist aber auch hier nicht immer rein zufällig.

Akteure und Akteurinnen

Kriminalhauptkommissarin (KHKin) Melanie Maria Seibl (37), genannt MMS, schlanker Körper, lange Beine, lange blonde Haare (oftmals zum Zopf gebunden). Sie wohnt in einem Innenstadthotel und trinkt gegen die Einsamkeit gerne mal ein Glas Rotwein.

Kriminaloberkommissar (KOK) Giuseppe Pincetta (32), genannt Pino, ist verheiratet und hat eine Tochter. Seinen Körper zieren ein ordentlicher Pastabauch und eine Glatze. Sein ganzer Stolz ist sein knallroter Alfa Romeo.

Streifenpolizistin Yesim Arslan (31), Vertraute von Peggy Pietsch. Ermittelt gern mal auf eigene Faust. Sie hat einen starken Charakter und Durchsetzungskraft. Dies stellt sie auch gern mal körperlich unter Beweis. Dennoch wirkt sie äußerlich mit ihrem langen lockigen Haar und dem makellosen Körper eher wie ein Laufstegmodel.

Egbert Elver (61), Chef der Mordkommission. Steht kurz vor der Pensionierung und lässt sich nicht von Dritten Vorschriften machen. Er hält seinen Ermittlern stets den Rücken frei.

Ulla Schiefer (43), KHKin beim Staatsschutz. Legt auf ihr Äußeres keinen großen Wert. Trägt unpassende Jeanshosen, Blusen und ihre Frisur gleicht einem sogenannten Pottschnitt. Sehr resolut und direkt.

Staatsanwalt Hubert Praxenthaler (34), genannt „Der schöne Hubert“. Stets im eleganten dunkelblauen Anzug, mit hellbraunen Businessschuhen, einem weißen Designerhemd und schwarzer Fliege. Als weiteres Markenzeichen Pomadenfrisur und ein modernes, dunkelrotes Brillengestell. Gibt schon mal gern der Presse einen Tipp. Karriereorientiert.

Peter Zündel (54), Sachverständiger im LKA in Düsseldorf. Der Sprengstoffexperte gilt unter seinen Kollegen als absoluter Nerd. Voller Stolz trägt er eine schwere Hornbrille und ernährt sich ausgiebig von Fast-Food-Gerichten.

Tom Steinhuder (39), ein investigativer Journalist des Kölner Stadt-Anzeigers, der schon mit mehreren journalistischen Preisen ausgezeichnet wurde. Immer am Puls der Zeit und gut informiert.

Björn Zuckermann (43), übergewichtiger Funktionär und Vorsitzender der FDK („Freie Denker Köln“). Hat angeblich jüdische Vorfahren, die er verleugnet. Er verbirgt ein dunkles Geheimnis.

Gernot und Martin Hick (27 und 25), zwei rechtsradikale, vorbestrafte Brüder mit psychopathischen Zügen. Sie sind Gründungsmitglieder bei den „FDK“ und Handlanger von Björn Zuckermann.

Peggy Pietsch (39), seit mehr als 12 Monaten von Ronny Pietsch getrennt. Die Streifenpolizistin Yesim Arslan hat ihr aus der Spirale der häuslichen Gewalt und Erniedrigungen herausgeholfen. Peggy lebt mit dem gemeinsamen Sohn Elias (17) in Porz-Finkenberg in einer kleinen Wohnung im 14. Stock.

Ronny Pietsch (43), früherer Schulfreund von Lars Findeklee. Hat den Job und, in Folge von Gewaltexzessen, auch die Ehefrau verloren. Greift regelmäßig zur Flasche.

Unternehmerehepaar Findeklee, seit 11 Jahren verheiratet, kinderlos.

Sigrid (59), Inhaberin eines Fleischereiunternehmens in der 3. Generation. Zweimal pro Woche gönnt sie sich Personal Trainer und Schönheitssalon. Sie führt die Firma mit eiserner Hand; ist täglich 16 Stunden im Büro. Aus Angst um ihren guten Ruf duldet sie stillschweigend die vielen Affären ihres Mannes.

Lars (44), hat von Sigrid zum 10. Hochzeitstag einen Ferrari F12 geschenkt bekommen. Er spielt gern den Playboy und lässt keine Gelegenheit zum Fremdgehen aus. Derzeit pflegt er ein intimes Verhältnis zu Peggy Pietsch.

Dr. jur. Löwenstein (87), ist der Firmen- und Familiennotar der Findeklees. Das Interieur seines Notariats ist einzigartig in Köln. Es gleicht einer uralten Apotheke.

Collector-Schotte (54), der schrullige Flaschensammler, kennt jeden Mülleimer in dem Viertel, wo die Bombe explodiert.

Ahmet Schmitz (42), ein türkischstämmiger Kioskbesitzer, der einen Hinweis auf den Collector-Schotten gibt; macht MMS Avancen.

Prolog:

Melanie Maria Seibl, die im Kollegenkreis meist nur MMS genannt wurde, hatte die Rückenlehne ihres Bürostuhls nach hinten gekippt, zur Entspannung ihre langen Beine übereinander gekreuzt auf den Schreibtisch gelegt und für einen Moment die Augen geschlossen. Die Zahlen auf dem Wecker zeigten gerade mal 07:00 Uhr morgens. In weniger als einer halben Stunde musste sie ihre Kollegen von der Mordkommission über den neuen Fall informieren, weswegen sie schon die ganze Nacht auf den Beinen gewesen war. Um einigermaßen fit zu sein, trank sie eine Tasse starken Kaffee. Sie hielt ihre Notizen in der Hand und bemerkte, wie diese ein wenig zitterte – Schlafmangel eben. Außerdem stellte sie fest, dass der Duft ihres Deodorants längst von leichtem Schweißgeruch abgelöst worden war. So kramte sie aus ihrer Handtasche einen Flakon hervor und nebelte sich großzügig mit süßlichblumigen Parfüm ein. Anschließend frisierte sie ihre langen blonden Haare mit einigen gekonnten Handgriffen und einem Haargummi zu einem Zopf.

