Puzzlemord - Bernhard Hatterscheidt - E-Book

Puzzlemord E-Book

Bernhard Hatterscheidt

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Beschreibung

Auf der Kriminalwache in Kalk herrscht in dieser heißen Sommernacht Hochbetrieb, als die Meldung hereinkommt, dass ein junges Pärchen im Pyramidenpark in Deutz schwarze Müllsäcke mit Leichenteilen gefunden hat. Tatsächlich findet die Kriminalwache zwei Arme und einen Torso. Bald tauchen weitere Körperteile auf. Die Bevölkerung ist beunruhigt und die Boulevardpresse titelt reißerisch: "Puzzlemord in Deutz - Kopflose Leiche!" Kriminalhauptkommissar Westhoven und sein Team nehmen die Ermittlungen auf und machen bald eine weitere grausige Entdeckung. Außerdem beschäftigt nicht nur Westhoven ein alter Fall: ein bestialischer Doppelmord an einem Renterpaar, das im Vorjahr in einer Villa der noblen Leverkusener Waldsiedlung getötet wurde.

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Puzzlemord in Deutz

Ein KRIMINAListenROMANvonBernhard Hatterscheidt

Impressum

Math. Lempertz GmbH

Hauptstraße 354

53639 Königswinter

Tel.: 02223 / 90 00 36

Fax: 02223 / 90 00 38

[email protected]

www.edition-lempertz.de

Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus zu vervielfältigen oder auf Datenträger aufzuzeichnen.

1. Auflage – Oktober 2015

© 2015 Mathias Lempertz GmbH

Text: Bernhard Hatterscheidt

www.kriminalistenroman.de

[email protected]

www.facebook.com/kriminalistenroman

Die kostenlose App zum KRIMINAListenROMAN im Google Play Store: https://play.google.com/store

Umschlaggestaltung: Ralph Handmann

Lektorat: Laura Liebeskind-Weiland, Alina Groß

Titelbild: fotolia

ISBN: 978-3- 945152-57-7

Bernhard Hatterscheidt wurde 1965 in Essen geboren und ist seit 1982 Polizeibeamter. Nach Jahren im Streifendienst und der sog. Einsatzhundertschaft kam er 1996 nach der Ausbildung zum Kriminalkommissar zur Kölner Mordkommission. Anschließend war er sieben Jahre lang, bis 2010, enger Mitarbeiter des Leiters der Kölner Kriminalpolizei. Heute bearbeitet er Beamten- und Korruptionsdelikte.

Vorwort

Dieser Roman beruht auf Tatsachen. Die Ermittlungen und Vernehmungen orientieren sich an der Wirklichkeit des kriminalpolizeilichen Alltags. Keine der genannten Personen ist so existent, es sei denn, es wurde ausdrücklich gewünscht. Namensähnlichkeiten sind daher zufällig. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Geschehnissen sowie mit lebenden oder verstorbenen Personen ist aber nicht immer rein zufällig.

Der Roman soll vor allem ein KRIMINAListenROMAN sein, der sich an der kriminalpolizeilichen Wirklichkeit orientiert. Deshalb sind einige Textpassagen bewusst protokollartig verfasst.

Meinen treuen Leserinnen und Lesernund denen, die es vielleicht noch werden!

Dienstag, Sommerzeit

Vor einigen Stunden hatten Tim und Anni es sich auf einer Picknickdecke gemütlich gemacht. Nun lagen sie Arm in Arm auf dem Rücken und schauten in den klaren Sternenhimmel, während ihre leeren Sektgläser umgekippt neben benutzten Papptellern im Gras verstreut waren. Gerade im Dunkeln hatte der Pyramidenpark etwas Mystisches. In solch heißen Sommernächten war es besonders schön in diesem außergewöhnlichen Park. Vom Dach der Pyramide aus genoss man einen tollen Ausblick auf die Umgebung.

Seit ein paar Monaten waren Tim und Anni nun ein Liebespaar. Sie hatten sich in der benachbarten Fachhochschule auf einer Feier kennengelernt und sich immer wieder verliebte Blicke zugeworfen, bis Tim endlich den Mut gefasst und sie angesprochen hatte. Seit diesem Abend verbrachten sie so viel Zeit miteinander, wie sie konnten. Sogar von einer gemeinsamen Zukunft war schon die Rede und eine Verlobungsfeier schien in greifbarer Nähe. Wäre Anni seinerzeit nicht von ihrer Freundin überredet worden, zu dieser Feier zu gehen, hätte sie Tim vermutlich nie getroffen, denn sie studierte im letzten Semester Medizin an der Universität zu Köln. In einem halben Jahr würde die dann 26-Jährige in ihrem Traumberuf arbeiten können und nebenher ihren Facharzt machen.

Tim löste sich sanft aus der Umarmung, strich über ihr zartes Gesicht und schwärmte von ihren strahlend blauen Augen, ihrem süßen Lächeln und ihrer attraktiven Figur. Anni saugte jedes Wort in sich auf und war glücklich. Ineinander verschlungen blieben sie noch eine Weile liegen, bis Tim sich abermals zaghaft aus ihrer Umarmung löste.

„Ich muss mal für kleine Jungs, bin gleich wieder da, Süße“, flüsterte er ihr zu und gab ihr einen Kuss, bevor er im nahegelegenen Gebüsch verschwand.

Kurze Zeit später zog er den Reißverschluss seiner Hose hoch und stolperte beim Verlassen des Buschwerks unsanft über einen schwarzen Plastiksack, welcher halb verdeckt unter einem Strauch hervorschaute. Spitze Astenden stachen Tim ins Gesicht. Aus Verärgerung über seinen Beinahe-Sturz trat er so fest gegen den Sack, dass dadurch die Hülle einriss. Augenblicklich stieg ein entsetzlicher Gestank in seine Nase. Der süßlich-eklige Geruch breitete sich sekundenschnell um ihn herum aus. Um nicht noch einen Atemzug davon in die Lunge zu bekommen, rannte Tim eilig aus dem Gebüsch. Anni schreckte hoch und runzelte überrascht die Stirn. „Was ist los, hast du ein Gespenst gesehen? Oder hast du jemanden gestört?“ Sie grinste ihn an.

