Mörderischer Nordwind - Christoffer Holst - E-Book
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Mörderischer Nordwind E-Book

Christoffer Holst

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Beschreibung

Entspannter ist nur der Tod

Nach einem ereignisreichen Sommer auf Bullholmen kündigt sich der Herbst an, und Cilla kehrt zurück in ihr altes Leben in Stockholm. Für einen True-Crime-Podcast soll sie den Fall der Prominenten Laila Damm recherchieren, die vor dreißig Jahren spurlos verschwand. Doch dann lädt Nachbarin Rosie sie zu einem Spa-Wochenende auf Bullholmen ein. In dem neu eröffneten Luxushotel auf der Insel treffen die beiden auf eine Hochzeitsgesellschaft, die schon bald durch einen Todesfall erschüttert wird. Angeblich nur ein Unfall, aber Cilla und Rosie glauben nicht daran und ermitteln auf eigene Faust.

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Seitenzahl: 307

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Das Buch

Nach einem ereignisreichen Sommer ist Cilla Storm zurück in Stockholm und hat die Klatschspalten gegen einen True-Crime-Podcast getauscht, für den sie spektakuläre ungelöste Verbrechen recherchiert. Da lädt ihre Freundin Rosie sie überraschend zu einem Wellnesswochenende auf Bullholmen ein. Zwar kann Cilla eine Rückkehr auf ihre Lieblingsinsel kaum erwarten, doch sie wird Polizist Adam vermissen. Schließlich sind sich die beiden gerade erst nähergekommen. Im Luxushotel ist es mit der Erholung jedoch schnell vorbei, denn unter den Gästen einer Hochzeitsgesellschaft sorgt ein tödlicher Unfall für Entsetzen. Oder hat hier jemand nachgeholfen? Rosie vermutet, dass die Therapeutin der Braut mit Gewalt zum Schweigen gebracht wurde. Cilla hat noch dazu endlich eine heiße Spur in ihrem neuesten Fall für den Podcast. Die Fäden scheinen ausgerechnet auf Bullholmen zusammenzulaufen.

Der Autor

Christoffer Holst ist Jahrgang 1990, er arbeitet als Lektor und ist Autor mehrerer Romane. Wenn er nicht gerade schreibt, genießt er gerne ein Glas Chardonnay oder guckt romantische Komödien. Als unverbesserlicher Romantiker findet er, dass das Leben mehr wie ein Film oder ein Buch sein sollte. Er lebt in Stockholm. Mörderischer Nordwind ist der zweite von vier Fällen für Cilla Storm.

Lieferbare Titel

Gefährliche Mittsommernacht

CHRISTOFFER HOLST

MÖRDERISCHER NORDWIND

Ein SchärenKrimi

Aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe Blå, Blå Höstvågor erschien erstmals 2019 bei Lovereads, Bokförlaget Forum, Stockholm.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 08/2021

Copyright © 2019 by Christoffer Holst

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Janine Malz

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München unter Verwendung von FinePic®, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-26774-2V002

www.heyne.de

PROLOG

Stockholm, Oktober 1988

Die Kungsgatan leuchtet in Rot und Grün. Die kräftigen Farben der Ampeln spiegeln sich im dunklen Regen, der über die Kreuzung mit dem Sveavägen in Richtung Stureplan fließt, wo das Nachtleben der Stadt in vollem Gange ist. Es ist gegen neun Uhr abends, die herbstliche Kühle kriecht den Stockholmern unter ihre Jacken und lässt sie schaudern.

Seit einer Woche regnet es ununterbrochen. Die meisten warten nur darauf, dass der Winter den nassen Herbst verjagt und der Schnee endlich die Straßen der Stadt bedeckt. Aber das dauert noch. Die Feuchtigkeit ist allgegenwärtig, wie ein nicht enden wollender Atemzug.

Die U-Bahn-Treppe, die zum Hötorget hochführt, ist rutschig. Deshalb geht Laila Damm die Stufen besonders vorsichtig hoch, um nicht hinzufallen. Aber zu Hause zu bleiben war keine Option. Nur weil sie hochschwanger war, hatte sie nicht vor, sich zu Tode zu langweilen. Das war nicht ihr Stil. Ganz und gar nicht. Langweilig war sie noch nie gewesen, und sie hatte auch nicht vor, jetzt damit anzufangen.

Auf dem Platz biegt sie links ab Richtung Stureplan, öffnet ihren Regenschirm mit dem Leopardenmuster und summt einen Song von Laura Branigan, während sie an den Schaufenstern vorbeiläuft.

Ihre Schwester hat sie für verrückt erklärt, dass sie auch jetzt noch, im neunten Monat, auf High Heels durch die Gegend stöckelt. Aber so ist Laila nun einmal.

I live among the creatures of the night. I haven’t got the will to try and fight.

Die Kungsgatan ist eine der berühmtesten Straßen des Landes. Dort feierten die Schweden 1945 das Kriegsende mit Konfetti und Jubelrufen. Dort eröffnete auch die erste McDonald’s-Filiale Schwedens. Und John Lennon hat sich in einem der Geschäfte einen Mantel gekauft. Laila spürt den Flügelschlag der Geschichte mit jedem Schritt.

You take my self, you take my self control. You take my self, you take my self control.

Ein Blick auf ihre Armbanduhr verrät ihr, dass sie sich verspätet hat. Aber das wird schon nicht so schlimm sein. Ihre Freundinnen wissen, dass sie immer zu spät kommt. Ursprünglich wollte sie mit der roten U-Bahn-Linie bis zum Östermalmstorg fahren. Dann wäre die Strecke zum Riche am kürzesten gewesen. Aber sie kann ein bisschen frische Luft und einen kleinen Spaziergang gut gebrauchen. Genau genommen, will sie den bevorstehenden Abend noch ein wenig hinauszögern und einen Augenblick zum Nachdenken haben.

In letzter Zeit ist einiges passiert. Konflikte, harte Worte, diese Kälte.

