Tote singen keine Lieder - Bernhard Hatterscheidt - E-Book

Tote singen keine Lieder E-Book

Bernhard Hatterscheidt

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Beschreibung

Eine 24-jährige Musikstudentin wird vermisst gemeldet. Sechs Wochen später wird ihre verweste Leiche von Spaziergängern mit Hunden auf einem Brachgelände im Kölner Stadtteil Kreuzfeld gefunden. Kriminalhauptkommissar Paul Westhoven übernimmt mit seinem eingespielten Team der Mordkommission 6 und ermittelt in alle Richtungen. Kurze Zeit später gerät eine weitere Musikstudentin in den mörderischen Fokus. Die Kölner Musikstudierenden sind völlig verunsichert und die örtliche Presse macht Druck auf die Stadtspitze. Der Fall scheint sich zu klären, als sich ein Auftragskiller der Polizei stellt.

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Bernhard Hatterscheidt

Totesingen keineLieder

Ein KRIMINAListenROMAN

Impressum

Math.Lempertz GmbH

Hauptstr. 354

53639 Königswinter

Tel.: 02223-90 00 36

Fax: 02223-90 00 38

[email protected]

www.edition-lempertz.de

Alle Rechte vorbehalten.

Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus zu vervielfältigen oder auf Datenträger aufzuzeichnen.

1. Auflage - April 2022

© 2022 Math. Lempertz GmbH

Produktion: CPI

Printed and bound in Germany

ISBN: 978-3-96058-447-6

eISBN: 978-3-96058-455-1

Text: Bernhard Hatterscheidt

Umschlaggestaltung: Ralph Handmann

Satz: Hilga Pauli

Lektorat: Laura Liebeskind-Weiland

Cover: ©Adobe Stock: M.studio, Pixxs.

Inhalt

Vorwort

Tote singen keine Lieder

Danksagungen

Vorwort

Dieser Roman beruht auf Tatsachen. Die Ermittlungen und Vernehmungen orientieren sich an der Wirklichkeit des kriminalpolizeilichen Alltags. Keine der genannten Personen ist so existent, es sei denn, es wurde ausdrücklich gewünscht. Namensähnlichkeiten sind daher zufällig. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Geschehnissen sowie mit lebenden oder verstorbenen Personen ist aber nicht immer rein zufällig. Dieser Roman soll vor allem ein KRIMINAListenROMAN sein, der sich an der kriminalpolizeilichen Realität orientiert. Deshalb sind einige Textpassagen bewusst protokollartig verfasst.

[email protected]://www.worldofdinner.de/der-hauptkommissar-hautnah/www.facebook.com/kriminalistenromangoogle: DER HAUPTKOMMISSAR hautnah

Tote singen keine Lieder

Die beiden Musikstudenten Marvin und Malte Cantus waren an diesem wolkenverhangenen Tag mit einem mulmigen Gefühl im Bauch zum Polizeipräsidium nach Köln-Kalk gefahren, um ihre Mitbewohnerin und Kommilitonin Lene Lemmerling als vermisst zu melden. Nach einer kurzen Wartezeit im Foyer saßen sie nun in einem Büro der Kriminalwache und erzählten dem Beamten, dass sie bereits seit drei Tagen nichts von Lene gehört hätten und sich nun doch Sorgen machen würden.

Nachdem sie viele Fragen beantwortet hatten, wollte Malte Cantus wissen: „Was wird die Polizei denn jetzt unternehmen, um Lene zu finden? Der Beamte seufzte. „Leider werden jeden Tag Leute als vermisst gemeldet. Da können wir nicht sofort in jedem Fall einen Rundumschlag an Maßnahmen ergreifen. Überdies erweckt das Fernbleiben Ihrer Mitbewohnerin auch nicht den Anschein, dass hier zwangsläufig ein Gewaltverbrechen vorliegen muss. Erwachsene sind eben manchmal komisch. Es ist doch ganz normal, wenn man mal ein paar Tage nicht erreichbar ist, etwa weil der Akku am Telefon defekt ist oder man einfach mal Zeit für sich braucht. So etwas kommt ständig vor, und wenn man da jedes Mal das gesamte Repertoire an Maßnahmen durchführen würde, dann käme die Polizei zu nichts anderem mehr.“

In den Gesichtern der Zwillingsbrüder machte sich Enttäuschung breit. Sie waren fest davon ausgegangen, dass sie mit ihrer Anzeige wenigstens eine große Suchaktion auslösen würden.

„Wie jetzt?“, entrüstete sich Marvin Cantus. „Das war‘s? Also, wenn die Polizei nicht nach Lene suchen will, was bringt dann diese Anzeige und wieso haben Sie uns dann so mit Fragen gelöchert?“ Marvin ließ dem Beamten keine Möglichkeit zu antworten und schob die nächste Frage gleich hinterher: „Wie lange muss denn für die Polizei jemand verschwunden sein, bis die sich mal auf die Suche begibt? Können Sie sich eigentlich vorstellen, wie allein gelassen wir uns gerade fühlen?!“

„Es tut mir wirklich leid!“, meinte der Beamte. „Wie ich Ihrer Reaktion entnehme, sind Sie mit meiner Antwort nicht wirklich zufrieden. Deshalb hole ich mal ein bisschen weiter aus und erkläre es Ihnen gern noch einmal ausführlicher, damit es nachvollziehbarer wird.“

Die Brüder sahen ihn erwartungsvoll an.

„Also: Erstens gibt es grundsätzlich keine pauschalen Zeitvorgaben dazu, nach welcher Frist eine Person als vermisst gilt. Das wäre ja auch unverantwortlich! Dementsprechend bewerten wir jeden Einzelfall und es macht schon einen Unterschied, ob zum Beispiel ein Kind in einem Supermarkt oder eine orientierungslose Seniorin gesucht wird. Dies ist ganz entscheidend für eine akute Lagebewertung und für etwaige Fahndungsmaßnahmen. Und im vorliegenden Fall, also bei Frau Lemmerling, ist es zwar für sie ungewöhnlich, dass sie am Sonntag nicht nach Hause gekommen ist, aber eine besondere Gefahrenlage habe ich jetzt so nicht erkennen können. Sie ist weder suizidgefährdet noch psychisch labil. Zumindest haben Sie mir nichts dergleichen geschildert! Weiterhin liegen mir auch keine Hinweise vor, dass sie Opfer einer Straftat geworden sein könnte.“

Malte runzelte die Stirn. „Unterm Strich heißt das trotzdem, dass die Polizei gar nichts macht? Den Weg hierher hätten wir uns besser sparen können und uns stattdessen selbst auf die Suche gemacht!“

