Mord und Sühne - Matthias Blazek - E-Book

Mord und Sühne E-Book

Matthias Blazek

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Beschreibung

Öffentliche Hinrichtungen gab es in Hessen bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus. Letztmalig fand eine öffentliche Hinrichtung bei Marburg 1864 nach einem Mord an einer schwangeren jungen Tagelöhnerin statt: Der Schuhmacher Ludwig Hilberg aus dem kurhessischen Ockershausen bei Marburg an der Lahn schnitt am Vormittag des 9. September 1861 seiner Geliebten Dorothea Wiegand die Kehle durch, weil sie von ihm schwanger war und er eine Heirat mit ihr ablehnte. Drei Tage später fand der »Forstlaufer« Lorenz Reinhardt die Leiche mit durchschnittener Kehle und durch zahlreiche Messerstiche entstellt am Südhang des Dammelsberges. Im Juni 1864 endete der Prozess gegen Hilberg mit einem Schuldspruch sowie der Verurteilung zur Enthauptung. Bald nach dem Urteil gestand Hilberg doch noch die Tat: Weder hatte er Dorothea Wiegand heiraten wollen, da sie im Ort allseits als »das Hinkel« verspottet wurde, noch wollte er die gesellschaftlichen Konsequenzen ertragen, die sich für ihn im Dorf als Vater eines unehelichen Kindes ergeben hätten. Noch heute steht die »Mordeiche« am Tatort und zeugt von der grausigen Tat. Matthias Blazek hat für sein jüngstes Werk detailliert recherchiert und legt einen minutiösen Bericht über den Mordfall, seine gerichtliche Aufarbeitung und die letzte Hinrichtung in Hessen vor – dem einzigen Bundesland, in dessen Landesverfassung noch bis heute (2017) die Todesstrafe steht (Art. 21). Blazek präsentiert wiederum zahlreiche Abbildungen, zeitgenössische Darstellungen und bislang unveröffentlichte Dokumente; ferner stellt er einen ausführlichen Lebenslauf des letzten hannoverschen Scharfrichters, Christian Schwarz, bereit, der den traurigen Akt auf dem Rabenstein bei Marburg 1864 vollzog.

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Seitenzahl: 205

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ibidem-Verlag, Stuttgart

 

Gliederung

Vorwort

Mord und Sühne:

Christian Schwarz (1793-1867), Scharfrichter aus Groß Rhüden

Weitere Hinrichtungen in Deutschland im Jahr 1864

Ockershausen

Annalen der Justiz und Verwaltung, 1865

Prozess Hilberg (Didaskalia, 15.06.1864)

Prozess Hilberg (Didaskalia, 16.06.1864)

Prozess Hilberg (Didaskalia, 17.06.1864)

Prozess Hilberg (Didaskalia, 18.06.1864)

Prozess Hilberg (Didaskalia, 19.06.1864)

Prozess Hilberg (Didaskalia, 21.06.1864)

Prozess Hilberg (Didaskalia, 22.06.1864)

Prozess Hilberg (Didaskalia, 24.06.1864)

Prozess Hilberg (Didaskalia, 28.06.1864)

Prozess Hilberg (Didaskalia, 07.09.1864)

Verteidiger Dr. Julius Wolff (1828-1897)

Staatsanwalt Carl Brauns (1820-1890)

Schwurgerichts-Präsident Otto Neuber (1813-1868)

Seelsorger Wilhelm Kolbe (1826-1888)

Impressum

Vorwort

Öffentliche Hinrichtungen gab es in Hessen bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus. Letztmalig fand eine öffentliche Hinrichtung bei Marburg 1864 nach einem Mord an einer schwangeren jungen Tagelöhnerin statt.

Der Schuhmacher Ludwig Hilberg aus dem kurhessischen Ockershausen bei Marburg an der Lahn hat am Vormittag des 9. September 1861 seiner Geliebten Dorothea Wiegand die Kehle durchgeschnitten, weil sie schwanger war und ihm für eine Heirat ein zu geringes Sozialprestige mitbrachte. Am 12. September fand der „Forstlaufer“ Lorenz Reinhardt die durch zahlreiche Messerstiche entstellte Leiche mit durchschnittener Kehle am Südhang des Dammelsberges, eines 318 Meter hohen Höhenzuges des Marburger Rückens. Schon bald war klar, dass es sich hierbei um die ledige Dorothea Wiegand handelte. In der Nähe wohnende Bürger hatten zudem am Vormittag des 9. September laute Schreie im Wald vernommen.