Aber Schwamm drüber. Vergessen sind all das Geschrei und all der Schmerz. Heute Abend will sie das Leben feiern. Zeit mit ihren besten Freundinnen verbringen. Lachen, tratschen, albern sein und vielleicht auch an einem Glas Champagner nippen. Dummerweise hat sie nicht damit gerechnet, dass es so stark regnen würde.

Der Himmel hat sich entleert, die Straßen überflutet. Die tiefen Wolken haben sich wie ein grauer Flickenteppich über die Stadt gelegt. Und der kalte Nordwind fegt durch die Stadt.

Die Ampel Ecke Norrlandsgatan, kurz vorm Stureplan, schaltet auf Rot, und Laila hält an, wartet, unter ihren Regenschirm gekauert, auf Grün. Wenn sie nach oben sieht, kann sie durch das Leopardenmuster hindurch die Wolken sehen.

Später wurde auch dieser Teil der Kungsgatan berühmt.

Damals wusste das noch keiner. Allen voran Laila.

Natürlich nicht.

Aber an der Kreuzung Kungsgatan Ecke Norrlandsgatan wurde sie zum letzten Mal lebend gesehen.

Zum allerletzten Mal.

1

Stockholm, Oktober 2018

»Zacke! Aretha Franklin hat auf meine Notizen gekotzt!«

Ich weiß genau, wie bekloppt das klingt, und verdrehe die Augen. Dieses kleine zottelige Ding von Hund sitzt vor mir auf dem Teppich im Wohnzimmer und sieht mich aus riesigen Augen an. Die sind noch größer und runder als sonst. Zacke steckt seinen Kopf durch die Küchentür.

»Das klingt wie eine Ausrede«, prustet er.

»Wie bitte?«

»Um nicht arbeiten zu müssen. Frau Lehrerin, der Hund hat meine Hausaufgaben gefressen!«

»Aber das hat sie auch wirklich getan! Na ja, okay, nicht direkt gefressen, aber draufgekotzt.«

»Verzeih. Du weißt doch, wie empfindlich Arethas Magen ist.«

Ich runzele die Stirn und starre in Aretha Franklins schuldbewusste Augen. Ich habe auch manchmal Magenprobleme, aber ich spucke dann nicht anderer Leute Sachen voll. Schon gar nicht, ohne mich danach zu entschuldigen. Genau genommen, sieht sie fast stolz aus. Stolz auf den funkelnden Klumpen auf dem Papierstapel vor ihr. Ihr Blick scheint sagen zu wollen: Sorry, aber so bin ich halt. Ich kotze, wohin ich will, so einfach ist das. Am besten du gewöhnst dich daran.

Außerdem überrascht es mich überhaupt nicht, dass sie Magenprobleme hat, wenn sie Weinkorken und Steine frisst. Ganz offensichtlich gehört sie zu den Kandidaten, bei denen die immense Bedeutung einer gesunden Darmflora noch immer nicht angekommen ist, obwohl in letzter Zeit so viele Bücher dazu erschienen sind.

»Dein Hund hat nicht gerade eine steile Lernkurve«, murmele ich.

»Wer hat die schon?«, kontert Zacke.

Er wirft mir eine Rolle Haushaltspapier hin, die ich elegant in der Luft fange. Dann verschwindet er wieder in der Küche. Ich reiße zwei Blätter ab und versuche, den Klumpen Hundekotze von meinen Aufzeichnungen wegzuwischen. (Tatsächlich handelt es sich um einen Klumpen – man stelle sich Crème brûlée vor, nur ohne die Karamellkruste.) Mein Porträt über Elizabeth Short hat sich dank der Feuchtigkeit aufgelöst. Verdammt.

Ich kraule den nervtötenden, aber unfassbar niedlichen Hund hinter den Ohren und gehe zu Zacke in die Küche, um mich an ihm vorbeizuschieben und das ekelige Papier mit der Hundekotze im Mülleimer zu entsorgen. Während ich mir die Hände wasche, seufze ich vernehmlich, vielleicht ein bisschen zu vernehmlich.

»Hilf, Herrgott«, sagt er. »Da ist aber heute jemand mit dem falschen Fuß aufgestanden, was?«

»Ich weiß. Sorry.«

»Hast du schlecht geschlafen?«

»Nein, gar nicht. Ich bin nur gestresst, weil ich heute Abend die endgültige Fassung meines Textes noch abschicken muss.«

»Ah, verstehe. Kann ich dir dabei helfen?«

»Nein, das kann Aretha übernehmen. Schließlich ist sie auch einfach über meine Sachen getrampelt.«

»Das würde sie bestimmt gerne tun, aber sie ist leider so doof, dass sie nichts beitragen kann. Außer Liebe.«

»Wie der Herr, so sein Gescherr.«

»Pass bloß auf, du.«

Zacke steht am Herd, rührt in seinen Töpfen herum und lacht. Und steckt mich damit an. Ich drücke ihn und werfe einen Blick in einen der Töpfe, in dem ein exotischer Sonnenuntergang blubbert.

»Was wird das hier?«

»Indisch! Paneer Korma.«

»Himmel. Womit habe ich das nur verdient?«

»Keine Ahnung. Vielleicht hat das was mit deinem früheren Leben zu tun?«

Ich hebe eine Augenbraue.

»Und das wäre?«

»Vielleicht bist du eine Hexe gewesen?«, sagt Zacke neckend.

