Mord zur Teestunde - Frances Brody - E-Book

Mord zur Teestunde E-Book

Frances Brody

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Beschreibung

Kate Shakleton ist mehr als überrascht, als eines Morgens eine unbekannte Frau vor ihrer Tür steht. Es ist niemand anderes als ihre Schwester Mary Jane, von deren Existenz sie bis dato gar nichts wusste. Und damit nicht genug! Mary Janes Ehemann Ethan ist verschwunden, und sie fürchtet, dass er einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Daher bittet sie die Amateurdetektivin um Hilfe. Bei ihren Nachforschungen wird Kate schnell klar, dass Ethan als Gewerkschaftsaktivist für reichlich böses Blut gesorgt hat. Und nicht nur das: Offenbar gibt es viele, die ihm den Tod wünschen. Natürlich setzt Kate wieder alles daran, den Fall aufzuklären ...

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Samstag

Prolog

Montag

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Dienstag

Eins

Zwei

Drei

Vier

Mittwoch

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Donnerstag

Eins

Freitag

Eins

Zwei

Drei

Vier

Samstag

Eins

Zwei

Drei

Vier

Sonntag

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Montag

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Kate Shackleton erlebt eine Überraschung: Ihre bisher unbekannte Schwester Mary Jane steht plötzlich vor der Tür. Und sie hat ein Anliegen: Ihr Ehemann Ethan ist verschwunden, und sie fürchtet, dass er einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Daher bittet sie die Amateurdetektivin um Hilfe. Bei ihren Nachforschungen wird Kate schnell klar, dass Ethan als Gewerkschaftsaktivist für viel böses Blut gesorgt hat, es aber auch noch zahlreiche andere Gründe für seinen mutmaßlichen Tod geben könnte.

FRANCES BRODY

Mord zur Teestunde

Kate Shackleton ermittelt

Aus dem Englischen von Sabine Schilasky

Meiner jungen Assistentin, Amy Sophie McNeil

Samstag

12. Mai 1923Great Applewick

Solomon Grundy,montags geboren,dienstags getauft,mittwochs verheiratet,donnerstags erkrankt,freitags verschlimmert,samstags gestorben.So ist die Woche vollständig geworden

für Solomon Grundy.

ALTER KINDERREIM

Prolog

Harriet hielt die tuchbedeckte Schüssel in den dünnen Händen und fühlte deren Wärme. Austin und sie schritten den ausgetretenen Weg entlang zum hinteren Teil des Gartens in Nether End.

Mam war nicht zu Hause. Sie war zur Town Street geeilt, um die »Woodbines«-Zigaretten zu kaufen, die Harriet zufällig absichtlich vergessen hatte, als sie mit Austin den Samstagseinkauf erledigt hatte. Ihre Mam wollte ein neues Haus. Sie war es gründlich leid, in der Einöde zu leben.

Der Weg führte durch eine Wiese voller Primeln, Butterblumen und Gänseblümchen. In der Ferne läutete die Kirchenglocke fünfmal.

Austin blies auf eine Pusteblume. »Die geht nicht. Diese Pusteblume sagt, dass es erst drei ist.«

Harriet, die nie um eine Antwort verlegen war, quittierte sein kindisches Denken mit einem Seufzer. »Pusteblumenuhren haben samstagnachmittags frei. Sie sind in der Pusteblumenuhrengewerkschaft.«

Er glaubte ihr immer, jedes Wort. »Warum ist Dad noch bei der Arbeit?«

»Weil er einen besonderen Auftrag fertig bekommen muss.«

»Die Sonnenuhr?«

»Ja.«

Als sie den Zaunübertritt erreichten, ließ Harriet ihn die Schüssel halten, bis sie oben war. Er gab sie ihr zurück, und Harriet stieg nach unten. Einige von Conroys Schafen weideten hier mit ihren neugeborenen Lämmern. Eines der Schafe, das Mary hieß, ließ sich streicheln, weil es von Hand aufgezogen worden war; doch heute beachtete Mary sie nicht, weil sie mit ihrem Lamm beschäftigt war. In ihrem Schulaufsatz hatte Harriet geschrieben: Der Herbst ist mir die liebste Jahreszeit. Aber vielleicht war es eher der Frühling oder der Sommer, womöglich sogar der Winter.

Als sie halb über die Weide waren, schob sich eine dichte Wolke vor die Sonne und verdunkelte die Welt. Eine Drossel zeterte in einem Weißdorn. Sie beschwerte sich über den Staub, der das Laub weiß färbte.

Von hier aus konnte man den Steinbruch riechen – Stein und Staub. Dort würde niemand mehr arbeiten außer Dad. An einem Samstag um diese Uhrzeit gab es keine Sprengungen, die in den Ohren wehtaten. Keine Steinbrechermaschine würde angedampft kommen, bereit, Kinder zu verschlingen und ihre Knochen zu zermahlen.

Austin schlurfte neben Harriet her.

»Kannst du das?« Sie schnalzte mit der Zunge, dass es sich wie Hufgetrappel anhörte.

Er versuchte es.

Schweigend und angeschoben vom Ostwind schlitterten sie halb zum Eingang des Steinbruchs. Von hier wuchs er beständig an, ähnlich einem umgestülpten Ungeheuer, das größer und größer wurde und dessen gierige Kiefer einen packen und in Stein verwandeln wollten. Betreten verboten!, stand auf dem Schild ganz vorn.

Der Boden senkte und erhob sich, wies hier Pfützen, dort Gestein auf. An dem Steilhang weit hinten klammerte sich ein Baum vergebens an die Seite eines gesprengten Felsens. Daneben war ein neuer hoher Haufen abgebrochenen Steins.

Sie gingen den Pfad an der Vorarbeiterhütte und dem großen Waggon vorbei, der die Sicht versperrte, stand man dicht genug davor. Hinter ihm kamen Leere, die dunklen Umrisse von Hütten und die fernen Hänge.

Erste Regentropfen fielen.

Im Schutz des Waggons legte Harriet die Finger an die Lippen und pfiff, einmal lang, einmal kurz – ihr Erkennungszeichen. Wenn Dad sie hörte, müssten sie nicht an den leeren Schuppen vorbei, bei denen Kobolde Verstecken spielten.

Es kam kein Antwortpfiff, nur ein Echo.

»Ich mag das nicht.« Austin schlang seine kleine Hand um Harriets Arm. »Pfeif noch mal.«

Sie pfiff.

An einem Wochentag oder einem Samstagvormittag wären andere Arbeiter mit dröhnenden Stimmen da, die Ethan zubrüllen würden, dass seine Kinder hier waren.

Keine Antwort. Wenn Dad arbeitete, schaltete er die Welt um sich herum aus. Dann hörte er nichts und niemanden. Das sagte Mam immer.

»Pfeif lauter«, jammerte Austin.

»Hab keine Angst. Die Kobolde sind nicht hier.«

»Wo sind sie denn?«

»Die gehen samstags nach Yeadon. Komm mit.«

Der abschüssige, unebene Grund machte aus ihrem Gehen ein halbes Laufen, wobei sie den Blick starr nach unten richteten, nicht zu dem Brechschuppen, dem aufragenden Kran, den Trimm- und den Sägescheunen. In dem Steinbruch warf jeder einen solch langen Schatten wie sonst nirgends auf der Welt. Harriet schubste Austin zur Seite, damit er einer Pfütze auswich, und trat dabei selbst in eine. Verflixt! Jetzt wurden ihre Stiefel durchgeweicht.

Neben Dads Steinmetzhütte schimmerte die blaue Schieferplatte der Sonnenuhr. Austin streckte eine Hand nach ihr aus, malte die Linien mit den Fingern nach und legte die Hände flach auf den Schiefer, als könnte er ihm durch seine Haut eine Geschichte erzählen.

Harriet stellte die Schüssel mit dem Essen auf die Scheibe. »Warte hier.«

Hinterher konnte sie nicht mehr sagen, warum sie in die Hütte gegangen war. Als Erstes sah sie Dads Stiefel, deren Spitzen zum gewellten Dach wiesen.

Warum hatte Dad sich hingelegt?

Harriet bekam ein seltsames Gefühl im Kopf, als könnte er sich von ihrem Körper lösen und davonschweben wie ein Ballon. Sie konnte nicht ausatmen. Steinstaub machte ihren Mund trocken. Etwas Komisches geschah mit ihren Knien. Ihre Haut kribbelte. Harriet erinnerte sich, wie der alte Mr. Bowman auf der Straße vor dem Fleece gelegen hatte und der Pferdekarren des Gemüsehändlers um ihn herumgefahren war.

Sie sank auf die Knie.