Den Kollegen, der eben noch mit einer süffisanten Bemerkung ob ihrer bequemem Liegeposition flachsend am Büro vorbeigegangen war, hatte sie mit einem lapidaren „Ja, ja, du mich auch“ abgestraft.

Sie schloss kurz die Augen und dachte missmutig daran, dass sie sich den gestrigen Abend und die letzte Nacht eigentlich anders vorgestellt hatte. Nach nunmehr drei Monaten Singledasein – sie geriet ständig an die Falschen, ihr letzter Freund hatte sie nach Strich und Faden betrogen – hatte sie sich trotz ihrer Rufbereitschaft und des Risikos einer Alarmierung mit Miguel verabredet. Den heißblütigen Zumba-Trainer mit spanischen Wurzeln, rund sieben Jahre jünger als sie, hatte sie im Fitnessstudio gesehen und ob dessen durchtrainierter Figur mit ihren Blicken förmlich ausgezogen. Seit Wochen besuchte sie nun seinen Kurs und nach dem letzten Training hatte es endlich zwischen ihnen gefunkt. Doch dann kam es, wie es kommen musste: Nach einem netten Abend in einem italienischen Restaurant und zwei Gläsern Rotwein zum Essen zerplatzten ihre Träume, als ihr Handy auf der Tischplatte penetrant zu vibrieren begann. Am liebsten hätte sie es in diesem Moment an die Wand geschmissen, aber aufgrund ihrer Rufbereitschaft war das nun wirklich keine Option. Demzufolge war an diesem Morgen ihre Laune ziemlich gedämpft. Dass das nächste Treffen mit dem schmucken Zumba-Trainer nach diesem Reinfall fürs Erste in den Sternen stand, verbesserte ihre Stimmung kein bisschen.

Um halb acht saß sie vermeintlich hochkonzentriert und mit gefühlt literweise Kaffee im Magen im Besprechungsraum der Mordkommission. Ihre Hände zitterten noch immer ein wenig. Mit leicht weinerlicher Stimme und dunklen Rändern unter den Augen schilderte sie ihren Kollegen den Fall der letzten Nacht, den sie nun zu leiten hatte: Mehrfach sei auf das Auto eines 29-jährigen Mannes mit pakistanischen Wurzeln namens Tariq Müller geschossen worden. Das Opfer hatte einen Oberarmdurchschuss erlitten; eine zweite Kugel war im Armaturenbrett eingeschlagen. Der Mann war mit seinem Auto auf der Merkenicher Hauptstraße unterwegs gewesen, als plötzlich ein Motorrad mit zwei Männern an ihm vorbeiraste. „Der Sozius hat im Vorbeifahren gezielt mit einem Revolver auf ihn geschossen. Das Opfer ist ehrenamtlicher Koordinator in Flüchtlingsfragen eines Fördervereins, der bis in die Nacht getagt hatte. Nach ersten Angaben des Notarztes sind bei ihm keine wichtigen Organe oder Blutgefäße verletzt worden. Der Mann hat entweder einen Schutzengel gehabt oder es sollte nur eine Art Warnung sein.“

Als MMS mehr oder weniger mürrisch einige Nachfragen beantwortet hatte, meldete sich ihr Kollege Giuseppe Pincetta, den alle nur Pino nannten, zu Wort. Da noch niemand den Fall kannte und dieser zu den aktuellen Ereignissen passte, erzählte der Kriminaloberkommissar von einer Autobombe in Berlin, durch die kürzlich ein Migrant ums Leben gekommen war. Bildhaft schilderte er, wie im Berliner Berufsverkehr an der Kreuzung Mehringdamm/Yorckstraße, in Sichtweite der Kult-Currywurst-Bude „Curry36“, ein Sprengsatz explodiert war, den man unter einem Audi A6 angebracht hatte. Der Fahrer, ebenfalls ein ehrenamtlicher Sozialarbeiter in Flüchtlingsfragen, war noch vor Ort verstorben. Er hatte sich nur wenige Minuten zuvor von seiner Frau und seinen drei Kindern verabschiedet und war dann losgefahren. Nach knapp 80 Metern Fahrt war der Sprengsatz detoniert, als er an der roten Ampel in Richtung Neukölln anhalten musste.

„Wissen die Berliner Kollegen denn schon, wer dafür verantwortlich ist?“

„Nö, die ermitteln in alle Richtungen. Also, Fremdenfeindlichkeit, Verbindungen zur organisierten Kriminalität, Drogen- und Menschenhandel. Das Opfer, ein 44-jähriger Afghane, ist nämlich kein Unbekannter. Er hatte eine dicke Akte. Bevor das Opfer anscheinend ‚geläutert’ wurde und sich für Flüchtlinge einsetzte, hat er in Moabit eine mehrjährige Haftstrafe wegen verschiedener Waffen- und Drogendelikte und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verbüßt. Will sagen, es kann genauso gut ein Racheakt sein und eben nichts Fremdenfeindliches. Der Kollege aus Berlin hat mir nämlich berichtet, dass das Opfer seinerzeit seine Mittäter gegen Strafmilderung verzinkt hatte.“

Der anwesende Staatsanwalt Hubert Praxenthaler sah an diesem Morgen aus wie eigentlich immer: eleganter, dunkelblauer Anzug, hellbraune Businessschuhe, sündhaft teure Armbanduhr, weißes Designerhemd und schwarze Fliege, Pomadenfrisur à la Elvis Presley und ein modernes, dunkelrotes Brillengestell. Wegen seines extravaganten Äußeren nannte man ihn hinter vorgehaltener Hand innerhalb der Polizei den „schönen Hubert“. Mit tiefer Stimme und bayerischem Dialekt beendete er die Besprechung mit den Worten: „Jo mei, hoffen wir nur, dass sowas nicht in Köln passiert. Dann ist hier nämlich die sprichwörtliche Pünktchen Pünktchen am Dampfen. Ich war zwar damals noch ein Kind, kann mich aber noch an den Bombenanschlag auf den Verfassungsschutz1 im September 1986 erinnern. Und der Nagelbombenanschlag auf der Keupstraße im Juni 20042 dürfte hier auch allen was sagen.“

Die Hoffnung des Staatsanwalts wurde schneller zunichte gemacht, als irgendjemand befürchtet hätte. Denn schon gegen 17:30 Uhr des gleichen sonnigen Oktobertages, den wohl niemand in Köln jemals vergessen würde, wurde ein wahrer Albtraum Wirklichkeit.

