Mord mit Nordseeblick - Christiane Franke - E-Book

Mord mit Nordseeblick E-Book

Christiane Franke

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Beschreibung

Tödliche Familiengeheimnisse bedrohen Kommissarin Cordes' Ehe - und ihr ungeborenes Kind. Kurz vor dem Mutterschutz wird Kommissarin Christine Cordes mit einem schockierenden Verdacht konfrontiert: Ihr eigener Ehemann soll eine junge Prostituierte ermordet haben. Er bestreitet, ihr Kunde gewesen zu sein, doch seine Verbindung zur Schwester des Opfers wirft Fragen auf. Widerwillig unterstützt Christine ihre Kollegin Oda Wagner bei den Ermittlungen und stößt auf eine Wahrheit, die ihre Welt erschüttert. In »Mord mit Nordseeblick«, dem 12. Fall für das Ermittlerinnenduo Christine Cordes und Oda Wagner, entführt Bestsellerautorin Christiane Franke ihre Leser erneut an die stimmungsvolle Nordseeküste. Ein atmosphärischer Krimi voller überraschender Wendungen, in dem Liebe, Verrat und dunkle Geheimnisse eine verhängnisvolle Rolle spielen. Perfekt für Fans von spannenden Regionalkrimis mit starken Ermittlerinnen!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 332

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Christiane Franke lebt gern an der Nordsee, wo ihre bislang dreißig Romane und ein Teil ihrer kriminellen Kurzgeschichten spielen. Neben der ostfriesischen Spiegel-Bestseller-Serie rund um den Dorfpolizisten Rudi, den Postboten Henner und die Lehrerin Rosa, die sie gemeinsam mit Cornelia Kuhnert verfasst, schreibt sie die erfolgreiche Serie um die beiden Wilhelmshavener Kommissarinnen Oda Wagner und Christine Cordes. 2021 erschien der Roman »Endlich wieder Meer«, 2003 war sie für den Deutschen Kurzkrimipreis nominiert, und 2011 erhielt sie das Stipendium der Insel Juist »Tatort Töwerland«.

Mehr unter www.christianefranke.de.

 

 

 

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

 

© Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

www.emons-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: istockphoto.com/ae-photos

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept

von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Gestaltung Innenteil: DÜDE Satz und Grafik, Odenthal

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Erstellung: XXX

ISBN 978-3-98707-298-7

Küsten Krimi

Originalausgabe

Dieser Roman wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen

insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß

§ 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

 

Für meine Schwester Ulrike.Schön, dass es dich gibt!

Freitag

Anfang April

Das Telefon klingelte. Kriminaloberkommissarin Christine Delvental versuchte, das Tempo zu erhöhen, doch das Treppensteigen fiel ihr derzeit schwer.

Ihr Kollege Lemke schien nicht am Platz zu sein. Sie hoffte, der Anrufer hatte Ausdauer, denn den Umständen entsprechend war sie nicht mehr die Schnellste. Nächste Woche ging sie in den Mutterschutz, und obwohl sie insgesamt nicht dick geworden war, schob sie eine große runde Kugel vor sich her, als hätte sie einen Medizinball verschluckt. Unbewusst fuhr ihre Hand zu ihrem Bauch. Sie freute sich darauf, ihr Baby bald in den Arm nehmen und richtig kennenlernen zu können, obwohl ihre Tochter ihr natürlich längst vertraut geworden war. Sie liebte die kräftigen Tritte, mit denen die Kleine ihre Bauchdecke ausbeulte. Nur die gegen den Magen waren nicht so angenehm.

Ein wenig außer Atem erreichte sie ihr verwaistes Büro, das Telefon klingelte nach wie vor. Noch im Mantel nahm sie das Gespräch an. »Delvental.«

»Christine, Herz hier.« Der junge Kollege aus der Bereitschaft. »Ich wollte gerade wieder auflegen. Ist Oda schon da? Oder Lürssen?«

Oda Wagner war Christines Kollegin, mit der sie vor der Schwangerschaft eng zusammengearbeitet hatte. Ihren Platz draußen an Odas Seite hatte inzwischen der neue Kollege Lürssen eingenommen, ein recht eitler Pfau, wie sowohl Christine als auch Oda fanden. Er kam aus Osnabrück und hatte sich offensichtlich auf die Fahne geschrieben, die Polizeiinspektion Wilhelmshaven im Sturm zu erobern. Das war ihm allerdings noch nicht gelungen, was ihm nicht zu schmecken schien.

»Hast du es drüben schon versucht?« Oda und sie hatten sich ein Büro geteilt, doch ihr Chef Hendrik Siebelt, der Erste Kriminalhauptkommissar, hatte Christine zu Lemke ausquartiert und versorgte sie mit langweiligem Bürokram, seit sie nicht mehr im Außendienst aktiv sein durfte.

»Geht keiner ran. Ich dachte, zumindest Mr. Supercop sei am Platz.«

Christine hörte das Grinsen ihres Kollegen durch die Leitung. Sie waren in der Inspektion über Jahre ein eingespieltes Team gewesen, in dem sich jeder jedem gegenüber offen und kollegial verhielt. Lürssens Einzug vor sechs Monaten hatte sich als Fremdkörper im Gefüge erwiesen. In dem Podcast »Coach & Coach«, dem Christine folgte, hatten sich die beiden Coaches vor einiger Zeit darüber unterhalten, dass ein neuer Job nicht nur denjenigen, der neu in einen Betrieb oder eine Behörde wechselte, vor Herausforderungen stellte, sondern auch ein Bewegen innerhalb der vorhandenen Strukturen in Gang setzte. Und die Bewegung, die Lürssen im Team ausgelöst hatte, war eine Welle, kein sanftes Plätschern.

»Nein, die sind wohl beide noch nicht zurück. Kann ich dir vielleicht helfen?« Sie legte ihre große und recht schwere Handtasche auf den Schreibtisch. Die Mittagspause hatte sie genutzt, um ein wenig durch den Kurpark zu laufen und sich an dem frischen Frühlingsgrün zu erfreuen. Die Natur explodierte förmlich nach dem Winter, und Christine hatte den Duft der neuen Blüten und Blätter begeistert aufgesogen, bevor sie sich beim China-Imbiss in der Nordseepassage gebratene Nudeln gekauft hatte.