„Von wegen, da stinkt‘s wie die Pest! Ich bin über so einen blöden Sack gestolpert. Baah, ich krieg diesen Gestank nicht aus der Nase.“ Tim verzog angewidert das Gesicht und zupfte an seinem T-Shirt. „Das sitzt mir sogar in den Klamotten.“

Anni roch an ihm und rümpfte die Nase. „Das riecht aber wirklich streng. Komm, das muss ich mir mal ansehen. Wer weiß, was da drin ist! Tagsüber sind doch auch Kinder hier im Park.“

„Schatz, ich muss da jetzt ehrlich gesagt nicht noch mal hin. Mir ist schon schlecht.“

Anni ließ sich nicht beirren. Schnurstracks ging sie zu dem Gebüsch, aus dem Tim herausgeeilt war. Die genaue Stelle war nicht zu verfehlen; die Luft war von dem gleichen Gestank geschwängert wie das T-Shirt von Tim. Nur roch es hier noch viel intensiver. Mit jedem Atemzug legte sich der Geruch wie ein Pelz auf Annis Zunge. Trotz des Ekels kramte sie ihr Smartphone hervor und aktivierte die Taschenlampen-App. Mit der linken Hand schob sie ein paar Sträucher zur Seite. Der grelle Lichtschein wurde von dem schwarzen Plastiksack reflektiert. Tim, der nun neben ihr stand und sich die Nase zuhielt, bewegte sich auf den Sack zu und versuchte, ihn aufzustellen. Er hatte große Mühe und musste nun beide Hände dazu benutzen.

„Anni! Ich kotz gleich! Das stinkt wie Sau!“ Der Würgereiz wurde immer stärker.

„Komm schon, jetzt will ich auch wissen, was hier irgend so ein Arsch hingeworfen hat. Zieh die Tüte oben mal auf und ich leuchte hinein.“

Tim zog mit den Fingerspitzen die Tüte auf und drehte sich angewidert weg – der faulige Gestank hüllte ihn augenblicklich ein. Würgend blaffte er Anni an: „Dann mach schon!“

Einen Sekundenbruchteil später zuckte Tim zusammen. Mit diesem grellen Aufschrei seiner Freundin hatte er nicht gerechnet. Geistesgegenwärtig drehte er sich um und sah im Lichtschein einen blutverschmierten Torso in dem Plastiksack liegen. Unzählige Fleischfliegen flogen laut brummend aus der Tüte heraus und steuerten nun auch auf Anni und Tim zu.

Keine zehn Minuten später erhellten blitzende Blaulichter den Park.

Dienstag – 3.00 Uhr nachts

Die Mitglieder der Mordkommission 6 trafen kurz nacheinander im Präsidium in Köln-Kalk auf ihrer Dienststelle des Kriminalkommissariates 11 (KK 11) ein. Da war zum einen Paul Westhoven, 50 Jahre alt, in zweiter Ehe mit Anne verheiratet, eine Tochter aus erster Ehe, Kriminalhauptkommissar (KHK) und Leiter dieser Kommission. Zum anderen gab es Kriminalhauptkommissarin (KHKin) Toni Krogmann, jenseits der 40, ein gebürtiges Hamburger Nordlicht, die mit ihrer Kollegin Laura zusammen war. Kriminalkommissar (KK) Heinz Dember, knapp über 30, mit der Rechtsmedizinerin Doris Dember verheiratet, kürzlich Vater eines Sohnes geworden, erschien gegen 03.00 Uhr mal wieder als Letzter auf der Dienststelle. Mit seiner gelben Zipp-off-Hose und seinem am Körper klebenden Muskelshirt mit Sponge Bob-Aufdruck sah er aus, als käme er frisch vom Ballermann. Angesichts seiner Kleidung hatte er Westhovens ungeteilte Aufmerksamkeit. „Oh Mann, Dember! Du wirst dich wohl nie ändern. Habt ihr zuhause keinen Spiegel? So willst du nicht ernsthaft mit uns zum Fundort fahren?“ Kopfschüttelnd betrachtete er Dember, wobei er sich ein Lachen kaum verkneifen konnte.

„Sorry! Der Kleine hat wieder Blähungen, ich habe bis jetzt kein Auge zugetan. Habe mich schnell in die Klamotten hier geworfen und bin direkt hierher.“

Toni musterte ihn von oben bis unten und grinste breit.

„Wirklich!“, betonte Dember mit Nachdruck. Westhoven verdrehte die Augen und winkte ab. „Ja, ist ja schon gut.“

Dember fuhr sich grinsend mit den Fingern durch seine klitschigen Haare und schüttelte den Kopf wie nach einer Dusche. „Ich ziehe mich direkt um. Für solche Notfälle habe ich doch immer Kleidung zum Wechseln im Büro. Man weiß ja nie, wozu die mal gut ist. Wo geht’s denn eigentlich hin? Willi Schuster hat nämlich nur gesagt, dass in einem Park eine Tüte mit Leichenteilen gefunden wurde.“

„Wir müssen zum Pyramidenpark! Die Kollegen von der K-Wache warten schon auf uns. Also beeil dich ein bisschen!“

Dember schaute ihn gespielt ungläubig an. „Pyramiden-Was? Äh… mir hat keiner gesagt, dass ich meinen Reisepass mitbringen soll. Woher soll ich denn bitteschön wissen, dass unsere Zuständigkeit plötzlich bis nach Ägypten geht?“

Toni prustete lauthals los. „Muss ich dir als Hamburger Deern etwa erklären, wo der Pyramidenpark ist?“

„Wieso weißt du das denn? Na, schieß los, ich bin ganz Ohr, Toni.“ Dember blickte seine Bürokollegin erwartungsvoll an.

„Also schön! Dann gebe ich dir mal einen kurzen Exkurs, wie aus einem Straßenbahndepot der Pyramidenpark wurde.“

Westhoven, der auch erst seit dieser Nacht wusste, dass der Park quasi in Sichtweite des Präsidiums in Deutz lag, hörte ebenfalls gespannt zu.