Tödlicher Anschlag auf Flüchtlingsheim

VON TOM STEINHUDER

KÖLN. Beim Anschlag auf ein Flüchtlingsheim im linksrheinischen Kreuzfeld ist am Abend eine 32-jährige Sozialarbeiterin getötet worden. Ein elfjähriger Junge überlebte die Detonation mit schweren Verletzungen. Ein Rettungshubschrauber brachte ihn in die Universitätsklinik. Nach Angaben der Polizei war der Schüler, Gamba M., von der Druckwelle mehrere Meter durch die Luft geschleudert worden. „Sein Zustand ist kritisch“, berichtete eine Polizeisprecherin.

Wie aus Ermittlerkreisen zu erfahren war, explodierte der Sprengsatz in einem Mülleimer neben dem Eingang zum Gebäude. Die Sozialarbeiterin soll hinter der Tür gestanden haben und durch umherfliegende Glassplitter so schwer verletzt worden sein, dass jede Hilfe zu spät kam.

Laut Polizei gibt es bislang keine Hinweise auf den oder die Täter oder ihr Motiv. Ein hochrangiger Beamter der Kripo sprach allerdings von einer „neuen Stufe der Gewalt“, von „Terror“ und „extremer Eskalation“. Ein Sprecher des Oberbürgermeisterbüros verurteilte die Tat: „Das ist eine Schande für unsere Stadt. Wir alle sind fassungslos.“

Der Polizeipräsident hat eine Mordkommission und Spezialisten der Abteilung Staatsschutz auf den Fall angesetzt.

1 Die Täter nutzten seinerzeit einen gestohlenen roten VW Golf mit Hanauer Kennzeichen. Sie stellten das mit Sprengstoff präparierte Fahrzeug vor dem Bundesamt für Verfassungsschutz an der Inneren Kanalstraße ab und verlegten ein etwa 40 Meter langes Kabel in eine Nebenstraße. Aus sicherer Entfernung zündeten sie mit einer Stromquelle die Sprengladung.

2 Die Täter hatten damals die Nagelbombe auf dem Gepäckträger eines Fahrrads montiert und dieses vor einem türkischen Friseurgeschäft im Kölner Stadtteil Mülheim abgestellt. Mittels handelsüblicher Funkfernsteuerung wurde die mit Schwarzpulver und ca. 10 cm langen Nägeln gefüllte 3-Kilo-Gasflasche gezündet.

Kapitel 1

Den Rettungskräften von Polizei und Feuerwehr bot sich ein schreckliches Bild: Verwüstung, ein Glassplitterfeld, umherlaufende schreiende Passanten, auf dem Boden liegende Opfer, Panik, Hysterie und Blut. Auf den Funkkanälen herrschte Chaos, jeder wollte seine Botschaft zuerst loswerden, jeder brauchte weitere Hilfe am Nötigsten.

Die Scheiben der in Detonationsnähe geparkten Autos waren zerborsten, die Fenster der anliegenden Gebäude ebenso. Im gesamten Bereich roch es verbrannt und vereinzelt waberten Rauchschwaden in Bodennähe.

Auf der Durchgangsstraße staute sich der Berufsverkehr. Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr, Rettungsdienste und Polizei standen dicht an dicht am Fahrbahnrand. Ein Flatterband mit der Aufschrift „Polizeiabsperrung“ sollte weitere Schaulustige abhalten. Alle paar Meter standen teils grimmig, teils betroffen dreinschauende Einsatzkräfte der Polizei im Kampfanzug mit Maschinenpistolen im Anschlag. Das blaue Lichtermeer wirkte bizarr und bedrohlich. Unzählige Leute mit hochgehaltenen Handys standen herum und filmten das Geschehen. Jeder wollte das beste Video, ob fürs Internet oder einfach fürs spätere Angeben im Freundeskreis.

Es dauerte nicht lange, bis auch zahlreiche Journalisten und Kamerateams von den verschiedenen Fernsehsendern vor Ort waren. Mit der zerbombten Kulisse im Hintergrund informierten sie die Bevölkerung, und nicht wenige der Reporter hatten auch gleich schon Tatverdächtige identifiziert oder äußersten Mutmaßungen in bestimmte Richtungen. Ein Bekennerschreiben gab es jedoch nicht, auch keine sonstige Botschaft.

Eine ultrarechte politische Gruppierung, die sich hinter dem unscheinbaren Namen „Freie Denker Köln“ verbarg, hatte in den letzten Wochen offen gegen die Flüchtlingsunterkunft mobil gemacht. Durch zahlreiche Flugblätter mit Aufschriften wie „Köln den Kölnern – Deine Stimme für FDK“ und regelmäßigen Infoständen gegen den Bezug der Unterkunft gingen sie aggressiv auf Stimmenfang und Mitgliederrekrutierung.

Ohne beweisbaren Zusammenhang hatte es auf eben diese Unterkunft schon in der Umgestaltungsbauphase zwei missglückte Brandanschläge gegeben. Hinweise auf Verdächtige gab es nicht, nur Vermutungen und Spekulationen.

Tom Steinhuder, ein investigativer Journalist des Kölner Stadt-Anzeigers, war ebenfalls vor Ort. Er beobachtete das hektische Treiben und machte sich eifrig Notizen. Seinen Fotografen bat er um Übersichtsfotos und Fotos von allen Schaulustigen, jedoch nicht zu Veröffentlichungszwecken, sondern in der Hoffnung, später Personen aus der Szene wiederzuerkennen. Der mit mehreren Journalistenpreisen ausgezeichnete Enddreißiger ließ sich kein X für ein U vormachen. Seine inoffiziellen Quellen, so munkelte man, reichten bis ins Ministerium. Veröffentlichte Artikel hatten in der Vergangenheit in höheren Kreisen nicht immer für Erheiterung gesorgt. Steinhuder war durch und durch Polizeireporter und stets darauf bedacht, nur fundierte Informationen zu präsentieren, auch wenn durch seine Berichterstattung am Ende Köpfe rollen könnten.