»Nee, du darfst ja nicht raus. Ich bin in Horumersiel, in dem Hochhaus Am Tief, sechste Etage, Wohnung 6.3. Die Mieterin wurde von ihrer Schwester tot aufgefunden. Die ist Ärztin und hat den Tod der jungen Frau selbst festgestellt.«

»Eine tote Frau?« Christine richtete sich kerzengerade auf, wobei ihr Schwangerschaftsbauch leicht an die Schreibtischkante stieß. »Der Notarzt muss trotzdem hin.«

»Er ist bereits hier. Die Frau war zugedeckt. Das hat ihre Schwester gemacht, hat sie gesagt. Wahrscheinlich war ihr der Anblick der Würgemale am Hals zu viel. Ach ja, nackt ist die Frau auch. Sie liegt auf dem zerwühlten Bett ihres Schlafzimmers mit Blick auf die Nordsee. Die kann sie natürlich jetzt nicht mehr sehen. Aber ich. Ich stehe gerade am Fenster. Da ist wieder ein dicker Containerriese auf dem Weg zum Jade-Weser-Port.«

»Wie alt war sie?«

»Wäre im Juni dreiunddreißig geworden.«

»Scheiße. Wurde die Wohnungstür aufgebrochen?«

»Nein. Die Schwester, sie praktiziert übrigens in Wilhelmshaven, sagte, sie habe ganz normal aufgesperrt und sofort ein mulmiges Gefühl gehabt, weil die Tür unverschlossen war. Ich hab auch keine Einbruchspuren entdeckt. Hab natürlich gleich nachgeschaut.«

»Ist die Spurensicherung informiert?«

»Jawoll, genau wie der Rechtsmediziner. Aber der kann nicht. Er meint, wenn es Würgemale gibt, sei die Sache ja klar, er wird sie sich im Institut anschauen. Und nun wollte ich, dass Oda sich auf den Weg macht. Nicht dass der Neue allein hier auftaucht.«

»Ich geb ihr Bescheid, sie müsste jeden Moment aus der Pause kommen. Sicherheitshalber schreib ich ihr eine WhatsApp und kündige unten schon mal an, dass sie einen Dienstwagen braucht.« Oda besaß keinen eigenen Pkw. Innerhalb der Stadt erledigte sie alles mit dem Fahrrad. Falls sie doch einmal privat ein Auto brauchte, benutzte sie das ihres Freundes Jürgen, ein Journalist, mit dem sie aber nicht zusammenlebte. »Sagst du mir noch kurz die Hausnummer?«

Christine notierte die Zahlen auf einem kleinen Notizzettel, als die dunkle Stimme des Kollegen Lürssen direkt in ihr Ohr drang.

»Wofür braucht Oda einen Dienstwagen?«

Erschrocken drehte Christine sich um und stieß beinahe mit dem groß gewachsenen Mann zusammen, der unmittelbar hinter ihr stand. Sie hatte ihn nicht reinkommen hören.

»Herrschaftszeiten. Musst du mich so erschrecken?«, entfuhr es ihr brüsk, was ihr augenblicklich leidtat, denn Lürssen konnte ja nichts dafür, dass sie momentan so schreckhaft war. Wie immer trug er die unvermeidliche beigefarbige Cargohose und dazu seine lederne Lieblingsjacke, von der er fälschlicherweise annahm, sie würde ihm ein lässiges Auftreten bescheren.

Er zuckte gelassen mit den Schultern und machte tatsächlich einen kleinen Schritt zurück. Doch noch immer stand er für Christines Empfinden zu nah, roch sein Aftershave zu intensiv, dabei ließ dieses Büro eine angemessene Distanz durchaus zu.

Christine überlegte noch, ob sie ihre Antwort hinauszögern sollte, da hörte sie ihre Kollegin kommen. Oda Wagners fester Gang hatte wenig Damenhaftes. Kostüme, Hosenanzüge und Pumps, wie Christine sie normalerweise trug, befanden sich nicht in ihrem Kleiderschrank. Der beherbergte überwiegend Jeans, T-Shirts und Hoodies. Oda und sie hätten unterschiedlicher nicht sein können, und doch waren sie in den Jahren ihrer Zusammenarbeit enge Freundinnen geworden. Oda war eine herzensgute, burschikose, umweltbewusste Frau Mitte vierzig. In ihre kurzen dunklen Haare ließ sie manchmal rötliche Strähnchen färben, die einmal versehentlich grün ausgefallen waren, was Oda mit Humor genommen hatte, passte diese Farbe doch zu der Partei, die sie wählte.

»Was ist hier denn los?« Oda blieb in der Tür stehen. »Du noch im Mantel, Lürssen an deiner Seite … Sag bloß, es geht los?«

Die Kollegen der Abteilung hatten Wetten abgeschlossen, ob die Wehen bei Christine wohl schon vor Beginn des Mutterschutzes einsetzen würden. Den Jackpot bekam, wer das richtige Datum vorhergesagt hatte. Es gab sogar Kollegen, die darauf wetteten, dass die Geburt hier in der Dienststelle stattfinden würde. Ein echtes Polizeibaby sozusagen. Auch wenn alle versuchten, ihr kleines Wettbüro vor Christine zu verheimlichen, war es ihr nicht entgangen. Sie störte sich nicht daran, zeigte es doch in rührender Weise, wie sehr die Kollegen Anteil an ihrer Schwangerschaft nahmen.

»Für euch geht’s direkt wieder los«, sagte Christine ernst, zog den Mantel aus und legte ihn über die Rückenlehne ihres Bürostuhls. »Herz hat angerufen. Eine tote, offensichtlich erwürgte nackte Frau in einer Wohnung in Horumersiel, gefunden von ihrer Schwester. Herz hat die Spusi verständigt, der Notarzt ist vor Ort und hat den Tod bestätigt. Hier.« Sie riss den Zettel vom Notizblock und reichte ihn Oda an Lürssen vorbei, obwohl sie ihn genauso gut dem Kollegen hätte geben können. Aber dessen Machogehabe, vor allem seine taxierenden Blicke zu Beginn seiner Zeit hier in Wilhelmshaven, hatte nicht gerade freundschaftliche Gefühle für ihn in ihr geweckt.

Oda schnalzte mit der Zunge. »Dann wollen wir mal. Bist du bereit, Kollege?«, fragte sie an Lürssen gewandt.

Der grinste. »Aber so was von bereit, Kollegin! Eine tote, nackte und nur erwürgte Frau … Ich bin schon zu unappetitlicheren Tatorten gerufen worden.«

***

Der Notarztwagen stand noch vor dem Hochhaus, als Oda und Lürssen in Horumersiel eintrafen, der Rettungswagen war offensichtlich bereits abgefahren. Bei einer toten Person war ja auch nichts mehr auszurichten. Durch die Goldstraße, die Hauptstraße des Sielortes, schlichen auswärtige Fahrzeuge wie Kugeln an einer Schnur; die Saison hatte begonnen. Auch die kleinen Tische vor der Bäckerei Lorenz Victobur und der Eisdiele San Marco waren gut belegt, die Osterferien spülten wieder jede Menge Gäste in den Ort. Selbst wenn die Nordseeküste seit jeher ein touristischer Anziehungspunkt war, waren die Urlauberzahlen in den letzten Jahren zunehmend gestiegen.