„Das ist so nicht richtig! So habe ich das nicht gemeint. Für uns als Polizei gilt eine Person als vermisst, wenn sie ihren gewohnten Lebenskreis ohne erkennbare Gründe verlassen hat, ihr aktueller Aufenthalt unbekannt ist und eine Gefahr für Leib oder Leben angenommen werden kann. Und für letzteres haben wir keinerlei Anhaltspunkte. Zum Glück! Aber zu Ihrer Beruhigung: Ich werde Ihre Mitbewohnerin in unserem System zur Aufenthaltsermittlung ausschreiben. Mit etwas Glück wird sie vielleicht irgendwo kontrolliert, wir bekommen darüber Kenntnis und wissen, wo sie ist. Klingt das okay für Sie?“

Marvin warf entnervt die Arme hoch. „Das ist alles? Sie können also nicht jemanden losschicken, der unsere Freundin sucht?“

Der Beamte nickte. „Im Moment ist das leider alles, ja! Sollte sich die zuständige Sachbearbeitung zu weiteren Maßnahmen entschließen, wird man sich bei Ihnen melden. Ach, äh, können Sie mir bitte ein Foto von Frau Lemmerling per E-Mail schicken? Wenn Sie haben, auch gern mehrere. Das wäre unter Umständen sehr hilfreich.“

Knapp zehn Tage später war Lene Lemmerling noch immer nicht in die Wohngemeinschaft zurückgekehrt. Marvin und Malte Cantus hatten mittlerweile endlich Lenes Eltern erreicht, die in Australien im Urlaub und nur sporadisch erreichbar gewesen waren. Sie waren über Lenes unerklärbare Abwesenheit völlig entsetzt gewesen und hatten sich sofort um einen Rückflug bemüht. Die Sorge um ihre Kommilitonin hatte jetzt ein Level erreicht, bei dem sich die Zwillingsbrüder nicht mehr nur mit warmen Worten zufriedengeben wollten. Ihr Anruf wurde von der Vermittlung an die Vermisstenstelle durchgestellt und am anderen Ende der Leitung meldete sich eine freundliche weibliche Stimme: „Kuhnig, Vermisstenstelle. Mit wem spreche ich und wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ja, äh, guten Morgen“, stammelte Marvin. „Mein Name ist Cantus, wir haben unsere Mitbewohnerin vor über einer Woche als vermisst gemeldet und wollten mal fragen, ob es was Neues gibt.“

„Ich kann gern nachschauen, aber dazu müssten Sie mir schon sagen, wie Ihre Mitbewohnerin heißt. Wir haben leider mehr als nur eine vermisste Person.“

„Lene Lemmerling, ich habe hier auch ein Aktenzeichen, wenn das weiterhilft. Das haben wir bekommen, als wir die Anzeige erstattet haben.“

Hauptkommissarin Sylke Kuhnig tippte die Daten in die Abfragemaske und einen Moment später öffnete sich der Vorgang. „Da haben wir es ja. Lene Lemmerling, 24 Jahre, Musikstudentin. Vermisst seit zehn Tagen. Und Sie sind?“

„Ich bin Marvin Cantus, mein Bruder ist auch hier. Ich habe den Lautsprecher auf laut gestellt, damit er mithören kann.“

„Haben Sie denn bis dato gar kein Lebenszeichen mehr von Frau Lemmerling erhalten, keine Nachricht oder irgendwas?“

„Dann würden wir wohl kaum anrufen und bei Ihnen nachfragen. Wir machen uns wirklich große Sorgen! Lene ist immer zuverlässig und einfach so zu verschwinden passt überhaupt nicht zu ihr. Sowas würde sie nie tun! Das haben wir aber auch schon Ihrem Kollegen genauso gesagt, aber wir hatten nicht den Eindruck, dass ihn das sonderlich interessiert.“ „Wie kommen Sie darauf? Wenn ich das hier richtig sehe, hat er sofort das Nötigste veranlasst.“

„Das ist genau der springende Punkt!“, schnaubte Marvin. „Das Nötigste. Also ganz offensichtlich nicht genug, denn Lene ist immer noch verschwunden! Hören Sie? Sie ist immer noch weg! Und das ist völlig untypisch für sie. In so was ist sie ziemlich pedantisch, sie ruft sogar an, wenn sie sich nur ein paar Minuten verspätet. Wann gedenkt denn die Polizei endlich etwas zu unternehmen?“

„Haben Sie denn zwischenzeitlich selbst mal alle Freunde und Bekannten angerufen, ob sie vielleicht dort ist oder jemanden angerufen hat?“ „Ja, natürlich! Niemand hat etwas von Lene gehört. Auch ihre Eltern wissen nicht, wo sie ist und hätten sie auch schon als vermisst gemeldet, wenn wir das nicht schon getan hätten. Wissen Sie, wir machen uns ernsthaft Sorgen, dass ihr was zugestoßen sein könnte.“

„Gibt es denn dafür Anhaltspunkte? Hatte sie vielleicht Feinde oder einen Streit mit jemandem, bevor sie verschwunden ist?“

„Lene ist der liebste Mensch, den man sich nur vorstellen kann. Sie hat definitiv keine Feinde und von einem Streit wissen wir nichts. Das hätte sie uns bestimmt auch erzählt.“

„Okay. Könnten Sie heute noch mal ins Präsidium kommen und ein paar Dinge mitbringen, die uns weiterhelfen könnten?“

Marvin atmete tief durch. „Ja, klar. Wir könnten sofort zu Ihnen kommen.“

Sylke Kuhnig forderte sie auf, sich Notizen zu machen und folgende Dinge von Lene mitzubringen:

- Haarbürste

- Zahnbürste

- eine Liste von Freunden, Bekannten, Kommilitonen

„Das ist kein Problem. Bringen wir mit.“

Nach über zwei Wochen gab es von Lene Lemmerling noch immer kein Lebenszeichen: keinen Anruf, keine E-Mail, keine WhatsApp-Nachricht, keinen eigenen Post in den sozialen Medien. Das war völlig untypisch für die quirlige Studentin, die ansonsten sehr präsent war. Niemand hatte sie gesehen. Inzwischen interessierten sich auch die örtlichen Tageszeitungen und Radio Köln für den Fall, denn Lenes Eltern sowie Marvin und Malte Cantus hatten nichts unversucht gelassen, um sie zu finden. Gegenüber Tom Steinhuder vom Kölner Stadt-Anzeiger erklärten sie: „Lene ist zuverlässig! Sie würde nicht einfach so verschwinden. Und schon gar nicht ohne ihre ganzen Sachen. Das ergibt keinen Sinn, so was würde sie nie machen. Wir sind uns sicher, dass sie irgendwo gegen ihren Willen festgehalten wird.“

Im Stadt-Anzeiger erschien der Aufruf, in leerstehenden Gebäuden, Kleingärten und auch Kellern nachzuschauen. Darüber hinaus waren in dem Artikel auch die Kleidungsstücke abgebildet, in denen Lene Lemmerling mutmaßlich die Wohnung verlassen hatte.