Dads harte Hand fühlte sich kalt an. Sein Gesicht war von Harriet abgewandt. Seine Wange war nicht so kalt. Seine Haare standen nach oben ab. Harriet tat, was sie manchmal machte: Sie strich mit den Fingern durch sein Haar, um es zu glätten. Etwas Feuchtes benetzte dabei ihre Hand. Sein Kopf und seine Haare rochen wie immer und doch anders. Sie hob seine Mütze auf, die sich jedoch nicht wieder aufsetzen ließ, als würde sie Dad auf einmal nicht mehr mögen oder ihn nicht erkennen. Harriet legte sie auf die Bank, von der sie gleich wieder herunterrutschte.

Weit weg hörte sie Austin ängstlich wimmern. Harriet stützte sich auf die Bank und stemmte sich nach oben.

Sie eilte zu ihrem Bruder und zog ihn in die Arme.

»Was ist denn?«, fragte er leise jammernd.

Sie sagte: »Komm einfach mit …«

»Nein!«

Sie legte beide Hände fest an seine Oberarme und drehte ihn um, in Richtung Heimweg.

Er wollte oder konnte sich nicht rühren.

»Mach die Augen zu, Austin. Kneif sie fest zu, und ich führe dich durchs Traumland.«

Er tat, was sie sagte, ließ sich von ihr ins Traumland entführen. Sie leitete ihn über kleine Hügel und durch Senken, erzählte ihm vom Lebkuchenhaus zu seiner Linken, das über und über mit Zuckerbonbons verziert war. Nein, es regnete nicht. Der Feenbrunnen spie Löwenzahn und Kletten.

Und sie sagte sich, dass das Feuchte an ihrer Hand Himbeersorbet war, kein Blut.

Doch ein Kind vom Lande erkennt ein totes Wesen, wenn es eines sieht.

Montag

Pipistrelle Lodge, Headingley

Die Zeit vergeht in Kreisen, und das Glück wechselt mit ihr,Von schlecht zu rein, von schönem Zufall zu schlimmerem.

ROBERT SOUTHWELL

Eins

Der Eisenbahnwagen ruckelte, sodass ich nach vorn fiel. Blitze zuckten herab, als der Waggon umkippte. Mit einem stummen Aufschrei tastete ich nach einem Halt. Das Kreischen der Bremsen weckte mich jäh. Ich öffnete die Augen und stellte fest, dass ich im Bett lag und die Reise von King’s Cross nach Leeds seit Stunden hinter mir und heil überstanden hatte.

Was mich geweckt hatte, war ein hartnäckiges, lautes Klopfen an meiner Haustür. Da mein Schlafzimmer sich im hinteren Teil des Hauses befindet, mit Blick zum Wald, musste derjenige, der mich aus dem süßen Schlummer gerissen hatte, den Klopfer betätigen, als wollte er mir mitteilen, dass das Haus brannte.

Die Uhr auf meinem Nachttisch sagte mir, dass es vier Uhr am Morgen war. Sookie hatte sich meinen Morgenmantel zu einem Kissen zusammengeknautscht und nahm es nicht gut auf, dass ich ihn unter ihr fortzog. Eine unangenehme Störung für eine Katze von solch zartem Gemüt.

Unten an der Treppe stieß ich mir den Zeh an meinem Reisekoffer, den der Taxifahrer am vergangenen Abend dort abgestellt hatte. Ich schaltete das Licht ein.

Dann schloss ich die Tür auf, öffnete und spähte hinaus in die Dunkelheit, wobei ich mit irgendeinem Unglücksboten rechnete.

Im Schatten des Eingangs stand eine Frau in einem Cape mit aufgezogener Kapuze. »Mrs. Shackleton?« Sie klang etwas atemlos, als wäre sie nervös oder schnell gegangen.

Was für eine Wahnsinnige lief mitten in der Nacht im strömenden Regen durch die Straßen?

»Ja, ich bin Mrs. Shackleton.«

»Ich muss mit Ihnen reden.«

Da ich nicht sogleich die Tür weiter öffnete, ergänzte sie: »Mein Ehemann ist verschwunden.«

Ich empfand eine bleierne Müdigkeit. »Dann gehen Sie am besten zur Polizei.«

Dort wären Detectives im Nachtdienst.

Mit einem Schnauben, das teils Lachen, teils Stöhnen war, tat sie meinen Vorschlag ab, bevor sie erwiderte: »Die Polizei? Das habe ich versucht. Die Polizei ist so überflüssig wie ein Kropf.«

Sie schien sich der Zeit nicht gewahr zu sein, denn sie entschuldigte sich nicht für die nächtliche Störung. Der Nordwind blies durch die Straße und peitschte den Regen waagerecht vor sich her.

Da ich mir dachte, dass jemand, der Böses im Schilde führte, kaum laut genug an die Tür hämmern würde, um halb Headingley zu wecken, löste ich die Türkette. Im Lichtschein aus der Diele stellte ich fest, dass sie bleich wie der Mond war.

Ohne auf eine Einladung zu warten, trat sie ein und tropfte Regenwasser auf die Fußmatte im Flur.

Ich schloss die Tür hinter ihr. »Geben Sie mir Ihr Cape.«

Sie hakte es auf und schüttelte das dunkel karierte Kleidungsstück aus, was eine Wasserlache auf dem polierten Holzboden zur Folge hatte.

»Danke.« Ihre Lippen waren blass, doch zwei unnatürlich rote Flecken leuchteten auf ihren Wangen. Vielleicht litt sie unter Schwindsucht. Der Puls an ihrem Hals pochte. »Meinen Schirm habe ich im Zug vergessen. Ich hatte den Milchzug genommen und bin vom Bahnhof Headingley aus gerannt.«

Ich hängte ihr Cape über die Treppenspindel, wobei ich mir wieder den Zeh am Koffer anstieß. »Kommen Sie lieber mit durch, Mrs. …«

»Armstrong. Mary Jane Armstrong.«

Das Esszimmer diente mir zugleich als Arbeitszimmer, allerdings war hier drinnen kein Feuer mehr angezündet worden, seit ich nach London gereist war. Deshalb führte ich sie in die Küche. »Kommen Sie bitte mit. Das Feuer wird aus sein, aber es ist wärmer hier.« Sie folgte mir. In der Küche reichte ich ihr ein Handtuch. »Trocknen Sie sich ein bisschen ab.« Sie bewegte sich wie jemand, der aus dem Meer gewatet war und in Kürze zu Neptun zurückkehren würde.

»Es macht mir nichts, nass zu sein.« Dennoch rubbelte sie sich das Haar trocken. Ihr Kapuzencape hatte wenig Schutz gegen die Sintflut draußen geboten.

Sie musste Mitte bis Ende dreißig sein, war ungefähr einen Meter fünfundsechzig groß, mollig und hübsch mit klarer, heller Haut und dickem, haselnussbraunem Haar, das mit Schildpattkämmen und Nadeln aufgesteckt war. Es sah aus, als wäre sie bei Reiseantritt ordentlich frisiert gewesen, doch nun hatten sich einige Locken aus den Kämmen gelöst. Einzelne dickere Strähnen hingen ihr über die Schultern, wo Haarnadeln herausgefallen waren. Sie trug einen wadenlangen grünen Rock und eine weiße Bluse sowie ein Medaillon um den Hals. Ihre Schuhe waren so gründlich poliert, dass der Regen schlicht vom Leder abperlte.

Ich zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und gab ihr einen Moment, sich zu erholen, während ich ins Esszimmer ging.

Wer war sie, und was führte sie um diese nachtschlafende Zeit her? Etwas an ihr kam mir seltsam bekannt vor.

Ich nahm die Brandy-Karaffe vom Sideboard, zusammen mit einem Kognakschwenker. Am Küchentisch schenkte ich Kognak in ein Glas. »Hier, trinken Sie das. Sie sehen aus, als könnten Sie es gebrauchen, und danach erzählen Sie mir, was Sie zu mir führt.«

Sie umfing das Glas mit beiden Händen und blickte in die bernsteinfarbene Flüssigkeit, als handelte es sich um eine Kristallkugel, die ihr die Zukunft klar abbilden würde. Dann sah sie mich an. Ihre Augen waren vom selben Haselnussbraun wie ihr Haar. Die Intensität ihres Blickes gab mir das Gefühl, sie würde in meinen Augen sehen, was sie in dem Kognakschwenker nicht finden konnte.

Wieso meinte ich, sie zu kennen?

Der Ausdruck war gleich wieder verschwunden, denn sie runzelte die Stirn, schnupperte an dem Kognak und schüttete ihn in einem Schluck herunter. Prompt hustete sie und begann zu würgen, während sie mühsam stockend herausbrachte: »Oh, ich dachte, es ist Ginger Ale. Was ist das? Es brennt in meinem Hals!«

»Brandy. Es ist Brandy.«

»Das hätten Sie mir sagen müssen. Ich nehme noch einen und trinke ihn langsamer.«

Ich hob die Karaffe an und schenkte ihr einen Fingerbreit ein. »Nippen Sie nur immer mal wieder daran. Ganz langsam.« Nach meiner Rückkehr aus London war ich ein bisschen müde gewesen, doch diese Müdigkeit verflog jetzt. Und ich sagte aufmunternd: »Erzählen Sie mir, warum Sie hergekommen sind.«

Sie umklammerte das Glas so fest, dass ich fürchtete, es könnte zerspringen. »Wie gesagt, mein Mann ist verschwunden.« Mrs. Armstrong klang matt und müde. »Ich weiß nicht, ob er noch am Leben ist oder tot. Ich dachte an Sie, weil … nun, ich habe gehört, dass Sie Leute finden.« Sie nahm noch einen Schluck Brandy, dann verlor sie anscheinend das Interesse und schob den Kognakschwenker von sich.