Die Haustür stand offen, wahrscheinlich hatte jemand den Haken im Schloss umgelegt, der die Tür arretierte.

Die Aufzugtüren öffneten sich, zwei Frauen in Odas Alter und sportlicher Kleidung traten heraus.

»Moin«, sagte Oda, und auch die beiden Frauen grüßten.

»Richtung Schillig?«, fragte die eine ihre Freundin.

»Ja, da stärken wir uns mit einem Kaffee und einem Brötchen, dann haben wir wieder genügend Energie für den Rückweg.«

»So machen wir das.« Schon waren die Frauen fort.

Oda wandte sich der Treppe zu.

Lürssen sah sie fragend an.

»Ich laufe«, erklärte Oda knapp und begann, die Treppen hinaufzusteigen.

»Ist aber im sechsten Stock!«, rief Lürssen ihr nach.

»Jeder Gang macht schlank«, rief Oda zurück, obwohl auch sie gern den bequemen Weg gewählt hätte. Doch sie überwand ihren inneren Schweinehund. Die veränderte Hormonproduktion aufgrund der bei ihr früh einsetzenden Wechseljahre machte sich zusätzlich zu ihrer ohnehin nicht gerade stoffwechselbegeisterten Grundkonstitution bemerkbar. Da reichte das tägliche Radfahren nicht mehr, um die kulinarischen Kostbarkeiten zu verbrennen, die sie abends gern mit Jürgen zubereitete. Obwohl sie überwiegend mediterran aßen: viel Gemüse, viel Salat, Fisch, aber auch selbst gemachte Pasta. Und mal ehrlich: Gegen Jürgens Linguine kamen keine anderen Nudeln an.

Das Treppenhaus war gepflegt und sauber. Das fiel ihr auf, während sie Etage um Etage hinaufstieg. Und still war es, anscheinend waren die Bewohner sämtlicher Wohnungen bei der Arbeit. Oder es waren Ferienwohnungen, und die Mieter genossen die Nordseeluft bei einer Fahrradtour, einem Spaziergang an der Wasserkante oder in der Friesland-Therme, deren Schwimmbecken mit Salzwasser gefüllt waren.

Schnaufend kam sie oben an. Die Wohnungstür, neben der auf einem dezenten Schild lediglich die Bezeichnung »Whg 6.3« stand, war angelehnt. Oda zog sich Einwegüberschuhe und -handschuhe an und trat ein. Im Flur kam ihr Kollege Herz entgegen und deutete nach links. »Da rein.«

Lürssen, der mit dem Fahrstuhl zwar schneller oben gewesen war, aber sich beim Überstreifen des Plastikschutzes Zeit gelassen hatte, ging schnurstracks an ihnen vorbei, ohne ein Wort mit Herz zu wechseln.

Herz und Oda sahen ihm kopfschüttelnd hinterher.

»Die Schwester wartet im Esszimmer«, erklärte Herz. »Dr. Zusanna Rother. Der Notarzt sitzt auch da, er füllt gerade die Papiere aus.«

»Danke.«

Oda betrat das Schlafzimmer. Lürssen stand am Bett und starrte auf die Frauenleiche.

»Ist schade drum, die war ja ein richtiger Leckerbissen«, sagte er. »Auch wenn sie für meinen Geschmack zu viele Tattoos hat.«

Kurz war Oda sprachlos. Dann fauchte sie: »Sag mal, weißt du eigentlich, was du da sagst? Das ist ja wohl der Gipfel an Respektlosigkeit!«

Verwundert blickte er sie über die Schulter hinweg an. »Nun hab dich mal nicht so. Ich werd ja wohl noch meine Meinung sagen dürfen.«

»Das hat mit Meinung nichts zu tun, das ist geschmacklos. Du hast eine recht merkwürdige Art, Abstand zum Opfer zu wahren«, stellte Oda fest und schob sarkastisch hinterher: »Wenn du dich sattgesehen hast, mach mir doch bitte Platz. Die Spusi wird genügend Fotos machen, solltest du dich weiterhin an diesem traurigen Anblick ergötzen wollen.«

»Also wirklich. Ich hab nur gesagt, dass das Opfer eine hübsche Frau war«, entgegnete Lürssen pikiert.

Oda schob ihn unsanft beiseite. »Nee, hast du eben nicht. Den Spruch hättest du dir echt verkneifen müssen.« Sie ließ ihn links liegen und betrachtete die Tote. Die junge Frau war brünett und hatte eine ausgesprochen weibliche Figur. Nicht so dürr wie manche Models. An den richtigen Stellen gerundet, wie man so schön sagte. Sie lag auf dem Rücken, das Gesicht nach oben. Schon auf den ersten Blick erkannte Oda trotz der zahlreichen Tattoos auf den Armen und dem linken Bein die über den Körper verteilten Abdrücke von Händen und Fingern. Sie trat näher und beugte sich über den leblosen Körper.

Die Frau war misshandelt worden. Keine Frage.

Überall waren Spuren von Schlägen zu sehen. Und Würgemale am Hals.

Oda wandte sich ab, trat ans Fenster und holte tief Luft. Solche Anblicke ließen sie nicht kalt, aber sie konnte es sich nicht leisten, Emotionen zuzulassen. Seit einiger Zeit hatten sie die Option, an Supervisionen teilzunehmen, um derartige Eindrücke und Erlebnisse mit Hilfe kompetenter Betreuung aufzuarbeiten, doch Oda hatte dieses Angebot bislang nicht in Anspruch genommen. Sie war die letzten zwanzig Jahre ohne so etwas ausgekommen. Hatte Dienstliches und Privates trennen und über schlimme Erlebnisse abstrakt mit Jürgen sprechen können. Er hatte von Berufs wegen Verständnis für Verklausulierungen, für Verallgemeinerungen. Auch in seinem Job als Journalist konnte er bei manchen Recherchen weder Ross noch Reiter nennen, lediglich die Eckdaten und namenlose Ereignisse. Seit Kurzem hatte er einen neuen Aufgabenbereich. Das »Wilhelmshavener Tageblatt« war in der Nordwest-Mediengruppe aufgegangen, und nun berichtete er nicht mehr ausschließlich über Lokales, sondern über die wichtigen Themen der gesamten Region wie Wasserstoff und Flüssiggas zur Energiegewinnung oder die Übergriffe von Wölfen auf Weidevieh.