Bald fiel der Tatverdacht auf den Schuhmacher Hilberg, der zur Tatzeit mit Dorothea Wiegand enger liiert war und sie zudem, wie sich später herausstellte, unlängst geschwängert hatte. Zwar lenkte Hilberg zunächst den Tatverdacht auf einen anderen Mann, auch eine weitere Person wurde der Tat bezichtigt, aber beide verfügten über Alibis. Hilberg wurde im „Hexenturm“ eingekerkert. Er leugnete die Tat hartnäckig. Trotz erdrückender Beweise kam es in der Schwurgerichtsverhandlung zu einem Freispruch. Die Hälfte der Geschworenen war nicht von der Schuld des Angeklagten überzeugt und wollte, da die Todesstrafe zu erwarten stand, kein Fehlurteil riskieren.

Hilberg wurde aus der Untersuchungshaft entlassen. Der Staatsprokurator, entsprechend dem heutigen Staatsanwalt, blieb weiter in der Sache aktiv. 54 Tage nach der Entlassung wurde Hilberg wieder inhaftiert. Der erneute Prozess im Juni 1864 endete mit dem Schuldspruch sowie der Verurteilung zum Tode durch das Schwert. Bald nach dem Urteil gestand Hilberg dann doch die Tat. Er wollte die im Ort als „das Hinkel“ verspottete Dorothea Wiegand wegen ihres geringen gesellschaftlichen Ansehens nicht heiraten und fürchtete andererseits die Konsequenzen, die sich für ihn als Vater eines unehelichen Kindes im Dorf ergeben hätten.

Vom Mordort zeugt noch heute die so genannte „Mordeiche“.

Matthias Blazek

Mord und Sühne:

Der Prozess gegen den Schuhmacher Ludwig Hilberg,

der 1864 vor großem Publikum hingerichtet wurde

Es ist wohl einer der wenigen Umstände, die dazu führen, dass Charakterstudien von Personen auch unterer Gesellschaftsschichten angefertigt wurden: Mord. Im Falle von Mordanklagen wurde damals wie heute akribisch ermittelt, recherchiert, gesammelt und dokumentiert. Gerade in den Gerichtsverhandlungen im 19. Jahrhundert erkennt man zunehmend Sittenbilder und Beschreibungen von Personen, die sonst möglicherweise nie in den Genuss gelangt wären, namentlich für die Zukunft festgehalten worden zu sein. Und dafür musste leider erst ein Mord geschehen.

Die Gerichtsakten enthalten genaue Beschreibungen aller Umstände und Vorgänge, von denen hier nur ein kleiner Auszug gegeben werden kann. Insofern sind die Akten vor allem in sozialgeschichtlicher Hinsicht interessant, da sich hier Aussagen zu Tagesablauf, Wohnverhältnissen, Ernährung, Kleidung und Bildungsstand der Volksschichten machen lassen, die ansonsten quellenmäßig schwer zu fassen sind.

Ein solcher Fall datiert vom Zeitraum 1861-1864, der mit einem Mord unweit Marburgs einsetzt und mit einer der letzten öffentlichen Hinrichtungen in Deutschland endet.

Am Morgen des 12. September 1861, einem Donnerstag, wurde vom Forstlaufer (Forstknecht) Lorenz Reinhardt die Anzeige gemacht, im Dammelsberg, nahe bei Marburg, liege eine weibliche Leiche. Er habe sie um acht Uhr morgens im Blut liegend vorgefunden.1

Das kurz nach zehn Uhr morgens eintreffende Gerichtspersonal fand auf dem südlichen Abhang und im Wald des Dammelsbergs auf einem in der Nähe des Waldrandes herführenden Wege einen mit bäuerlichem Frauenanzug bekleideten leblosen Körper liegen, in dessen linker Hand sich ein zusammengefaltetes blutiges Tuch befand. Dem Gerichtspersonal bot sich ein schauderhafter Anblick dar. Der Länge nach mitten auf dem Weg lag der kräftige Körper, am Hals eine 5 Zoll lange, 4½ Zoll tiefe, klaffende, scharfkantige Wunde, das Gesicht unkenntlich und mit Blut überdeckt.2

Der Kopf der Leiche war unbedeckt, der Zopf hing herunter; vor den Knien lagen ein Kamm und ein neues Mützchen mit zur Schleife gebundenen Bändern, ohne Blutspuren. Am Hals der Leiche klaffte eine breite, mit geronnenem Blut und Maden angefüllte Wunde, von welcher aus auf dem Erdboden eine 8 Fuß lange und 8 bis 10 Zoll breite Blutspur verlief. In dieser Blutlache, fast unter der Mitte des linken Unterarms, lag ein Tischmesser mit Holzstiel und abgerundeter Klinge.