Sylke Kuhnig wollte unbedingt herausfinden, wohin Lene Lemmerling am besagten Abend verschwunden war. Die Experten der IT-Unterstützung hatten nämlich herausgefunden, dass sie vor dem Verlassen ihrer Wohnung auf WhatsApp Nachrichten geschrieben und auch empfangen hatte. Dies hatte die Auswertung des WLAN-Routers eindeutig ergeben. Nur war es leider nicht möglich gewesen, die Nachrichten zu lesen, geschweige denn den anderen Teilnehmer zu identifizieren. Marvin und Malte Cantus hatten auf Bitten der Ermittlerin freiwillig ihre Mobiltelefone zur Auswertung und zwecks Abgleiches der Routernutzung an die Vermisstenstelle gegeben, aber auch diese Spur half nicht weiter. Die mittlerweile völlig verzweifelten Eltern hatte Sylke Kuhnig bereits noch einmal befragt – ohne Ergebnis. Also hatte sie erneut die Zwillingsbrüder ins Präsidium geladen, um den gesamten Ablauf noch ein weiteres Mal zu rekonstruieren. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie entweder irgendetwas übersehen haben könnte oder ihr vielleicht sogar wichtige Informationen vorenthalten wurden. „Malte, erzählen Sie bitte noch einmal, seit wann Sie und Ihr Bruder mit Lene Lemmerling zusammenwohnen und wie der gewohnte Tagesablauf ist“, forderte sie ihn auf. Malte seufzte. „Das habe ich doch schon alles erzählt, warum fragen Sie mich das schon wieder? Meinen Sie, dadurch finden Sie Lene schneller? Indem Sie alle Fragen doppelt und dreifach stellen?“

Auf die Ermittlerin wirkte er sehr angespannt. Dennoch blieb sie unbeeindruckt und führte ihre Befragung fort. „Vielleicht haben wir alle etwas übersehen. Auf jeden Fall aber möchte ich heute nochmal Ihr persönliches Verhältnis zu Lene näher beleuchten. Ich werde das Gefühl nicht los, dass da mehr ist und mir nicht alle Informationen vorliegen.“ Sie wartete auf seine Reaktion. Malte schien wie vom Blitz getroffen. „Was soll das denn jetzt? Verdächtigen Sie mich etwa?“

„Ich verdächtige Sie nicht. Dafür gibt es bislang keinen Grund. Aber Ihre Reaktion ist schon ein wenig, na sagen wir mal, heftig.“ Wieder schaute sie ihn einfach nur an und erwartete seine Reaktion. Malte schüttelte den Kopf. „Also, Frau Kuhnig, um das ein für alle Mal klarzustellen: Ich mag Lene und ich finde sie auch sehr attraktiv. Aber wir haben keine Liebesbeziehung, falls es das ist, was Sie denken. Da hätte ich bei ihr auch nicht die geringste Chance.“

„Wieso, Sie sind doch ein sympathischer Mann, wenn ich das so sagen darf.“

Malte lächelte schief. „Danke! Aber Lene war einfach nicht der Typ für eine feste Beziehung. Sie hatte es gern … abwechslungsreich. So im Sexuellen.“

„Ach so! Sehen Sie, genau deswegen sitzen wir hier. Diese Information ist mir neu. Das haben bislang weder Sie noch Ihr Bruder erwähnt.“

Der junge Mann zuckte die Achseln. „Mir erschien das nicht als wichtig. Außerdem hat bis jetzt niemand danach gefragt.“

„Nun: ICH frage jetzt! Was gab es denn für Männer in Lenes Leben? Oder auch Frauen.“

„Sie meinen, ob sie sowohl als auch …?“

„Ja, meine ich!“

Die nächste Antwort kam zögerlich. „Ja, schon. Sie war ziemlich experimentierfreudig.“ Malte Cantus räusperte sich. „Also, mir fällt noch eine Sache ein. Ich weiß nicht, ob das wichtig sein könnte. Lene hatte letztens ihren Laptop offen und da habe ich im Vorbeigehen gesehen, dass sie mit jemandem gechattet hat.“

Sylke Kuhnig wartete einen Moment, ob Malte Cantus noch weitererzählen würde, aber er blieb stumm. „Und mit wem?“

„Das habe ich nicht gesehen. Ich habe auch nicht genau hingeschaut. Woher hätte ich denn wissen sollen, dass ich mal danach gefragt werde? Außerdem geht mich das auch nichts an.“

„Haben Sie denn irgendetwas im Vorbeigehen gesehen, woran Sie sich erinnern und was uns heute helfen könnte?“

Malte überlegte angestrengt, bevor er antwortete: „Tut mir leid. Ich kann mich wirklich an keinen Namen erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich mir dachte, dass der ja ganz gepflegt aussieht.“

„Wer?“

„Na, der Typ auf dem Bild. Er hatte dunkle Haare und einen Drei-Tage-Bart.“

„Können Sie was zum Typus sagen?“

„Was meinen Sie?“, fragte Malte verwirrt.

„Zum Beispiel eher südländisch oder europäisch oder südeuropäisch oder …?“

Er schüttelte den Kopf. „Dazu kann ich nichts sagen. Wie gesagt …“

Sylke Kuhnig fiel ihm ins Wort: „… haben Sie nicht hingeschaut. Verstehe. Falls Ihnen noch was einfällt, melden Sie sich bitte bei mir. Ist denn der Laptop noch in der Wohnung?“

„Ich meine, ja. Aber ich kann gleich gucken und Sie dann anrufen.“

In den folgenden Wochen gingen mehr als 200 Hinweise aus der Bevölkerung am Hinweistelefon ein. Allerdings war kein entscheidender Hinweis auf den Aufenthaltsort der Vermissten dabei. Lene Lemmerling blieb wie vom Erdboden verschluckt. Ebenso konnte das Technische Hilfswerk mit seinen Bodenradargeräten in den nahegelegenen Waldgebieten ihres Wohnortes keine Auffälligkeiten im Erdreich feststellen. Zuvor waren diese Areale überdies durch eine Hundertschaft und mit extra ausgebildeten Leichenspürhunden großflächig durchkämmt worden. Ebenfalls brachte die Suche mit einem Hubschrauber, der mit einer Wärmebildkamera ausgerüstet war, keinen Fortschritt in den Ermittlungen. Mehrere Tage lang wurde auch auf dem Wasser des Fühlinger Sees nach Lene gesucht. Die Vermisstenstelle hatte die Hoffnung gehabt, dass Leichenspürhunde mögliche aufsteigende Verwesungsgase erschnüffeln könnten. Als dies auch negativ verlaufen war, war Sylke Kuhnig zwar ein wenig beruhigt darüber, dass Lene wohl nicht im See versenkt worden war, aber es gab noch immer nicht die leiseste Spur von ihr. Von Malte Cantus war zwischenzeitlich der Hinweis gekommen, dass der Laptop nicht mehr da sei. Ein paar Tage später hatte Sylke Kuhnig noch den Einfall, einen so genannten Mantrailer einzusetzen, um hierdurch mögliche Hinweise darauf zu erlangen, welchen Weg Lene Lemmerling genommen haben könnte. Da sie damit noch wenig Erfahrung hatte und dies nur vom Erzählen kannte, rief sie eine Expertin an.