Als sich der Journalist umsah, erblickte er plötzlich einen der Funktionäre der FDK, Björn Zuckermann. Dieser lehnte an einem geparkten Auto unmittelbar hinter der Absperrung. Wie immer trug er einen großzügig geschnittenen grauen Anzug. Seine speckigen kurzen Arme hatte er verschränkt auf seinem adipösen Bauch abgelegt. Schon als er sich dem Fettwanst näherte, sah Steinhuder das hämische Grinsen in dessen Gesicht.

Der bekennende Antisemit, der sich zeitlebens vehement davon distanziert hatte, angeblich jüdische Wurzeln zu haben, begrüßte Steinhuder spöttisch. „Ah! Schau mal einer an! Als wir letztens hier Infoblätter verteilt haben, hat sich kein Journalist blicken lassen, obwohl wir extra eine entsprechende Pressemitteilung herausgegeben hatten. Aber kaum bombt hier einer ein bisschen rum, ist die Lügenpresse vor Ort. Ihr könnt wohl Wichtiges von Unwichtigem nicht unterscheiden! Aber wahrscheinlich wollt ihr das auch gar nicht!“

Steinhuder blieb cool. Er hatte von diesem Querulanten nichts anderes erwartet. Dennoch konterte er den verbalen Angriff: „Sie und der Rest der FDK müssten mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber hilfsbedürftigen Menschen doch jetzt hochzufrieden sein, oder? Ihre Gebete sind offenbar erhört worden.“

„Pah, dass ich nicht lache! Sie verstehen es immer noch nicht, Herr Steinhuder. Ich glaube auch, Sie wollen es nicht verstehen. Hilfsbedürftig ist keiner von denen. Schauen Sie sich die Leute doch mal an! Lungern hier den ganzen Tag gelangweilt rum und tippen auf ihren teuren Smartphones herum. Liegen bis zum Mittag in den Betten. Allesamt Schmarotzer, die sich auf unsere Kosten satt fressen und sanieren wollen. Das ist doch offensichtlich, aber das Offensichtliche will ja niemand hören. Ist ja politisch inkorrekt.“

„Herr Zuckermann! Darf ich das als offizielle Stellungnahme der FDK verstehen und Sie mit dieser Äußerung zitieren?“

„Das lassen Sie mal schön bleiben! Machen Sie einfach, dass Sie wegkommen. Das Nicht-Gespräch ist beendet. Ich sag ja: Verdammte Lügenpresse!“ Zuckermann holte demonstrativ sein Telefon aus der Hosentasche und tippte mit seinen fleischigen Fingern auf dem Display herum. Steinhuders Versuche, ihm doch noch eine Äußerung zu entlocken, liefen ins Leere.

Am Ende des Tages zählten Rettungskräfte und Polizei insgesamt 29 Verletzte, zwei davon schwerverletzt. Einer von ihnen war der kleine elfjährige Gamba. Seine beiden Eltern, Haamid und Fola, saßen mit verweinten Augen rechts und links vom Krankenbett auf der Intensivstation, hielten seine Hände und hofften, dass ihr Sohn bald wieder aufwachen würde. Die Ärzte hatten ihren Sohn Gamba aufgrund der schweren Verletzung ins künstliche Koma versetzt.

Einziges Todesopfer blieb bislang die junge Sozialarbeiterin.

Während die Polizei mit Hochdruck den Tatort aufnahm, alle Spuren sicherte, die sozialen Netzwerke auswertete und mit den ersten Zeugen sprach, war das Attentat in allen inländischen Fernsehnachrichten das Thema Nummer 1. Auch international gab es vorübergehend nur ein Thema: Die Bombe vor der Flüchtlingsunterkunft in Köln.

Kapitel 2

Vor Freunden, Bekannten und Geschäftspartner gab das kinderlose Unternehmerehepaar Findeklee seit der Hochzeit vor nunmehr elf Jahren das perfekte Gespann ab. Die 59-jährige Sigrid Findeklee leitete das immer weiter expandierende Fleischwarenunternehmen FIN DE KLEE mit zahlreichen Filialen im Rheinland nun schon in der 3. Generation. Als alleinige Geschäftsführerin unterlag ihr die Leitung des Büros, die Versand- und Personalabteilung und noch so einiges mehr. Seit ein paar Monaten drängte ihr Unternehmen, welches sich bisher auf exklusive Fleischwurst und Schinken spezialisiert hatte, auf den hart umkämpften Steakmarkt. Sigrid Findeklee hatte es sich zum Ziel gesetzt, deutschlandweit einer der bedeutendsten Anbieter für das japanische Kobe Rind zu werden. In Gedanken sah Sigrid in der Eingangshalle hinter Glas schon den begehrten goldenen Rindskopf – eine begehrte Auszeichnung der Japaner, der mit Premiumverkauf und, im übertragenen Sinne, mit einer persönlichen Gelddruckmaschine gleichzusetzen war.

Zum körperlichen Ausgleich ließ sie sich zweimal in der Woche von ihrem Personal Trainer „foltern“ und genauso oft war sie Stammgast im exklusivsten Beautysalon der Stadt. Ihrem rund 15 Jahre jüngeren Lars hatte sie zum 10. Hochzeitstag neben der Luxusreise auf die Malediven seinen lang ersehnten Traumwagen für mehr als eine Viertelmillion Euro geschenkt. Für sie als Millionenerbin war das kein Problem, zumal die Firma mit jedem Fleischcontainer aus Übersee ordentlich Gewinn machte. Jeder Container mit ungefähr 7,6 Tonnen Fleisch kostete die Firma im Einkauf rund eine halbe Million Euro. Der Umsatz war selbstredend deutlich größer. Auch nach Abzug aller anfallenden Kosten wuchs das Firmenvermögen unaufhörlich.