»Das würde auf jeden Fall meine mangelhaften Schwimmkünste erklären. Wann gibt es Essen?«

»Das dauert bestimmt noch eine Stunde. Du hast also noch genug Zeit für deinen Artikel. Hopp, hopp, raus hier!«

Ich verlasse den Ort aromatischer Düfte und gehe ins Wohnzimmer zurück. Ich liebe die Wohnung von Zacke und Jonathan, vor allem dieses Wohnzimmer. Vielleicht liegt es daran, dass der Raum kreisrund und riesengroß ist. Das Zentrum der Wohnung. Der Fußboden ist mit persischen Teppichen bedeckt, und an den sonnengelben Wänden hängen Fotografien und farbenfrohe Kunst. Die großen Fenster zeigen auf den Mariatorget, wo die Laubbäume langsam nackt werden und ihre gelborangen Blätter verlieren. Es ist kurz vor acht. Das weiß ich, weil der Fernseher leise läuft und sich die Kochshow Um halb acht bei mir ihrem Ende zuneigt. Ich muss bei dem Anblick einer Frau lachen, die vollkommen verrückt gekleidet ist und Kartoffelpuffer mit Nasen aus Parmaschinken und Augen aus Oliven serviert. Himmel. Was für ein Geschenk und Glück, dass wir Menschen so verschieden sind. Wie traurig diese Welt sonst wäre.

Wie auch immer, zurück an die Arbeit.

Ich setze mich an den Esstisch, klappe meinen Laptop auf und starre eine gefühlte Ewigkeit meinen Text an. Der ist eigentlich so weit fertig, aber es fehlt noch das gewisse Etwas. Er ist wie ein frisch gebackener Apfelkuchen ohne Schlagsahne oder Vanilleeis. Nur halb fertig eben. Aber was genau fehlt ihm?

Die Verfasserzeile. Ich grinse ironisch. Heutzutage hat diese Zeile nicht mehr dieselbe Funktion wie früher, man benutzt sie fast kaum noch. Zumindest nicht in meinem jetzigen Job. Niemand soll erfahren, wer sich diese Geschichte ausgedacht und zusammengestümpert hat. Und eigentlich stört mich das auch nicht. Aber ich schreibe trotzdem meinen Namen unter den Artikel. Schon aus Prinzip.

Cilla Storm, Kriminalreporterin.

Ganz genau. Vor einem halben Jahr noch hätte ich mich als Klatschreporterin bezeichnet. Damals habe ich bei der Zeitschrift Chance gearbeitet – einem Blatt, das sich hauptsächlich dafür interessiert, wie viele Zigaretten Prinzessin Madeleine bei einer Party geraucht hat, was für einen Stuss die Sängerin Kikki Danielsson wieder auf Twitter verzapft hat und warum es auf dem Dachboden der Fernsehmoderatorin Agneta Sjödin spukt. Der letzte Themenbereich wird übrigens vom schnauzbärtigen Jörgen abgedeckt, unserem hauseigenen Medium.

Mir hat die Zeit in der Redaktion gut gefallen, obwohl ich mich immer nach etwas anderem gesehnt habe. Und dann, als Danne, mein Ex, mich verlassen hat, passierte dieses Etwas.

Um es kurz zu machen: Ich habe mir einen Schrebergarten in den Stockholmer Schären gekauft, und zwar auf der kleinen, bei Touristen sehr beliebten Insel Bullholmen. Dort habe ich diesen Sommer verbracht, um neu anzufangen. Ich wollte über die Trennung von Danne hinwegkommen, das Gärtnern lernen und den Sinn des Lebens finden. Vor allem wollte ich beweisen, dass ich allein zurechtkomme. Allerdings war ich nicht darauf vorbereitet gewesen, mitten in einen rätselhaften Mordfall zu schlittern, genau genommen eine Mordserie, die meine Sommerpläne über den Haufen warf.

Das alles kommt mir unendlich lange her vor, obwohl seitdem nur ein paar Monate vergangen sind. Der Sommer verabschiedete sich Ende August, und dann war es auch für mich Zeit, aufs Festland zurückzukehren.

In den Alltag zurückzufinden hatte Vor- und Nachteile.

Klarer Nachteil: In meiner kleinen Wohnung in der Bastugatan hatte es einen Wasserrohrbruch gegeben, woraufhin sich meine Küche in einen gigantischen Indoorpool im Dallas-Stil verwandelte. Ich musste also meine Koffer wieder packen und bei Zacke und Jonathan unterkommen, deren Wohnung zum Glück gleich um die Ecke ist.

Zwei Monate ist das jetzt her, und die Bauarbeiter und Handwerker sind immer noch damit beschäftigt, meine Wohnung wiederherzustellen. Und die unter mir übrigens auch.

Klarer Vorteil: Mit meiner Rückkehr in die Stadt hatte ich einen neuen Job angefangen.

Ja, ich kann es selbst noch nicht so recht glauben. Nach den ersten, ziemlich blutigen Wochen auf Bullholmen im Sommer wurde etwas in mir zum Leben erweckt. Ich würde mich eher als ängstliche Person beschreiben, die praktisch vor allem Schiss hat. Zwar mit einer großen Portion Neugier, aber meistens verstecke ich mich lieber hinter der nächsten Häuserecke. Die Sommermorde auf der Insel haben mich verändert. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich gezwungen gewesen, zu handeln, statt wegzurennen und mich zu verstecken. Und aus diesem Grund beschloss ich auch, bei Chance zu kündigen und mir einen neuen Job zu suchen.

Ich wollte auch weiterhin meine angeborene Neugier beruflich einsetzen, aber es war einfach an der Zeit, die Geister und Gewichtsprobleme der C-Promis hinter mir zu lassen.

Mein Ziel war es, Kriminaljournalistin zu werden. Also bewarb ich mich bei den Redaktionen der Zeitungsbeilagen, wurde aber abgewiesen. Dann versuchte ich mein Glück bei Fernseh- und Radiosendern sowie Lokalredaktionen, aber auch dort wurde ich nicht genommen. Was nicht weiter überrascht, wenn man bedenkt, wie schwer es heutzutage ist, im Journalismus einen Fuß in die Tür zu bekommen. Diese Branche ist ein echter Dschungel.

Wenn ich ehrlich bin, hat mich Rosie (meine neue Freundin und Schrebergartennachbarin auf Bullholmen) auf den Podcast Blutspur aufmerksam gemacht, nach dem sie süchtig ist. Darin geht es um gelöste und ungelöste schwedische und internationale Mordfälle. Ergreifende Berichte über das Böse in dieser Welt.