„Und Sie sagen, die junge Frau ist schon ein paar Wochen vermisst? Ist das der Fall aus der Presse? Die junge Musikstudentin?“

„Ja, genau. Wir haben schon alles versucht und ich dachte, ein Mantrailer ist vielleicht meine letzte Hoffnung, doch noch eine Spur zu finden.“ Die Expertin atmete hörbar tief durch, bevor sie antwortete: „Nun ja, es gibt immer verschiedene Faktoren dabei, ob eine Suche noch erfolgreich sein könnte oder nicht. Und bei mehreren Wochen, muss ich Ihnen sagen, tendiert die Chance gen Null.“

„Also ist es Ihrer fachlichen Einschätzung nach von vornherein sinnlos, es zu versuchen?“, hakte Sylke Kuhnig nach. Die Expertin seufzte. „Grundsätzlich sollte die Suche innerhalb von 48 Stunden beginnen. Mein Hund ist dann immer noch in der Lage, zumindest fast immer, Spuren von Fußgängern zu erkennen. Wir haben im Training aber auch schon versucht, ältere Fährten aufzunehmen. Das hat dann auch schon mal funktioniert, wenn die Spuren nicht älter als neun bis zehn Tage waren, aber bei Wochen halte ich das für gänzlich ausgeschlossen.“

„Also, wenn ich das richtig verstanden habe, ist es wohl aussichtslos, oder?“, meinte Sylke Kuhnig resigniert.

„Ganz ehrlich? Ich denke, ja. Wahrscheinlich ist ja auch unklar, ob die Person zu Fuß weg ist oder vielleicht sogar mit dem Auto oder liege ich da falsch?“

„Das wissen wir nicht, aber macht das denn einen Unterschied?“

„Na, und ob! Welche Geruchspartikel sollen denn aus einem geschlossenen Fahrzeug durch die Lüftung nach außen dringen? Es sei denn, es war ein Cabriolet. Aber dann haben wir noch immer den Fahrtwind und sonstige Umwelteinflüsse. Wissen Sie, ich mache das jetzt seit über 12 Jahren und ich bin von meinen Hunden überzeugt, aber eine Hundenase hat auch ihre Grenzen. Ich wünschte mir sehr, ich könnte Ihnen was anderes sagen.“

„Haben Sie denn überhaupt schon mal jemanden gefunden, der mit dem Auto weg war?“

„Wir trainieren in alle Richtungen. Wenn jemand zu Fuß oder von mir aus noch mit dem Fahrrad weg ist, finden wir den in der Regel. Aber eine Person im Auto? Tut mir leid. Das hat noch nie funktioniert. Leider! Und in Ihrem Fall wissen wir das gar nicht und es ist Wochen her. Sorry, wir helfen gern, aber ein Versuch macht hier leider überhaupt keinen Sinn mehr.“

„Ich danke Ihnen trotzdem. Wie gesagt, ich wollte nichts unversucht lassen. Nächstes Mal müssen wir eher daran denken.“

„Viel Erfolg! Ich hoffe, dass die junge Frau am Ende doch noch lebendig gefunden wird.“

Sechs Wochen später: Paul Westhoven, seines Zeichens Leiter der Mordkommission 6, war mit seinen Gedanken noch bei seiner Tochter Fiona. Die pubertierende Jugendliche hatte ihn in den letzten Tagen sehr auf Trab gehalten und auch ab und an zur Weißglut getrieben. Fast ein Dutzend Mal hatte er hilflos wahlweise in ihrem Zimmer oder vor der verschlossenen Zimmertür gestanden. In seinen Gedanken hatte er ihr mehrfach links und rechts eine Ohrfeige verpasst. Aber ihm war klar, dass das auf keinen Fall die Lösung ihrer Probleme wäre und alles nur schlimmer machen würde. So langsam verstand er seine Kolleginnen und Kollegen, die in der Vergangenheit immer mal wieder über ihre Kinder im Teenageralter gestöhnt hatten. Seinerzeit hatte er darüber nur den Kopf geschüttelt, weil seine Wochenenden mit Fiona immer harmonisch verlaufen waren. Das hatte sich aber geändert, seit Fiona nach einem heftigen Streit bei ihrer Mutter aus- und bei ihm und seiner Frau Anne eingezogen war. Seitdem hatte sich seine Einstellung zu diesen Dingen um 180 Grad gedreht, sein ruhiges Privatleben war völlig auf den Kopf gestellt worden. Erst hatte er sie in flagranti beim Haschisch-Rauchen erwischt. Dann hatte die Klassenlehrerin x-mal bei ihm angerufen: Ein Schulverweis stand quasi schon vor der Tür, weil Fiona sich in der Schule total danebenbenommen hatte. Das alles ließ ihn nicht los. Und dann war da noch dieser schmierige Typ, der ihr Freund und noch nicht mal in der Lage war, vernünftig „Hallo“ zu sagen. Kein Wunder also, dass bei ihm der Haussegen schiefhing.

Daher war es nicht verwunderlich, dass er in der morgendlichen Frühbesprechung der Mordkommission zwar körperlich anwesend war, sein teilnahmsloser Blick aber davon zeugte, dass seine Gedanken ganz woanders waren. Als sein Chef die Besprechung beendet hatte und alle wieder zu ihren Büros gingen, meinte Heinz Dember, Teil der Mordkommission 6, auf dem Weg dorthin zu Westhoven: „Dann hoffen wir mal, dass die Studentin sich einfach nur irgendwo vergnügt und wir nicht in unserer Rufbereitschaft alarmiert werden.“

Westhoven legte verwirrt die Stirn in Falten. „Welche Studentin?“

„Na, die, von der der Chef eben erzählt hat. Die seit mehreren Wochen spurlos verschwunden ist, die Musikstudentin, die als vermisst gemeldet wurde.“

Westhoven seufzte gereizt. „Was willst du mir jetzt damit sagen, Heinz? Da haben wir doch gar nichts mit zu tun. Darum kümmert sich doch die Vermisstenstelle.“

Dember musterte ihn besorgt. „Alles in Ordnung bei dir, Paul? Du wirkst ein wenig, na, sagen wir mal, angekratzt und irgendwie abwesend. So kenne ich dich gar nicht. Der Chef hat doch eben gesagt, dass man langsam nicht mehr davon ausgeht, dass sie noch lebt.“

„Ach, es ist nichts“, winkte Westhoven ab. „Nach müde kommt bekanntlich dumm, oder? Ich habe die letzte Nacht einfach nur schlecht geschlafen und mich dauernd hin- und hergewälzt. Und weil es ansonsten so ruhig im Haus war, habe ich jedes Geräusch gehört und am Ende nur darauf gewartet, dass der Wecker klingelt und ich endlich aufstehen kann. Ist das Verhör jetzt beendet?“