Oda schüttelte kurz den Kopf. Sie durfte sich jetzt nicht in abschweifende Gedanken flüchten, auch wenn der Ausblick verlockend war. Am Horizont fuhren Containerschiffe, im Sonnenlicht schimmerten die ersten Segelyachten im Horumersieler Hafen. Sie drehte dem Fenster den Rücken zu. Die Kollegen der Kriminaltechnik mussten jeden Moment eintreffen, bis dahin sollte sie sich einen Überblick verschaffen. Sie öffnete den Kleiderschrank und staunte. Was war das denn? Der Inhalt war überaus spärlich. Es machte den Eindruck, als ob hier ein Feriengast Quartier bezogen hatte, dessen Urlaubsgepäck bei der Anreise zur Hälfte abhandengekommen war.

Im angrenzenden Badezimmer hingen zwei benutzte weiße Duschtücher über dem Handtuchheizkörper. Automatisch hob sie den Deckel des chromfarbenen kleinen Abfalleimers. Obenauf lag ein benutztes Kondom, darunter Kosmetiktücher, ein Zahnseide-Stick. Opfer und Täter schienen geduscht zu haben, bevor es zum Gewaltausbruch gekommen war. Oda sah sich um. Auf der Fensterbank lag eine Edelstahlbox mit Kosmetiktüchern. Sie öffnete den Spiegelschrank. Im rechten Fach standen sorgfältig aufgereiht Make-up-Utensilien, verschiedene Lippenstifte, Cremes, Seren, eine elektrische Zahnbürste, Zahnpasta und Zahnseide-Sticks. Drei Parfüm-Flakons. Oda roch daran. Nicht ihre Duftrichtung, die Marke ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass es diese Duftwässerchen nicht zum Schnäppchenpreis gab.

Die linke Seite enthielt lediglich einen Zahnputzbecher und eine Tube Zahnpasta. Eine entsprechende Bürste fehlte. Auch sonst wirkte diese Seite erstaunlich steril. Nicht einmal Staubflusen konnte Oda entdecken. Warum war diese Schrankseite so hygienisch sauber, während der kleine Mülleimer sogar ein benutztes Kondom enthielt? Oda zog die Schubladen unter dem Waschtisch auf. Neben sauberen Handtüchern gab es einen kleinen Korb mit verpackten Einwegzahnbürsten, wie man sie aus teuren Hotels kannte. Oda spitzte amüsiert die Lippen. Das Opfer schien kein Kind von Traurigkeit gewesen zu sein.

Vielleicht konnte die Schwester der Toten ihr mehr dazu sagen.

Sie ging ins Esszimmer hinüber. Der Raum war schlicht, aber geschmackvoll eingerichtet. Die Farben Grau, Schwarz und Weiß dominierten. Der knallrote Teppich stach als Farbtupfer heraus. Oda persönlich wäre das zu kalt gewesen, aber es hatte durchaus was. Fotografien konnte sie nicht entdecken, auch sonst fehlte der Einrichtung eine persönliche Note. Das war ihr im Schlafzimmer bereits aufgefallen.

Zwei Personen saßen schweigend an den Stirnseiten des rechteckigen weißen Lacktisches, auf dem ein Läufer aus schwarzem Stoff lag. In dessen Mitte prunkte eine beeindruckende Blumendeko. Die Frau tippte und wischte auf einem bunten Handy herum, sah aber auf, als Oda eintrat. Der Mann, durch seine gelb-rote Signalkleidung eindeutig als Notarzt erkennbar, füllte ein Formular aus.

»Moin«, grüßte sie. »Kripo Wilhelmshaven, Oda Wagner.«

»Moin.« Der Notarzt sah von dem Formular auf. »Tod durch Strangulation, würde ich schätzen. Die Frau ist seit circa achtzehn Stunden tot, die Totenstarre ist vollständig ausgeprägt.«

»Danke.« Oda wandte sich der Frau zu, die sie aus beeindruckend blauen Augen ansah. »Sie sind die Schwester der Toten?«

Die Frau nickte. »Ja. Zusanna Rother. Dr. Zusanna Rother. Ich habe Valeska gefunden.« Zusanna Rother stand auf und ließ das Handy in die Handtasche gleiten, die über der Stuhllehne hing. Ihre dunklen langen Haare fielen ihr über die Schultern, bekleidet war sie mit einer dunkelblauen Stoffhose, einer weißen Bluse und einem jener Gürtel, deren Preis man anhand der Schnalle wohl erahnen konnte, wenn man denn ein Faible für luxuriöse Marken hatte. Dieses Faible fehlte Oda allerdings, was sie nicht als Verlust erachtete. Christine hingegen hätte garantiert sofort sagen können, für welches Modelabel die beiden sich überlappenden Gs standen.

Oda steckte die Hände in ihre Jackentaschen. »Mein Beileid. Es muss ein Schock gewesen sein, Ihre Schwester so aufzufinden. Kann der Arzt etwas für Sie tun?«

Zusanna Rother schüttelte den Kopf. Ihre Stimme klang wackelig, als sie zu sprechen begann. »Ich kann es noch gar nicht fassen. Wir waren zum Mittagessen verabredet, Valli und ich. Wie jeden Freitag. Aber sie kam nicht und ging auch nicht ans Handy. Da habe ich mir Sorgen gemacht und bin hergefahren. Wir haben eine sehr innige Verbindung, müssen Sie wissen. Und Valeska ist normalerweise zuverlässig. Einfach ohne Entschuldigung einen Termin zu versäumen, passt nicht zu ihr. Als ich ihr Auto unten stehen sah, hat mich ein ungutes Gefühl gepackt. Und als sie auf mein Klingeln nicht reagierte, bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich habe den Schlüssel benutzt, den Valeska mir für Notfälle gegeben hat. Der hängt an meinem Schlüsselbund. Die Wohnungstür war geschlossen, aber nicht zugesperrt. Ich habe geöffnet und ihren Namen gerufen. Es kam keine Antwort. Mir wurde ganz schlecht vor Angst um sie. Im Schlafzimmer hab ich sie dann gefunden. Mein Gehirn weigerte sich zu verstehen, was ich sah.« Sie machte eine Pause, während derer ihr der Moment wieder vor Augen zu stehen schien. »Meine Schwester lag unter der Bettdecke. Nur einige ihrer Haare waren zu sehen. Ich habe die Decke weggerissen und sofort ihren Puls gesucht. Aber als ich sie berührte, war mir auf Anhieb klar, dass sie tot ist. Die Leichenstarre war vollständig ausgeprägt. Und überall waren Hämatome zu sehen, dazu die Würgemale an ihrem Hals. Ich hab die 112 angerufen, sie wieder zugedeckt und an ihrem Bett gesessen, bis der Notarzt und die Rettungssanitäter kamen. Ich mochte Valli nicht allein lassen.«

»Wann haben Sie Ihre Schwester das letzte Mal gesehen oder gesprochen?«

»Gestern Abend. Wir haben telefoniert. So gegen kurz vor sieben. Da war alles wie immer.«

»Hat sie Ihnen gesagt, mit wem sie sich treffen wollte? War es eine feste Affäre oder eher ein One-Night-Stand?«

Im Flur waren Geräusche zu hören, die Kriminaltechniker waren eingetroffen.