Ich wäre nie im Leben auf die Idee gekommen, mich bei einer Podcastredaktion zu bewerben. Außerdem hatte ich mir nicht vorstellen können, dass man mit so einem Job auch wirklich Geld verdienen kann. Aber das kann man. Blutspur hat dreihunderttausend Hörer in der Woche. Und jemand muss für die Sendung die Skripte schreiben. Als ich auf einer Facebookseite für Journalisten einen Post von den Macherinnen des Podcasts las, dass sie jemanden suchen, habe ich mich beworben und den Job bekommen!

Also, Verfasserzeile hin oder her: Ich bin jetzt Kriminalreporterin. Ich lasse mich auf das Sofa fallen und sehe, dass Aretha vor mir auf einem der Perserteppiche sitzt und mich ansieht. So munter wie leer gekotzt. Ich zwinkere ihr zu.

Das Leben nimmt manchmal unerwartete Wendungen, stimmt’s?

*

Einige Stunden später stehen auf dem Couchtisch die Teller mit den Resten des köstlichen Paneer Korma.

Zacke ist auf dem Sofa eingeschlafen, seine Hände liegen auf seinem runden Bäuchlein. Ich habe es tatsächlich geschafft, die endgültige Fassung meines Skripts für die nächste Sendung abzuschicken, und es fühlt sich gut an. Der Titel wird lauten: Die schwarze Dahlie – der Fall der Elizabeth Short. Sofie und Jenny – die Producerinnen des Podcasts – haben jetzt das Wochenende über Zeit, um sich alles durchzulesen, bevor es am Montag eingesprochen wird.

Der Fall der Elizabeth Short gehört zu den unheimlichsten Mordfällen, über die ich bisher geschrieben habe. Es ist auch ein ziemlich berühmter Fall. Und ein bis heute ungelöster.

Short war eine Kellnerin und Schauspielerin in Hollywood mit schwarzem welligem Haar und großen Träumen. Dann eines Tages, Ende der Vierzigerjahre, wurde sie am helllichten Tag von einer jungen Frau gefunden, die mit ihrer Tochter spazieren war. Ermordet. Nackt. Short lag auf einem Rasenstück, und da ihre Haut sehr blass war, hatte die junge Frau zuerst gedacht, es handelte sich um eine Schaufensterpuppe. Ihr Körper war in der Mitte durchtrennt und ihr Gesicht mit dem sogenannten Glasgow-Smile entstellt worden. Ihre Mundwinkel waren bis zu den Wangenknochen aufgeschlitzt worden, ihr blutiges Lächeln nahm fast das gesamte Gesicht ein.

Zugegebenermaßen reichen diese Informationen schon aus, um einem Albträume zu bescheren. Was ich aber noch viel unheimlicher finde, ist, dass der Mörder bis heute nicht gefasst wurde. Es sind fast achtzig Jahre vergangen, und niemand weiß, wer die arme Elizabeth umgebracht hat.

In den vergangenen Monaten habe ich mir viele Gedanken darüber gemacht, welche Auswirkungen ein ungelöster Fall auf die Angehörigen hat. Mord ist immer schrecklich und eine Tragödie. Aber was, wenn dem Opfer keine Gerechtigkeit widerfährt? Wenn der Schuldige niemals zur Rechenschaft gezogen wird? Können die Hinterbliebenen jemals ihre Trauer verarbeiten?

*

»Schläfst du?«

Ich zucke zusammen und reiße die Augen auf. Neben mir sitzt Jonathan und hat Aretha Franklin auf dem Schoß.

»Was? Nein. Ich habe nur ein bisschen gedöst.«

»Und dann besetzen wir auch noch dein Bett«, sagt Jonathan und klopft auf das Sofakissen.

»Nein, nein, ich finde das total gemütlich.«

»Bist du sicher? Ich kann den da ins Schlafzimmer tragen.«

Er zeigt auf Zacke, der leise vor sich hin schnarcht.

»Ja, ganz sicher. Ich fühle mich pudelwohl hier und bin so dankbar, dass ich bei euch wohnen darf.«

»Du kannst uns jederzeit verscheuchen, wenn du deine Ruhe haben willst. Ich bin ja sowieso der Einzige, der das hier sehen will.«

Er nickt zum Fernseher, auf dem gerade Eine Nacht im Schloss läuft – ein Format, bei dem vier Promis eine Nacht in einem Spukschloss verbringen und mit flackernden Kerzen durchs Dunkle irren müssen. Ich kichere.

In diesem Moment plingt mein Handy und meldet eine neue Nachricht. Als ich das Telefon wieder sinken lasse, bemerke ich, dass Jonathan mich angrinst. Ich lache.

»Was denn?«

»Neue Nachricht von ihm?«

»Von wem?«

»Du weißt ganz genau, wen ich meine.«

»Jassir Arafat? Nein, der meldet sich nicht mehr so oft bei mir.«

Jonathan streckt mir die Zunge raus.

»Ich meine deinen Traumpolizisten. Zumindest nennt Zacke ihn so.«

»Und wie kommst du darauf, dass die SMS von ihm ist?«

»Weil du strahlst wie nach einem Unfall im Kernkraftwerk.«

Ich lächle und streichle dem Hund über den verzottelten Kopf. Aretha dreht ihren Kopf zu mir und sieht mich aus ihren zuckersüßen Augen an. Telepathisch gebe ich ihr zu verstehen, dass ich ihr ihren Fehltritt von vorhin vergebe.

»Vielleicht …«

»Wann seht ihr euch denn wieder?«

»Wir sind für morgen verabredet. Wir gehen ins Kino und einen Happen essen.«

»Ist das ein Scherz?«

Ich schüttle den Kopf.