„Okay, verstehe. Aber wenn du mal drüber reden möchtest – ich würde zuhören. Du hast mir auch schon oft geholfen.“

„Lass mal gut sein jetzt!“ Mit dieser schroffen Bemerkung wandte Westhoven sich ab und holte sich einen frisch aufgebrühten Kaffee in der Teeküche. Mit der Tasse in der Hand schlurfte er in sein Büro und schloss entgegen seiner sonstigen Gewohnheit die Tür hinter sich. Die dampfende Tasse stellte er neben die Tastatur, ließ sich in den Bürostuhl fallen und drehte diesen zur Seite, um anschließend seine Füße mit ausgestreckten Beinen auf den Tisch zu legen. Nach wenigen Augenblicken fielen ihm die Augen zu. Im Traum beobachtete er sich selbst, wie er mit beiden Fäusten gegen Fionas Zimmertür schlug. Als die Klopfgeräusche immer lauter wurden, schreckte er hoch. Eine Sekunde später öffnete sich seine Bürotür und sein Team, bestehend aus Heinz Dember und Toni Krogmann, stand vor ihm. Mit dem blöden Gefühl des Ertapptseins setzte er sich aufrecht hin und rieb sich die Augen. Der Schluck aus der Kaffeetasse schmeckte nur noch lauwarm und fad. „Warum stürmt ihr hier so rein?“, grollte er.

„Eine Streife hat in Köln-Kreuzfeld die Überreste einer verwesten Leiche gefunden. Wir sollten uns das mal anschauen“, erklärte Toni.

„Und weswegen soll jetzt, bitte schön, die Mordkommission dahin fahren? Nur weil die Leiche verwest ist, heißt das doch noch gar nichts, oder gibt’s Hinweise auf ein Tötungsdelikt?“

„Mensch, Paul“, mischte Dember sich ein. „Was ist denn los mit dir? Normalerweise wärst du doch der Erste, der uns antreibt.“

Westhoven verzog das Gesicht. „Sorry, aber ich habe grad echt andere Sorgen als so eine blöde, stinkende ‚Gammel-Leiche‘. Wenn es unbedingt sein muss und die MK 5 das nicht übernehmen kann, obwohl die ja wohl seit Wochen Leerlauf haben, dann fahrt ihr zwei verdammt noch mal dahin und guckt euch das an.“

Von seinem Verhalten überrascht, verließ Toni zuerst sein Büro. Als sie weg war, meinte Dember: „Paul, willst du nicht doch drüber reden?“

„Ich habe es dir vorhin schon gesagt, es gibt nichts zu reden!“, schnaubte Westhoven gereizt. „Fahr jetzt mit Toni nach Kreuzberg, guckt euch die Leiche an und meldet euch, wenn es etwas für uns ist. Und schließ die Tür – von außen bitte.“ Er ließ sich auf seinen Bürostuhl fallen und griff zum Telefonhörer. Völlig genervt wählte er Annes Rufnummer. Nach einigem Klingeln meldete sie sich ungewohnt wortkarg: „Hallo?“ „Anne! Bitte! Es tut mir leid.“ Westhoven hörte, wie sie tief Luft holte. Ihm war klar, dass sie immer noch ziemlich sauer war.

„Das sollte es auch!“

„Ich weiß echt nicht, was ich noch tun soll. Am liebsten würde ich einfach ausziehen.“

„Sag mal, geht’s noch? Du spinnst wohl! Das ist auch keine Lösung. Schließlich ist Fiona DEINE Tochter. Dann bin ich ja mit ihr ganz allein.“

„Schatz! Sternchen! Ich konnte doch nicht ahnen, dass sie sich so dermaßen pubertär benehmen würde. Und selbst wenn, was hätte ich tun sollen? Sie auf die Straße setzen?“

„Nein, natürlich nicht! Wie gesagt: Sie ist deine Tochter. Und im Grunde freust du dich doch auch, dass sie da ist. Aber es gibt Regeln fürs Miteinander und Fiona denkt wohl, dass sie tun und lassen kann, was sie will.“ Westhoven seufzte genervt. „Dann sag mir doch einfach, was du von mir erwartest. Was soll ich deiner Meinung nach machen?“

„Rede mit ihr! Mach ihr klar, dass es Regeln gibt. Dass es so nicht weitergeht und sie ansonsten zurück zu ihrer Mutter muss.“

Westhoven starrte mit leerem Blick zum Fenster und sagte nichts.

„Paul? Bist du noch da?“

„Ja, ich …“ Da klingelte sein Bereitschaftstelefon. „Sternchen, tut mir leid. Telefon! Ich muss da rangehen.“

Ohne das andere Gespräch zu beenden, nahm er den Anruf von Toni Krogmann entgegen. „Wir sind jetzt hier vor Ort. Das ist definitiv ein Tötungsdelikt. Du musst herkommen!“

„Was macht euch da so sicher?“

„Reichen dir gefesselte Arme, ein hochgeschobener Rock und eine runtergerissene Strumpfhose?“

„Klingt nach einem Fall. Ich mach mich auf den Weg, bin gleich da.“ Danach hielt er sich den anderen Hörer wieder ans Ohr. „Anne, bist du noch dran?“

„Ja! Wir waren gerade dabei, dass du unbedingt …“

„Tut mir leid, ich muss los“, fiel Westhoven ihr unsanft ins Wort. „So wie es scheint, haben wir einen neuen Fall. Ich kümmere mich später darum. Ich kann jetzt nicht. Es kann heute spät werden. Ich melde mich. Ich liebe dich. Tschüss!“ Insgeheim war er erleichtert, dieses Gespräch jetzt nicht fortführen zu müssen, auch wenn ihm natürlich bewusst war, dass Verdrängung nicht weiterhelfen würde. Ihre wütenden Worte „Das kann doch wohl jetzt nicht dein Ernst sein!“ hörte er nicht mehr.