Manssen, der Chef der Spurensicherung, trat zu ihnen. »Moin, Oda. Wir würden gern direkt loslegen, wenn es recht ist«, sagte er, schon in seinen weißen Einweganzug gehüllt.

»Alles klar.« Oda stand auf. »Wollen wir hinausgehen, damit die Kollegen ihre Arbeit machen können?«

Zusanna Rother nickte. Sie war blass um die Nase. »Natürlich. Kein Problem.«

Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, fuhren sie mit dem Fahrstuhl nach unten und traten vor die Tür. Der an der Nordseeküste allgegenwärtige Wind blies heute nur leicht, die Temperaturen erinnerten allerdings eher an den vergangenen Winter als an den Frühling, der offiziell längst Einzug gehalten hatte. Zusanna Rother zog ihren Blazer eng um sich. Gemeinsam gingen sie die paar Schritte zur hölzernen Brücke, die zum Küstenwachboot 19 der Marinekameradschaft Horumersiel führte. Seit vielen Jahren bildete es eine Attraktion mitten im Ort. Eine fünfköpfige Familie kam ihnen entgegen, die Kinder hüpften fröhlich.

»Wissen Sie, mit wem sich Ihre Schwester getroffen hat?«, wiederholte Oda ihre Frage, nachdem die Familie an ihnen vorbeigegangen war. »Eine feste Beziehung scheint es nicht gewesen zu sein, wenn ich die Inhalte des Badezimmerschranks betrachte.«

»Ich kann es Ihnen nicht sagen.«

»Was?« Oda kniff die Augen zusammen. »Wie darf ich das denn verstehen? Sie sagten doch, Sie hatten ein inniges Verhältnis zu Ihrer Schwester. Und dann wissen Sie nicht, mit wem sie intim war?«

»Meine Schwester war erwachsen. Sie musste mich nicht über jeden Mann informieren, mit dem sie ins Bett ging.«

Oda warf Zusanna Rother einen skeptischen Blick zu.

Die hüstelte verlegen. »Valeska war … Ach, was soll ich groß drum rumreden? Nennen wir es beim Namen: Sie war, wie es offiziell heißt, Sexarbeiterin. Selbstständig. Im Privatleben war sie unstet. Nicht in der Lage, sich länger auf jemanden einzulassen. Jede ihrer Beziehungen ging schon nach kurzer Zeit in die Brüche. Irgendwann sagte sie, sie würde die Suche nach dem Mann fürs Leben aufgeben. Aber sie hatte Lust auf Sex und entschied, daraus einen Job zu machen. Sie sah gut aus, hatte wohl das gewisse Etwas, das Männer anzog, und sie war stolz darauf, sich ihre Kunden aussuchen zu können. Namen hat sie nie genannt, ich weiß nur, dass sie wohl sehr vermögend waren, denn ihr Honorar war nicht von schlechten Eltern. Also, nach dem zu urteilen, was sie mir gesagt hat. Sicher weiß ich es natürlich nicht. Auf Laufkundschaft war sie zumindest nicht angewiesen.«

Nun war Oda verdutzt. »Sie war also eine Edelprostituierte? Und arbeitete hier? In diesem Haus?« Prostitution inmitten einer Ferienhochburg. Das war ja ein Ding.

»Warum nicht? Es sind ausschließlich Eigentumswohnungen in diesem Komplex. Überwiegend werden sie als Ferienwohnungen genutzt, hat Valli gesagt. Bei dem ständigen Hin und Her fällt gar nicht auf, dass auch ihre Besucher jedes Mal andere sind. ›Leben und leben lassen‹ sei das Motto dieses Hauses, hat sie amüsiert festgestellt.«

»Hat bei Ihrer Schwester allerdings nicht geklappt, wie man sieht«, hörte Oda Lürssen sagen, der plötzlich hinter ihnen auftauchte. »Warum hast du mir nicht mitgeteilt, dass ihr die Wohnung verlasst? Wolltest du die Zeugin allein vernehmen?« Sein Ton war maßregelnd, was Oda sofort auf die Palme brachte. Auch Zusanna Rothers offene Miene verschloss sich wie eine Auster.

Oda sah Lürssen verärgert an. »Entschuldigen Sie bitte diese unangebrachte Bemerkung meines Kollegen«, sagte sie zu Zusanna Rother. »Er ist erst seit Kurzem in unserer Abteilung und offensichtlich unter Wölfen aufgewachsen.« Es war ihr in diesem Moment vollkommen schnuppe, was Lürssen von ihren Worten hielt. Er hatte sich unverzeihlich frech verhalten, und sie sah überhaupt nicht ein, ihm das durchgehen zu lassen. »Hat Ihre Schwester Ihnen gegenüber von Ärger berichtet? Von Streit? Von einem aggressiven Kunden?«

Zusanna Rother schüttelte den Kopf.

»Ich will euer Tête-à-Tête ja nicht stören, aber es gibt etwas, was ich dir zeigen muss, Oda.« Lürssen gab nicht auf. »Es bringt einen komplett neuen Aspekt in die Angelegenheit.«

Oda schluckte eine weitere scharfe Erwiderung hinunter. »Hat das nicht Zeit?«

»Nein.« Lürssen drehte sich um und ging zurück in Richtung Haus.

Oda wandte sich wieder Zusanna Rother zu. »Entschuldigen Sie mich bitte. Wollen Sie warten, oder kommen Sie mit hinein?«

»Ich komme mit. Ich friere. Und schließlich interessiert mich ebenfalls, was Ihr Kollege angeblich entdeckt hat.«

Diesmal fuhren sie alle zusammen mit dem Lift hinauf. In der Wohnung ging Lürssen ins Schlafzimmer voraus, in dem Manssen und sein Team weiterhin dabei waren, alles auf Spuren abzusuchen. Oda folgte, bat Dr. Rother jedoch, im Esszimmer zu warten.

»Schau dir das an. Das ist die reinste Drogenbar.« Triumphierend deutete er auf eine geöffnete Nachttischschublade, in der sich neben zahlreichen Kondomen in unterschiedlichen Größen, Farben und Geschmacksrichtungen mehrere Tablettenblister und ein halbes Dutzend kleine, eingeschweißte Päckchen mit weißem Pulver befanden, ebenso wie etwas Hasch, ein gläsernes Nasenröhrchen, Klingen und ein Spatel.

»Scheiße«, entfuhr es Oda.

