Tödlicher Inselfrühling - Christoffer Holst - E-Book
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Tödlicher Inselfrühling E-Book

Christoffer Holst

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Beschreibung

Mit den ersten Strahlen der Frühlingssonne blüht auch das Verbrechen in den Schären auf

Der Frühling und die bevorstehende Walpurgisnacht wecken die Lebensgeister auf Bullholmen. Cilla und ihre Freunde freuen sich auf entspannte Wochen in ihren Ferienhäusern. Auch eine Bekannte von Cillas bestem Freund Zacke möchte die Idylle der Schären nutzen, um endlich ihr Buch über Wein zu schreiben. Doch ihre Aufmerksamkeit gilt schon bald etwas Anderem. Am gegenüberliegenden Ufer lebt ein elegantes Paar, das sie von ihrer Terrasse aus beobachten kann. Eines Abends sieht sie jedoch etwas, das ihr das Blut in den Adern gefrieren lässt, und mal wieder ist Cillas Spürsinn gefragt.

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Seitenzahl: 345

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Table of Contents

PROLOG

Freitag, 31. Mai 1968

1

Zacke

2

Cilla

3

Julia

4

Cilla

5

Julia

6

Mittwoch, 29. Mai 1968

7

Cilla

8

Julia

9

Zacke

10

Cilla

11

Julia

12

Januar 1968

13

Julia

14

Cilla

15

Julia

16

Zacke

17

Julia

18

April 1968

19

Cilla

20

Julia

21

Adam

22

Cilla

23

Julia

24

Cilla

25

Cilla

26

Julia

27

Cilla

28

Cilla

29

Mai 1968

30

Julia

31

Cilla

32

Julia

33

Cilla

34

Julia

35

Cilla

36

Julia

37

Zacke

38

Zacke

39

Julia

40

Cilla

Das Buch

Der Frühling weckt die Lebensgeister auf Bullholmen. Cilla und ihre Freunde freuen sich auf entspannte Tage in ihren Ferienhäusern. Auch Julia, eine Bekannte von Cillas bestem Freund Zacke, möchte die Idylle der Schären nutzen, um endlich ihr Buch über Wein zu schreiben. Doch Julias Aufmerksamkeit gilt schon bald etwas anderem. Am gegenüberliegenden Ufer lebt ein elegantes Paar, das sie von ihrer Terrasse aus beobachten kann. Eines Abends jedoch, als das Paar mit dem Boot hinausfährt, zieht ein Sturm auf, und es kommt zu einem schrecklichen Unglück. Ausgerechnet an dem Ort, an dem vor über fünfzig Jahren ein bis heute ungeklärter Mord geschah. Cilla steckt bereits mitten in den Ermittlungen zu diesem alten Verbrechen. Doch erst als sie versteht, dass Julias Beobachtungen die Antwort auf ihren ungelösten Fall liefern können, ergibt plötzlich alles einen Sinn.

Der Autor

Christoffer Holst ist Jahrgang 1990, er arbeitet als Lektor und ist Autor mehrerer Romane. Wenn er nicht gerade schreibt, genießt er gerne ein Glas Chardonnay oder guckt romantische Komödien. Als unverbesserlicher Romantiker findet er, dass das Leben mehr wie ein Film oder ein Buch sein sollte. Er lebt in Stockholm. Tödlicher Inselfrühling ist der vierte Fall für Cilla Storm.

Lieferbare Titel

978-3-641-26773-5 – Gefährliche Mittsommernacht

978-3-641-26774-2 – Mörderischer Nordwind

978-3-641-27491-7 – Schwedischer Todesfrost

CHRISTOFFER HOLST

TÖDLICHER INSELFRÜHLING

EIN SCHÄRENKRIMI

Aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe Gröna, Sköna Vårvindar erschien erstmals 2021 bei Lovereads, Bokförlaget Forum, Stockholm.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 02/2022

Copyright © 2021 by Christoffer Holst

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Janine Malz

Covergestaltung: zero-media.net, München, unter Verwendung von FinePic®, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-27492-4V002www.heyne.de

PROLOG

Freitag, 31. Mai 1968

Die Nacht schwebt zwischen Frühling und Sommer. Kann sich nicht entscheiden. Gerade noch war es warm, in der nächsten Sekunde zieht ein kalter Wind über die Insel und raschelt in den Bäumen.