Tief in Gedanken versunken fuhr Westhoven über die Zoobrücke in Richtung Kölner Norden. An der ersten Einmündung hinter Blumenberg wäre es sogar fast zu einem Zusammenstoß mit einem Radfahrer gekommen, der wütend schimpfte, ob er denn keine Augen im Kopf hätte und der fest mit der flachen Hand auf die Motorhaube schlug. Aufgeschreckt und verärgert über sich selbst setzte er die Fahrt fort. Keine Minute später hatte er sein Ziel in Kreuzfeld erreicht und parkte hinter dem Streifenwagen am Fahrbahnrand. Als er gerade das Flatterband mit der Aufschrift „Polizeiabsperrung“ nach oben riss und sich darunter durchbeugte, kam ihm eine junge Streifenbeamtin entgegen. „Stopp!“, fuhr sie ihn an. „Gehen Sie bitte sofort wieder hinter die Absperrung! Die hängt da nicht zum Spaß!“

Westhoven hob abwehrend die Hände. „Ich bin auch nicht zum Vergnügen hier, sondern …“

Energisch unterbrach sie ihn: „Stopp, stopp, stopp! Sie gehen jetzt bitte sofort wieder hinter die Absperrung. Die Presse hat keinen Zutritt.“

Westhoven grinste. Man hatte ihn ja schon des Öfteren mal verwechselt, aber dass man ihn für einen Journalisten hielt, war ihm tatsächlich noch nicht passiert. „Mein Name ist Westhoven, ich bin vom KK 11.1“

Die junge Beamtin schluckte kurz, fasste sich aber schnell. „Na, dann ist ja alles gut. Steht Ihnen ja nicht auf die Stirn geschrieben.“

„Kein Problem, ich bin ja froh, dass Sie so wachsam sind. Ich gehe dann mal zu meinen Kollegen.“ Westhoven kam indes keinen Meter weit, da sie ihm weiterhin beharrlich den Weg versperrte. „Zeigen Sie mir bitte zur Sicherheit noch Ihren Dienstausweis! Wissen Sie, ich kenne so ziemlich alle Tricks der Journalisten. Und morgen gibt’s ein großartiges Foto vom Tatort im Express und ich krieg den Ärger. Nein, danke!“

Westhoven war klar, dass er nicht an ihr vorbeikommen würde, ohne seinen Ausweis zu zeigen. Mit einem Ruck an der Kette zog er seine Kriminalmarke aus der Hosentasche und hielt sie ihr hin. „Kann ich jetzt durch?“ Sie musterte ihn streng. „Ich will nicht unhöflich erscheinen, aber ich hatte Sie nach einem Ausweis gefragt. So einen mit einem Bild von Ihnen drauf, wissen Sie?“ Sie machte keine Anstalten, zur Seite zu gehen. Da erklang Toni Krogmanns Stimme von weiter hinten: „Schon okay, der gehört zu uns! Sie können ihn durchlassen!“

„Kann ich jetzt durch?“, schnaubte Westhoven ungeduldig.

Die Beamtin nickte. „Sie finden Ihre Kollegen dahinten, den kleinen Weg rechts rein.“

Als Westhoven bei ihnen eintraf, sah Toni Krogmann ihn fragend an. „Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?“

Er winkte ab. „Ach, frag nicht! Sag mir lieber was zur Leiche.“

„Ich denke, das solltest du dir besser selbst anschauen. Viel zu erkennen ist ja nicht mehr.“

„Aber du hast mir doch am Telefon gesagt, sie sei gefesselt und ihr Rock sei heruntergerissen. Wissen wir denn schon, wer die Tote ist?“

„Ich sag ja, schau dir die Leiche an und dann sag du mir, ob du hier noch anhand eines Ausweises eine Identifikation vornehmen kannst.“

Westhoven seufzte genervt, als er sich den Spurensicherungsanzug anzog und seine Schuhe in die Plastiküberzieher zwängte. Es besserte seine Laune nicht, dass er bei dieser Aktion fast das Gleichgewicht verlor und auf einem Bein hin- und herhüpfen musste, um nicht doch noch hinzufallen. Nachdem er es endlich geschafft hatte, bat er wie schon in etlichen anderen Mordfällen zuvor um absolute Ruhe, während er sich einen Überblick verschaffte. Niemand sollte ihn stören, wenn er die Augen schloss und die Umgebung auf sich wirken ließ. Wenige Augenblicke später trat er an den in Verwesung übergegangenen und verfaulten Leichnam heran. Sogleich nahm er den penetrant süßlichen, ekligen Geruch in seiner Nase wahr und einen Moment später schmeckte er ihn auch pelzig auf der Zunge. Unwillkürlich erinnerte ihn das an den verwesenden Torso, den seinerzeit ein verliebtes junges Pärchen in einem schwarzen Plastiksack im Pyramidenpark gefunden hatte. Westhoven war nun hochkonzentriert. Leise summten und brummten die ekligen Schmeißfliegen um den Leichnam herum, und mit ein wenig Einbildung glaubte er das Schmatzen der dicken, fetten Maden zu hören, die ihm über die Schuhe tanzten oder zerquetscht unter seinen Sohlen klebten. Toni Krogmann hatte nicht übertrieben. Eine Identifizierung durch einfache Inaugenscheinnahme wäre grob fahrlässig gewesen. Niemand konnte hier noch von einem Gesicht sprechen und wie man so oft sagte, würde nicht mal die eigene Mutter hier ihr Kind erkennen. Als er sich vorsichtig dem Leichnam weiter näherte, hörte er ein leises Zischen, fast schon ein Fauchen. Nach dem anfänglichen Schreck war er nun wiederum auch fasziniert: Noch nie zuvor hatte er einen lebenden Necrophorus Vespillo, einen Aaskäfer, gesehen, und hier schien gleich eine ganze Schar im Rücken der Toten ein Zuhause gefunden zu haben. Und je mehr er sich dem Leichnam näherte, desto umtriebiger wurden die mittlerweile gut zwei Zentimeter großen, schwarzhörnigen Totengräber. Einige der farbenprächtigen Aaskäfer stellten sich sogar auf ihre behaarten Hinterbeine, um größer zu wirken und so den potenziellen Angreifer zu vertreiben. Westhoven ließ sich jedoch nicht davon abschrecken und schaute sich die Tote von allen Seiten an. Er konnte nur ansatzweise erahnen, wie sie wirklich gestorben war. Die gefesselten Arme ließen wie der zugeklebte Mund, der hochgeschobene Rock und die heruntergezogene Strumpfhose Spielraum für Spekulationen. Er hörte sich nähernde Schritte und drehte sich um. „Ach, der Erkennungsdienst ist auch schon da. Hallo, Michael! Ich habe mich schon gefragt, wann du hier auftauchen würdest.“

Michael nickte ihm zu. „Hi, Paul. Können wir denn mit der Spurensicherung beginnen oder brauchst du noch einen Moment?“

Westhoven schüttelte den Kopf.

„Wisst ihr denn schon, wer die Tote ist?“

„Nicht wirklich, aber den Klamotten nach zu urteilen, könnte es die vermisste Musikstudentin sein.“

„Du meinst die, die seit ein paar Wochen spurlos verschwunden ist?“

„Ja, genau die! Möglicherweise. Das ist euer Job, das jetzt festzustellen. Ich wäre euch wirklich dankbar, wenn es schnell geht. Je eher wir Gewissheit haben, desto eher können wir anfangen, den Fall aufzuklären. Ich gehe jetzt mal zu Toni und Heinz. Halte mich auf dem Laufenden. Ich bin über Handy immer erreichbar, okay? Meine Nummer hast du ja.“ „Na klar, Paul! Wie immer.“

Toni und Heinz standen zusammen mit Staatsanwältin Steinmann in einiger Entfernung und unterhielten sich.

„Hallo, Sarah, bist du schon lange hier?“ Westhoven gab ihr die Hand.