»Auf dem Nachttisch haben wir Spuren von dem weißen Zeug gefunden«, sagte Manssen. »Aber was es genau ist, kann ich erst nach der Analyse sagen.« Auch er war augenscheinlich kein Freund von Lürssens Schnellschüssen.

»Die werden sich eine fette Line reingezogen haben, bevor es zur Sache ging«, fuhr der gänzlich ungerührt fort. »Egal, was, es wird sich auf jeden Fall um Drogen und nicht um Backpulver handeln. Ob sie ein Junkie war?«

Oda zog sich neue Einmalhandschuhe über, trat an das kleine Möbelstück aus weißem Holz, dessen Oberfläche aus Glas war, und nahm einen angebrochenen Tablettenblister heraus. »›Modafinil 100 mg‹.« Sie suchte vergeblich nach der dazugehörigen Packung.

Lürssen lachte selbstherrlich. »Vielleicht was, das anturnt. Sie wird das Zeug ihren Kunden angeboten haben. Damit so richtig die Post abgeht. Bestimmt kann die Schwester dir mehr dazu sagen. Die ist ja auch ein scharfes Geschoss. Womöglich machen sie diesen Job gemeinsam und teilen sich den Arbeitsplatz.«

»Lürssen!«, sagte Oda warnend.

Er zwinkerte ihr zu. »Hör auf, so prüde zu sein. Ist aber schnuppe. Das ist auf jeden Fall deutlich mehr Zeug, als man normalerweise in einem Haushalt findet.«

»Wie gut, dass du dich auskennst«, meinte Oda trocken, wandte sich zum Gehen und stellte überrascht fest, dass Zusanna Rother im Türrahmen stand. Ihre Augen schossen Blitze auf Lürssen, doch sie kommentierte seine Unflätigkeit nicht.

Oda deutete auf den Nachtschrank und die geöffnete Schublade. »Wussten Sie, dass Ihre Schwester Drogen nahm?«

Zusanna Rothers Blick wanderte kurz durch den Raum, bevor sie Oda ansah. »Drogen. Das hört sich so … kriminell an. Aber, ja, Valeska rauchte ab und an einen Joint.«

»Und schnupfte Kokain«, ergänzte Lürssen.

»Kokain?«, fragte Zusanna Rother überrascht.

»Genau. Nun tun Sie nicht so, als ob Sie das nicht wüssten. Sie sind doch soooo eng miteinander.«

»In der Schublade befanden sich außerdem etliche Tabletten mit einem Wirkstoff namens Modafinil. Was ist das?«, fragte Oda.

»Ein Medikament zur Behandlung von Narkolepsie.«

»Narkolepsie?«

»Tagesmüdigkeit. Dauernde Müdigkeit. Das putscht etwas auf, hält wach. Leider hatte Valli damit zu tun, deswegen hab ich ihr die Tabletten verschrieben.«

»Das hat sie mit den Drogen kombiniert«, meinte Lürssen. Er musterte Zusanna Rother von oben bis unten. »Für eine Ärztin gehen Sie ziemlich lässig mit der Tatsache um, dass Ihre Schwester Kokain konsumierte. Hätten Sie sie nicht davon abhalten müssen, Drogen zu nehmen?«

»Nun hören Sie mal auf, auf dem Wort Drogen rumzureiten. Ich garantiere Ihnen, dass sie schon lange kein Kokain mehr nahm. Außerdem war meine Schwester alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Ich denke, sie hat gewusst, was sie tut.« Zusanna Rother hob das Kinn, stieß sich vom Türrahmen ab und ging zurück in den Flur. »Informieren Sie einen Bestatter, oder soll ich das machen? Was meinen Sie, wann die Beerdigung voraussichtlich stattfinden kann?«

»Das wird noch etwas dauern, wie Ihnen wahrscheinlich bekannt sein dürfte. Wir lassen sie zunächst nach Oldenburg in die Rechtsmedizin bringen, dort wird sie obduziert. Sobald die Leiche freigegeben werden kann, melde ich mich bei Ihnen. Den Transport nach Oldenburg organisieren wir. Darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Wenn Sie später für die Beerdigung einen anderen Bestatter beauftragen möchten, ist das natürlich Ihre freie Entscheidung.« Oda ging neben Zusanna Rother her in die Küche. Dort öffnete die Ärztin den Schrank über der Spüle, nahm ein Glas heraus, füllte es mit Leitungswasser und trank gierig.

»Sie war doch erst zweiunddreißig«, brach es plötzlich aus ihr hervor, und Oda staunte über diese unerwartete Gefühlswallung. »Sie hatte noch das ganze Leben vor sich.«

»Ja. Es ist wirklich tragisch.« Mehr konnte Oda dazu nicht sagen. Es gab keinen Trost in solch einer Situation.

»Wir waren nicht nur Schwestern. Wir waren auch beste Freundinnen. Bedingungslos füreinander da.« Wieder füllte Zusanna Rother das Glas.

»Aber trotzdem haben Sie nichts dagegen getan, dass Ihre Schwester Drogen und Tabletten nahm?«, hakte Oda ein wenig skeptisch nach.

Zusanna Rother biss sich auf die Unterlippe. »Ich sagte doch, ich glaube nicht, dass sie das Kokain selbst konsumiert hat. Der Umstand, dass Sie diese Dinge hier gefunden haben, muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass Valli sie auch genutzt hat. Sie tun ja gerade so, als ob Valli ständig unter Drogeneinfluss gestanden hätte. Dem ist definitiv nicht so. Sie war kein Junkie. Und man kann füreinander da sein, ohne jede klitzekleine Einzelheit über den anderen zu wissen. Wir sind schließlich eigenständige Persönlichkeiten mit eigenen Leben. Es stünde mir auch gar nicht zu, das Leben meiner Schwester zu kontrollieren. Wenn sie ein Problem gehabt hätte, wäre sie zu mir gekommen und hätte es mit mir besprochen. Das weiß ich.«

Nachdenklich blickte Oda die Ärztin an. So, wie sie sprach, klang es überzeugend. Außerdem hatte sie recht: Wer durfte sich schon anmaßen, über einen anderen zu bestimmen?