»Wow. Reden wir also von einem richtigen Date mit dem Herrn Wachtmeister? Gut gemacht, Cilla!«

»Manchmal, da …«

Jonathan kichert und schenkt mir Tee in meine winzige, mit Rosen verzierte Tasse ein. Wir sitzen noch eine Weile zusammen auf dem Sofa, dann dreht er eine letzte Runde mit Aretha Franklin und trägt danach den schnarchenden Zacke ins Schlafzimmer.

Nachdem ich mein provisorisches Bett gemacht und alle kleinen Lampen ausgeknipst habe, wird das Wohnzimmer in das gedämpfte Licht der Straßenlaternen auf der Hornsgatan getaucht. Der Herbst erstrahlt in voller Pracht, ich kann die knalligen Farben der Blätter sehen. Und die Regentropfen, die an den Fensterscheiben herunterlaufen. Urgemütlich.

Ich ziehe mir die flauschige Decke bis zum Kinn (natürlich haben Zacke und Jonathan diese Decken, die es nur in Hotels gibt und hinter denen ich schon seit Ewigkeiten her bin, die so groß sind wie eine Plane, aber trotzdem nur fünf Gramm wiegen und quasi über dem Körper schweben).

Kurz bevor ich in den Schlaf sinke, spüre ich eine große Erleichterung, dass ich Elizabeth Shorts blutiges Schicksal hinter mir gelassen habe und mich jetzt auf etwas anderes konzentrieren kann. Auf die SMS zum Beispiel, die ich bekommen habe. Auf ihn.

Auf Adam Ångström.

2

Portrush, Nordirland, eine Woche später

An der nordirischen Küste liegt eine kleine Stadt namens Portrush. Wie die meisten britischen Küstenstädte besteht sie aus ein paar Tausend Einwohnern, ein oder zwei Restaurants, einer Handvoll Pubs und einem Hafen mit einem Pier. Und einem heruntergekommenen Vergnügungspark, der ursprünglich für die Touristen gebaut wurde. Beziehungsweise für deren nach Süßigkeiten süchtige Kinder. Ein paar Spielautomaten, eine klapprige Achterbahn und eine Popcornbude. Der Strand grenzt direkt unterhalb des Vergnügungsparks an und flankiert die gesamte Ortschaft. Vorbei an Fish-and-Chips-Ständen und Fischrestaurants.

Ella legt ihre Stirn gegen die kalte Fensterscheibe.

Der Regen trommelt auf das Autodach. Typisch Oktober. Vielleicht sogar typisch Nordirland. Allerdings ist Ella zum ersten Mal hier. Weiter als bis nach London ist sie bisher nicht gekommen. Nordirland war unbekanntes Terrain. Bis jetzt.

Sie dreht den Kopf zu Patrick, der hinter dem Steuer sitzt. Er sieht zu ihr.

»Und wie fühlt es sich an?«, fragt er.

»Hier zu sein?«

»Hm.«

»Ein bisschen … komisch, ehrlich gesagt. Und wie ist es für dich? Das Fahren klappt ganz gut, oder?«

Patrick nickt. Zu Hause in Schweden fährt Ella grundsätzlich gerne Auto. Manchmal wünschte sie sogar, sie würde nicht im Zentrum von Stockholm wohnen, dann käme sie jeden Tag in den Genuss. Aber auf diesen kurvigen Küstenstraßen zu fahren – noch dazu auf der falschen Seite – reizt sie nicht sonderlich. Schon gar nicht in ihrem jetzigen Zustand. Vor lauter Müdigkeit traut sie sich selbst kaum über den Weg. Was, wenn sie einfach hinterm Steuer einschlafen würde?

»Laut GPS sind wir gleich da«, sagt Patrick.

»Okay. Hilfe!«

Das dunkle Meer verschwindet hinter ein paar grauen Backsteinhäusern, als sie auf die »Hauptstraße« von Portrush abbiegen, die ihrem Namen keine Ehre macht. Sie fahren vorbei am The Daggers Inn und The Horse und The Gentlemen, und Ella vermutet, dass es die Pubs mit den absurden Namen schon seit Ewigkeiten gibt.

Kurz darauf müssen sie erneut abbiegen, und wenig später hält Patrick an.

Ella hat Schmetterlinge im Bauch. Obwohl, nein, es sind keine Schmetterlinge, es sind Insekten. Maden, Larven, Würmer und Grashüpfer. Am liebsten würde sie sich übergeben. Es kann nicht hier sein. Das ist unmöglich.

»Sind … wir … sind …«

Patrick nickt.

»Ja, mein Schatz. Wir sind da.«

*

Vor zwei Wochen ist Ellas Mutter Karin in einem Krankenhaus außerhalb von Stockholm für immer eingeschlafen.

Sie hatte ihre letzten Lebensjahre in ihrer Heimat Schweden verbringen wollen, aber nie den Grund dafür genannt. Ella vermutete – und hoffte –, dass es die Nähe zu ihren Kindern und die Einsamkeit gewesen waren, die ihre Mutter angesichts ihrer fortschreitenden Krebserkrankung zurück nach Hause getrieben hatte.

Obwohl Ella von Anfang an wusste, dass ihrer Mutter nicht mehr viel Zeit blieb, war es ein Schock für sie, als sie Ende September starb. Als der Anruf kam, fuhr Ella sofort ins Krankenhaus, weil sie ihre Mutter noch einmal sehen wollte. Sie hatte sich neben ihr Bett gesetzt, die kalte Hand ihrer toten Mutter gestreichelt und ihr auf die Wange geküsst. Sie hatte sich in aller Stille von ihr verabschiedet.

Jetzt liegt sie tief unter der Erde neben Ellas Vater Roger, der vor ein paar Jahren starb. Jetzt sind sie wieder vereint, so wie sie es zu Lebzeiten immer gewesen sind.

Und Ella ist jetzt hier in Nordirland und steht vor der Haustür in Portrush. Dorthin waren ihre Eltern vor zehn Jahren gezogen, als ihre Mutter sich auf die Suche nach ihren irischen Wurzeln gemacht hatte.