Oberhalb des Kopfes zeigte sich eine kleinere Blutspur, vor dem Unterleib eine Menge von solchen und vom rechten Knie ab eine ein bis zwei Zoll breite Blutspur. Das Gesicht der Leiche war unkenntlich, von Blut und Maden überdeckt; nach erfolgter Reinigung des Gesichts wurde die Leiche am Nachmittag von mehreren Personen als die der Dorothea Wiegand von Ockershausen, einem Ort unweit von Marburg, anerkannt.

Der Körper der Leiche war kräftig und 5½ Fuß lang. Auf der Vorderseite des Halses, dicht unter dem Unterkiefer, fand sich die erwähnte weitklaffende, 5 Zoll lange, 1½ Zoll tiefe, an der Grundfläche 3 1/3 Zoll messende scharfrandige Wunde, welche die Halsadern und den Kehlkopf bis auf die Halswirbel durchdrang. Unterhalb dieser Wunde zeigten sich am Hals noch drei die Hautdecken durchdringende Schnittwunden.

Die rechte, mit halbgeronnenem Blut ausgefüllte Hand zeigte auf der Innenseite des Mittel- und Ringfingers eine querlaufende Schnittwunde, die linke blutige Hand, in welcher das Tuch lag, auf der Innenseite des Zeigefingers zwei Hautabschürfungen, auf dem Mittelfinger nach innen eine Schnitt-, nach außen eine Schramm- oder Schnittwunde.

An beiden Oberschenkeln und den von den Strümpfen unbedeckten Teilen der Unterschenkel fanden sich viele rötliche, zum Teil der Haut beraubte Quetschungen und Eindrücke wie von Fingernägeln.

Die Gebärmutter der Getöteten enthielt eine regelmäßig gebildete Frucht von 16 bis 20 Wochen.

Nach dem Gutachten der Gerichtsärzte war der Tod durch Verbluten in Folge des Durchschneidens sämtlicher Gefäßstämme des Halses eingetreten „und mußte durch diese Halswunde allein unabwendbar nach wenigen Augenblicken erfolgen“.

Anfangs wurde vermutet, dass die Tote aus der Gegend von Marburg kommen würde. Später wurde gemutmaßt, dass sie aus Ockershausen komme, aber erst gegen 10.45 Uhr äußerte der Gerichtsdiener Philipp Lyding die Vermutung, dass die Tote Dorothea Wiegand sei. Es lag anfangs der Anschein eines Selbstmords vor, aber sowohl die Persönlichkeit als auch die Todesart konnten erst am Nachmittag bei der Leichenschau festgestellt werden.

Vom Gedanken an einen Selbstmord kam man bald ab. Die Position der Leiche und die große Anzahl der Wunden widerlegten diese Annahme. Dass die Getötete diese und die drei anderen vorher entstandenen Halswunden sich selbst zugefügt hatte, wurde schon wegen der Schmerzhaftigkeit dieser Todesart und der dazu nötigen Willenskraft für sehr unwahrscheinlich gehalten. Die ganze Lage des Leichnams, die Mehrheit der Halswunden und der Blutspuren, die vielen, wahrscheinlich durch Eindrücke von Fingernägeln und vor dem Tode entstandenen Quetschungen der zum Teil entblößten Schenkel sowie vor allem die an beiden Händen gefundenen, im Leben und vor den Halswunden entstandenen, diesen gleichartigen Schnittwunden setzten es außer Zweifel, dass dem Tod ein Kampf mit einer feindlichen Gewalt vorausgegangen war, bei welchem die Getötete das schneidende Werkzeug abzuwehren und zu entwinden suchte, und dass sie liegend überwältigt und dann der tödliche Halsschnitt vollführt wurde.

Dass Dorothea Wiegand sich mit dem bei ihr gefundenen Tischmesser, dem Werkzeug, mit welchem ihr die Wunden zugefügt worden waren, selbst entleibt haben könnte, war bei der Anzahl derselben und der Größe des Blutverlustes deshalb nicht anzunehmen, weil am Stiel nur wenige – wie von einem blutigen Finger aufgedrückte – an der sonst blanken Klinge sich aber nur die Blutspuren fanden, wo jene unter dem Blutstrom lag. Dorothea Wiegand hatte nach den eingetretenen Ermittlungen dieses Messer auch niemals besessen.

Die Mordeiche, stummer Zeuge des Verbrechens. Foto (6.11.2013): Dr. Lutz Münzer

Das in der linken Hand des Leichnams gefundene, regelmäßig zusammengefaltete Tuch war nach dem ärztlichen Gutachten erst nach ihrem Tod dort hineingelegt worden.