„Also, der Park grenzt an den Großparkplatz neben dem Trainingszentrum der Kölner Haie. Das weißt du ja wohl, wo das ist. Wenn man es nicht weiß, dann fällt einem tatsächlich die langgestreckte Rasenpyramide nicht auf. Im Vorbeifahren sieht man nur einen Hügel. Jedenfalls verläuft unterhalb der Pyramide der gerade Hauptweg, daneben parallel ein Bahngleis, das an einem Prellbock endet. Sozusagen als Blick in die Vergangenheit auf das ehemalige Straßenbahndepot der KVB auf diesem Gelände. So, jetzt seid ihr im Bilde.“

Dember nickte nachdenklich. „Danke, Toni. Nur für mich zur Beruhigung! Jetzt bin ich schon gefühlt eine Million Mal daran vorbeigefahren. Wie lange gibt’s denn den Park schon?“

Sie grinste ihn an. „Ach, erst schlappe 10 Jahre! Der Park wurde im Jahr der Euro-Einführung eröffnet. Zur Erinnerung an die alten europäischen Währungen sind auf dem Hauptweg sogar Platten mit Lire, Francs, Gulden und dem Münzgeld der anderen Länder eingelassen. Werdet ihr dann ja gleich sehen können. Zufrieden jetzt?“

„Ja, fast! Eins noch, Toni – wieso weißt du sowas?“

„Städtereisen waren schon immer mein Hobby. Erst recht, wo ich doch in dieser schönen Stadt mein Zuhause gefunden habe. Geh doch gleich zu Fuß rüber, sind ja nur schlappe 300 bis 400 Meter. Vom Geschäftszimmer aus kannst du die Pyramide fast sehen.“

Dember zog eine Grimasse und blickte verstohlen aus dem Fenster.

***

Trotz der geringen Entfernung bis zum Fundort fuhren die Ermittler mit zwei Fahrzeugen dorthin. Da Willi Schuster ihnen mitgeteilt hatte, dass man am besten über den Parkplatz neben dem Trainingscenter dorthin gelangen könnte, nahmen sie den Weg über die Gummersbacher Straße und bogen wenig später hinter der Bahnüberführung nach links ab. Auf dem Parkplatz standen zwei Streifenwagen, um die bereits das Flatterband zur Absperrung gespannt war. Das Blaulicht war eingeschaltet, wodurch die Gesichter der Journalisten immer wieder in blaues flackerndes Licht getaucht wurden. Westhoven parkte direkt vor den Fahrzeugen, Toni unmittelbar dahinter. Ohne auf die drängenden Fragen des EXPRESS-Reporters Dirk Holm zu reagieren, begaben sich alle drei zunächst hinter die Absperrung. Ein Beamter der Kriminalwache kam auf sie zu. „Guten Morgen! KK 11, nehme ich an?“

„Genau“, antwortete Westhoven. „Ist der Erkennungsdienst noch nicht da oder stehen die mit ihrem Wagen auf der anderen Seite des Parks?“

„Die sind noch nicht da. Soll ich denn trotzdem schon mal berichten, was wir hier haben?“

Westhoven machte eine ungeduldige Handbewegung, die nichts anderes bedeutete, als dass der Kollege endlich erzählen sollte. Daraufhin berichtete der junge Kollege sichtlich beeindruckt von der Alarmierung bis zur Inaugenscheinnahme der Plastiktüte und redete dabei wie ein Wasserfall. „Ich habe so etwas noch nie gesehen! Jedenfalls nicht in echt. Das kenne ich nur aus dem Kriminalistikunterricht. Aber da haben die Bilder nicht so gestunken wie dieser Torso ohne Kopf und ohne Arme!“ Er atmete kurz durch. „Der junge Mann dahinten mit seiner Freundin – die haben den schwarzen Plastiksack gefunden. Tim Dornhöfer und Anni Holz.“

Westhoven fragte: „Wo lag denn der Sack?“

Der Kollege drehte sich um, zeigte auf den Fußweg, der zwischen dem niedrigen Buschwerk vom Parkplatz aus in den Park führte. „Da vorne, rechts vom Weg im Gebüsch. Wenn ich das vorhin richtig verstanden habe, dann musste er mal, ist dazu ins Gebüsch gegangen und dann dort über den Sack gestolpert. Und weil das so gestunken hat, haben die beiden nachgeschaut. Das ist die Kurzversion. Ich schreibe euch natürlich einen ausführlichen Bericht.“

„Habt ihr euch denn schon mal grob umgesehen, ob hier im Park oder in der näheren Umgebung noch mehr Plastiksäcke mit Leichenteilen herumstehen oder -liegen?“, hakte Westhoven nach.

„Ehrlich gesagt nicht. Dafür waren wir einfach nicht genug Leute hier. Du siehst ja selbst, was hier los ist. Wenn wir uns hier wegbewegt hätten, dann hätten die Journalisten hundertprozentig die Absperrung ignoriert.“

Westhoven wusste, dass sein Kollege damit wohl richtig lag. Insbesondere sein Spezialfreund Dirk Holm vom EXPRESS hätte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.

„Haben wir denn noch mehr Zeugen außer den beiden?“

Kopfschütteln. „Nein, waren wohl die einzigen, die um diese Uhrzeit noch im Park waren.“

Dember meldete sich zu Wort: „Hier ist es auf jeden Fall angenehmer als bei mir zu Hause. Bei den Temperaturen kann doch kein Mensch schlafen. In unserem Schlafzimmer ist es so heiß wie in einer Sauna. Es kühlt kein bisschen runter.“

Toni frotzelte: „Wenn wir hier fertig sind, kannst du dich ja zum Schlafen in den Park legen, du armer gestresster Papi.“ Sie erntete nur einen missbilligenden Blick ihres Kollegen.

Westhoven zog sich einen Spurensicherungsanzug über und ließ sich danach von dem Kollegen der Kriminalwache zum Fundort führen. Sein Team kümmerte sich auf seine Anweisung hin um die Zeugen. Als er direkt neben dem Sack stand, bohrte sich der Gestank bis in seine Lungen. Wie an jedem neuen Tatort schloss er die Augen und ließ die Umgebung auf sich wirken.