Das Haus an der Küste ist aprikosenfarben und hat zwei Stockwerke. Als sie die knarrende Eingangstür aufschließen, werden sie von einem vor langer Zeit verlassenen Haus empfangen. Ein dunkelroter Teppich windet sich die Treppenstufen hoch in den ersten Stock. Als sie die Lampe in der Diele einschalten, sehen sie die Staubkörner durch die stickige Luft tanzen. Es riecht nach alten Menschen, findet Ella. Und es ist voller Krimskrams. Überall.

»Ach, du liebe Zeit!«, stöhnt Patrick leise.

»Ja, meine kleine Mama.«

»Putzen und aufräumen waren nicht ihr Hobby, was?«

Ella schüttelt den Kopf.

»Nein.«

»Dann habt ihr ja wenigstens etwas gemeinsam.«

Ella verdreht die Augen. Patrick lacht und umarmt seine Frau von hinten, bohrt seine Nase in ihre langen Haare und küsst sie in den Nacken.

»Das wird Ewigkeiten dauern, bis wir hier alles sauber gemacht haben«, sagt Ella.

»Wie gut, dass du mich mitgenommen hast.«

*

Trotz der kühlen Temperaturen sind die Fenster im Schlafzimmer über Nacht geöffnet. Das Haus muss gelüftet werden. Alte Luft raus, frische Luft rein.

Patrick schläft tief und fest neben Ella. Sie sieht, wie sich sein Brustkorb gleichmäßig hebt und senkt. Aber sie kann nicht einschlafen.

Weit sind sie heute nicht gekommen. Sie haben nur eine gründliche Hausbesichtigung gemacht und sich alle Zimmer angesehen, jede Schublade aufgezogen, die Gemälde betrachtet und überprüft, ob auch nichts im Kühlschrank lag und vor sich hingammelte. (Zum Glück hatten dort nur Konservendosen und hochprozentiger Alkohol gestanden.) Dann haben sie die Betten abgezogen, die alte Bettwäsche in einen Müllsack gestopft und alles neu bezogen. Patrick hatte die Straße runter kaltes Bier und zwei Pappkartons mit chinesischem Essen besorgt. Sie aßen die gebratenen Nudeln, das Wokgemüse und die frittierten Frühlingsrollen im Bett und rundeten den Tag mit ein paar Folgen von Mad Men auf Patricks Laptop ab.

Aber das war schon Stunden her.

Mittlerweile ist es kurz vor eins. Ab und zu hört Ella, wenn ein Wagen vorbeifährt oder eine Gruppe von Jugendlichen lachend am Haus vorbeigeht und der herrliche irische Singsang durch die Fenster dringt. In einem anderen Leben würde sie diesen Ort besser kennen. In einem anderen Leben hätte sie Portrush jedes Jahr besucht, um die Stadt zu erkunden. Aber vor allem, um eines zu tun: ihre Eltern besser kennenzulernen.

Auch wenn ihre Mutter immer etwas speziell und vorsichtig ausgedrückt vollkommen unberechenbar gewesen war … sie war immer noch ihre Mutter. Ellas Mutter. Aber Ella hatte eine vielversprechende Schauspielkarriere, und ihre Eltern führten dieses zurückgezogene, klaustrophobische Leben in Nordirland, und deshalb … deshalb hatte sich ihr Kontakt in den letzten Jahren auf ein paar Telefonate beschränkt.

Ella setzt sich im Bett auf und reibt sich das Gesicht, fährt sich mit den Händen durch die dicken blonden Haare. Kann ich jetzt bitte einfach schlafen?

Sie schlüpft aus dem Bett, stellt sich ans Fenster, zieht die Gardine auf und sieht hinaus auf die stille, leere Straße. Nasser Asphalt, Regentropfen fallen auf das Fensterblech.

Das Haus gegenüber ist dunkel, bis auf ein paar Fenster im Erdgeschoss. Dort hat jemand den Fernseher noch eingeschaltet. Ella steht reglos da, die Arme vor der Brust gekreuzt, und genießt die Luft, die ihren Körper kühlt.

Dann aber erregt etwas ihre Aufmerksamkeit. Es dauert einen Augenblick, bis sie realisiert, was sie sieht.

Sie kneift die Augen zusammen.

Unter einer Straßenlaterne ein Stück die Straße hinauf steht jemand.

In einer schwarzen Regenjacke. Ein Mann.

Und er sieht zu ihr hoch.

3

Stockholm

Wir sitzen fast in der letzten Reihe des Kinosaals. In weichen roten Samtsitzen.

Wir sind praktisch die einzigen Besucher, außer einem älteren Paar, das weiter vorne sitzt. Gezeigt wird die moderne Fortsetzung von Blade Runner mit Harrison Ford und Ryan Gosling in den Hauptrollen, zwei sehr gut aussehende Typen. Aber ehrlich gesagt, würde ich den Mann neben mir gegen keinen von den beiden tauschen.

Auf meinem Schoß liegt die Tüte mit den Süßigkeiten, auf seinem die mit dem Popcorn. Es fühlt sich zwar ein bisschen distanzlos an, immer in seinen Schritt zu greifen, aber er grinst nur. Ich trinke Cola Light und schiebe mich unauffällig noch zwei Millimeter näher an ihn heran.

Wir sind beide sehr zurückhaltend. Ich kann mich gut daran erinnern, wie es damals war – vor hundert Jahren –, als das mit meinem Ex-Freund Danne anfing. Wir sind ins Kino gegangen und haben die ganze Zeit geknutscht. Das habe ich wahrscheinlich schon immer bei meinen Dates gemacht. Dieses Kinogeknutsche ist etwas Herrliches, es ist gemütlich und fühlt sich nach Teenagerzeiten an.

Aber hier wird nicht geknutscht. So was von gar nicht.

Wenn man das hier überhaupt als ein Date bezeichnen kann. Obwohl, eigentlich ist es eins.