Der nagelneue schwarze Ferrari F12 Berlinetta war nicht nur Lars‘ ganzer Stolz, sondern seitdem auch sein sprichwörtliches Fangnetz für die jüngere Damenwelt. Bei allem Schein nach außen hatte für Lars Findeklee der anfängliche Zauber der Ehe, der Reiz des grazilen Körpers seiner Frau im Laufe der Jahre stetig nachgelassen. Da halfen auch ihr Training oder die diversen Beautybehandlungen nicht. Dass man sich wie noch zu Beginn der Beziehung bis zur Erschöpfung liebte und mit wenigen Stunden Schlaf auskam, war manchmal noch ein Highlight des Monats, fiel immer häufiger jedoch aus.

Mit seinen 44 Jahren war Lars Findeklee mitten in der Midlife Crisis. Jeden Tag war er aufs Neue versucht, seinen „Marktwert“ zu testen; es war regelrecht zur Sucht geworden. Für den Sunnyboy waren die Frauen nur wie Trophäen auf einem Kaminsims, jede einzelne eine weitere Kerbe auf seinem imaginären Revolvergriff.

Für das Unternehmen war er als Großhändler und Produzent für Akquise, Kundenbetreuung und Preisverhandlungen zuständig. In regelmäßigen Abständen suchte er seine Großkunden auf, um Preisabsprachen zu treffen. Nicht weniger oft besuchte er die Großhandelsmärkte, um beispielsweise ein neues Produkt mit einem Stand mitten im Laden hervorzuheben. Der gutaussehende Playboy traf bei seinen Geschäftsreisen immer wieder auf alleinstehende Frauen oder auf jene, die wie er nur das schnelle Abenteuer suchten. Es wurden keine Fragen gestellt, keine Ansprüche erhoben und niemand wollte den jeweils anderen gleich heiraten. Erst neulich hatte er sich seinen neuesten Verkaufsschlager, den kalorienarmen Frühstücks-Bacon, gleich am nächsten Morgen mit der magersüchtigen Silvana Popolova probiert, die für FIN DE KLEE die Präsentation im Laden durchgeführt hatte und seinen Avancen nicht widerstehen konnte.

Bei seinen Fehltritten war er immer sehr diskret und in der Regel traf er sich auch nie zweimal mit einer seiner Eroberungen. Sigrid hingegen war trotz oder gerade wegen ihres Erfolgs eine Frau vom alten Schlag. Sie wusste um ihre Position als Geschäftsführerin, war stets reserviert und immer auf einen guten Ruf – ihren sowie den ihrer Firma – bedacht. Niemals hätte sie Lars in der Öffentlichkeit oder auch zuhause eine Szene gemacht. Sie trug seine amourösen Abenteuer mit Fassung; trotz seiner Eskapaden liebte sie ihn und wollte ihn nicht verlieren, vom zu erwartenden Klatsch und Tratsch in den Boulevardblättern ganz zu schweigen. Außerdem war ihr attraktiver Ehemann der Traum aller Schwiegermütter und so eben leider auch der seiner eigenen. Lars war eloquent, charmant und selbstbewusst. Die beiden führten zwar keine offene Ehe, aber als ernsthafte Bedrohung für ihre Ehe mit Lars hatte sie seine Affären noch nie empfunden. Warum auch? Sie war schließlich die Vermögende, er zappelte im Grunde an ihrem Haken. Bis jetzt hatte sie allerdings nicht das Bedürfnis gehabt, ihn das spüren zu lassen. Außerdem hatte sich auch bei ihr etwas verändert. In den letzten Wochen ertappte Sigrid sich immer häufig bei der Erkenntnis, dass es auch noch andere Männer gab, die ihr gefielen. Gelegentlich spielten einige dieser Männer sogar in erotischen Tagträumen eine Rolle.

Als die beiden nun in ihren Seidenbademänteln an diesem Mittwochmorgen beim gemeinsamen Frühstück saßen, las Sigrid interessiert die Berichterstattung über den Anschlag in Köln im Kölner Stadt-Anzeiger.

Lars hingegen gingen die Worte von Peggy nicht mehr aus dem Kopf. Es war genau das passiert, was er bisher immer hatte vermeiden können: Sie hatte sich in ihn verliebt. Auch er verspürte mehr Gefühle für sie, als ihm recht war.

Mit Peggy war es schon immer anders gewesen als mit den anderen „Trophäen“, die er mit einem Lächeln, einer Spritztour im F12 und einem guten Abendessen in die Kiste gelockt hatte. Peggy kannte er schon seit Jahren. Als sein bester Freund aus Schulzeiten Ronny sie ihm damals vorgestellt hatte, hatte es ihm die Sprache verschlagen. Das war zwar mittlerweile mehr als 12 Jahre her, aber die junge Mutter war ihm seitdem nie mehr so richtig aus dem Kopf gegangen.

„Schatz! Huhuuu! Gibst du mir bitte mal den Kaffee?“

Lars wurde unsanft aus seinen Gedanken gerissen. Wie ferngesteuert hob er die Kaffeekanne an und goss Sigrid eine Tasse ein. Danach rückte er das Milchkännchen und den Zuckerpott näher in ihre Richtung. „Was liest du da eigentlich so interessiert? Sonst blätterst du doch erst mal die Zeitung schnell durch.“

„Da hast du wohl etwas nicht mitbekommen, mein Lieber. Gestern Abend ist mitten in Köln eine Bombe explodiert. Ein Kind wurde schwer verletzt und schwebt in Lebensgefahr, eine junge Frau ist tot und es gibt viele Verletzte. Wer macht so was?“ Sigrid Findeklee war fassungslos. Seit Jahren war sie ein gern gesehener Gast auf Wohltätigkeitsgalas und regelmäßig unterstützte sie zahlreiche soziale und karitative Einrichtungen.