Der neunzehnjährige Sixten Axelsson schlendert ziellos durch die Gegend, die Hände tief in den Taschen seiner Anzughose vergraben. Es ist noch hell. Diese ersten Anzeichen des bevorstehenden Sommers liebt Sixten besonders. Nicht die Wärme, nicht die Freiheit. Sondern das Licht. Er liebt es, dass sich die Grenzen verwischen und die Dunkelheit nicht mehr die wachen Stunden des Tages beherrscht. Aber trotz dieser Vorfreude ist er bedrückt. Denn Sixten steht an einem Scheideweg. Es klingt dramatisch, aber eigentlich ist es fantastisch. In ein paar Wochen hat er seinen Abschluss in der Tasche. Dann kann er studieren – in die Welt hinausgehen, sich ausprobieren. Und das als Klassenbester. In fast allen Fächern hat er Einsen, sonst nur Zweien. Seine Eltern sind sehr zufrieden. Sie sind einfache Arbeiter und konnten von solchen schulischen Leistungen nur träumen. Sixten will ein anderes Leben führen als sie. Dieses Ziel hat er schon lange vor Augen.

Unter seinen Schuhen knirscht der Kies der Inselwege. Zu seiner Linken kann er das dunkelblaue Meer zwischen den Kiefern hindurchschimmern sehen, wie einen alten Vertrauten. Er freut sich darauf, schwimmen zu gehen. Er freut sich auf lange Sommerabende mit Bier und Spaß und Musik. Und auf das Nacktbaden in dem kalten Wasser der Schären. Mit Astrid vielleicht? Ihre Freunde finden, dass sie nach dem Abitur gleich nach Hollywood ziehen sollte. Sie ist schön, überirdisch schön. Und Hollywood braucht eine neue Greta Garbo. Sixten aber hofft insgeheim, dass sie noch ein bisschen in Schweden bleibt. Bei ihm.

Er bleibt stehen und holt seine Zigarettenpackung aus der Jackentasche. Zündet sich eine an und lässt den Rauch in den rosafarbenen Himmel steigen. Aber der Kies knirscht immer noch, obwohl er sich nicht mehr bewegt. Er wirft einen Blick über die Schulter.

Runzelt die Stirn.

Es ist ein Lastenmotorrad, das auf ihn zukommt. Sixten kneift die Augen zusammen, aber kann den Fahrer nicht erkennen. Er nimmt einen tiefen Zug und geht weiter.

Die Nacht duftet nach den Blüten der Traubenkirsche. Die Luft ist frisch, denn es hat am Nachmittag geregnet. Natürlich regnet es an eurem Fest, hatte seine Mutter vorhin gesagt. Mein armer, vom Unglück verfolgter Junge. Aber Sixten stört das nicht. Er liebt den Regen.

Außerdem war es den ganzen Abend recht sonnig gewesen. Er denkt an Astrids schmale Silhouette vor dem Horizont im Schein des lodernden Lagerfeuers unten am Meer, wo sie sich alle getroffen hatten, um Würste zu grillen, Bier zu trinken und zu singen. Astrid war so schön, wie von einem anderen Stern. Du bist zu gut für diese Insel, hatte er ihr ins Ohr geflüstert, als sie eng umschlungen am Strand lagen. Nachdem alle anderen schon nach Hause gegangen waren. Bald verschwinden wir von hier. In ein paar Wochen beginnt das richtige Leben.

Sixten wankt, er hat viel zu viel Bier getrunken. Oder Astrid hat ihn ganz trunken gemacht. Sie hat sich vorhin von ihm verabschiedet und ist nach Hause gegangen. Aber sie sind für morgen verabredet. Kein Wunder. Sie halten es kaum aus, länger voneinander getrennt zu sein. Jetzt hört er das Brummen des Motorrads hinter sich, dann verstummt das Geräusch. Sixten dreht sich um, sieht eine Gestalt absteigen und auf ihn zukommen. Der Mantel flattert im Wind, auf dem Kopf sitzt ein Hut.

Sixten winkt zur Begrüßung. Das würde er sonst nicht tun, aber das Bier hat ihn sehr milde und freundlich gestimmt.

»Guten Abend«, sagt Sixten.

Aber er bekommt keine Antwort.

Eine Möwe hebt kreischend vom Boden ab und steigt in den Himmel. Sie ist die einzige Zeugin vom Mord an Sixten Axelsson.

1

Zacke

Das hier ist der einzige Ort auf der Welt außerhalb von Stockholm, wo ich mir vorstellen könnte zu leben.

Cornwall.

Geliebtes Cornwall.

Dieser Gedanke geht Zacke durch den Kopf, während er mit dem Taxi an den knallgrünen Hügeln vorbeisaust. Es ist später Nachmittag, der Abend nähert sich, aber im Süden von England hat der Frühling schon Einzug gehalten, und es ist noch wunderbar mild. Was Zacke besonders freut. Seit er denken kann, hasst er den schwedischen Winter, vor allem die Zeit, bis der Frühling endlich übernommen hat und alles wieder ein bisschen besser und leichter wird. Die Leute sagen immer, dass jede Jahreszeit ihren ganz eigenen Charme hat. Aber Zacke liebt nun einmal die hellen Sommernächte und Rosé und Wärme. Na und? Ich steh dazu.