Zusanna Rother schien Odas Gedanken lesen zu können. »Wann sind Sie hier fertig? Wann können wir endlich hier raus?«

»Sie können jederzeit gehen. Wir brauchen allerdings die Schlüssel, denn wir müssen die Wohnung versiegeln. Sie ist nun ein Tatort, und es kann sein, dass wir noch weitere Untersuchungen anstellen müssen.«

Wie aufs Stichwort stand auf einmal Manssen in der Tür. »So weit hätte ich alles im Kasten«, sagte er. »Wir haben den Leichnam von allen Seiten fotografiert, Aufnahmen vom Schlafzimmer und den übrigen Räumen sind ebenfalls gemacht. Ein Handy haben wir nicht gefunden. Es sieht insgesamt nicht nach einem Raubüberfall oder einem vorausgegangenen Kampf aus, bis auf das Bett ist nichts verwüstet. Proben und Abdrücke haben wir natürlich auch genommen. Im Badezimmermülleimer war ein Kondom. Das wird eine erstklassige DNA-Spur liefern. Falls das vom Täter war, ist der selten dämlich.«

»Hab ich auch gesehen.«

»Wir sind dann weg. Du hörst von uns. Den Bestatter haben wir vorhin informiert. Er müsste jeden Moment da sein.«

»Danke.«

Schon war Manssen wieder verschwunden, aber der emotionale Moment bei Zusanna Rother war vorbei.

Abweisend blickte sie Oda an. »Muss das sein? Ein polizeiliches Siegel an der Wohnung macht sich nicht gut. So was spricht sich herum. Ich möchte nicht, dass die Wohnung mit einem Makel behaftet ist, wenn ich sie zum Verkauf anbiete.«

Oda stutzte. Valeska Schmidt war noch nicht einmal unter der Erde, und schon dachte ihre Schwester an den Verkauf der Wohnung? Ziemlich pragmatisch. Empathie schien nicht ihre Stärke zu sein. Oder es war der Schock, unter dem sie stand. Erst jetzt fiel Oda das leichte Zittern auf, das durch Zusanna Rothers Körper lief. »Geht es Ihnen auch wirklich gut? Soll der Arzt Ihnen nicht doch etwas zur Beruhigung geben?«

»Nein. Ich kann meine Reaktion genauestens einordnen. Schließlich bin ich selbst Ärztin.«

»Wie Sie meinen. Was für eine Ärztin sind Sie eigentlich?«

»Allgemeinmedizinerin. Ich habe zusammen mit einem Kollegen eine Praxisgemeinschaft in Wilhelmshaven.«

»Aber Sie wohnen auch in Horumersiel?«

»Nein. Ich wohne in Wilhelmshaven.«

»Haben meine Kollegen schon Ihre Daten aufgenommen? Adresse, Telefonnummer und so? Wir werden sicherlich noch einmal mit Ihnen reden müssen. Gibt es außer Ihnen weitere Angehörige? Ihre Eltern vielleicht? Können oder sollen wir jemanden vom Tod Ihrer Schwester unterrichten, oder möchten Sie das übernehmen?«

Sie hörte ein Räuspern und drehte sich um.

Der Bestatter stand im Türrahmen, schwarz gekleidet und mit ernstem Gesichtsausdruck. Hinter ihm wartete eine Frau, ebenfalls ganz in Schwarz. »Wir wurden informiert, dass wir einen Leichnam abholen sollen.«

»Ja.« Oda stand auf, ging voran ins Schlafzimmer und warf einen letzten Blick auf die Tote. Dann nickte sie den Bestattern zu. Während die beiden sich respektvoll der Toten näherten, verließ sie den Raum und ging zurück in die Küche.

Bei ihrem Anblick nahm Zusanna Rother, die sich gerade noch mit gekrümmtem Rücken an die Arbeitsplatte gelehnt hatte, eine kerzengerade Haltung ein. Als wappnete sie sich gegen einen Feind. Mit einem Ruck stellte sie das Glas in die Edelstahlspüle und ging an Oda vorbei. »Nein. Es gibt niemanden außer mir.« Mit diesen Worten nahm sie ihre Tasche von der Lehne des Küchenstuhls.

»Dann geben Sie mir doch bitte noch Ihre Kontaktdaten. Es wäre gut, wenn wir Sie auch während Ihrer Sprechzeiten erreichen könnten.« Oda notierte die Angaben auf einem Zettel, steckte ihn in ihre Jackentasche und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es ging inzwischen auf sechzehn Uhr zu. »Wahrscheinlich warten schon Patienten auf Sie?«

»Nein. Freitagnachmittag ist nicht geöffnet. Da mache ich normalerweise Hausbesuche. Nur die Mittagsstunde mit meiner Schwester ist mir heilig.« Zusanna Rother machte zunehmend einen fahrigen Eindruck. Oda entschied, für den Moment nicht weiter in sie zu dringen.

»Am besten, Sie fahren jetzt nach Hause und ruhen sich aus. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, egal, ob es mit dem Job oder mit dem Privatleben Ihrer Schwester zu tun hat, wenn es also irgendetwas gibt, was Ihnen wichtig erscheint und uns helfen könnte, den Tod Ihrer Schwester aufzuklären, melden Sie sich bitte bei uns.« Oda zog eine Visitenkarte aus der Gesäßtasche ihrer Jeans. »Unter dieser Nummer können Sie mich erreichen. Und falls nicht, hinterlassen Sie eine Nachricht. Ich melde mich so bald als möglich.«

Zusanna Rother nahm die Karte entgegen und steckte sie achtlos in die Tasche ihres Blazers.

»Ach ja, fast hätte ich es vergessen«, sagte Oda. »Das Handy Ihrer Schwester … wissen Sie, wo das ist? Das bräuchten wir.«

»Muss das sein? Ich wollte es mitnehmen. Es ist doch das Persönlichste, was man hat. Da sind all ihre Kontakte drauf, von denen ich sicher einige benachrichtigen muss. Und viel privater Kram in den Chats und so. Das ist ziemlich intim.«

»Genau deswegen brauchen wir es. Vielleicht sind Hinweise darauf, was Ihre Schwester in den Tagen und Stunden vor ihrem Tod gemacht hat.«

Widerstrebend öffnete Zusanna Rother ihre Handtasche, holte das Mobiltelefon mit der bunten Schutzhülle heraus und hielt es Oda hin. Überrascht blickte Oda sie an.

»Das war vorhin gar nicht Ihr eigenes Handy, sondern das Ihrer Schwester, mit dem Sie hantiert haben? Warum haben Sie es angefasst?« Sie konnte nicht vermeiden, dass Verärgerung in ihrer Stimme mitklang. »Sie konnten sich doch denken, dass wir es untersuchen müssen. Jetzt werden wir wahrscheinlich vor allem Fingerabdrücke von Ihnen darauf finden.«

Auf einmal kam Leben in die bislang so beherrschte Frau. »Warum ich es an mich genommen habe? Was ist das denn für eine bescheuerte Frage?« Sie deutete in Richtung des Schlafzimmers. »Da drüben lag meine tote Schwester. Stranguliert und anderweitig traktiert. Ich wollte versuchen herauszufinden, wer ihr das angetan hat! Ist das so schwer nachzuvollziehen?«

Oda zog einen Ziplock-Beutel aus der Tasche ihrer schwarzen Jacke und öffnete ihn. »Hier hinein, bitte.«

Zusanna Rother ließ das Handy hineinplumpsen.