»Wie heißt Ihr Mann?«

»Ethan. Ethan Armstrong.« Sie legte die Hände zusammen und strich mit den Fingerspitzen einer Hand über den Daumenballen der anderen, was der einzige Hinweis auf ihre Beunruhigung war und zugleich so vielsagend, dass ich sofort ein komisches Gefühl im Magen verspürte.

Dann neigte sie den Kopf zur Seite. »Ich würde Sie überall wiedererkennen.«

»Ach ja? Sind wir uns schon begegnet?«

Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Nein, das nicht direkt.«

Womöglich war sie doch eine Wahnsinnige. Meine Haushälterin wohnte im Anbau meines Hauses. Ich bräuchte bloß die Glocke zu läuten. Ein Alarmsignal zu geben.

Beruhige dich, sagte ich mir. Die Frau war verzweifelt. Sie wusste nicht, was sie redete. »Was meinen Sie?«

»Natürlich erinnern Sie sich nicht.«

Es gibt nichts Ärgerlicheres als Menschen, die simple Informationen nicht preisgeben wollen. Ich verfüge über ein gutes Gedächtnis für Gesichter, und etwas an ihr kam mir bekannt vor, dennoch konnte ich sie nicht einordnen. »War es während des Krieges?«

»Ja, so in der Art. Jedenfalls ist es lange her.« Sie winkte ab, als wäre unbedeutend, wann sich unsere Wege schon einmal gekreuzt hatten.

»Kommen Sie von weit her?«

»Aus Great Applewick.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht sagen, dass ich den Ort kenne.«

»Das tut niemand. Er ist sehr klein. In der Nähe von Guiseley.«

»Ah, ja.« Ich entsann mich meiner Fahrten nach Guiseley während des Krieges. Es war ein Dorf, nicht sonderlich groß, mit einer Hauptstraße und einem Gemeindesaal, der zum Hospital umfunktioniert worden war. »Das Hospital. Sind wir uns dort begegnet?«

Sie sah auf ihre Hände. »Könnte sein. Ja, das war es.«

Menschen verraten sich auf die unterschiedlichsten Weisen, wenn sie lügen. Sie wechselte das Thema. »Könnte ich ein Glas Wasser bekommen?«

Ich rückte meinen Stuhl nach hinten, doch sie war bereits auf den Beinen, an der Spüle, den Rücken zu mir, und drehte das Wasser auf, um es in ein Glas laufen zu lassen.

Welche Dreistigkeit diese Frau besaß, sich in mein Haus zu drängen, anzudeuten, mich zu kennen, und sich nun aufzuführen, als wäre sie hier zu Hause. Doch vielleicht war ihre Geschichte so furchtbar, dass sie sich langsam zu ihr vorarbeiten musste.

Sie hielt das Glas in beiden Händen und trank einen Schluck. »Ich wünschte, wir hätten fließendes Wasser in unserem Haus. Aber ich kann mich schon glücklich schätzen, einen Brunnen im Garten zu haben.«

Notiz für mich: Das Erste, was Mrs. Armstrong erwähnte, war ein Brunnen. Eine Klage über ihre Lebensumstände oder ein wichtiger Hinweis? Vielleicht hatte sie ihren Mann ermordet und in dem Brunnen versenkt. Wie lange würde dies hier dauern, fragte ich mich, und was sollte ich am Ende mit ihr anfangen? »Also, Mrs. Armstrong …«

»Mir ist unangenehm, dass Sie mich Mrs. Armstrong nennen. Ich bin Mary Jane.«

»Na gut.« Falls sie erwartete, ich würde ihr anbieten, mich Kate zu nennen, konnte sie lange warten. »Lassen Sie mich einige Stichworte notieren, Mary Jane.«

Oben auf das Blatt schrieb ich: Mary Jane Armstrong – Montag, 14. Mai 1923, 4.30 Uhr.

Vermisster: Ethan Armstrong, Ehemann.

»Und Ihre Adresse?«

»Mason’s Cottage, Nether End, in Great Applewick.«

»Erzählen Sie mir, wann Sie Ihren Mann zuletzt gesehen haben.«

»Er ist am Samstag zur Arbeit gegangen, wie üblich. Ethan ist Steinmetz. Er arbeitet im Ledger-Steinbruch. Eigentlich ist dort um ein Uhr Schluss, aber er ist noch geblieben, um einen besonderen Auftrag fertigzustellen. Er setzt sich für bessere Arbeitszeiten für die Leute im Steinbruch ein, trotzdem bleibt er freiwillig länger, wenn alle schon gehen.«

»Also ist er am Samstagmorgen zur Arbeit gegangen, ungefähr um …«

»Samstags fangen sie um acht an, unter der Woche um sieben. Die Kinder sind um fünf Uhr nachmittags hin, um ihm Essen zu bringen. Ich hätte ihn hungern lassen, bis sein leerer Magen ihn nach Hause trieb.« Sie schloss die Augen, und für einen Moment ging ihr Atem schneller. Ihre Brust hob und senkte sich. Sie holte einige Male tief Luft und hielt dann inne, als bereitete sie sich vor, die nächsten Worte sehr schnell zu sprechen. Ich wartete, dass sie fortfuhr.

»Harriet – das ist meine Tochter – sagt, dass er tot in seiner Hütte lag. Er hat sich nicht gerührt, als sie ihn angefasst hat. Sie ist sicher, dass er tot war. Doch anstatt direkt nach Hause zu mir zu kommen, setzte sie sich in den Kopf, zur Farm zu gehen, die näher am Steinbruch ist. Aber wegen Austin, ihrem kleinen Bruder, war sie langsam. Einer der Männer von der Farm – Arthur – ist dann mit ihr zurückgegangen.« Ihre Augen wurden größer, und sie schob das Kinn vor, als rechnete sie damit, dass ich ihren nächsten Worten widersprechen würde. »Da war keine Spur von Ethan. Der Steinbruch war verlassen. Arthur hat sie zurück zur Straße gebracht und sie nach Hause geschickt. Dann ist er wieder zur Farm und hat den kleinen Austin auf seinen Schultern zu mir nach Hause getragen.«

»Wie alt sind Ihre Kinder?« Ich fragte mich, ob Austin Harriets Geschichte bestätigen würde.

»Harriet ist zehn und Austin sechs.«

»Hatte Austin seinen Vater gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Harriet sagt, dass sie ihn zurückgehalten hat, nicht in die Hütte gelassen.« Mary Jane legte die Hände auf den Tisch, als gehörten sie nicht mehr zu ihr. »Ich bin gleich zum Steinbruch gelaufen, als Harriet mir alles erzählte. Ethan war nirgends zu finden. Wir haben ihn seitdem nicht mehr gesehen, und ich werde verrückt vor Sorge.«

»Könnte Harriet sich geirrt haben?«

»Das hoffe ich inständig. Aber ich glaube ihr. Sie ist ein ehrliches Kind und lässt sich von keinem narren. Sergeant Sharp – er ist unser Dorfpolizist – glaubt ihr nicht. Das hat er recht deutlich gesagt. Er hat gemeint, ein Toter steht nicht auf und geht weg. Doch wenigstens hat der Sergeant ein halbes Dutzend Arbeiter aus dem Fleece geholt, um den Steinbruch mit Laternen abzusuchen, weil es schon dunkel geworden war. Sie haben es gern getan, einige von ihnen jedenfalls. Ethan ist ein Mann, den die Leute entweder lieben oder hassen.«

Zumindest sprach sie in der Gegenwartsform von ihm. Vielleicht lag er doch nicht am Boden des Brunnens, es sei denn, einer von den Leuten, die ihn hassten, hatte ihn hineingeworfen.

»Haben Sie eine Fotografie von ihm?«

Sie zog einen Umschlag aus ihrer Rocktasche. Darin befand sich eine Fotografie, die sie mir über den Tisch schob. Ethan Armstrong blickte mir entgegen: breites Gesicht, glatt rasiert und mit ernster Miene. Er trug eine Uniform mit den Abzeichen eines Infanterie-Captains.

»Die wurde 1917 aufgenommen, vor sechs Jahren, aber sie ist die beste, die ich habe.«

»Wie groß ist er und von welcher Statur?«

»Er ist einen Meter neunzig groß, blond und kräftig, ein starker Bursche. Das muss er in seinem Beruf sein.«

»Wie alt?«

»Er ist sechsunddreißig, genau wie ich.«

»Und immer noch glatt rasiert?«

»Ja.«

»Wie sind Sie nach der Suche im Steinbruch mit Sergeant Sharp verblieben?« Ich fragte mich, ob er eine Beschreibung an die örtlichen Krankenhäuser herausgegeben hatte.