Als bereits am 11. September nachmittags der Privatmann Schäfer bei einem Spaziergang am Dammelsberg die Leiche gesehen hatte, ohne jedoch davon eine Anzeige oder Mitteilung an andere zu machen, habe das Messer nicht in, sondern neben der Blutlache und das Tuch auf der Erde neben dem Hals der Leiche gelegen. Beide Gegenstände waren also erst nach dem Tode von Dorothea Wiegand durch einen Anderen in ihre spätere Lage gebracht worden, offenbar, um den Schein eines Selbstmordes glaublicher zu machen, welchem die inneren Handverletzungen am auffälligsten widersprachen.

Darüber hinaus hatte Dorothea Wiegand offensichtlich keinen Anlass gehabt, sich das Leben zu nehmen. Sie hatte sich am Tage vor ihrem Tod neue Mützenbänder gekauft und diese am 9. September angenäht, die Familie Nikol zu Ockershausen in vergnügter Stimmung verlassen, ihre Schuhe bei Ludwig Hilberg mit Nägeln beschlagen lassen und wollte an demselben Tag nach Argenstein in ihren Dienst zurückkehren.3

Die Tat musste nach dem am 12. September abgegebenen Gutachten der Ärzte drei oder vier Tage vor dem Auffinden der Leiche geschehen sein. Am Montagmorgen des 9. Septembers, gegen 8 Uhr, war Dorothea Wiegand zuletzt gesehen worden. Kurz nachher sollte sie folglich das Leben verloren haben.

Gerade am Morgen dieses 9. Septembers zwischen 9 und 10 Uhr wurde von mehreren auf dem Abhang des Dammelsbergs beschäftigten Leuten von der Stelle des nahen Waldes her, an welchem die Leiche gefunden wurde, plötzlich ein auffallendes, nach zeitweiser Unterdrückung sich wiederholendes jammervolles Schreien und Hilferufen einer weiblichen Stimme gehört.

Nach den Wahrnehmungen der betreffenden Zeugen erfolgten zuerst mehrere ganz laute, dann wiederum gedämpfte Schreie. Nach einer kurzen Stille ertönte noch ein schreckliches Aufschreien, und dieses ging dann in ein Stöhnen und Wimmern über, welches nach einigen Minuten verstummte. Die Zeugen Frank und Koch hörten die Stimme mehrmals ängstlich um Hilfe rufen. Frank eilte nach der Richtung des Schreiens hin und horchte, kehrte aber, da sich nichts mehr hören ließ und er niemand sehen konnte, an seine Arbeit zurück.

Die von den Zeugen Frank und Immike sowie andererseits von G. Klippert bezeichneten Richtungen des Schreiens trafen an der Stelle, an welcher die Leiche gefunden wurde, zusammen. An dieser Stelle hatte Dorothea Wiegand ihren Tod gefunden, da sich dort die Spuren der Verblutung zeigten, und die Wahrnehmungen der erwähnten Zeugen stimmten mit dem aus dem Befund zu schließenden Hergang überein.

Aus alledem schloss man, dass Dorothea Wiegand durch fremde Hand gewaltsam getötet worden sei.

Der Verdacht fiel bald auf Ludwig Hilberg aus Ockershausen. Hilberg, am 31. Juli 1837 zu Ockershausen geboren, stand nicht in gutem Ruf und besaß nur wenig Vermögen. Er war der Sohn des im Jahre 1854 verstorbenen Tagelöhners P. Hilberg, welcher außer einigen mit Pfandschulden belasteten Grundstücken kein Vermögen hinterlassen hatte. Ludwig Hilberg hatte von 1854 bis 1858 zu Barmen als Schuhmacher gelernt und gearbeitet, von da bis zum Frühjahr 1861 als Soldat gedient und betrieb seitdem das Schuhmacherhandwerk im elterlichen Hause, welches er und seine Mutter allein bewohnten. Das sittliche Betragen und die Gemütsart des Angeklagten in der Ortsschule wurden als „schlecht“ und „sehr schlecht“ bezeichnet. Insbesondere wurde ihm Tierquälerei zur Last gelegt. Nach der Konfirmation war sein Betragen laut Ausspruchs der Kirchenältesten nicht gut. Im Jahr 1852 war er wegen Diebstahls mit drei Wochen und wegen Beleidigung mit vier Tagen geschärftem Gefängnis bestraft worden.4

Hilbergs wurden in Ockershausen „Hettches“ genannt, Ludwig Hilberg war entsprechend „Hettches‘ Ludwig“.