„Wo war das denn?“

„Mitten in der Stadt, keine Ahnung, wie die Straße jetzt heißt. Ist doch auch egal. Das ist ja ein regelrechter Albtraum. Solche Leute müsste man einfach….! Du, sag mal, die Frau von deinem Kumpel ist doch auch Sozialarbeiterin, oder? Wie hieß die doch nochmal? Nicht, dass sie die Tote ist!“

„Wieso, wie kommst du jetzt ausgerechnet auf die?“

Kapitel 3

Die Stimmung zwischen den beiden Brüdern drohte zu kippen. Wutschnaubend standen sie sich gegenüber.

„Schlag mich doch! Schlag doch zu, wenn du dich dann besser fühlst! Idiot! Das ändert aber jetzt auch nichts mehr!“ Gernot Hick war puterrot angelaufen. Er blickte seinem eineinhalb Jahre jüngeren Bruder ins Gesicht. In diesem Moment hätte er ihm am liebsten selbst einen gezielten Faustschlag verpasst. Seit jeher hatte er sich als Erzieher von Martin gefühlt. Als die Brüder noch keine Teenager waren, hatte sich ihr Vater totgesoffen, nachdem er seinen Job verloren hatte. Er war seinerzeit wegrationalisiert und durch billigere Arbeitskräfte ersetzt worden. Martin hatte ihn damals nach der Schule tot aufgefunden: auf dem Sofa sitzend, in der rechten Hand noch eine Flasche Klaren. Organversagen.

„Martin, bitte sag mir, dass du damit nichts zu tun hast! Ich hab keinen Bock, wegen dieser Scheiße wieder in den Knast zu gehen!“

„Keiner geht hier in den Knast! Und jetzt nimm die Fäuste runter!“ Martin Hick riss langsam der Geduldsfaden. „Was glaubst du eigentlich? Meinst du etwa im Ernst, ich hätte was damit zu tun?“

„Was weiß denn ich?“, schrie Gernot wieder. „Du redest doch ständig davon, dass man denen mal zeigen müsste, wo hier der Hammer hängt! Und ausgerechnet da explodiert eine Bombe! Ausgerechnet an dieser Unterkunft. Glaubst du, ich bin bescheuert oder was?“

„Ich weiß gar nicht, was dein gottverdammtes Problem ist.“ Martin stieß Gernot mit flachen Händen von sich weg. „Björn fand es jedenfalls richtig geil. Schade ist es halt um die Frau. Aber andererseits ist sie es auch selbst Schuld. Wer sich mit so einem Pack einlässt, muss sich nicht wundern. Mein Mitleid hält sich jedenfalls sehr in Grenzen.“

„Du blödes Arschloch! Ihr seid doch sowas von dämlich. Ein leerstehendes Haus anzuzünden oder mal einen von denen zusammenzuschlagen, ist doch was anderes, als die ganze Umgebung hochzujagen! Jetzt haben wir nicht nur diesen lästigen Staatsschutz an den Hacken, sondern auch noch die Mordkommission! Was glaubst du wohl, wie lange die brauchen, bis die hier klingeln?“ Gernot Hick hatte Panik. Panik vor dem, was vielleicht noch kommen würde. Vor seinem geistigen Auge sah er sich schon unter Blitzlichtgewitter und Beifall der verhassten Nachbarschaft in Handschellen aus dem Haus kommen. Rechts und links zwei zufrieden dreinschauende Polizisten, die seine Oberarme umklammerten und ihn verhöhnten. Seine Miene verfinsterte sich noch mehr.

Martin schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich sag es dir nochmal, Bruderherz, lass gut sein. Ich hab doch gar nicht gesagt, dass ich das gemacht habe, sondern nur, dass Björn es geil fand. Reg dich ab, Alter, ich weiß echt nicht, welchen Film du fährst. Hast du etwa schon vergessen, was man uns angetan hat, vor allem mir? Wir müssen denen immer einen Schritt voraus sein.“ Er dachte an den Tag vor gut zwei Jahren zurück, als eine Gruppe von etwa zehn maskierten Personen ihn und Gernot niedergeknüppelt hatten, als sie gerade aus der Kirche kamen. Noch heute spürte er den wuchtigen Tritt in sein Gesicht, als er versucht hatte, aufzustehen. Mit lebensbedrohlichen Gesichts- und Schädelverletzungen hatte er seinerzeit nur knapp überlebt. Seiner Meinung nach hatte die Polizei keinen besonderen Elan gezeigt, die Täter zu finden. Auch seine Hinweise, dass sie als Nazis beschimpft worden seien, wollte niemand hören.

Gernot Hick ließ sich davon nicht beeindrucken: „Das ist zwei Jahre her und erledigt! Vergiss es einfach! Und ich sage es dir zum letzten Mal: Verarsch mich nicht! Mit dieser Scheiße will ich echt nix zu tun haben. Kinder zu verletzen oder zu töten, ist das Allerletzte! Und selbst wenn ihr wirklich nichts damit zu tun hattet, seid ihr trotzdem verdammte Arschlöcher! Du und dein Björn.“ Während Gernot die Wohnung verließ, warf Martin einen zufriedenen Blick auf die Schlagzeile und die Fotos vom Anschlag im Kölner Stadt-Anzeiger.

Kapitel 4

Ronny Pietsch war, wie auch schon die Tage zuvor, an diesem Mittwochmorgen mit einem heftigen Kater aufgewacht. Die Eisenschmiede in seinem Brummschädel lief auf Hochtouren. Der 43-Jährige lag rücklings auf dem Bett, während seine beschuhten Füße auf dem Boden standen. Da war er wohl mal wieder im Suff beim Ausziehen einfach nach hinten gekippt und eingeschlafen.

Als er sich ob des ohrenbetäubenden Lärms in seinem Kopf in eine bequemere Liegeposition drehen wollte, spürte er etwas Nasses, Kaltes an seiner Schulter. Sogleich drängte ein säuerlich ekliger Geruch mit Schnapsnote in seine Nase. Etwas zaghaft fasste er dorthin und schaute seine Hand an. Offenbar hatte er schon wieder im Delirium ins Bett gekotzt. Das dritte Mal in diesem Monat. Angewidert und genervt von sich selbst rappelte er sich langsam auf und schwankte mühsam zum Badezimmer.