»Er war böse mit mir, besonders als ich ihm erzählte, dass wir an dem Morgen einen kleinen Streit hatten. Er denkt, Ethan hatte genug von mir und ist auf und davon, und er glaubt, Harriet ist eine Lügnerin, die sich nur wichtigmachen will.« Sie wurde lauter, als rechnete sie damit, dass ich mich auf die Seite des Police Sergeant schlug und ihre Ängste abtat. »Ich habe kein Auge zugetan, und ich kann es nicht einfach auf sich beruhen lassen.«

Jetzt sollte ich sehr vorsichtig sein. Entweder war Ethan Armstrong ermordet worden, oder er hatte seine Frau verlassen. »Wer sind seine Freunde? Gibt es jemanden, dem er sich anvertrauen oder zu dem er gehen würde?«

Zehn Minuten später hatte ich herausbekommen, wer Ethan liebte: sein guter Freund Bob Conroy, zu dessen Farm Harriet gelaufen war; Ethans früherer Lehrling Raymond, der inzwischen selbst Steinmetz war; andere Mitglieder der Quarrymen’s Union – der Gewerkschaft der Steinhauer – und Radikale aus dem Norden, die für bessere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen kämpften. Was die Suche nicht unbedingt eingrenzte.

Zu denjenigen, die ihn hassten, zählte der Vorarbeiter im Steinbruch; er hatte Ethans Streikaufruf in der letzten Woche im Keim erstickt.

»Mary Jane, Sie sagen, dass Sie Harriets Geschichte glauben, wie sie ihren Vater gefunden hat, obwohl es der Sergeant nicht tut?«

Sie stieß einen sehr tiefen Seufzer aus. »Tue ich, oder habe ich getan. Aber jetzt denke ich allmählich, dass sie sich geirrt haben muss. Keiner der Steinbrucharbeiter hat ihr geglaubt. Und ich habe inzwischen auch so meine Zweifel. Vielleicht hat sie ja irgendeine Erscheinung gehabt.« Ihr Tonfall wurde zuversichtlicher. »Bob denkt das auch.«

»Bob Conroy, der Farmer?«

»Ja.«

Dennoch war Bob Conroy nicht da gewesen, um mit Harriet zurückzugehen und den Steinbruch abzusuchen. Ich nahm mir vor zu erfragen, wo er am Samstagnachmittag gewesen war. Dieser »gute Freund« könnte durchaus der Brutus sein, der den Schlag ausgeführt hatte.

»Wurde gestern weitergesucht? Haben Sie jemanden angesprochen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Keine richtige Suche, nein. Bob hat gesagt, dass Ethan sicher wieder auftaucht. Er hat gemeint, dass sich einige Kameraden im Hawksworth Moor treffen wollten, eine Art Arbeiterversammlung.« Die roten Flecken auf ihren Wangen kehrten wieder, als sie wütend wurde. »Ich sage Ethan immer, es ginge uns besser, wenn er seine Kraft Heim und Herd widmen würde. Bob ist raus zum Moor, aber er hat erzählt, dass er dort ohne Ethan nicht willkommen war, und keiner wusste, wo Ethan ist.«

»Ist Ihr Mann früher schon mal verschwunden, ohne etwas zu sagen?«

»Niemals.«

»Wie erklärt Bob sich, dass Harriet ihren Vater gesehen hatte und ihn für tot hielt?«

»Er vermutet, dass sie im Steinbruch Angst hatte. Letztes Jahr ist dort jemand tödlich gestürzt. Vielleicht hat sie Schatten gesehen oder sich etwas eingebildet. Die Kinder erzählen sich Geschichten über den Steinbruch. Sie denken, dass Kobolde in den kleinen Höhlen in den Hängen leben. Sagt Bob.«

Meine Gedanken überschlugen sich. »Wie lange würde Harriet gebraucht haben, um zur Farm zu gehen, Hilfe zu holen und zum Steinbruch zurückzukehren?«

Sie schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht genau. Arthur ließ sie warten, bis er mit dem Abendmelken fertig war.«

»Eine Stunde?«

»Es könnte eine Stunde gewesen sein oder ein bisschen weniger. Es war halb sieben, bis ich zum Steinbruch bin, um selbst nachzusehen, und das Merkwürdigste ist …«

»Fahren Sie fort.«

Sie trank einen Schluck Wasser, und ich bemerkte, dass ihre Hände zu zittern begannen. »Ethan hat eine Sonnenuhr aus blauem Schiefer gemacht, ein besonderer Auftrag. Harriet und Austin haben mir beide erzählt, als sie mit dem Essen für ihren Dad hinkamen, hat die Sonnenuhr vor seiner Hütte gestanden, ganz blank poliert und anscheinend fertig. Doch als ich dort ankam, nachdem Harriet mir alles erzählt hatte, wurde es schon dunkel. Die Sonnenuhr war kurz und klein geschlagen, und nirgends war eine Spur von Ethan.«

Sie vergrub das Gesicht in den Händen, und einen Moment kam ich mir wie in einem dieser Melodramen vor, die Mutter und ich uns im Drury Lane Theatre in Wakefield anschauen.

Mary Jane blickte auf. »Was soll ich nur glauben? Harriet ist keine Lügnerin, doch da war weit und breit nichts von Ethan zu sehen.«

»Trinkt er?«

Sie lächelte wehmütig. »Keiner kann in all dem Staub in einem Steinbruch arbeiten, ohne zu trinken. Aber er würde sich nicht bei der Arbeit besinnungslos trinken.«

»Könnte es eine andere Erklärung für das geben, was Harriet gesehen hat?«

Mary Jane stützte die Unterarme auf den Tisch und beugte sich vor. »Das überlege ich auch schon die ganze Zeit. Harriet mag ihren Daddy sehr. Und sie hat uns streiten gehört. Falls Ethan ihr gesagt hat, sie soll erzählen, dass sie ihn da wie tot gefunden hat … Aber, nein, das würde sie nicht durchhalten.«

»Weshalb hatten Sie gestritten?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wegen nichts eigentlich. Ich wollte, dass er etwas im Haus tut, Brennholz schlägt und nicht an der Sonnenuhr für Mrs. Ledgers Geburtstag arbeitet, wenn er bei uns zu Hause sein sollte. Und jetzt fühle ich mich so furchtbar, weil wir uns im Streit getrennt haben. Doch wenn er das als Entschuldigung nimmt, einfach abzuhauen, prügle ich ihn windelweich.«

Mich verwirrte, dass sie etwas zu verschweigen schien. Und ich bin nicht so bekannt, dass meine Adresse den Leuten geläufig ist wie die 221B Baker Street.

»Mary Jane, wenn ich Ihnen helfen soll, müssen Sie ehrlich sein. Sie haben mir noch nicht einmal verraten, wie Sie mich gefunden haben.«

»Jemand hat mir Ihre Adresse gegeben.«

»Wer?«

»Ist das wichtig?«

Es wäre sehr wichtig, wenn sie es mir nicht sagen wollte. Nach zehn langen Sekunden antwortete sie: »Eine Verwandte von mir. Sie hatte von Ihnen gehört.« Als wollte sie Fragen nach dieser hilfsbereiten Verwandten vorbeugen, fügte sie hinzu: »Es war kein solch schlimmer Streit mit Ethan. Er hatte kein Essen mitgenommen, weil ich ihm keines gemacht hatte. Soll sein leerer Magen ihn nach Hause treiben, habe ich gedacht. Aber natürlich musste Harriet sich mir widersetzen …«

Wir bewegten uns im Kreis. Es wurde Zeit, das Reden zu lassen und zu handeln. Ich stand auf. »Sie haben gesagt, der Steinbruch öffnet um sieben. Es ist eben erst fünf Uhr. Fahren wir jetzt hin, und Sie zeigen mir, wo Harriet ihren Vater gesehen hat. Ich würde es mir gern anschauen, bevor die Männer zur Arbeit kommen.« Ich ergänzte nicht, dass mögliche Spuren wahrscheinlich schon von den suchenden Arbeitern und dem örtlichen Officer zertrampelt worden waren. »Geben Sie mir ein paar Minuten, um mich anzuziehen.«

Ich ließ meinen Besuch in der Küche und klopfte an die Verbindungstür zu Mrs. Sugdens Wohnung.

Meine Haushälterin brauchte einige Zeit, um zu öffnen. Sie hatte sich den warmen braunen Bademantel übergezogen, der ihrem verstorbenen Mann gehört hatte, und nestelte an dem ausgefransten Seidengürtel. Ihr langes graues Haar war zu einem Zopf geflochten. Ohne die Brille wirkte ihr Gesicht nackt und verletzlich.

Ich entschuldigte mich für die Störung und erklärte ihr rasch, was los war.