Ausschnitt von 1857 aus der Topographischen Karte des Kurfürstentums Hessen (1840-1861), Blatt 60, Marburg (1:25000). Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen (Lagis)/Foto: Wikipedia/gemeinfrei

Das Mordopfer, Dorothea Wiegand, 1837 unehelich zu Ockershausen geboren, war früh verwaist und verwahrlost, sie war „in dürftigen Umständen“ aufgewachsen. Sie hatte als Kind gebettelt, ernährte sich später als Tagelöhnerin, so auch im Frühjahr 1861 im Hause Hilberg, und diente seit dem 27. Juni 1861 bei den Eheleuten Wolf in Argenstein, einem kurhessischen Dorf, zu dem damals ein Edelhof, 31 Häuser und 173 Einwohner gehörten.5

Dorothea Wiegand trug den Spottnamen „das Hinkel“. Metaphorisch war das Wort „Hinkel“ (Huhn, vor allem im Hanauischen) oder „dummes Hinkel“ seinerzeit gebräuchlich, um sich abfällig über alberne Frauen auszulassen.6

Später wurde rekonstruiert, was Dorothea Wiegand in den letzten Tagen vor ihrem Verschwinden unternommen hatte. Vom 8. August 1861 an befand sie sich wegen eines Fiebers im Landkrankenhaus zu Marburg. Dort wurde ihre Schwangerschaft ärztlich bestätigt. Sie sagte, dass sie deshalb „an ihren Burschen in Ockershausen“ schreiben wolle, entschloss sich jedoch auf Anraten, die Sache mündlich abzumachen. Am 22. August aus dem Landkrankenhaus entlassen,7 erzählte sie auf dem Weg nach Ockershausen der Ehefrau Förster, dass sie dorthin zu „ihrem Burschen“, einem Schuhmacher, gehen wolle, da ihr verraten worden sei, dass er allein sei, um ihn durch ärztliche Bescheinigung von ihrer Schwangerschaft zu überzeugen, die er bisher noch nicht habe glauben wollen. Damals sah auch H. Schneider die Wiegand vom Hilbergschen Haus her kommen und hörte von ihr, dass sie bei „Hettches‘ Ludwig“ gewesen sei. Am folgenden Tag erzählte sie Katharine Textor, dass sie bei ihrem Burschen in Ockershausen gewesen sei und von diesem bereits vier Taler erhalten habe, um sich etwas zu kaufen.8

Im Zuge der Ermittlungen wurde festgestellt, dass nur der später angeklagte Ludwig Hilberg der Täter gewesen sein konnte. Ihm wurde ein genügender Beweggrund und zur Zeit der Tat dringender Anlass, Dorothea Wiegand zu beseitigen, angelastet.

Laut Leichenbefund musste Dorothea Wiegand in der Zeit von Ende April bis Ende Mai 1861 geschwängert worden sein. Seit April bis Ende Juni und bis zu ihrem Dienstantritt in Argenstein hatte sie sehr häufig in dem einsam gelegenen Hilbergschen Haus als Tagelöhnerin gearbeitet. Bei diesen Gelegenheiten war sie, weil die Witwe Hilberg von frühmorgens an in Marburg arbeitete, oft und tagelang mit Ludwig Hilberg allein. Beide scherzten zusammen, und das Lachen von Dorothea Wiegand wurde im Nachbarhaus der Ehefrau Scheerer gehört. Sie wurde wiederholt von mehreren Zeugen – auch wohl bei geschlossener Haustür – mit dem Angeklagten allein und ohne Beschäftigung angetroffen, sie besuchte die Familie Hilberg auch abends und an Sonntagen. Sie ließ bei dem Angeklagten ihre Schuhe machen und erzählte stolz, dass dieser ihr sie liefere, auch wenn sie nicht gleich bezahlen könne. Abends eilte sie öfter von ihrer Arbeit bei anderen weg, weil sie noch zu „ihrem Ludwig“ müsse. Sie erklärte der Zeugin Bom, dass Ludwig Hilberg ihr Liebhaber sei, und bezeichnete den Angeklagten, als sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte, vielen Personen gegenüber als „ihren Schwängerer“, den Erzeuger ihres Kindes.

Später hat Hilberg seinen Mitgefangenen Schulz und Bohnert gestanden, dass er „früher“ und „etwas“ Liebschaft mit der Getöteten gehabt habe, seinem später eingesperrten Zellennachbarn Johannes Heckmann erzählte er, dass er sie öfter „fleischlich gebraucht“ habe. Nach der Aussage der Zeugin Katharine Moog hatte Hilberg im Gefängnis auch Katharina Bald, die am 8. April 1862 aus der Haft entlassenen wurde, mitgeteilt, dass Dorothea Wiegand von ihm schwanger gewesen sei.