»Das kann man so oder so sehen«, griff Oda Zusanna Rothers Frage betont ruhig auf. »Einerseits ist es verständlich, andererseits müssten Sie wissen, dass das Handy für uns ein wichtiges Instrument ist, um mehr über Ihre Schwester und vielleicht auch die Umstände ihres Todes herauszufinden. Wenn Sie darauf nach etwas gesucht haben, werden Sie auch den Code zum Entsperren kennen.« Das war eine Aufforderung. Keine Bitte.

Zusanna Rother reckte trotzig ihr Kinn nach vorn. »Natürlich. Es ist der Todestag unserer Mutter.«

***

Kriminaloberkommissar Sven Lürssen schäumte vor Wut, als er am Steuer des Dienstwagens zurück nach Wilhelmshaven fuhr. Auf dem Beifahrersitz saß schweigend seine Kollegin Oda Wagner. Wieder hatte er das Fahrtziel in das Navi eingegeben, schließlich kannte er sich über Land noch nicht so aus, und Oda hatte ihm vorgeschlagen, die Route am Wangertief entlang zu nehmen statt durch den belebten Ort. Er hatte keinen Blick für das frische Grün, auf dem unzählige Gänse rasteten. Von der Nordsee sah man auf dieser Strecke kaum etwas, lag die Straße Richtung Crildumersiel doch unterhalb des Deiches. In der entgegengesetzten Richtung fuhr man ein Stück oben auf dem Deich, wie er jetzt sah, weil ihnen oben Autos entgegenkamen. Er merkte, dass seine Hände und auch sein Kiefer total verkrampft waren, lockerte unmerklich den Griff ums Lenkrad und zog die Mundwinkel zurück, wobei sich die Kiefer automatisch voneinander lösten. So würde er sich nie wieder von seiner Kollegin behandeln lassen. Das stand für ihn fest. Nur weil sie Hauptkommissarin war, würde er dieses arrogante Verhalten nicht länger dulden. Garantiert war sie sowieso nur wegen der Frauenquote befördert worden. Und bestimmt hätte eigentlich Christine Delvental den höheren Dienstgrad erhalten sollen, nur war die schwanger geworden. So musste es gewesen sein. Oda war doch vollkommen ungeeignet dafür, eine höhere Position zu bekleiden. Allein, wenn man ihre Schuhe betrachtete. Am liebsten trug sie kreativ bemalte Sportschuhe, die von einem Wilhelmshavener Start-up gefertigt wurden, »Born originals«. Auffallen um jeden Preis schien ihre Devise zu sein. Gegen den Strom schwimmen. Aber bei ihm stieß sie an eine Staumauer, die nicht zu überwinden war.

Ohne abzubremsen, nahm Lürssen die Kurve, nach der die Straße wieder zweispurig wurde. Oda zischte hörbar.

»Kerl, kannst du nicht vernünftig fahren? Ich hab keine Lust, deinetwegen im Krankenhaus zu landen.«

Er beschloss, ihren Einwand zu ignorieren, und drückte aufs Gaspedal.

***

Christine war gerade dabei, zwei Zeugenaussagen auf zeitliche Übereinstimmung zu kontrollieren, als ihr Handy klingelte. Sie lächelte, als sie sah, dass Phillip anrief. Eine willkommene Abwechslung. In den letzten Monaten hatte er wegen eines Projektes sehr viel um die Ohren gehabt und war oft erst spät nach Hause gekommen. Dennoch rief er sie mehrmals am Tag an, um sich zu vergewissern, dass es ihr und dem Baby gut ging.

»Hallo, Schatz«, begrüßte sie ihn, »keine Sorge, ich mache gleich Feierabend. Ich warte nur noch auf Oda und Lürssen. Sie mussten wegen einer Toten nach Horumersiel. Offenbar liegt ein Gewaltverbrechen vor. Ich würde gern noch die Details erfahren, bevor ich ins Wochenende gehe. Bleibt es dabei, dass wir heute Abend ins ›L’Orient‹ essen gehen, oder soll ich noch einkaufen und uns etwas Leckeres kochen?«

»Ach, Sprotti, es tut mir leid. Es lässt sich überhaupt nicht abschätzen, wann ich Feierabend machen kann. Die Bauherren wollen sich noch mit mir zusammensetzen, und du weißt ja, wie anspruchsvoll und anstrengend sie sind.«

Entgegen seinen sonstigen Projekten, die den Bau großer Logistikzentren betrafen, hatte Phillip sich überreden lassen, einen Gebäudekomplex mit Arztpraxen und einer Apotheke zu entwerfen. Das sei mal eine Herausforderung ganz anderer Art, hatte er gesagt und hinzugefügt, dass er wahnsinnige Lust darauf hätte. Außerdem wäre es klasse, auch ein solches Projekt in seinem Portfolio zu haben. Immerhin war dieses Objekt in Wilhelmshaven geplant und nicht – wie die anderen Aufträge – über den gesamten deutschen Raum verteilt.

»Schon wieder? Schade.« Sie versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sie hatte sich sehr auf den gemeinsamen Abend gefreut, immerhin wurde die Zeit, in der sie etwas nur zu zweit unternehmen konnten, knapp. In wenigen Wochen würde ihr Baby ihren Alltag bestimmen. »Dann holen wir es eben morgen nach. Lass dich nur nicht zu sehr von denen vereinnahmen. Die sollen nicht denken, sie könnten einfach pfeifen, und du springst.«

»Das tue ich nicht, und das weißt du«, sagte Phillip knapp. »Aber wir sind in der Endphase der Planungen, und es ist besser, jetzt Zeit zu investieren, als später während der Bauarbeiten Korrekturen vornehmen zu müssen. Das wird bekanntlich wesentlich teurer. Die Preise sind in der letzten Zeit ohnehin explodiert. Ich kann von Glück sagen, dass ich solvente Auftraggeber habe.«

»Entschuldige, ich hab das doch nicht böse gemeint.« Dass Phillip sich aber auch immer so leicht angegriffen fühlte. Er müsste doch inzwischen wissen, wie sie es meinte. Aber sicher stand auch er unter Anspannung. Nicht nur wegen des neuen Projektes, sondern ebenso wegen der Tatsache, dass er in Kürze Vater wurde. Sie waren schließlich nicht mehr jung, hatten beide die vierzig überschritten, und dass sie schwanger geworden war, als Geschenk angenommen.

»Nein. Das hast du nicht. Ich weiß.« Nun klang Phillip etwas besänftigt. »Wir sehen uns also später. Kauf bitte nichts Schweres ein, das übernehme ich morgen.«