Währenddessen trafen nun auch Michael Drees von der Spurensicherung und der Fotograf ein. Nachdem sie ebenfalls Spurensicherungsanzüge und Schuhüberzieher angelegt hatten, begaben sie sich zum Kollegen der Kriminalwache, der noch immer an der Stelle auf dem Weg stand, wo Westhoven ins Gebüsch verschwunden war. Drees konnte sich einen lockeren Spruch nicht verkneifen: „Paul kommuniziert wohl wieder mit dem Opfer. Macht er immer so. Das dauert ein paar Minuten. Stören wir ihn nicht, dann geht‘s schneller.“

Der junge Kollege räusperte sich. „Ähem. Das dürfte schwierig werden. Der Kopf fehlt.“

Westhoven hörte gedämpft die Stimmen seiner Kollegen und wusste ganz genau, dass Drees ihn gleich antreiben würde, damit er mit der Spurensicherung beginnen konnte. Trotzdem nahm er sich den Moment. Er spürte auf der Haut die leichte Kühle, die in diesem Buschwerk herrschte. Viel mehr aber spürte er, wie süßlich-fauliger Gestank von Verwesung den Weg in seine Lungen fand. Er war froh, dass er den Spurensicherungsanzug trug, auch wenn dieser durch seine Beschaffenheit schweißtreibend wirkte. Immer noch besser, als wenn sich der Gestank wieder in seiner Kleidung festsetzte! Seine Gedanken schweiften einige Jahre zurück, als er bei ähnlich heißen Temperaturen zu einem Suizid in ein einsam gelegenes Waldstück hatte fahren müssen. Dort hatte sich ein junger Mann aufgehängt, der seit mehreren Tagen als vermisst gemeldet war. In einem geschätzten Umkreis von rund 30 Metern war zu jener Zeit die Luft von Verwesung geschwängert gewesen. Westhoven erinnerte sich an geradezu bestialischen Gestank. Er erinnerte sich außerdem daran, wie sich der Geruch erst in seiner Nase festgesetzt und dann unweigerlich als Geschmack klebrig auf seine Zunge gelegt hatte, von den luftdurchtränkten Klamotten ganz zu schweigen. Westhoven stand augenblicklich wieder das Bild des verwesenden Leichnams vor Augen. Da war dieser durch das eigene Körpergewicht extrem lang gedehnte Hals. Mit Fliegenmaden übersäte Augenhöhlen, auf den Boden tropfende Fäulnisflüssigkeit. Bei jeder Annäherung an den Leichnam waren kleine schwarze und große Kaisergoldfliegen wirr umhergeschwirrt. An der Brust des Toten war ein Zettel mit nur einem Wort befestigt: Nichtsnutz! Ein trauriges Ende für ein so junges Leben.

Als sie die Leiche später zusammen mit dem Bestattungsunternehmen vom Strick abschnitten, ertönte aus deren Mund noch ein lautes gurgelndes Geräusch, das wie aus einer Geisterbahn klang. Als der Todesermittler später mit der Straßenbahn nach Hause gefahren war – damals nutzte er noch sein Jobticket –, hatte er viel Platz in der überfüllten Straßenbahn gehabt. Leute, die sich zunächst freudig auf den leeren Sitz neben ihn gesetzt hatten, waren kurz danach eilig wieder aufgestanden. Bestimmt hatten sie ihn damals für einen ungewaschenen Obdachlosen gehalten, der in der klimatisierten Bahn ein wenig durch die Stadt fuhr. Was hätte er denn zu den Mitfahrenden sagen sollen, die ihre Nase rümpften und grimmig dreinschauten? Entschuldigen Sie bitte, dass ich so stinke, aber ich bin Todesermittler und kann auch nichts dafür, dass der Geruch der verwesenden Leiche von heute Morgen so nachhaltig penetrant in meinen Klamotten sitzt?

Nun stand Westhoven abermals in unmittelbarer Nähe des Fundortes einer verwesenden Leiche und schmeckte auch diesmal den Geruch auf der Zunge. Er war zwar nicht so penetrant wie damals, aber ihm reichte es. Trotzdem warf er noch einen Blick in den schwarzen Plastiksack, bevor er das Dickicht verließ. Neben dem Torso sah er deutlich sichtbar die Arme, beide ohne Hände, am oberen Ende die blanken Schultergelenkskugeln. Nachdem die Luft um ihn herum wieder frisch war, wünschte er Drees mit hämischem Zungenschlag viel Spaß bei der Arbeit. Was dieser in sich hineinmurmelte, konnte Westhoven nicht mehr hören, denn er war auf dem Weg zu Dember und Toni, die bereits die ersten Angaben des Finderpärchens aufnahmen. Die beiden wirkten immer noch wie gelähmt. Er stellte sich daneben und hörte zu, wie der junge Mann vom Fund des Sacks berichtete. Dember fragte nach: „Haben Sie während Ihres Aufenthalts hier im Park irgendwelche verdächtigen Fahrzeuge oder Personen gesehen?“

Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Ehrlich gesagt, nicht. Und was ist eigentlich ein verdächtiges Fahrzeug?“

„Waren Sie gestern auch schon hier im Pyramidenpark?“

„Ja, aber nur kurz. Ich bin mit meiner Freundin nach dem Abendessen noch ein bisschen spazieren gewesen. Da sind wir auch durch den Park hier gegangen.“

„Herr Dornhöfer, wir müssen Ihre Aussage nachher noch in einer Zeugenvernehmung zu Protokoll bringen. Bleiben Sie also bitte noch hier. Ich sage Ihnen dann Bescheid, okay?“

Tim Dornhöfer nickte, ging ein paar Schritte und setzte sich dann erschüttert auf die Picknickdecke. Seine Freundin Anni war noch im Gespräch mit Toni Krogmann.

Westhoven erteilte Dember den Auftrag, zusammen mit Drees und den anderen Kollegen des Erkennungsdienstes die Tatortaufnahme durchzuführen. Danach stellte er sich zur Befragung von Anni Holz und hörte zu. Er bekam im Grunde nur noch den Schluss mit und dieser deckte sich mit den Angaben von Tim Dornhöfer. Sie ergänzte lediglich, dass sie als Medizinerin schließlich sofort erkannt habe, dass es sich tatsächlich um einen menschlichen Torso handelte. Die junge Frau setzte sich danach zu ihrem Freund. Sie legten die Arme umeinander und spendeten sich auf diese Weise Trost. Zwischenzeitlich waren auch Prof. Dr. Dotzinger von der Rechtsmedizin und Staatsanwältin Sarah Steinmann eingetroffen. Westhoven informierte sie über den Fall und deutete dabei auf das Gebüsch, in dem Drees und Dember in weißen Anzügen und mit aufgezogenen Kapuzen miteinander sprachen. Sarah Steinmann, die noch immer relativ neu in der Kapitalabteilung war, kannte zerstückelte Leichen bisher nur aus den Altakten oder aus Horrorfilmen. Sie konnte es kaum erwarten, endlich den Spurensicherungsanzug und die blauen Schuhüberzieher anzuziehen und den schwarzen Plastiksack in Augenschein zu nehmen. Schnell streifte sie den Papieranzug über ihre helle Leinenhose und behielt ihre flachen Ballerinas dabei an. Noch während des Gehens zog sie die Schuhüberzieher an und verschwand zu Drees und Dember ins Gebüsch.