Der Angeklagte wurde durch die Schwangerschaft von Dorothea Wiegand in eine peinliche Lage versetzt. Dass er die Entdeckung der Schwangerschaft fürchtete, zeigen Äußerungen der Wiegand gegenüber Katharine Textor und den Ehefrauen Goßmann und Förster, wonach ihr Bursche ihr anbefohlen habe, niemand zu sagen, dass er der Erzeuger ihr Schwängerer sei und dass er ihr Geld gegeben und Weiteres versprochen habe.

Hilberg hatte die Entdeckung und weitere Geltendmachung der Schwangerschaft von Dorothea Wiegand und der dieser gemachten Versprechungen deshalb zu fürchten, weil er unter Zustimmung seiner Mutter mit Regine Dörr aus Bauerbach ein Eheverlöbnis eingegangen hatte und dessen baldige Vollziehung beabsichtigte. Die im Dorf wenig geachtete und laut den damaligen Darstellungen geistesbeschränkte Dorothea Wiegand konnte dem als stolz geschilderten Angeklagten für Regine Dörr keinen Ersatz bieten. Er soll sie anderen gegenüber auch niemals bevorzugt beachtet und am Ende auch widerwillig an eine Heirat mit ihr gedacht haben. Auf eine Äußerung von H. Schneider, dass er die Wiegand heiraten könne, da sie „ihm die Arbeit tue“, erwiderte der Angeklagte laut den Ermittlungen, „er wolle lieber nicht auf der Welt sein, als ein solches Geschüssel im Hause haben“. Nach dem Zeugnis der Katharine Moog habe Hilberg geäußert, „er habe die Getötete nicht heiraten können, da sie arm gewesen“ (sei), nach Aussage von Elise Wagner, „er habe die (besagte) Wiegand nicht leiden können, da sie hässlich gewesen sei und ein dickes Maul gehabt habe“, und bei Nikolaus Schulz: „das miserable Mensch sei ihm noch viel zu schecht (sic!) gewesen.“

Ludwig Hilberg hatte ferner den Unwillen seiner Mutter zu fürchten, bei welcher er sich aufhielt und welche ihm das elterliche Besitztum zu übergeben beabsichtigte. Dorothea Wiegand äußerte zu Helene Funk, die Mutter ihres Burschen dürfe nichts von ihrer Schwangerschaft erfahren, und zur Ehefrau Pletsch sagte sie, ihr Bursche sei zwar ehrlich, aber seine Mutter sei zu schlimm.

Jacob Zinser sagte der Schuhmacher, seine Mutter habe gesagt, er solle „ja nicht das Ockershäuser Mensch ins Haus bringen“, sonst werde sie beide aus dem Haus werfen. Nach Aussage der Elise Wagner habe Hilberg gesagt, er habe „Ungelegenheiten“ dadurch gehabt, dass seine Mutter das Mädchen nicht habe leiden können und deshalb immer gezankt habe.

Die Lage Hilbergs musste immer drückender werden, als Dorothea Wiegand ihn am 22. August von ihrer Schwangerschaft überzeugt hatte, wegen dieser am 7. September ihren Dienst in Argenstein verlassen hatte, ohne einen anderen Dienst in Marburg zu finden, und dann am 7. und 8. September auffallend häufig in das Hilbergsche Haus kam.

Diese Besuche hatten gewiss weniger den Zweck, ihre Schuhe beschlagen zu lassen, wohl aber den, ihre Ansprüche vorzubringen. Jetzt war für Hilberg der Augenblick gekommen, sich der ihn drückenden Last zu entledigen und seinem Lebensglück, seinem Verlöbnis und dem häuslichen Frieden Dorothea Wiegand zu opfern.

Indizien lagen anfangs kaum vor, sie mehrten sich erst allmählich. Ludwig Hilberg wurde kurz nach der Mordtat festgenommen. Während des gesamten Oktobers 1861 fanden Vernehmungen statt.

Dem Angeklagten wurde später im Anklageakt vorgehalten, dass er am 9. September und an den folgenden Tagen „verdächtige Ausgänge gemacht“ und sich in der Nähe des Ortes der Tat aufgehalten habe.