»Also fahre ich mit Mrs. Armstrong nach Great Applewick …«

»Um diese Uhrzeit?«

»Ich möchte früh dort sein und mir die Stelle im Steinbruch ansehen, an der ihr Mann zuletzt gesehen wurde, ehe die Männer mit ihrer Arbeit anfangen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie eine neugierige Frau gut aufnähmen, die dort herumläuft.«

»Mir ist nicht wohl dabei, Mrs. Shackleton. Sie ganz allein …«

Ich fiel ihr ins Wort. »Name und Adresse finden Sie auf dem Küchentisch. Würden Sie Mr. Sykes Bescheid geben, wohin ich gefahren bin, und ihm ausrichten, dass ich mich bei ihm melde, wenn ich Näheres weiß?«

Sykes, ein ehemaliger Polizist, ist mein Assistent und wohnt nicht weit entfernt.

Ich verließ die beunruhigte Mrs. Sugden.

Mary Jane erschien an der Küchentür. »Ich müsste mal zur Toilette.«

»Ich zeige Ihnen, wo sie ist. Kommen Sie mit nach oben.«

Mein Gepäck stand nach wie vor in der Diele. Mary Jane blickte zu den Koffern. »Sollen die nach oben?«

»Ja, aber sie sind schwer«, antwortete ich.

Sie nahm einen in jede Hand. »Nicht so schwer wie Kinder und Kartoffelsäcke.« Vor mir marschierte sie die Treppe hinauf. »Wo soll ich sie hinstellen?«

»In mein Schlafzimmer – dort. Danke.«

Sie trug die Koffer in mein Zimmer und kam zurück auf den Flur. Ich drehte mich zu ihr. Im fahlen Licht verliehen ihr die hohen Wangenknochen und die leicht schräg stehenden Augen etwas von einer misstrauischen Katze.

Ich schaltete das Licht im Bad ein.

Mary Jane seufzte. »Ich wünschte, wir hätten ein Badezimmer.« Als ich nicht antwortete, sagte sie vorwurfsvoll: »Die sind mir nämlich nicht fremd, müssen Sie wissen. Ich würde keine Kohlen in der Badewanne lagern.«

Beim Ankleiden kam mir der Gedanke, dass eine Frau, die zwei volle Reisekoffer die Treppe hinauftragen konnte, auch imstande wäre, die Leiche eines widerspenstigen Ehemannes zu einem Versteck im Steinbruch zu schleppen.

Was zog man an, wenn man in einem Steinbruch umherwandern wollte? Kniebundhose aus Cord, Mütze und Stiefel. Es wäre eine rein männliche Domäne. Umso wichtiger war, dass ich dort wäre, bevor die Männchen der Spezies ihre Arbeit aufnahmen. Wenigstens hatte der Regen aufgehört. Ich entschied mich für ein hübsches Tweedkostüm. Es war die passende Kleidung für eine Landpartie. Meine festen Schuhe, die ich im vergangenen Jahr in Harrogate gekauft hatte, würden sich als praktisch erweisen. Und ein Ersatzpaar mit Blockabsatz sowie eine Ersatzstrumpfhose wären auch nicht verkehrt.

Mary Jane Armstrong wartete in der Diele auf mich. Ich reichte ihr Geralds Automantel. »Den werden Sie brauchen. Eine Schutzbrille ist im Wagen.«

Der Mantel reichte ihr bis zu den Knöcheln. Und wieder war da, als ich sie ansah, dieses seltsame Gefühl, dass ich sie kannte.

»Mary Jane, bevor wir losfahren, wäre noch eine Sache.«

»Ja?«

»Woher kennen wir uns?«

Sie versuchte, den einen Ärmel aufzukrempeln. »Das kann ich nicht sagen.«

»Ich rühre mich nicht von der Stelle, ehe Sie es mir nicht verraten.«

Sie blickte mich an und gleich wieder zur Seite. »Es ist lange her, seit ich dich gesehen habe, Catherine. Du warst nur wenige Wochen alt, und ich war ein kleines Kind. Ein Mann kam, um dich zu holen, und ich habe geweint. Ich wollte nicht, dass er dich mitnimmt.«

Nun sah sie mich mit einem herausfordernden Blick an, als lauerte sie darauf, dass ich widersprach. »Mein Mädchenname ist Whitaker, genau wie deiner es war, bevor du den Namen der Leute bekamst, die dich adoptierten. Catherine, ich bin deine Schwester.«

Mein Herz pochte so sehr, dass ich sicher war, sie könne es hören. Kein Wunder, dass es ihr widerstrebt hatte, mir zu verraten, woher sie mich »kannte«. Ich war wenige Wochen alt, als ich adoptiert wurde, und ich kannte den Namen meiner biologischen Eltern und wusste, dass sie in Wakefield gelebt hatten. Alles Weitere war mir ein Rätsel gewesen, das zu entwirren ich nie eine Neigung verspürt hatte.

Wir standen einige Schritte voneinander entfernt in der Diele. Mary Jane Armstrong könnte die Wahrheit sagen oder nicht; sie könnte eine Mörderin sein oder nicht.

Plötzlich wurde mir schwindlig. Ich streckte eine Hand nach der Wand aus, um mich abzustützen. Mary Jane betrachtete mich mit einer Mischung aus Sorge und etwas anderem. Furcht? Dass ich sie wegschicken würde?

»Tut mir leid. Ich hätte nicht herkommen dürfen.«

Doch sie war gekommen. Und nun standen wir aufbruchbereit in unseren Mänteln da.

»Wie hast du mich gefunden?«

»Über unsere Schwester Barbara May. Sie hat deine Wege immer verfolgt.«

Meine Wege? Das Wort weckte Erinnerungen an die Schulzeit: An Geschichten von Königen und Königinnen auf episch langen Reisen, zu Gast bei bevorzugten Adligen, deren Untertanen sie um Haus, Hof und Seelenfrieden schlemmten.

Und »Barbara May«? Hatten alle Whitakers zwei Vornamen? War das der Grund, weshalb ich aus dem Clan geworfen worden war? Wir können kein Mädchen mit nur einem Namen haben. Werden wir sie los. Dieser nette Police Officer und seine Frau werden sie uns abnehmen. Mr. Dennis Hood und seine charmante, kinderlose Frau Virginia, von ihren Freunden liebevoll Ginny genannt. Sie hat ein gutes Herz.

Mary Jane behauptete nicht einmal, diejenige gewesen zu sein, die meinen Werdegang verfolgt hatte. Dafür musste ich Barbara May danken. Vielleicht würde sie als Nächste aufkreuzen. Finde meinen verlorenen Hund, meinen entlaufenen Geliebten. Leih mir einen Shilling.

Mary Jane könnte die Wahrheit sagen oder eine grandiose Hochstaplerin sein, deren Geschichte ich einfach geschluckt hatte. Was den Kloß in meinem Hals erklären würde.

»Wie hat Barbara May herausgefunden, wo ich wohne?«

»Es stand im Mercury, als du geheiratet hast. Barbara May hat als Putzfrau im Krankenhaus gearbeitet, in dem dein Mann früher war.«

Sicher war ich mir nicht, doch sie wirkte ein wenig verlegen. Sie erklärte auch nicht, ob Barbara May Gerald nach Hause gefolgt war oder heimlich seine Adresse in den Krankenhausakten nachgesehen hatte.

Sie fügte hinzu: »Mam war sehr erfreut, als du einen Doktor geheiratet hast.«

Halt den Mund, Mary Jane. Sag nichts mehr!

In der drückenden Stille, die nun folgte, vermieden wir es beide, einander anzusehen. Ich hängte mir meine Tasche über die Schulter und wollte die Tür öffnen. Der Schlüssel ließ sich nicht bewegen, der Knauf nicht drehen. Lass sie nicht sehen, wie sehr du zitterst! Lass sie nicht sehen, dass du beide Hände brauchst – die rechte, um den Knauf zu drehen, und die linke, um das Zittern der rechten zu bändigen.

»Na gut, Mary Jane. Fahren wir.«

Über diese Schwestergeschichte würde ich später nachdenken. Vorerst musste ich sie aus meinem Kopf verbannen und mich auf das Eigentliche konzentrieren. Mary Jane war hergekommen und hatte mich um Hilfe gebeten.

Zwei

Als wir die Straße hinaufgingen, fühlten sich meine Beine bleischwer und zugleich befremdlich leicht an, als wären sie nicht mehr Teil meiner selbst und könnten davonschweben.

Wir gingen die ruhige Straße entlang zu dem alten Stall meiner Nachbarn, den ich als Garage für meine Jowett benutzen durfte. Silberne Spinnweben schmückten die Hecken.