Die Beziehung von Adam und mir lässt sich schwer definieren. Wir kennen uns ja auch noch nicht so lange, erst seit ein paar Monaten. Und wenn man bedenkt, dass unsere erste Unterhaltung ein Verhör war, an dem ich als Zeugin und er als ermittelnder Beamter beteiligt war, ist es vielleicht nicht mehr so überraschend, dass nicht ganz klar ist, was da genau zwischen uns läuft.

Aber wir hatten diese eine Nacht diesen Sommer … Wir hatten den Abend in der besten Kneipe von Bullholmen verbracht, beide viel zu viel getrunken und waren dann in meiner kleinen Laube gelandet. Obwohl ich ziemlich betrunken war, kann ich mich sehr genau an den Sex mit ihm auf meinem Sofa erinnern. Ich sehe seinen nackten, braun gebrannten und muskulösen Körper vor mir und wie das Mondlicht auf seinen Rücken fiel, als er auf mir lag. Diese Erinnerung aktiviere ich immer, wenn es … ähm notwendig ist.

Adam Ångström ist Kommissar bei der Polizei von Nacka. Er hat bei den Morden auf Bullholmen vergangenen Sommer zusammen mit seiner Kollegin Tilly ermittelt. Vielleicht hatte ich gedacht und gehofft, dass aus uns etwas wird, nachdem der Fall gelöst war. Aber ein Polizist hat offensichtlich niemals frei. Umso mehr freue ich mich, dass er heute Abend Zeit für mich hat.

»Für wen würdest du dich entscheiden?«, flüstert er mir plötzlich ins Ohr.

»Was?«

»Wer von den beiden?«

Er zeigt auf die Leinwand, wo ein muskulöser Ryan Gosling gerade dem zwar älter gewordenen, aber nach wie vor muskulösen Harrison Ford gegenübersteht. Ich lächle Adam an, bin aber ehrlich gesagt etwas verwirrt. Für wen ich mich entscheiden würde? Was soll diese Frage? Auf einmal fühlt es sich an, als würde ich mit Zacke im Kino sitzen.

»Keine Ahnung. Harrison Ford ist ja doch ein bisschen in die Jahre gekommen.«

»Ja, verdammt. Wie die Zeit vergeht.«

»Obwohl, hat er nicht eigentlich immer schon ausgesehen wie ein Rentner?«

»Doch …«

Adam greift in die Tüte mit den Süßigkeiten und wirft sich ein Schokobonbon in den Mund. Seit ich wieder in Stockholm bin, haben wir uns dreimal getroffen. Wir sind halt beide sehr beschäftigt. Okay, das Letzte bitte wieder streichen. Er ist sehr beschäftigt. Ich habe zwar auch einen Job, aber als Freiberuflerin bin ich ziemlich flexibel, und trotz enger Auftragslage habe ich ausreichend Zeit, um mir die Linsenchips aus Zacke und Jonathans Vorratskammer reinzustopfen, die neuen Folgen von Bauer sucht Frau zu schauen und alles über den neuesten Klatsch und Tratsch in der Welt der Schönen und Reichen zu googeln. Einmal Chance, immer Chance!

Adam ist so richtig wirklich viel beschäftigt. Er muss Verbrechen aufklären.

Unsere Dates sind bisher immer nach demselben Muster abgelaufen. Wir treffen uns in der Stadt, wenn es schon dunkel ist, dann umarmen wir uns zur Begrüßung, gehen ins Kino und danach etwas Kleines essen und trinken.

Also … was genau ist man dann? Freunde? Oder läuft das schon unter Date? Oje, hoffentlich fühlt er sich nicht verpflichtet, mich zu bespaßen? So wie diese Nannys, die man buchen kann, wenn das Kind krank ist und man abends noch mal wegmuss.

Ich schiele zu Adam. Er trägt einen weißen Wollpullover und eine klassische dunkelblaue Stoffhose. Seine muskulösen Oberschenkel zeichnen sich unter dem Stoff ab. Kennengelernt habe ich ihn in adrettem Anzug, aber ich vermute, dass die Herbstfrische ihren Tribut fordert. Ein warmer Pullover ist in dieser Jahreszeit ein echtes Must-have.

Unsere Hände berühren sich zufällig, als wir beide gleichzeitig versuchen, die Reste aus der Popcorntüte zu klauben. Seine warme Haut berührt meine.

»Oh, sorry«, flüstere ich.

Er lächelt und zieht seine Hand aus der Tüte. Überlässt mir die knusprigen Überbleibsel. Genau in dieser Sekunde hätte es passieren können. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Ich sehe es vor mir, wie in einem Film. Wir hätten uns angesehen, unsere Blicke wären ineinander verschmolzen, und unsere Lippen hätten sich berührt!

Aber Adam ist schon wieder in das Geschehen auf der Leinwand vertieft. Ich schiebe mir die Popcornreste in den Mund, zermahle die salzige Enttäuschung zwischen meinen Zähnen und starre auf Harrison und Ryan.

Ja, für wen würde ich mich entscheiden? Das hängt davon ab, wer überlebt. Eine schreckliche Vorstellung, in meinem Alter schon Witwe zu werden.

*

Kurz darauf sitzen wir im Foodcourten K 25 in der Kungsgatan vor unseren Tellern mit Dumplings. Es ist Mittwochabend und nicht besonders voll. Am Nachbartisch sitzen ein paar ältere Damen in blumigen Walla-walla-Kleidern und trinken Rotwein, weiter hinten genießen zwei Geschäftsleute ihre Hamburger, und irgendwo hinter mir lachen ein paar Teenager. Ich tunke meinen Dumpling in die würzige Yakinikusoße in dem kleinen Plastikbehälter. Die vergangene halbe Stunde haben wir damit zugebracht, darüber zu diskutieren, wie schlecht der Film war. Aber wir können immerhin festhalten, dass Adam und ich beide eine Vorliebe für schlechte Filme haben. Zugegebenermaßen haben sie etwas unglaublich Entspannendes.

»Wie läuft es bei Blutspur?«, fragt Adam und nimmt einen Schluck von seinem Bier.