An einem der drei ersten Morgen der fraglichen Woche sah A. Meisel Hilberg gegen 9 Uhr mit einem blauen Kittel und einer Militärmütze bekleidet von seinem Haus aus den so genannten „Kuttner“, einen zum Rotenberg führenden Hohlweg, gehen, und zu Wochenbeginn, nicht lange vor Mittag, sah die Frau des Gastwirts G. Treuer auf dem „bunten Kitzel“ aus dem Gebüsch des Dammelsbergs an einer nur drei Minuten von dem Fundort der Leiche entfernten Stelle einen jungen Menschen von der Gestalt und dem Aussehen des Angeklagten herauskommen, der wie dieser einen blauen Kittel, dunkle Hosen und in der Hand ein rotes Päckchen trug und der sehr eilig über den angrenzenden Acker gelaufen sein soll.

Am Nachmittag des 9. September, gegen 15 Uhr, wurde der Angeklagte, mit einer Militärmütze und einem blauen Kittel bekleidet, ein in ein buntes Tuch gebundenes Päckchen tragend, von den Ehefrauen von Joh. und von Heinrich Menche, eine Stunde von Ockershausen entfernt, auf dem Weg von Haddamshausen nach Niederweimar „rasch vorüber gehend“ gesehen, nachdem er erst am 7. September Schuhe nach Haddamshausen und Hermershausen gebracht haben soll. Von diesem Gang konnte er gegen 16 Uhr zu Haus wieder angelangt sein.

An demselben Nachmittag, etwa um 16 Uhr, sah A. Schrodt den Angeklagten von seinem Haus her kommen und den „Kuttner“, nachdem er sich vorher umgesehen hatte, rasch hinaufgehen. Er war nach dessen Wahrnehmung mit einem blauen Kittel, einer dunklen Hose und einer Soldatenmütze bekleidet und trug ein in ein rotes Tuch gebundenes Päckchen in der Hand.

Zur selben Zeit sah M. Höhl, welcher von 15 bis 17 Uhr auf dem Rotenberg hütete, von der Richtung des etwa 14 Minuten entfernten „Kuttners“ her den Angeklagten in derselben Kleidung und mit einem bunten Päckchen in der Hand über das Feld kommen und zum nahen Dammelsberg und dem unterhalb des Waldes sich hinziehenden Sandweg hingehen. Dass Höhl in der Tat, wie er glaubte, seine Wahrnehmung am Montag machte, wurde durch die Zeitangaben der mit ihm gleichzeitig auf den umliegenden Feldern beschäftigten Zeugen bestätigt.

Am Dienstag- oder Mittwochnachmittag gegen 14 Uhr sah C. Weidenhausen den Angeklagten in derselben Kleidung von seinem Haus herkommen und den „Kuttner“ hinauf eilen. Montag oder Dienstag begegnete er Catharina Seip und dem Schreiner Justus Vormschlag mit einem Päckchen in einem roten Tuch und am Dienstag den Ehefrauen Eifert und Bauer auf dem Weg von Marburg nach Ockershausen. Am Mittwoch sah ihn Catharina Schneider von dem nach dem Sandweg in die Gegend des Dammelsberg führenden Weg, und Donnerstagmorgen sah ihn S. Struth aus derselben Richtung herunter kommen.

Diese Ausgänge wurden vom Angeklagten zum Teil geleugnet, im Übrigen nicht erklärt. Der Weg auf die Hilbergschen Äcker führte ihn nicht durch den „Kuttner“, und seine Kleidung ließ auf weitere Gänge schließen.

Auf dem Dammelsberg. Aus: Dietrich Weintraut, Erinnerung an Marburg und seine Umgebungen, N. G. Elwert, Marburg 1861, S. 19. Digitale Sammlung Blazek

Die Eile des Angeklagten fiel den Zeugen Schrodt und Weidenhausen auf; sein Wesen schien der Catharina Seip verstört und gedrückt, und der S. Struth gab er als Zweck seines Ganges unwahr an, dass er vom Schuhmacher Rehm bestellt worden sei.

Am 4. November 1861 nutzte Hilberg den Fußweg vom Landgericht zum Kugelhaus, in dem die Vernehmungen stattfanden, zur Flucht.9 Umgehend wurde von der Polizeibehörde ein Steckbrief ausgefertigt: „Alter 24 Jahre, Größe 5 Fuß 2 Zoll, Haare schwarz, Stirn hoch. Augen grau, Augenbrauen schwarz, Nase aufgebogen, Mund gewöhnlich, Zähne gut, Kinn rund, Bart im Entstehen, Gesicht oval, Farbe gesund, Statur kräftig, Religion lutherisch, Kleidung: Blaue Tuchmütze mit ledernem Schirm roten Streifen und Paspeln und Cocarde, schwarze Tuchweste, schwarz seidenes Halstuch, blau leinener Kittel, schwarze Buxkinhose.“

Noch ehe der Steckbrief die Amtsstube verließ, war Hilberg allerdings bereits gefasst. Er wurde im „Hexenturm“ in einer besonders verriegelten Zelle untergebracht.