Mary Janes Gang besaß eine gewisse Leichtigkeit, obwohl ihr der Automantel gegen die Knöchel schlug, und ihr haftete eine Aura von Freude an, als hätte sie all ihre Sorgen abgeschüttelt und als würde nun alles gut, da sie mich gefunden hatte. Doch während ich immer noch versuchte, ihren Worten einen Sinn abzuringen, erkannte ich ihre Stimmung wieder. Sie war mir aus der Zeit nach dem Krieg vertraut, als ich anderen Frauen geholfen hatte. Die Erleichterung, jemanden an seiner Seite zu haben, der einem die Illusion vermittelte, alles würde wieder gut. Und dies war nicht der Moment, die Seifenblase platzen zu lassen.

Schwester. Sie war meine Schwester. Dieses kleine Mädchen, Harriet, die ihren toten Vater gefunden hatte, war meine Nichte. Und es gab einen Neffen. Wie war sein Name noch gleich? Austin. »Der kleine Austin«, hatte Mary Jane ihn genannt.

Dass jene Kinder solch eine entsetzliche Entdeckung hatten machen müssen, rührte etwas tief in mir an.

»Wo sind die Kinder jetzt?«, fragte ich.

»Sie schliefen noch, als ich losging. Ich habe eine Nachricht auf dem Tisch gelassen, falls sie vor meiner Rückkehr wach werden.«

Frühmorgens macht alles mehr Lärm. Die Tür des alten Stalls, in dem ich die Jowett parkte, knarzte laut, als ich sie öffnete.

Mary Jane starrte den Wagen an. »Was für ein schönes Automobil! Damit werden die Kinder auch fahren wollen!«

Sie tat, als planten wir einen Ausflug, keine mögliche Mordermittlung.

»Schließt du bitte die Tür, wenn ich rausgefahren bin?«

Sie trat sehr weit zur Seite, als rechnete sie damit, dass die Reifen ihr die Zehen zerquetschten. Nachdem sie die Stalltür geschlossen hatte, stieg sie in den Wagen.

Ich gab ihr eine Schutzbrille und die Karte. »Du wirst die Hände in die Ärmel ziehen müssen, damit sie nicht zu kalt werden. Ich habe vergessen, ein zweites Paar Handschuhe mitzunehmen.«

»Es geht schon.«

»Und sprich nicht mit mir, wenn ich fahre, weil der Motorenlärm und Wind ohnehin alles übertönen. Aber du könntest diese Karte so halten, dass ich herankomme.«

Sie nahm die Straßenkarte. »An einem großen Teil der Strecke sind Bahnlinien.«

Auf dem Weg von Headingley nach Great Applewick mit seinen kurvigen Landstraßen würde es nicht allzu viele Gelegenheiten geben, falsch abzubiegen, doch ganz ausschließen wollte ich es nicht. Ich war schon lange nicht mehr nach Guiseley gefahren.

Als wir Headingley hinter uns ließen und hinaus aufs Land fuhren, färbten sich rosa Streifen am Himmel erst golden, dann blässlich weiß. Halbherzig und zögerlich ging die Sonne auf. Abgesehen vom Motorenlärm war die Welt ruhig und friedlich. Selbst die Pferde und Kühe auf den Weiden schienen noch zu schlafen.

Mary Jane klappte den Mantelkragen nach oben und schob die Hände tief in die Ärmel.

Ich schaute kurz zu ihr. Hier war jemand, der meine leibliche Mutter kannte, meine Brüder und Schwestern. Der meinen Vater gekannt hatte und Teil ihres Lebens gewesen war. Sie alle blieben für mich ein Mysterium. Ich fuhr vorsichtig um eine Kurve, da überkam mich eine schreckliche Einsamkeit. Solange ich mich geweigert hatte, über die Familie nachzudenken, die mich fortgegeben hatte, hatte ich ihr nie irgendwelches Gewicht beimessen müssen. Nun jedoch hatte sie sich selbstsüchtig in mein Leben gedrängt, ohne auch bloß Bitte zu sagen.

Plötzlich erschien ein Pferdekarren aus einem Weg zur Linken. Das Pferd, das keine Scheuklappen trug, warf den Kopf nach oben. Eine Peitsche knallte. Ich trat auf die Bremse.

»Ich habe dich nie vergessen«, sagte Mary Jane unvermittelt, senkte das Kinn auf die Brust und blickte dann zu mir auf. »Du warst noch ein kleines Baby. Ich hatte Mam gesagt, dass der Mann dich nicht nehmen darf, und ich hatte Angst, dass er dich fallen lassen würde. Er hatte den rechten Arm angewinkelt und balancierte dich darauf. Ich erinnere mich, wie ich sagte, er würde dich fallen lassen. Aber keiner hörte auf mich. Ich habe geweint, als du weg warst.«

Sie hatte mir einen Ansatz gegeben, mit dem ich ihre Behauptung überprüfen könnte. Frag Dad, ob er dich allein abgeholt hatte. Ob er dich in seiner Armbeuge getragen hatte.

Ich fuhr an den Straßenrand und hielt den Wagen an. Den Blick fest auf meine Hände am Lenkrad gerichtet, fragte ich: »Warum hast du es mir nicht gleich gesagt? Du hättest es mir sofort sagen müssen.«

»Ich wollte es dir später erzählen.«

Nun sah ich zu ihr. »Und was sonst willst du mir später noch erzählen?«

Sie hielt meinen Blick fest. »Versuch du es mal! Versuch du mal, so etwas zu sagen, und sieh mal, wie du dich dabei fühlst.«

Sie hatte meine Frage nicht beantwortet. Sollte alles eine idiotische Lüge sein, um meine Hilfe zu bekommen, würde es ihr noch leidtun. Aber keiner würde sich solch eine Geschichte ausdenken, oder? Und etwas an ihrer Art bewirkte, dass ich mich bei aller Beunruhigung entspannt fühlte, sofern das einen Sinn ergab.

Der Weg zu Mary Janes Dorf führte uns an Horsforth vorbei und entlang der Bahnlinie. Etwas weiter oben überquerten wir den Fluss Aire. Mich verblüfft stets, wie viel Leben hinter einer Ecke, auf einer Straße sein kann, die man eventuell keines zweiten Blickes würdigt.

Die Wegweisung meiner neu entdeckten Schwester war nicht gerade von überbordender Qualität. Sie rief Dinge wie »Fahr da hin!«, wenn sie meinte, dass ich links abbiegen sollte, prompt gefolgt von »Du hast es verpasst.«

Auch die Abbiegung nach Great Applewick sagte Mary Jane mir zu spät an. Ich hielt nach der nächsten Möglichkeit Ausschau und fuhr in die Back Lane, eine Straße voller schlichter Häuser, deren Eingangstüren direkt zur Straße gingen. Zwar deutete der Name auf Obstgärten hin, doch war hier kein Baum in Sicht. Wir bogen wieder ab, kamen an der Fabrik Great Applewick Chemical vorbei, einer Druckerei und einem Schild, das zum Golfplatz wies.

In der Town Street, wo sich Läden und Wohnhäuser mischten, passierten wir eine Schule, eine Kirche und eine Methodistenkapelle. In der Over Terrace wurden die Lücken zwischen den Häusern schon größer, und danach folgten eine ländliche Straße und zwei reetgedeckte Cottages aus Sandstein. Hinter diesen Behausungen erstreckten sich Äcker und Weiden. Ein Stück weiter zeigte Mary Jane auf ein drittes Haus. »Das sind wir.«

Ich hielt den Wagen vor einem zweigeschossigen Sandsteinbau, der ein paar Hundert Jahre alt sein musste. Das Haus lag weit zurück von der Straße, und das Heiterste an ihm war ein blühender Apfelbaum links von der Tür.

Die Rollos in den Fenstern oben und unten waren heruntergelassen, und das Steindach sah sehr viel neuer aus als der Rest des Hauses. Insgesamt wirkte es erheblich solider, als Mary Jane mich glauben gemacht hatte. Auf den ersten Blick war es beinahe ein idyllisches Cottage auf dem Lande.

»Es ist reizend«, sagte ich. »Aber nicht reetgedeckt wie die anderen beiden Cottages.«

Sie schnaubte verächtlich. »Ich hatte Ethan dazu verdonnert, sich darum zu kümmern. Hast du mal versucht, unter einem feuchten alten Dach zu leben, in dem die Ratten ihre Nester bauen und die Vögel glauben, alles gehörte ihnen? Und wir haben kein fließendes Wasser wie du. Wir müssen es, wie gesagt, aus dem Brunnen hinten im Garten holen.«

Ich parkte dicht an einer Trockenmauer, weshalb wir beide auf meiner Seite aussteigen mussten, ich zuerst. Ich wackelte mit den kalten Zehen, um wieder Gefühl hineinzubekommen.

»Ethan ist nicht hier«, sagte sie matt.

»Woher weißt du das?«

»Er hätte Feuer gemacht. Dann käme Rauch aus dem Schornstein.«

Wir gingen auf die Haustür zu über rosa Blüten, die der Wind aus dem Baum geweht hatte.

Sie zog an einer Schnur in dem Briefschlitz.