„Hallo, ihr beiden! Kann ich mal einen Blick in den Sack riskieren?“ Ihre Frage klang nicht wirklich wie eine Bitte, sondern vielmehr nach einem „Lasst mich mal gucken!“ Die beiden Ermittler hielten ihr die Tüte hin und Sarah Steinmann zog sie an ihrer Seite noch ein Stück weiter auf. „Puh, das ist ja sogar für mich eklig! Wer das wohl gemacht hat?“

Dember antwortete ihr: „Na, wer wohl, Sarah? Ein Perverser, wer sonst!“

„Wissen wir schon irgendetwas über das Opfer?“

Drees verneinte. „Einen Ausweis haben wir bislang nicht gefunden. Und ehrlich gesagt wird die Identifizierung auch schwierig werden: Immerhin fehlen alle Körperteile, die für uns sonst bei einer Identifikation hilfreich sind. Fingerabdrücke gibt´s keine und ein Zahnschema können wir auch vergessen.“

„Jetzt malt mal nicht den Teufel an die Wand, ihr zwei Hübschen. Vielleicht finden wir die fehlenden Körperteile ja noch. Die müssen ja schließlich auch noch irgendwo sein. Außerdem haben wir immer noch die Möglichkeit einer Identifizierung über die DAD1. Mit ein bisschen Glück hat das Bundeskriminalamt was über ihn. Was ist mit der Vermisstenstelle? Habt ihr da schon gefragt?“

Dember entgegnete: „Liebste Sarah, wir sind gerade mal 20 Minuten länger hier als du. Frage beantwortet?“

„Ja, ja. Hab verstanden. Ich geh dann mal, ihr macht das schon.“ Beim Verlassen des Gebüschs drängte sie sich an Prof. Dr. Dotzinger vorbei, der ihr auf dem engen Trampelpfad entgegenkam.

„Ach, Herr Professor!?“

Dotzinger drehte sich um. „Ja?“

„Vielleicht könnten Sie mir gleich schon was zur Liegezeit sagen?“ Sie bedachte ihn mit einem reizenden Augenaufschlag.

„Mittlerweile sollten Sie wissen, wie ich arbeite, Frau Staatsanwältin. Das fragen Sie mich jedes Mal und jedes Mal bekommen Sie die gleiche Antwort von mir.“

Während er im Gebüsch verschwand, zog sie sich den Spurensicherungsanzug wieder aus und ging schnurstracks zu Westhoven. Dieser las sich gerade seine Notizen durch.

„Na, Paul, was denkst du über diesen Fall? Was sagt dir dein berühmtes Bauchgefühl?“

Westhoven holte tief Luft. „Auf jeden Fall haben wir so eine zerlegte Leiche nicht alle Tage in Köln, das steht mal fest. Und einen Menschen dermaßen in Einzelteile zu zerlegen, ist im wahrsten Sinne des Wortes echte Knochenarbeit. Ich habe mal gelesen, dass dieser Serienmörder Fritz Haarmann2 seinerzeit mehrere Tage dafür gebraucht hat. Davon gehe ich hier aber nicht aus, das hier ist die Arbeit eines Profis. Du hast doch auch die sauberen Schnitte an den Handgelenken und die ausgelösten blanken Schultergelenke gesehen. Nee, ich bin mir sicher, dass hier jemand wusste, was er tat. Hoffen wir nur, dass dieser Jemand nicht Gefallen daran gefunden hat.“

„Du meinst, ein Schlachter oder Metzger hat das gemacht?“

„Wieso nicht? Das hat jedenfalls keiner gemacht, der so was noch nie zuvor getan hat. Ich meine, ich selbst wüsste nicht einmal, wo ich da anfangen sollte, geschweige denn, welches Schneidwerkzeug ich nehmen müsste. Du etwa, Sarah?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ob das wirklich den Kreis der Tatverdächtigen eingrenzt, werden wir ja sehen. Das Wichtigste ist erstmal, zu klären, von wem die Überreste überhaupt sind. Und da fällt mir noch was ein. Ich weiß zwar nicht, wie viel Kilogramm die Teile da wiegen, aber ich halte es schon jetzt für ausgeschlossen, dass irgendwer den Plastiksack so mir nichts, dir nichts hierhergeschleppt hat. Der hätte auf dem Weg ja reißen können.“

„Sehe ich auch so, Sarah. Und warum versteckt jemand den Sack hier im Park und schmeißt ihn nicht einfach in den Müll? Wenn alles einmal auf der Müllkippe liegt, ist die Rückverfolgung doch nahezu unmöglich. Kennen wir doch schon, wäre ja nicht das erste Mal.“

Prof. Dr. Dotzinger näherte sich von hinten. „So, vorbehaltlich weiterer Untersuchungen und ohne Gewähr: Unter der Annahme, dass die Leichenteile nicht gekühlt gelagert wurden, bevor sie abgelegt worden sind, mutmaße ich, dass von einer maximalen Liegezeit von ein bis zwei Tagen auszugehen ist.“

Die Staatsanwältin fragte: „Können Sie vielleicht auch was zum ungefähren Alter sagen?“

„Nun ja, auch das ohne Gewähr. Auf den ersten Blick würde ich mutmaßen, dass der Mann etwa zwischen 25 und 35 Jahre alt geworden ist. Seine Muskulatur, soweit ich das überhaupt im Stockdustern sehen konnte, ist ziemlich ausgeprägt. Nageln Sie mich aber jetzt nicht auf ein paar Jahre nach oben oder unten fest.“

„Und die Todesursache?“

„Das ist ja jetzt wohl eine Scherzfrage?!“ Der Professor schüttelte verständnislos den Kopf. „Bis um 09.00 Uhr dann in der Rechtsmedizin!“

***

Es war 09.00 Uhr, als die Kräfte der Einsatzhundertschaft eintrafen, um unter der Leitung von Heinz Dember den Pyramidenpark gründlich zu durchsuchen. Die Maßnahme wurde ohne weiteren Fund gegen 10.30 Uhr beendet. Die Kräfte der Hundertschaft machten sich wieder auf den Weg zu ihrem Standort in Brühl und die Absperrung im Park wurde aufgehoben.