Im Januar 1862 wurde der Saal im Wirtshaus Ruppersberg in Ockershausen zum Vernehmungslokal. 35 Zeugen waren geladen. Acht Monate lang füllten die Zeugenaussagen die Akten, 2300 Seiten lang.10

An die 150 Zeugen mussten wiederholt vernommen und zahlreiche Augenscheine vorgenommen werden. So kam es, dass der Angeklagte erst im September 1863 dem Marburger Schwurgericht zur Aburteilung überwiesen werden konnte.

Der Mordprozess gegen Ludwig Hilberg begann am 19. September 1863.

Ludwig Hilberg leugnete die Tat hartnäckig. Trotz erdrückender Beweise kam es in der Schwurgerichtsverhandlung zu einem Freispruch. Die Hälfte der Geschworenen war nicht von der Schuld des Angeklagten überzeugt und wollte, da die Todesstrafe zu erwarten stand, kein Fehlurteil riskieren. Mit sechs gegen sechs Stimmen wurde der Angeklagte freigesprochen.

Das „Fremden-Blatt“ in Wien schrieb am 5. Oktober 1863:

„(Ein Monstreprozeß.) Seit dem 19. v. M. wurde vor dem Marburger Schwurgericht ein Prozeß wegen Mord verhandelt, der sehr viel Aehnlichkeit mit dem Nolte’schen hat. Der Schuhmacher Ludwig Hilberg aus Ockershausen war nämlich angeklagt, am 9. Sept. 1861 ein Mädchen aus demselben Ort, mit dem er vertrauten Umgang gehabt und das in Folge dessen schwanger gewesen sei, in dem unweit der Stadt und Ockershausen gelegenen Vergnügungsorte Dammelsberg auf ebenso listige als teuflische Weise ermordet zu haben. Waren nun unter den circa 160 vernommenen Zeugen gerade keine, welche die Mordthat mit angesehen hatten, so lagen doch eine so große Menge anderer Indicien und Beweismittel vor, daß hier Niemand mehr an der Thäterschaft des Angeklagten zweifelte. Dennoch ist letzterer gestern Abend nach 8 Uhr auf den Wahrspruch der Geschwornen (6 für und 6 gegen schuldig) hin freigesprochen und sogleich in Freiheit gesetzt worden. Mit der gespanntesten Theilnahme ist man hier in allen Schichten der Bevölkerung diesem Prozeß gefolgt. Der Sitzungssaal nebst Vorzimmer war während der eilftägigen Dauer desselben täglich von früh bis spät angefüllt bis zum Erdrücken, und es läßt sich deßhalb leicht denken, welche Sensation die Kunde von dem Verdict der Geschwornen allenthalben hervorrief.“11

Aufgrund neu entdeckter Beweismittel wurde das Verfahren wieder aufgenommen, und Ludwig Hilberg saß nun zum zweiten Mal auf der Anklagebank, angeklagt wegen Mordes, und zwar Meuchelmordes, begangen an der von ihm schwangeren Dorothea Wiegand.

Das „Fremden-Blatt“ in Wien, eine österreichische Tageszeitung, die am 1. Juli 1847 erstmals herauskam, in ihrer Ausgabe vom 5. Oktober 1863. Digitale Sammlung Blazek

Die zweite schwurgerichtliche Verhandlung fand dann vom 13. bis 27. Juni 1864 an insgesamt zwölf Verhandlungstagen statt. Verhandelt wurde nun vor dem soeben neu konstituierten Obergericht (1864-1867), das sich wie zuvor das Kurfürstliche Obergericht für die Provinz Oberhessen (seit 1821) im Gebäude der Landgräflichen Kanzlei in Marburg befand. Das „Wochenblatt für die Provinz Fulda“ hatte die damit verbundenen personellen Umsetzungen in ihren Ausgaben vom 2. und 9. Januar 1864 bekannt gemacht:

2. Januar 1864:

„Seine Königliche Hoheit der Kurfürst haben allergnädigst geruht:

den Obergerichtsrat Röttger Ganslandt in Fulda in gleicher Eigenschaft zum neugebildeten Obergericht in Marburg zu versetzen,

den Kriminalgerichtsdirektor Karl Kraushaar in Fulda zum Obergerichtsrat beim dortigen Obergericht zu bestellen,

den Obergerichtsrat Gustav Adolf du Fais in Kassel in gleicher Eigenschaft zum Obergericht in Fulda zu versetzen,

den Kriminalgerichtssekretär Julius Klüppel