„Erst ein paar Minuten. Und? Was haben wir hier? Handelt es sich beim Opfer um die vermisste Studentin?“

„Seit wann weißt du über unsere Vermisstenfälle Bescheid?“

„Heinz und Toni haben mir eben davon erzählt. Und außerdem war das in den letzten Tagen das Gesprächsthema der Stadt. Das ist auch an mir nicht vorbeigegangen.“

„Ganz ehrlich? Den Kadaver da hinten kannst du nicht mehr ohne weiteres identifizieren. Ich sage bewusst Kadaver, denn das arme Mädchen ist eine Art Speiselokal für sämtliche Insekten und anderes Getier. Aber du machst dir besser selbst ein Bild davon.“

„Also ist es die Studentin oder nicht?“

Westhoven seufzte. „Wie gesagt: Keine Ahnung! Anhand der Bekleidung würde ich spontan ja sagen, aber was ist, wenn jemand anderes die Sachen anhatte oder einfach nur die Ähnlichkeit groß ist?“

Sarah Steinmann runzelte die Stirn. „Verstehe! Dann sagen wir den Angehörigen zunächst mal noch nichts, bevor wir keine Gewissheit haben.“

Toni ergänzte: „Wir sollten dann vielleicht auch erstmal die Obduktion abwarten.“

Sarah Steinmann schaute sich um. „Wo bleibt denn eigentlich die Rechtsmedizin?“

Wenige Minuten später traf Dr. Elmer ein. In Spurensicherungskleidung gewandet besichtigte er zunächst den Fundort, um dann in der Hocke und im Entengang um den Leichnam herumzueilen. Währenddessen griff er zielstrebig mit der Pinzette nach Insekten und bugsierte sie in kleine Fläschchen. Es war eine mühsame Tätigkeit, denn einige von ihnen schafften es immer wieder zu flüchten. Sarah Steinmann schmunzelte und zeigte auf die vielen Glasbehältnisse, in denen die Insekten hektisch nach dem Ausgang suchten. „Ich nehme mal an, Sie wollen mit den Tierchen den Todeszeitpunkt bestimmen oder eingrenzen?“

Dr. Elmer packte vorsichtig die Gläser ein. „Ganz genau! Ich denke, die Bestimmung der Todeszeit anhand von Temperaturmessungen dürfte aussichtslos ein.“ Er deutete Richtung Leichnam. „Aber ich will nichts unversucht lassen. Anhand des Wachstums der Insekten können einige Biologen bestimmen, wie alt diese Tierchen sind. Das gibt uns zumindest einen ungefähren Anhaltspunkt, wie lange der Leichnam schon hier liegt.“

„Dann drücke ich uns mal die Daumen, dass es funktioniert.“

Dr. Elmer nickte zustimmend, aber er hatte sich schon wieder abgewandt, um sich die Leiche näher anzuschauen.

Westhoven und Dember bestellten die beiden Spaziergänger, die die Leiche gefunden hatten, zur Befragung ins Präsidium, während Toni zur Rechtsmedizin fuhr. Sie traf nahezu zeitgleich mit Staatsanwältin Sarah Steinmann auf dem Parkplatz der Rechtsmedizin am Melatengürtel ein. Gemeinsam standen sie nun vor dem beschilderten Lieferanteneingang und warteten darauf, dass sie jemand hereinließ.

„Und?“, fragte Sarah Steinmann und vergrub ihre Hände tief in den Manteltaschen. „Was denken Sie, was mit der jungen Frau passiert ist?“ Toni verzog das Gesicht. „Na, was soll schon mit ihr passiert sein? Sie haben den Tatort doch mit eigenen Augen gesehen. Das sah doch nun wirklich nicht aus wie ein natürlicher Tod! Hätte ich auch nicht gedacht. Nein, das arme Ding ist brutal vergewaltigt und dann umgebracht worden. Wahlweise auch umgekehrt. Es gibt ja genug Perverse, die auch auf so was stehen.“

Sarah Steinmann hob beschwichtigend die Hände. „Schon gut, schon gut! Das war ja auch mein erster Gedanke. Hoffen wir, dass wir dieses perverse Schwein kriegen und für immer wegsperren können.“

„Vielleicht waren es auch mehrere“, murmelte Toni.

„Was?“

„Nun, wir haben keine Anhaltspunkte, ob hier einer allein oder vielleicht sogar mehrere beteiligt sind. Und für immer wegsperren ist ja wohl bei unserer Justiz auch nicht an der Tagesordnung.“

„Wie meinen Sie das?“

„Na, für immer wegsperren! Am Ende verdreht sowieso wieder so ein schmieriger Anwalt die Fakten und im schlimmsten Fall war sie es auch noch selbst schuld. War zu aufreizend angezogen oder so ein Scheiß. Oder es war nur eine Körperverletzung mit Todesfolge oder es gab mal wieder schuldmindernde Aspekte, weil der Täter traumatisch belastet war und nicht anders konnte. Wäre ja wohl auch nicht das erste Mal. Oder, oder, oder!“ Toni hätte noch mindestens eine Handvoll Beispiele hierfür liefern können. Die Staatsanwältin seufzte. „Schnappen wir doch erstmal den Täter, drehen ihn durch die Mangel und dann gucken wir weiter. Ist ja schließlich nicht der erste Fall für uns, wo wir jemanden mit der besonderen Schwere der Schuld versenkt haben.“

Toni grinste schief. „Nichts für ungut, ich meine Sie ja gar nicht persönlich. Sorry!“

Sarah Steinmann wollte gerade etwas darauf erwidern, als die Tür von Präparator Pahl geöffnet wurde. „Ah, das ist gut, da brauche ich nicht zweimal zur Tür laufen. Kommen Sie rein. Es ist angerichtet.“ Überschwänglich winkte er mit beiden Armen wie ein Parkplatzeinweiser in Richtung Sektionssaal.

„Pahl!“, schnaubte Toni. „Tu mir bitte den Gefallen und mach heute keine abfälligen Bemerkungen oder Witze über die Tote.“

„Also, Toni …!“

Toni Krogmann hob die Hand. „Bitte! Heute nicht! Mir ist absolut nicht nach Scherzen zumute.“

Pahl, der für seine makabren Äußerungen schon über die Stadtgrenzen hinaus bekannt war, fiel es zwar außerordentlich schwer, der Bitte nachzukommen, aber er willigte grummelnd ein.