***

Zeitgleich zum Beginn der Suchaktion parkten Westhoven und Krogmann auf dem Parkplatz der Rechtsmedizin.

„Mann, ist das heiß heute! Als ob man im Süden aus dem Flieger steigt.“ Im Grunde zog Westhoven Wärme Kälte vor, aber während der Arbeit fand er die Hitze dann doch nicht so toll. Die Büroräume waren nicht klimatisiert und der ständige Durchzug hatte ihm schon die eine oder andere Nackenverspannung und Kopfschmerzen eingebrockt.

„Musst ja auch nicht die Klimaanlage so herunterregeln, dass man sich fühlt wie in einem fahrenden Kühlschrank. So lang hat die Fahrt vom Park bis hierher auch nicht gedauert!“ Toni grinste ihn an.

Sie gingen über den so genannten Lieferanteneingang, dessen Tür sperrangelweit offen stand, zum Sektionsraum.

Prof. Dr. Dotzinger, der Präparator Pahl und Sarah Steinmann waren auch schon da. Als hätte Pahl nur auf Westhoven gewartet, klopfte er zur Begrüßung gleich einen seiner berühmten Sprüche: „Hey, Paul, alte Säge! Hast du ein Glück heute. Kein Schädel da, den man öffnen müsste. Gut, was!?“ Er blickte dabei auf den Sektionstisch, auf dem drei Leichenteile lagen: ein männlicher Rumpfanteil sowie zwei Arme ohne Hände. Er klopfte dem Rumpf auf die Schulter. „Na, mein Lieber, ganz schön kopflos, wie du hier rumliegst.“ Pahl beugte sich herunter und tat so, als ob er dem nicht vorhandenen Kopf ins Ohr flüstern würde: „Und noch was, mein kopfloser Reiter – lieber Arm dran als Arm ab.“ Nach seinem perfiden Spaß kicherte er in sich hinein.

„Herr Pahl! Also wirklich!“ Prof. Dr. Dotzinger schüttelte den Kopf.

„Ein bisschen mehr Respekt bitte.“

Nach seinem Rüffel schaltete er das über dem Tisch baumelnde Diktiergerät ein und fing mit der äußeren Besichtigung der Leichenteile an, während Pahl die Maße des Rumpftorsos auf dem Whiteboard notierte: Höhe 51 cm, Breite 39 cm und Länge 24 cm.

„Der Kopf fehlt vollständig. Er wurde im Halsansatzbereich abgetrennt, beide Arme im Schultergelenk exartikuliert. Die untere Begrenzung des Torsos bildet der Bereich seiner Bandscheibe.“ Dotzinger beugte sich nun dicht über den Teil des Torsos, an dem ursprünglich der Kopf angesetzt hatte.

„Die Wundränder am Hals sind gar nicht oder nur minimal eingeblutet. Sowohl die Luft- und Speiseröhre als auch die Halsschlagader sind sauber durchtrennt.“

Er ging nun auf die Längsseite des kalten stählernen Tisches und beugte sich abermals über den Torso.

„Unterhalb des Halses, ca. 2 cm rechts der Körpermittellinie, besteht eine schräg verlaufende, 2,9 cm lange und 1,2 cm klaffende Hautdurchtrennung. Mit lichtem Abstand darunter drei weitere gleichartige Stichkanäle, deren Wundränder sowie die darunterliegende Muskulatur gering eingeblutet sind. Der rechte Wundwinkel ist spitz, der linke mit einer gut sichtbaren Kerbenbildung.“

„Heißt das, der Mann ist erstochen worden?“, fragte Sarah Steinmann.

Dotzinger nickte und antwortete in seiner ihm unnachahmlichen Art: „Frau Steinmann, ich habe ja eben erst angefangen mit der Sektion, aber diese vier Stichkanäle sprechen augenscheinlich für nicht mit dem Leben zu vereinbarende Verletzungen.“

„Also erstochen?“

„Wie schon gesagt.“ Dotzinger zuckte mit den Schultern und diktierte weiter. „Unter der linken Brustwarze ein auffälliger, im Durchmesser 5 mm großer, erhabener Leberfleck. Absatz, neue Nummer. Im Bereich des linken Oberarmansatzes freiliegende Muskulatur, beinahe ohne Einblutungen mit geradlinigen Wundrändern. Gleiches auf der rechten Seite. Der Blick auf die Schultergelenkspfannen ist frei. Gut sichtbar mehrere kleinere Einkerbungen, jedoch ohne größere Defektbildungen.“

Der Professor drückte nun auf den Bereich des Rippenbogens. „Zwischen den 3. und 4. Rippen findet sich eine Durchtrennung der Zwischenrippenmuskulatur, das Knorpelfragment der 5. Rippen ist aus dem Verbund gelöst, ebenso bei allen weiteren Rippen. Mit Zentrum 10 cm unterhalb der rechten Brustwarze ist eine 2,9 cm lange glattrandige Haut- und Unterhautfettgewebsdurchtrennung, die sich bis in die Brusthöhle fortsetzt und sich bis auf die tiefe Rippenmuskulatur verfolgen lässt.“

Nachdem der Rechtsmediziner alle weiteren Befunde diktiert hatte, bat er Pahl, den Torso in die Bauchlage zu drehen.