Über der Kloschüssel kniend rief er verzweifelt: „Peggy! Peeeeeggy! Scheiße!“ Während sich sein Magen zusammenzog, er jedoch nur noch Galle spucken konnte, fiel es Ronny wieder ein. Tränen schossen in seine Augen und tropften in einem kleinen Rinnsal vom Kinn in die Kloschlüssel. Mit der linken Hand stützte er sich auf der Klobrille ab, bemitleidete sich selbst und wischte sich mit dem rechten Handrücken den Schnodder von der Nase. Danach griff er nach dem Toilettenpapier und schniefte hinein.

Genau wie Ronny war auch Peggy damals als Kind mit ihren Eltern nach dem Mauerfall nach Westdeutschland gekommen. Im zarten Alter von 19 hatte die bildhübsche Frau Ronny bei einem Tanzkurs zum ersten Mal gesehen und sich in den smarten Hüftenschwinger verguckt. Das war nun gute zwei Jahrzehnte her. Er stand damals in der Blüte seines Lebens und kurz vor dem Abschluss seines Elektroingenieurstudiums, während sie gerade ihre diplomierte Ausbildung bei der Stadt Köln abgeschlossen hatte. Hals über Kopf hatten sie sich ineinander verliebt und keine zwei Jahre später war Ronny bei der Geburt seines Sohnes Elias im Kreißsaal dabei gewesen.

Nach Entlassung des Babys aus der Neugeborenen-Intensivstation folgte für die junge Familie damals eine sehr schöne Zeit. Ronny übernahm bei der Technologie Produkte AG eine leitende Funktion und verdiente gut. Das junge Paar hatte sich darauf verständigt, dass Peggy die ersten zehn Jahre mit Elias zuhause blieb und den größten Teil der Kindererziehung übernahm.

Das Familienglück änderte sich schlagartig, als Ronny wegen Verdachts auf Untreue und Bestechung fristlos entlassen wurde. Um einen langen Arbeitsprozess zu vermeiden, bekam Ronny eine größere, fünfstellige Abfindung, mit der sie eine Zeit lang noch alle Rechnungen bezahlen konnten, doch mehr und mehr mussten sie den Gürtel enger schnallen. Die Frustration griff um sich, eine dramatische Entwicklung nahm ihren Lauf. Ronny schrieb eine Bewerbung nach der anderen, doch in der Branche hatte es sich offenbar bereits herumgesprochen, dass er nicht ganz „sauber“ war. Es kam zu keinem einzigen Vorstellungsgespräch, immer sagte man ihm mit der Begründung ab, man habe sich für einen anderen, qualifizierteren Bewerber entschieden.

Aus Verzweiflung hatte er es zwischenzeitlich mit Selbstständigkeit versucht. Seinem eigens gegründeten Im- und Export von Billig-Elektroartikeln aus China war allerdings kein Erfolg beschieden. Die Schulden wuchsen unaufhörlich und Ronny und Peggy lebten sich zusehends auseinander. Ronnys Alkoholkonsum tat sein Übriges. In regelmäßigen, immer kürzer werdenden Abständen wurde er gewalttätig gegenüber Peggy.

Anfangs hatte sich Peggy noch zu sehr ob ihrer blauen Flecken und sexuellen Erniedrigungen geschämt, doch schließlich, nach einem weiteren ambulanten Krankenhausbesuch, hatte sie sich der Streifenpolizistin Yesim Arslan anvertraut. Nicht zuletzt, weil sich ihr 17-jähriger Sohn Elias schützend vor sie gestellt hatte und von Ronny durch Faustschläge und Tritte verletzt worden war. Elias war damals mit ihr ausgezogen und hatte Ronny seitdem weder gesprochen noch gesehen. Er hatte das Vertrauen in seinen Vater verloren, von der schwelenden Angst vor ihm ganz zu schweigen. Oft genug hatte er Drohungen wie „Die Schlampe mach ich kalt“ mithören müssen.

Yesim Arslan wurde im Laufe der Zeit die beste Freundin von Peggy, im Grunde genommen auch die einzige. Ihr vertraute Peggy alles an. Die Polizistin hatte ihr auch geholfen, sich während Ronnys 10-tägigem Rückkehrverbot eine Wohnung zu suchen. Peggy wollte nicht in dem Haus weiterleben, mit dem sie so viel Leid und Gewalt verband. Yesim war auch die einzige, die von dem erst seit kurzem bestehenden Verhältnis zu Lars Findeklee wusste.

Kapitel 5

Peggy stand an diesem Mittwochmorgen mit richtig guter Laune auf und stellte sich wie gewohnt als Erstes unter die mal heiße, mal kalte Dusche. Jede Minute des gestrigen Abends mit Lars hatte sie genossen, jede seiner Berührungen als süßen Stromschlag empfunden, all seine Komplimente in sich aufgesogen. Immerzu gab er ihr das schöne Gefühl, begehrt zu werden.

Dass sie ausgerechnet mal mit ihm im Bett landen würde, hätte sie sich nicht in ihren wildesten Träumen vorgestellt. Immerhin konnten sie unterschiedlicher nicht sein. Er, der reiche Geschäftsmann mit tollem Sportwagen und scheinbar glücklicher Ehe, sie hingegen ein Vergewaltigungsopfer ihres eigenen Ehemanns, dessen Gewaltexzesse mit der Zeit immer heftiger geworden waren.

Mit ihrem Sohn Elias bewohnte sie seit fast 12 Monaten eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in Porz-Finkenberg in der 14. Etage eines Hochhauses. Ihr monatliches Nettoeinkommen als freiberufliche Sozialarbeiterin betrug zwar weniger als das Geld in Lars’ Portokasse, aber sie war sich sicher, dass Lars ihre leidenschaftliche Liebe ehrlich erwiderte. Zumindest hatte er ihr es jedes Mal nach dem Sex gesagt. Peggy wusste zwar von Lars’ Frau Sigrid, hatte allerdings nicht die geringste Ahnung, dass sie nicht seine einzige Affäre war.