»Joah, ich kann nicht klagen. Ich habe viel zu tun, aber es macht Spaß und ist spannend.«

»Und welchen Fall hast du gerade am Wickel?«

»Ich habe gerade den Mord an Elizabeth Short abgeschlossen. Erinnerst du dich an diesen Fall?«

»O ja. Die schwarze Dahlie. Wann war das? In den Vierzigern? Los Angeles, oder?«

»Ganz genau. 1947.«

»Das war gruselig. Vor allem mit diesem fiesen Grinsen, wie heißt das noch …«

»Glasgow-Smile«, beende ich den Satz.

Adam schüttelt sich, und auch ich muss das Bild mit einem Schluck Bier hinunterspülen.

»Ehrlich gesagt, sehe ich morgens nach dem Aufstehen auch so aus«, sage ich und schneide eine Grimasse.

Adam lacht laut auf. Ich hingegen bereue es sofort. Diese Art von Witzen kann ich mit Zacke machen, aber vielleicht sollte ich mich lieber etwas charmanter geben, wenn ich sein Interesse entfachen will? Und eben nicht ankündigen, dass ich morgens aussehe wie eine verstümmelte Leiche. Das ist wirklich nicht besonders attraktiv.

»Das ist in der Tat ein ganz abgefahrener Mordfall«, lenke ich ab. »Aber am makabersten ist doch, dass man den Mörder bis heute nicht gefasst hat.«

»Hm. Stimmt. Tragisch.«

Mein Fuß, den ich auf eine Metallstrebe gestellt habe, rutscht ab, und ich berühre Adams Bein. Er lächelt mich an, als würde er sich dafür entschuldigen wollen, dass ich gegen sein Bein getreten habe. Ich ziehe meinen Fuß zurück und stopfe mir einen Dumpling in den Mund. Eigentlich müssten wir doch hier sitzen und unterm Tisch füßeln, oder? Warum tun wir das dann nicht?

Oder ist füßeln kindisch? Ich sollte etwas machen, das richtig sexy ist. Denn ich will nichts lieber, als mit ihm nach Hause gehen und diese Sommernacht wiederholen. Lieber Herr Gesangsverein, wie ich mich danach sehne. Geht es ihm nicht auch so? Was kann ich bloß tun, was so richtig sexy ist? Ich könnte die Essstäbchen verführerisch ablecken. Nein, die sehen gefährlich aus. Am Ende habe ich noch einen Splitter in der Zunge. Ich sehe zu Adam hoch. Oh Mann, er ist so unfassbar sexy, ganz ohne was dafür zu tun. Einfach so, von Natur aus.

Ich rutsche ein wenig auf meinem Barhocker herum. Da Adam in sein Essen vertieft scheint, nutze ich die Gelegenheit und drücke meine Brüste mit den Oberarmen zusammen, sodass in meinem Dekolleté eine tiefe Spalte entsteht. So, mit den größten Brüsten vom K 25, werde ich jetzt hier sitzen bleiben und ihn mit meinem Schlafzimmerblick hypnotisieren. Das muss einfach funktionieren. Ich streiche mir meine blonden Haare hinters Ohr. Und in diesem Moment bleibt mir der Dumpling im Hals stecken, weil ich ihn nicht richtig gekaut und einen zweiten nachgeschoben habe. Verdammt.

Adam hebt den Kopf und starrt mich verwundert an.

»Cilla?«

Ich merke, wie meine Augen immer größer werden. Dieses blöde Ding sitzt in meiner Speiseröhre fest. Ich versuche, durch die Nase zu atmen, aber das kitzelt wie verrückt und löst einen hysterischen Hustenreiz aus.

»Alles in Ordnung?«, fragt er besorgt.

Ich nicke und verdrehe lächelnd die Augen.

»Keine Sorge«, sage ich mit einer Stimme wie Regan in Der Exorzist.

Ich huste weiter, aber der Dumpling bewegt sich nicht, keinen Zentimeter. Hilfe. Ich werde an einem Dumpling mit Fleischfüllung ersticken. Adam springt auf, um mir zu Hilfe zu eilen, aber ich drücke ihn zurück auf seinen Barhocker.

»Ich … schaffe … das …«

Regan ist ungeheuer selbstständig für ihr Alter. Adam ist sprachlos geworden. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass eine der Rotwein-Walla-walla-Frauen aufgestanden ist und auf mich zukommt. Ihre Tunika flattert, als wäre sie der rettende Engel.

»Mein Schätzelchen, alles in Ordnung mit dir?«

Schätzelchen. Nichts ist weniger sexy als Schätzelchen.

»Mir … geht …«

Meine Stimme klingt jetzt nach Jenseits. Mir stehen die Tränen in den Augen, und ich bekomme kaum noch Luft. Dieser verdammte Dumpling. Blöder, blöder Dumpling. Die Tunikatante stellt sich hinter mich und umarmt mich mit ihren kräftigen Armen.

»So, jetzt holen wir das mal wieder raus. Eins, zwei, drei, Schätzelchen.«

Mir laufen die Tränen ungehemmt über die Wangen, und ich schwitze, als würde ich in einer Sauna sitzen. Während der Walla-Engel das Heimlich-Manöver anwendet, entweichen aus meinem Mund heisere, gurgelnde Geräusche, und es endet damit, dass sich der fleischige Teigklops löst und den Weg nach oben nimmt. Allerdings nicht in einem Stück. Genau genommen, erbreche ich ihn Häppchen für Häppchen auf den fettigen Pappteller.

Tja. Wenn Adam diese Vorführung nicht anmacht, dann weiß ich auch nicht mehr weiter.

*

Als wir etwas später das K 25 verlassen, regnet es. Ich fröstele und ziehe den Reißverschluss meiner weißen Jacke zu, in der ich im Winter aussehe wie ein wandelnder Schneeball. Ich schiebe die Hände in die Jackentasche und sehe Adam dabei zu, wie er seinen eleganten Mantel bis zum Hals zuknöpft.