„Soll ich auch die Arme entsprechend dranpuzzeln? Wenn wir dann noch irgendwann die fehlenden Leichenteile bekommen, könnten wir das Ganze ja ,Düxer Leichenpuzzle‘ nennen, oder was meint ihr? Sozusagen Körperwelten Deluxe.“

Westhoven schüttelte aufgebracht den Kopf. „Mensch, Pahl! Geht’s noch?! Hast du schlechten Shit geraucht, oder was ist heute mit dir los? So witzig find ich das irgendwie nicht! Immerhin ist hier jemand augenscheinlich erstochen und dann auch noch von irgendeinem geisteskranken Hirn wie ein Stück Vieh zerstückelt worden! Da kannst auch du dich mal zurückhalten!“

„Jetzt mach mal halblang, Paul. Freu dich lieber über das schöne Wetter, anstatt dich über meinen schwarzen Humor zu ärgern. Oder meinst du im Ernst, dass ihm das Zerstückeln noch wehgetan hat?“ Pahl zwinkerte Westhoven zu.

Der Professor diktierte seine letzten Befunde zur äußeren Leichenschau und ging dann zur inneren Besichtigung des Torsos über. „Ab dem 3. Zwischenrippenraum finden sich insgesamt 4 Durchtrennungen des Rippenfells, die in der Zwischenrippenmuskulatur enden und eine Länge bis zu 14 mm haben. Eine Beurteilung der Wundwinkel ist nicht durchführbar. Das Brustfell ist ebenfalls mehrfach durchtrennt, in der rechten Brusthöhle liegt locker ein rot glänzender Knopf.“ Prof. Dr. Dotzinger übergab den Knopf zur Asservierung an Pahl. „Den Knopf können Sie gleich mitnehmen, Herr Westhoven. Da haben Sie schon mal einen ersten Hinweis auf das vermutlich getragene Hemd zur Tatzeit. Ist ja schon ein bisschen auffällig – so ein roter Knopf an einem Herrenhemd.“

„Da haben Sie Recht, Herr Professor. Gut, dass Sie den im Blut überhaupt gesehen haben.“

Nach einigen weiteren Untersuchungen schaltete der Obduzent schließlich das Diktiergerät aus und drehte sich um.

„Und? Wie lautet Ihr erster Befund, Herr Professor?“ Sarah Steinmann blickte ihn erwartungsvoll an.

„Sie wissen ja, Frau Staatsanwältin, mein abschließendes Gutachten gibt es nur schriftlich. Also nageln Sie mich später nicht drauf fest, wenn es etwas anders ausfällt als das, was ich nun sage. Aber nun gut. Sie haben es ja selbst gesehen und auch gehört, was ich diktiert habe. So, wie es scheint, sind der Kopf, die Arme und der Unterkörper scharfkantig abgesetzt worden. Und zwar avital, was Sie an den Absetzungsrändern gut erkennen können. Dass auch die inneren Organe fehlen, ist auch nicht zu übersehen gewesen.“

„Was ist denn mit den vier Stichen? Hat der Mann da noch gelebt?“ „Bei drei von vier Stichen würde ich zurzeit sagen, ja. Beim vierten ist es fraglich, ob dieser vital erfolgte oder ob der Mann da schon tot war.“

„Wie schätzen Sie denn das Abtrennen der Körperteile ein? War das fachmännisch oder eher laienhaft?“

„Sowohl als auch wäre hier zurzeit die richtige Antwort. Die Gelenke wurden unter weitgehender Schonung der anatomischen Strukturen ausgelöst und die Brustorgane unter Belassung eines Teilstücks der Körperhauptschlagader komplett entfernt. Ich denke, hier wusste jemand ziemlich genau, was zu tun ist.“

„Können Sie nun genauere Angaben zum Alter, zur Herkunft oder Liegezeit machen? Irgendwas, was uns weiterhelfen könnte?“

„Ich denke, der Mann war Europäer, bei dem ziemlich hellen Hautkolorit. Beim Lebensalter bleibe ich bei meiner ersten Einschätzung zwischen 25 und 35 Jahren plus minus. Und die Liegezeit, tja, im Grunde bleibe ich auch da bei meiner ersten Einschätzung. Unter normalen Lagerungsbedingungen, also ohne gekühlte Zwischenlagerung, maximal ein bis zwei Tage.“

„Wie groß schätzen Sie das Opfer?“

„Die Körperlängenbestimmung müssen wir noch durchführen. Dazu habe ich ja den rechten Oberarmknochen in toto asserviert. Das dauert aber noch was.“

„Vielen Dank, Herr Professor! Bitte machen Sie auf jeden Fall noch eine DNA-Analyse, eine Blutalkoholbestimmung und zur Sicherheit auch eine chemisch-toxikologische Untersuchung. Ich bin gespannt, wann wir uns wiedersehen. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass wir noch die anderen Körperteile finden werden.“

Pahl meldete sich zu Wort: „Das wäre ja prima. Dann wird das Puzzle vielleicht noch komplett.“

Da klingelte Westhovens Mobiltelefon. Arndt Siebert, Leiter des KK 11, war am anderen Ende. „Guten Morgen, Paul. Wie weit seid ihr?“

„Wir sind quasi durch die Tür. Wieso fragst du?“

„Es gibt noch einen Fund. Spielende Kinder haben vorhin in Humboldt-Gremberg in der Burgenlandstraße, Ecke An der Pulvermühle einen schwarzen Müllsack mit Leichenteilen gefunden. Der Sack soll hinter dem Zaun im niedrigen Buschwerk zwischen den Bäumen stehen. Ich habe Dember direkt dorthin geschickt. Die Hundertschaft habe ich auch schon zurückbeordern lassen, und diesmal kommt auch ein Leichenspürhund.“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst!“

Alle Blicke richteten sich gespannt auf Westhoven, der nickte und bestätigte: „Wir beeilen uns.“ Er beendete den Anruf und informierte die Anwesenden über die neue Entwicklung. Pahl klatschte triumphierend in die Hände. „Dann bis gleich – zum Puzzlen!“

***

Auf der Fahrt von Ehrenfeld nach Humboldt-Gremberg hörten sie Radio Köln. Dort wurde schon den ganzen Vormittag in den Lokalnachrichten über den grausigen Leichenfund berichtet und so das alljährliche Sommerloch gefüllt. Der freie Journalist Frank Wilhelm hatte zudem blitzschnell recherchiert und seinen Beitrag um die früheren spektakulären, ähnlich gelagerten Fälle angereichert, die in Köln passiert waren. Er berichtete zunächst von Maria W., deren Körperteile Stück für Stück in den Jahren von 1987 bis 1994 gefunden worden waren. Erst als im Sommer 1994 der Torso der 53-jährigen Frau in einer Plastiktonne in Ehrenfeld aufgetaucht war, hatte die Kripo damals endlich eine heiße Spur gehabt.