Im Sektionssaal roch es trotz der eingeschalteten Lüftung ziemlich streng nach Verwesung. Sarah Steinmanns und Toni Krogmanns Blicke fielen sofort auf die stark fäulnisveränderte Leiche, die auf dem kalten, stählernen Tisch lag. Ihr Kopf, oder vielmehr, was davon noch übrig war, hing nur noch an Hautfetzen, so dass man ihn in alle Richtungen hätte bewegen können. Der entsetzliche Anblick erinnerte an eine der vielen Serien, in denen der „Zombievirus“ ausgebrochen war. Der schwarze Rock der Toten war bis über die Hüften nach oben geschoben, während die zerrissene Netzstrumpfhose und der String-Tanga bis auf die Knie heruntergezogen waren. Der penetrante Geruch der lehmverdreckten und mit Fäulnisflüssigkeit durchtränkten Kleidung war ekelerregend. An der ehemals hellen Bluse fehlten die Knöpfe. Als Dr. Elmer mit spitzen Fingern die Bluse ausgezogen hatte, sah man darunter mehrere faustgroße, zerfetzte Hautdurchtrennungen. Nachdem er weiter die bis zu 40 cm langen, filzartigen Haare zur Seite geschoben hatte, kam eine goldfarbene Kreole im rechten Ohr zum Vorschein. Danach hob er die Haare noch weiter an, woraufhin eine Ansammlung von tausenden schwärzlichen Insekten auf einem 2-Euro-Stück großen Areal im Nacken sichtbar wurden.

„Meine Damen, schauen Sie hier.“ Dr. Elmer zeigte auf die leeren Augenhöhlen und das skelettierte Nasenbein. „Die Glaskörper fehlen komplett und das Nasenbein ist regelrecht zertrümmert.“

„Wie kommt so etwas zustande?“, fragte Toni Krogmann.

„Nun ja, da die Tote auf weichem Untergrund gefunden wurde, nehme ich mal nicht an, dass das beim Sturz geschehen ist. Dafür ist die Trümmerung viel zu ausgeprägt. Vielmehr gehe ich davon aus, dass ihr jemand entweder kräftig mehrmals mit der Faust oder einem harten Gegenstand ins Gesicht geschlagen hat. Vielleicht können wir nach der feingeweblichen Untersuchung mehr dazu sagen, wobei ich denke, dass es ein harter Gegenstand gewesen sein dürfte. Immerhin fehlen ja auch ein paar Zähne im Ober- und Unterkiefer.“

„Könnten die denn nicht einfach rausgefallen sein im Rahmen der Zersetzung?“, hakte Toni nach.

„Nö, dann hätten Sie die Zähne ja bestimmt auf der Klebeseite des Panzerbandes gefunden. Die Zähne fehlten schon vor dem Zukleben des Mundes – ganz sicher!“

Am Ende der äußeren Besichtigung diktierte Dr. Elmer fürs Gutachten, dass der gesamte Körper mit wie Madenfraß anmutenden Gewebsdefekten übersät war. „Nächster Absatz. Innere Besichtigung.“

Dr. Elmer eröffnete mit dem Skalpell gekonnt den Brustkorb, beziehungsweise, was davon noch übrig war. Ein extrem übler Gestank von Verwesung schwängerte augenblicklich die Luft um den Sektionstisch herum. Die Anwesenden pressten reflexartig die Lippen aufeinander. Nachdem er mit der Rippenschere einen Teil des maroden Brustkorbs entfernt hatte, diktierte Dr. Elmer weiter: „Unter der fettwachsartigen Brusthaut ist deutlich die gelbliche und bröckelige Fettschicht zu erkennen. Sämtliche Organe sind nur noch ansatzweise vorhanden, dafür aber gut 200 ml einer glitschigen, mit Insekten gutsituierten Flüssigkeit. Die rückwärtigen Partien sind großflächig eröffnet und vereinzelt finden sich der gemeine Totengräber Necrophorus Vespillo und weitere nicht mehr identifizierbare Insekten, so wie sie auch zahlreich am Fundort vorhanden waren und gesichert wurden. Das in Ansätzen noch vorhandene Herz scheint intakt.“

Während Dr. Elmer durchatmete, beugte sich Sarah Steinmann vor und inspizierte das Gewebe am rechten Handgelenk. „Was ist das Glitzernde da?“

Dr. Elmer hob den Unterarm an und vergrößerte die Stelle mit einer Lupe. „Das sieht aus wie der Rest von so einem Freundschaftsarmband oder so was in der Art.“ Mit einer Pinzette zog er den winzigen Rest aus der ledrigen Haut und übergab ihn zur Asservierung an den Präparator Pahl.

Nach gut drei Stunden war die Sektion vorbei. Während Pahl den Leichnam, so gut es eben ging, wieder zunähte, diktierte Dr. Elmer sein vorläufiges Ergebnis: „Am Leichnam der jungen Frau finden sich ausgedehnte Verwesungs- und Tierfraßzeichen. Nach Angaben der Kriminalpolizei sei die Leiche im unwegsamen Gelände von Spaziergängern gefunden worden, deren Hunde angeschlagen haben. Weiter waren beide Arme gefesselt. Todesursächlich dürften die Durchstechungen im Rücken im Bereich der Lunge gewesen sein. Zumindest sind auffällige Areale trotz der fortgeschrittenen Verwesung zu erkennen. Die Lungen sind nur noch teilweise vorhanden, aber aufgrund der Beschaffenheit ist ein Pneumothorax nicht gänzlich auszuschließen. Darüber hinaus dürfte starkes Verbluten nach innen und außen ebenfalls todesursächlich gewesen sein, also zentrales Regulationsversagen. Von einem nicht natürlichen Tod ist auszugehen. Die diagnostizierten Verletzungen sind definitiv nicht mit dem Weiterleben vereinbar gewesen.“

„Was ist denn mit den Verletzungen im Gesicht? Waren die eventuell auch todesursächlich?“, wollte die Staatsanwältin wissen. Dr. Elmer schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe nach der Schädeleröffnung keine Hinweise auf ein subdurales oder epidurales Hämatom feststellen können. Sie ist vermutlich durch die massive stumpfe Gewalteinwirkung vor Schmerzen bewusstlos geworden, was sogar sehr wahrscheinlich ist, aber daran ist sie ganz sicher nicht gestorben.“

„Na, für mich spricht das dann aber eher für einen Einzeltäter, der sein Opfer gefügig machen wollte“, kommentierte Toni. „Ich meine, wenn es mehrere gewesen wären, hätte man sie doch einfach festhalten können, ohne ihr die Nase zu zerdeppern und die Zähne auszuschlagen, oder?“ Sarah Steinmann antwortete: „Das kann schon sein, aber ich möchte nicht, dass wir uns zu früh an einer möglichen Theorie festklammern und uns so selbst bei den Ermittlungen behindern.“ Sie wandte sich an Dr. Elmer: „Welche Aufträge benötigen Sie noch, was schlagen Sie vor?“ „Im Grunde das volle Programm, DNA, Blutalkoholuntersuchung und eine chemisch-toxische Analyse. Ich habe hierzu Muskelgewebe und Teile der noch vorhandenen inneren Organe einbehalten und asserviert.“

„Auftrag erteilt! Und es wäre schön, wenn das zuerst erledigt würde und das abschließende Gutachten alsbald auf meinem Schreibtisch läge. Ginge das?“

„Kein Problem, Frau Steinmann. Ordnen Sie dann auch bitte noch das Mazerieren2