»Das kleine Luder hat den Schlüssel vom Band genommen. Sie muss Angst gehabt haben, dass jemand kommen könnte.« Mary Jane klopfte laut und wartete. Sie klopfte abermals. »Ich werde Steinchen gegen das Fenster werfen müssen.«

Sie bückte sich und hob einige Kieselsteine vom Wegesrand auf. Mit einem zielte sie auf das obere Fenster, traf, machte indes kaum ein Geräusch. Der nächste Stein verfehlte sein Ziel.

»Falls die Kinder noch schlafen, könntest du mir gleich den Steinbruch zeigen. Können wir dort hinfahren?«

Sie warf noch einen Stein. »Kann ich nicht. Ich weiß, dass es feige ist, aber ich kann nicht wieder dorthin.«

»Dann erklär mir, wo er ist, und ich fahre.«

Sie war sichtlich erleichtert, dass ich ohne sie zum Steinbruch wollte. »Da gibt es zwei Wege. Entweder durch unseren Garten und den Weg entlang oder zurück zum Dorf und die Straße neben der Kapelle herunter. Da kannst du den Steinbruch nicht verpassen.«

Wenn jemand sagt: Du kannst es nicht verpassen, meint er gemeinhin: Ich kann es nicht verpassen, weil ich weiß, wo es ist, aber du kannst von Glück reden, wenn du es findest.

In dem Moment waren Geräusche hinter der Tür zu hören. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, ein Schlüssel im Schloss gedreht.

Das kleine Mädchen in dem langen weißen Nachthemd schaute von seiner Mutter zu mir und an uns vorbei zur Straße und dem Wagen, hoffte merklich, noch jemanden zu sehen. Dann sackten ihre Schultern herab. Sie trat zurück, ohne uns noch einmal anzusehen. Ihr langes Haar, das mit einem Band zusammengebunden war, reichte ihr beinahe bis zur Taille. Mich durchfuhr ein Kälteschauer. Es war wie ein Blick in den Spiegel meines Kleiderschrankes im Kinderzimmer. Die Augen des Mädchens waren zu groß für ihr Gesicht, das Haar sehr streng gescheitelt über der hohen, blassen Stirn. Hatte ich bislang noch Zweifel gehegt, dass Mary Jane meine Schwester war, verflogen die nun, da ich eine jüngere Version meiner selbst erblickte.

Ich folgte Mary Jane ins Haus.

»War alles in Ordnung?«, fragte sie ihre Tochter.

»Ja.« Die Kleine klang verschlafen.

»Das ist Harriet. Harriet, sag schön Guten Tag zu Mrs. Shackleton, die mich in ihrem Wagen von da zurückgebracht hat, wo ich nach Dad gesucht habe. Das war doch nett von ihr, nicht?«

»Wo hast du nach ihm gesucht?«, fragte Harriet.

»Mrs. Shackleton wird nach ihm suchen, in ihrem Automobil.«

Das würde ich also? Das Kind hatte immerhin genug Verstand, ein wenig skeptisch dreinzublicken. Ich wünschte, Jim Sykes wäre hier. Er hatte selbst Kinder und wusste, wie man mit ihnen redet. Schon mein Name klang in diesem Haus falsch.

Harriet sah mich nicht an, sondern beobachtete ihre Mutter, die den Automantel auszog. Ich behielt meinen an.

»Warum hast du den Schlüssel von dem Band genommen?«, fragte Mary Jane.

Harriet zog den Schlüssel aus dem Schloss und befestigte ihn wieder an dem Band. »Weil ich nicht weiß, wer vorbeikommt und vielleicht seine dicke Patsche in den Briefschlitz steckt.«

Sie sprach ruhig und langsam, als redete sie mit einem Kind, und für einen flüchtigen Moment kam mir der Gedanke, dass sie die Mutter und Mary Jane die Tochter sein musste. Meine Fantasie ging mit mir durch: Ich sah Mary Jane zur alten Frau werden und Harriet zur ruhigen, besonnenen Erwachsenen. Neben ihrer ernsten Tochter nahm Mary Jane sich wirklich wie ein Flattergeist aus.

Ich schaute mich in dem Zimmer um. Solange man nicht hier leben musste, könnte man den Raum mit seinen Petroleumlampen auf den Kommoden und den Kerzenleuchtern auf dem Kaminsims als pittoresk beschreiben. Auf einem bleich geschrubbten Kartentisch am Fenster standen eine Emailleschüssel und ein Krug. Unter dem Tisch befanden sich ein Kübel und ein Eimer. An der Wand stand ein weiterer Tisch mit Stühlen und Hockern. Es gab noch einen dritten, kleineren Tisch mit einer »Little Worker«-Doppelsteppstich-Nähmaschine darauf, vor dem ein zierlicher Stuhl stand. Zu beiden Seiten des Herdes waren Schränke und Schubladen eingebaut. An der Wand hinten war noch eine Kommode, und unter der Treppe befand sich eine Truhe. Das Zimmer war sehr vollgestellt. Ich malte mir aus, wie die Familie dauernd irgendwelchen Möbelstücken auswich, um nicht gegen sie zu stoßen.

Mary Jane schob die Asche durch den Herdrost. »Wir machen schnell ein Feuer. Geh wieder ins Bett, Harriet. Es ist noch zu früh für die Schule.«

Das Kind setzte sich auf einen Hocker am Tisch und beobachtete die Mutter.

Mary Jane nahm eine Zeitung auf und begann, sie zusammenzuknüllen. Sogleich sprang Harriet auf, entriss ihrer Mutter die Zeitung und strich sie wieder glatt. »Dad hat den Herald noch nicht gelesen.«

Mary Jane seufzte. Sie griff nach einigen Halmen getrockneten Farnkrauts und legte ein paar Holzspäne auf den Herdrost. »Du hast keine Kohle reingeholt.«

»Das wollte ich noch.«

»Dann geh!«

Das schläfrige Kind nahm die Kohlenschütte neben dem Herd auf.

»Harriet! Zieh deine Schuhe an!«

»Nein, gib mir mal«, sagte ich und nahm dem Mädchen die Kohleschütte ab. »Wo lagert ihr eure Kohle?«

»Nein, Catherine, das sollst du nicht machen.«

Ich ignorierte Mary Jane und folgte Harriet, die mich zur Hintertür führte. Es handelte sich um eine zweigeteilte Tür, deren beide Hälften jeweils mit Riegeln verschlossen waren. Ich löste sie, sodass die Tür zu einem langen Garten mit mehreren Nebengebäuden aufschwang.

»Das da ist der Kohlenschuppen.« Harriet zeigte zum ersten Schuppen.

Sie schlüpfte in ein Paar Galoschen, die zu groß für sie waren, und schlurfte neben mir her.

In dem Kohlenschuppen nahm ich eine Schippe auf. Sie schabte über den Boden, als ich sie unter einen Kohlehaufen schob, sie befüllte und die Ladung in die Schütte kippte. Vom Haufen oben purzelten Kohlen herab.

»Man muss von oben nehmen.«

Wieder setzte ich die Schaufel unten an.

»Kennen Sie Dad, Mrs. Shack…«

»Mrs. Shackleton ist ein bisschen lang. Du darfst mich Tante Kate nennen.« Das wollte ich nicht sagen, aber es kam einfach heraus.

Harriet runzelte die Stirn, und mir wurde bewusst, dass ich einen Fehler begangen hatte. Sie beobachtete, wie ich die nächste volle Schaufel in die Schütte kippte. Und das Mädchen sprach mich nicht mehr direkt an.

»Kennst du Dad? Bist du ihm begegnet?«

Dabei sah sie mich sehr ruhig an und wartete auf eine Antwort. Sie würde sich gut in einem Verhör machen. Ein Missetäter bräuchte bloß in diese riesigen Augen zu schauen, schon wäre er verlockt, die Wahrheit zu sagen.

»Nein, Harriet, ich kenne deinen Dad nicht. Aber wenn du so freundlich wärst und nicht dringend zurück ins Bett möchtest, wäre es nett, wenn du mit mir zum Steinbruch gehen und mir zeigen könntest, wo er gearbeitet hat.«

Es war heikel und vielleicht sogar grausam, doch ich musste allein mit der Kleinen reden. Schließlich behauptete sie, ihren Vater tot aufgefunden zu haben, und sie machte nicht den Eindruck, dass ihr Augenlicht sie täuschte.

Harriet schluckte und ballte die Hände zu Fäusten. Sie wollte genauso wenig zum Steinbruch zurückkehren wie ihre Mutter. Doch sie war mutiger. »Ich gehe mich anziehen.«

Drei

Wir gingen stumm den Pfad entlang. Es war früh genug, dass sich die Wildblumen noch nicht geöffnet hatten. Die morgendliche Stille und die friedliche Landschaft um uns herum verleiteten uns zu einem Schlendern, als hätten wir kein besonderes Ziel. Und ich hasste es, den Zauber dieser Atmosphäre zu brechen.

Wie beginnt man ein Gespräch mit einem Kind, wenn die Frage lautet: Wo hast du die Leiche deines Vaters gesehen?