Im Juni 1992 wurde die zersägte Leiche der 24-jährigen Afak B. am Rhein gefunden. Die Ermittlungen ergaben, dass ein Bekannter die Frau im Streit getötet und sich dann selbst vom Dach eines Hochhauses im Kölner Süden gestürzt hatte.

Im Dezember 1992 beschäftigte die Kripo der Fall der 48-jährigen Ursula W., deren Torso in einem Waldgelände in Brück von einem Jogger gefunden worden war. Sie war zwei Jahre zuvor von ihrem Ehemann getötet und zerstückelt worden. Die Leichenteile hatte der Mann mit der Straßenbahn transportiert und sie vergraben. Ein Fingerabdruck war damals der Schlüssel zu den erfolgreichen Ermittlungen gewesen.

Zum Ende des Radiobeitrags erzählte der Journalist, dass die Mordkommission auch im Fall von Maria S. hatte ermitteln müssen, einer 67-jährigen Rentnerin, die im Februar 1994 in Einzelteilen im Thurner Wald in Dellbrück gefunden worden war. Ihr psychisch kranker Sohn hatte sie aus Sorge vor der Einweisung in eine Klinik getötet und zerstückelt.

Im Vorbeifahren erblickte Westhoven in einem der Zeitungsverkaufskästen die nicht zu übersehende Schlagzeile im EXPRESS:

„Puzzlemord in Deutz – zerstückelte kopflose Leiche!“

***

Als Paul Westhoven, Toni Krogmann und Sarah Steinmann in Humboldt-Gremberg eintrafen, war das Gelände weiträumig abgesperrt. Der brusthohe Metallzaun am engeren Fundort war eine willkommene Eingrenzung, um Unberechtigte vom Fundort fernzuhalten. Dember kam ihnen entgegen und setzte sie über seine ersten Erkenntnisse ins Bild. „Ich glaube, wir haben hier die fehlenden Teile. Zumindest die Extremitäten.“

„Was heißt das konkret?“, fragte Westhoven. „Haben wir auch die Hände und den Kopf?“

Dember schüttelte bedauernd den Kopf. „Leider nicht. In dem Sack hier sind nur die fehlenden Beine, die auch in vier Teile zersägt sind, und das Hinterteil. Das war’s. Die Organe fehlen wohl auch noch. Wer weiß, wo die abgelegt wurden.“

Westhoven schöpfte Hoffnung. „Sind denn diesmal Kleidungsstücke oder Papiere mit im Sack?“

„Da ist was, aber ich kann echt nicht sagen, was das genau sein soll. Ich wollte ja nichts verändern, bevor Drees fertig ist. Der flippt sonst aus.“

„Wonach sieht’s denn aus?“

Dember zuckte mit den Schultern. „Wenn du mich fragst, nach einem blutverschmierten Tuch oder sowas, aber ich kann es echt nicht genau definieren! Das ist total eingetrocknet und verknüllt und teilweise unter den Leichenteilen eingeklemmt.“

„Okay.“ Westhoven schaute Toni und Sarah Steinmann an. „Dann müssen wir, falls nötig, später mittels DNA-Vergleich feststellen, ob wir es mit Leichenteilen von der gleichen Person zu tun haben.“

Dember hielt eine Hand hoch. „Vielleicht ist es doch möglich, in der Rechtsmedizin die Einzelteile zusammenzulegen, oder nicht? Da sieht man doch, ob die zusammenpassen. Wie bei einem Puzzle.“ Augenblicklich blickte er in Westhovens finstere Miene. „Jetzt laberst du auch schon so einen Stuss wie Pahl. Habt ihr euch abgesprochen, oder was?“

Dember verstand Westhovens Reaktion nicht. „Häh, was…?“

Ohne eine Erklärung und noch bevor der Erkennungsdienst eintraf, nutzte Westhoven auch diesmal die Gelegenheit, sich allein an den Fundort des Plastiksacks zu stellen, die Augen zu schließen und die Umgebung auf sich wirken zu lassen. Dember blickte ihm ungläubig hinterher und Toni Krogmann sagte nur abwinkend: „Komm, vergiss es.“

Westhoven war noch ganz in Gedanken versunken, als er plötzlich von hinten angesprochen wurde. Diese Stimme ließ ihm seine Nackenhaare zu Berge stehen. Gereizt drehte er sich um und blickte in das grinsende Gesicht von Dirk Holm. Er hatte es mal wieder geschafft, sich an der Absperrung vorbeizumogeln.

„Jetzt gucken Sie doch nicht so, Herr Kommissar. Langsam sollten Sie sich daran gewöhnt haben, dass ich immer am Puls der Zeit bin. Sagen Sie doch mal, was in der Tüte ist. Sind das die fehlenden Körperteile?“

„Dreimal dürfen Sie raten, Herr Holm! Oder glauben Sie, das sei der berühmte Sack Reis aus China? Und jetzt machen Sie, dass Sie schleunigst hinter die Absperrung kommen! Genau wie Ihre Kolleginnen und Kollegen. Sonst …“

Mit der Kamera im Anschlag machte Holm einen Schritt auf Westhoven zu. Nur der Zaun trennte die beiden Männer.

„Sonst was? Schon mal was von Pressefreiheit gehört? Sie können mir gar nichts, hören Sie, gar nichts! Was haben Sie eigentlich für ein Problem mit der Presse?“

Westhovens Blick durchbohrte Holm. „Erstens kann ich Sie in Gewahrsam nehmen, weil Sie eine Amtshandlung stören, und zweitens habe ich kein Problem mit der Presse. Um es aber mal vorsichtig zu formulieren: Es gibt solche und solche Journalisten. Zu welcher Kategorie Sie gehören, können Sie sich denken. Und jetzt gehen Sie!“

Gerade als Holm etwas erwidern wollte, tippte ihm ein uniformierter Beamter auf die Schulter und wies ihn an, umgehend hinter die Absperrung zu gehen. Da der Beamte rund einen halben Kopf größer als er war, verzichtete Holm auf jede weitere Diskussion und tat zähneknirschend, wie ihm befohlen.