Soeben hatte Peggy die Kaffeemaschine angestellt, als erst ihr Handy, dann ihr Herz vibrierte. Sie spürte ein angenehmes Glücksgefühl von umherfliegenden Schmetterlingen, die alle gleichzeitig in ihren Bauch wollten. Auf dem Display sah sie ein lächelndes Gesicht.

„Schatz! Peggy!.“

„Hallo, Süßer! Warum flüsterst du denn so?“

„Ich bin noch zuhause. Sie ist nebenan.“

„Und trotzdem rufst du an. Oh, du bist so süß.“ Sie schickte ihm über den Hörer einige Küsse ins Ohr.

„Hast du es schon gesehen?“

„Was denn? Ein Geschenk, eine Überraschung? Sag schon.“ Ihr Herz hüpfte vor Freude.

„Nein. In der Zeitung…“

„Du hast was für mich in die Zeitung geschrieben?“

„Leider nicht. Es ist was passiert. In der Flüchtlingsunterkunft, wo du schon mal arbeitest. Zumindest sieht das auf dem Foto im Stadt-Anzeiger so aus.“ Lars sprach noch immer sehr leise.

Am anderen Ende der Leitung hörte er das Rascheln der Zeitung und dann die Stimme von Peggy, die offenbar zu sich selbst sprach. Lars vernahm ein leises Weinen, anschließend erneut Stille

„Peggy! Peggy! Sag doch was!“

„Ich …. ich kann jetzt nicht sprechen.“ Wie ferngesteuert drückte Peggy das Gespräch weg. Ihr war schlagartig klargeworden, wer die 32-Jährige war, über die im Artikel berichtet wurde – ihre Kollegin Carina war tot! Nur sie konnte die junge Sozialarbeiterin sein, die von umherfliegenden Glassplittern getötet worden war.

Minutenlang verharrte sie über die Zeitung gebeugt und weinte. Dicke Kullertränen liefen über ihr Gesicht.

Kapitel 6

Staatsanwalt Praxenthaler wusste nicht, wo ihm an diesem Morgen der Kopf stand. Für seine Verhältnisse sah er recht mitgenommen aus: Einzelne Strähnen seiner Pomadenfrisur standen in alle Richtungen ab, hinter seinen Brillengläsern waren dunkle Augenringe zu erkennen, aus seinem Hosenbund flatterte ein Hemdzipfel.

Er griff zum Hörer und rief Egbert Elver, den Chef der Mordkommission, an. „Guten Morgen, hier ist Praxenthaler. Gibt es schon erste brauchbare Ergebnisse?“

„Auch guten Morgen. Nicht mehr als gestern Abend. Wir stehen ja noch am Anfang der Ermittlungen.“

„Aber Herr Elver, es muss doch irgendwas Neues geben! Was haben Sie und Ihre Leute denn die letzten 12 Stunden gemacht? Sie können sich doch bestimmt vorstellen, wie mir die Presse im Nacken sitzt. Ganz zu schweigen von den Nachfragen aus dem Ministerium und der Generalstaatsanwaltschaft! Was soll ich denen sagen?! Die werden sich nicht mit guten Aussichten abspeisen lassen.“

Egbert Elver hatte in seinen nunmehr 40 Dienstjahren so manchen Staatsanwalt „überlebt“. Der routinierte Kriminalist ließ sich durch nichts und niemanden aus der Ruhe bringen. Ihm war es ohnehin nie recht gewesen, wenn jemand stante pede aus Ermittler- oder Justizkreisen vorschnell Dinge an die Presse ausplauderte. Die Anfragen aus dem Justizministerium oder Ministerium für Inneres ließen zwar schon mal seine Nackenhaare zu Berge stehen, aber aus der Ruhe bringen konnten ihnen die Meldepflichten nie.

„Ganz ruhig, Herr Praxenthaler! Sie klingen ja schon fast hysterisch. Wir gehen allen Spuren nach. Das können Sie denen sagen.“

„Kommen Sie schon, Herr Elver. Mir können Sie es doch ruhig sagen. Gibt es eine heiße Spur?“

Elver hatte schon öfter den Verdacht gehabt, dass der karrierebewusste Staatsanwalt gerne mal das eine oder andere Detail rausposaunte. Nicht unbedingt, um den Ermittlungen zu schaden oder um etwas zu verraten, vielmehr, um selbst gut dazustehen. Praxenthaler selbst hatte dies jedoch stets vehement bestritten.

„Wie schon gesagt, wir gehen allen Spuren nach! Meine besten Ermittler und der Staatsschutz sind da dran.“

„Wenn Sie mir nichts sagen wollen, rufe ich jetzt Ihren Vorgesetzten an. Ich lasse mich nicht so abspeisen.“

„Wenn es Ihnen was bringt, tun Sie das ruhig. Sie können von mir aus anrufen, wen Sie wollen, davon abhalten könnte ich Sie sowieso nicht. Aber denken Sie wirklich, dass mich das irgendwie beeindrucken würde? Mittlerweile müssten Sie mich besser kennen. Das Thema hatten wir beide doch schon oft genug. War sonst noch was oder kann ich jetzt weiterarbeiten? Ich muss nämlich einen Fall klären!“ Der süffisante Ton in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Was sollte ihm passieren? In weniger als einem halben Jahr ging er in den wohlverdienten Ruhestand.

Kapitel 7

Björn Zuckermann schäumte vor Wut. Er saß frühmorgens im Verhörraum des Staatsschutzes und blickte auf die verspiegelte Scheibe. Die Stühle auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches waren noch leer. Hinter dem Spiegelglas glaubte er eine Person zu erkennen; er rief ihr zu, dass er sofort einen Anwalt sprechen wolle. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür. Kommissarin Ulla Schiefer betrat mit finsterer Miene den Raum und setzte sich ihm wortlos gegenüber.