»Am Samstag ist dein kleiner Bruder mit dir gegangen, oder?«

Sie trat nach einem Kieselstein. »Austin, ja.«

»Weißt du noch, wann ihr eurem Dad sein Abendessen gebracht habt?«

»Die Kirchenglocke läutete gerade fünf. Er war seit dem Morgen weg.«

»Deine Mam hat gesagt, dass du ihm selbst das Essen gemacht hast. Stimmt das?«

»Ich bin zehn.« Da war ein Hauch von Tadel in ihrer Stimme und vielleicht auch ein wenig Zweifel an meiner Intelligenz. Bei diesem Kind würde mich jedes beharrliche Nachfragen in ernste Schwierigkeiten bringen.

Der Weg wurde matschig. Ich folgte Harriets Fußstapfen, als sie auf das feuchte Gras auswich. Der Fluss kam in Sicht, unterhalb eines steilen Ufers. Er floss zügig dahin, beruhigend rauschend, gab indes auch einen üblen Chemikaliengestank von sich.

»Es tut mir leid, dass ich das fragen muss, Harriet, aber kannst du mir bitte alles von dem Samstag erzählen, an das du dich erinnerst?«

»Wie? Alles, vom Aufstehen an?«

»Ja«, antwortete ich streng.

Sie sah mich ungläubig an. Und ihr Blick sagte mir: Sie sind ja mal frech. Dann wurde sie rot und erklärte leise: »Man erzählt anderen Leuten nicht alles.«

Ein Fehler. Ich hatte zu viel verlangt, und nun kam diese tief verwurzelte, von Kindesbeinen an erlernte Yorkshire-Obacht ins Spiel: Alles sehen, alles hören, nichts sagen; alles essen, alles mitnehmen, nichts bezahlen.

»Harriet, bitte, es könnte helfen. Deine Mam hat mir natürlich alles erzählt, doch jedem fallen andere Dinge auf.«

Sie seufzte, antwortete aber nicht.

Ich blieb hartnäckig. »Hatte deine Dad irgendwelche Briefe oder Nachrichten bekommen? Hatte er erwähnt, dass er jemanden besuchen oder irgendwohin gehen wollte?«

Fraglos war es gemein, dass ich die Idee aufbrachte, er könne nur jemanden besuchen, doch es wirkte.

»Ich weiß nichts von Botschaften oder Briefen. Er sollte am Sonntag nach Hawksworth Moor, und er hat gesagt, dass er Austin und mich mitnimmt.«

Zu dem Gewerkschaftstreffen, von dem Mary Jane gesprochen hatte. Ethan musste vorgehabt haben, seine Kinder schon sehr frühzeitig in die Politik einzuführen.

»Harriet, ich möchte so viel über das herausfinden, was geschehen ist, wie ich kann. Alles, was du mir erzählen kannst, könnte helfen, auch wenn es wie eine Kleinigkeit erscheint. Erzähl mir von Samstag.«

Sie war ein wenig verhalten gewesen, doch nun schien sie sich entschieden zu haben, mir zu helfen. Harriet hielt sich kerzengerade, und ihre Schritte wurden bestimmter. Ich sah sie nicht an. Ihr energischer Tonfall bewirkte, dass ich mich treten wollte, weil ich Hoffnungen geweckt hatte, die nie erfüllt würden.

»Dad fängt am Samstag später an – erst um acht, nicht um sieben. Wir waren noch im Bett, als er losging, Austin und ich. Er hat nicht nach oben gerufen, dass er geht, aber als ich nach unten gekommen bin, hatte er mir ein bisschen Tee in seinem großen Becher übrig gelassen. Das macht er immer. Er mag seinen Tee richtig dunkel mit Zucker, und davon lässt er mir immer was über. Mir macht es nichts, wenn er kalt ist. Ich mag Tee. Ja, ich bin richtig gierig danach. Genauso wie er. Sind wir beide. Ich hatte gehört, wie er mit Mam geredet hat. Er hat sie gefragt, wo sein Essenspaket ist. Sie hat ihm gesagt, dass er zum Abendessen nach Hause kommen soll, und er hat gemeint, dass er die Sonnenuhr fertig bekommen soll, was sie ja wohl weiß. Er würde sie fertig machen und dann nach Hause kommen. Sie hat gesagt, was denn der Sinn wäre, für halbe Samstage zu kämpfen und dann doch die ganzen zu arbeiten. Und dass er doch versprochen hatte, die schweren Arbeiten im Garten zu erledigen. Er hat geantwortet, die macht er am Sonntag. ›Oh, dann willst du also nicht nach Hawksworth Moor, zu deinen Sozialistenfreunden?‹, hat Mam gefragt. Und er meinte, das hatte er vergessen. Dann ist er weg.

Ich habe Mam den ganzen Morgen im Haus und draußen im Garten geholfen. Das muss ich, weil sie mir das Pfingstkleid und Austins Pfingsthose und sein Hemd näht, und sie kann sich ja nicht um alles kümmern. Als es fast Abend geworden ist, habe ich sie gefragt, ob ich Dad nicht mal was zu essen bringen soll, und sie hat Nein gesagt und dass er nach Hause kommt. Austin und ich sind in die Läden in der Town Street, zum Metzger und dem Bäcker. Ich habe ein Sahneteilchen mit Deckel bekommen und er ein Marmeladentörtchen.

Als wir die gegessen hatten und wieder zu Hause waren, hat Mam gefragt, wo ihre Woodbines sind, und ich habe behauptet, dass ich sie vergessen habe. Sie wollte, dass ich sie holen gehe, aber ich habe gesagt, dass meine Beine wehtun und meine Arme auch, vom Tragen. ›Ach, na gut‹, hat sie geantwortet, und dann ist sie selbst losgegangen. Da habe ich die Schüssel genommen, die gekochten Erbsen reingefüllt und ein Stück kalten Schinken abgeschnitten. Das habe ich mit einem Geschirrtuch zugedeckt und zu Austin gesagt: ›Komm mit und sei still. Wir sind wieder hier, bevor sie zurückkommt.‹«

Harriet beeindruckte mich. Sie erzählte ihre Geschichte ganz sachlich. Der Streit zwischen Mary Jane und Ethan war ein nichtiger Zank darüber gewesen, wann Ethan zu Hause wäre. Nichts, was Mary Jane veranlassen würde, zum Steinbruch zu schleichen und ihren Mann zu ermorden, während ihre Kinder die Einkäufe erledigten.

Der Weg begann, steil bergan zu führen. Das Gestrüpp am Uferhang hinunter zum Fluss wurde staubig weiß, was bedeuten musste, dass der Steinbruch nahe war. Und dann konnte ich es riechen: Der pudrig trockene Geruch setzte sich hinten in meiner Kehle fest.

Es ging wieder nach unten zu einem Pfad, der kaum mehr als ein Reitweg war. Vor uns erstreckte sich der Steinbruch klaffend und befremdlich. Eine geschändete Landschaft. Ich griff nach Harriets Hand, was eher zu meiner Beruhigung geschah denn zu ihrer.

»Harriet, war es so am Samstag, oder war da noch jemand hier?«

»Nein, die waren alle nach Hause gegangen. Ich habe nach Dad gepfiffen, doch er hat nicht geantwortet. Ich gehe da allein mit Austin nicht gerne durch, aber jetzt waren wir schon so weit, also bin ich doch weitergegangen.«

»Können wir das jetzt auch machen?«

Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, denn das arme Kind hatte nicht mal einen Schluck Tee oder eine Scheibe Brot gehabt.

Harriet ging schweigend voran über den groben Pfad. Wir kamen an einem riesigen Schuppen vorbei, und Harriet atmete lauter.

»Was ist das?«, fragte ich. Das Gebäude rechts von uns sah wie eine Fotografie von einer gewaltigen Scheune in einer verlassenen Goldgräberstadt aus, die ich mal gesehen hatte.

»Das ist der Brechschuppen.«

Dahinter war ein hoher Kran. Ein Hang führte zu einer Hütte hinauf, die oben auf den Felsen thronte. Nun verlief unser Weg noch ein wenig bergab und wurde dann eben.

Harriet blieb vor einer Behelfshütte aus Holzlatten und Wellblech stehen, die nur aus drei Wänden bestand und nach vorn hin offen war.

Drinnen stand eine lange Werkbank, dahinter eine Sitzbank, und auf dem Boden lagen blaue Schiefersplitter.

»War das die Sonnenuhr, an der dein Dad gearbeitet hat, Harriet?« Ich zeigte auf die Splitter.

»Ich glaube, ja. Sie war nicht kaputt, als wir hier waren. Da sah sie fertig aus. Zuerst dachte ich, dass er nach Hause gegangen sein muss, die Straße entlang, und wir ihn deshalb verpasst haben.«

»Und wo genau hast du ihn gesehen?«

»Gleich hier. Er lag ganz vorne in der Hütte.«

»Hat Austin ihn gesehen?«