Der Süden von England ist immer etwas früher dran mit Frühling. Hier blühen die Kirschbäume bereits, und weit und breit ist kein kahler Ast mehr zu sehen. Alles ist farbenfroh und voller Leben.

»Whoops! A bit of a bumpy road, there!«

Der rothaarige Taxifahrer kichert vor sich hin, während der Wagen durch die vielen kleinen Schlaglöcher auf der schmalen Landstraße hüpft. Zacke erwidert das Lächeln. Gleich haben sie Padstow erreicht, die kleine Küstenstadt im Norden von Cornwall, in der sich im Sommer die einheimischen Touristen stapeln, die in der Sonne ihr Bier, ein Eis oder eine Tüte Fish & Chips genießen. Jetzt aber, Ende April, ist die Stadt noch angenehm leer und friedlich. Am Wochenende kommen die Bewohner der Umgebung mit ihren Familien in die Stadt, um Cornished Scones mit Clotted Cream zu essen. Dazu Tee, natürlich. Unmengen an Tee. Das Getränk hat seine Berechtigung in einer kalten Küstenstadt, die zu jeder Tages- und Nachtzeit vom Wind gebeutelt wird, der vom Meer landeinwärts weht. Gestern sah Zacke einem Mann dabei zu, wie er seiner Baskenmütze hinterherjagte, und hatte sein Grinsen hinter seinem Schal verbergen müssen.

Seit zwei Tagen ist Zacke hier oben, morgen geht es zurück nach Hause. Er wohnt im Old Customs House, einem Hotel, in dem – wie der Name verrät – früher das Zollamt untergebracht war. Es steht direkt unten am Hafen, und von seinem Fenster aus kann Zacke über die Bucht sehen, in der die Fischerboote und neugierige Möwen auf dem Wasser schaukeln. Das Bett ist weich wie eine Hängematte, wie so oft in England. Man legt sich in eine weiche Wolke und wacht morgens mit Skoliose auf. Aber gemütlich. Das einzig störende Detail an dem großen Doppelbett in dem hellblau tapezierten Zimmer ist die Tatsache, dass etwas fehlt. Einer. Jonathan.

»Alright, we’re getting close!«, ruft der fröhliche Taxifahrer.

Durch die Windschutzscheibe kann Zacke das Meer sehen. Die Sonne strahlt von einem blauen Himmel auf die kleine, von Kirschblüten umrahmte Stadt Padstow und verwandelt sie in ein Gemälde. Zacke betrachtet die kleine Broschüre in seiner Hand, die er von Trevillan Mills mitgenommen hat, einem kleinen Weinberg, dem er gerade einen Besuch abgestattet hat. Ein sehr erfolgreicher Besuch. Der beste bisher auf seinem Englandtrip. Die meisten Leute können sich nicht vorstellen, dass man in diesen Breitengraden Wein anbauen kann. Aber das geht ganz hervorragend. In Sussex zum Beispiel wird Sekt von Weltklasse hergestellt. Das klingt verrückt, aber liegt daran, dass Sussex und die Champagne nahezu auf einem Breitengrad liegen und deshalb die Voraussetzungen optimal sind. Viele Hersteller von Champagner haben dort Land gekauft. Und mit Hinblick auf die globale Erderwärmung gibt es sogar Stimmen, die voraussagen, dass in dreißig Jahren der beste Schaumwein nicht etwa aus Frankreich, sondern aus England kommen wird.

Die Produktion in Cornwall ist nicht so groß wie in Sussex, aber es gibt Weinberge. Und die sind gut. Zacke konnte bei seinem Besuch von Trevillan Mills die Winzer kennenlernen, ein Ehepaar, das für den Weinbau brennt. Er ist durch die Weinberge geschlendert, hat die Rebstöcke befühlt und einen Sekt, einen Rosé sowie einen sehr spritzigen Weißwein gekostet, den man hervorragend mit einem gut gekühlten Pinot grigio mischen könnte. Für den Sekt und den Weißwein wird er eine große Bestellung aufgeben. Die werden sich großartig im Mon Dieu! machen.

Denn, obwohl es sich wie Urlaub anfühlt, ist Zacke beruflich unterwegs. Mindestens einmal im Jahr stattet er einer Weingegend seiner Wahl einen Besuch ab, um neue Weine nach Schweden zu importieren und sie in seiner kleinen Weinbar am Mariatorget anzubieten. Das Mon Dieu! betreibt er schon einige Jahre. Letztes Jahr führte ihn seine Dienstreise nach Portugal, im Jahr davor nach Argentinien. Diese Reisen sind für ihn Arbeit und Vergnügen in einem. Und immer, wenn er von diesen Reisen zurückkehrt, entwirft er lustige Postkarten mit Fotos von der Reise, die er den Kunden gibt, wenn sie ein Glas Wein aus dieser Region bestellen. Auf der Rückseite steht in Kürze das Wichtigste über den Duft und die Herkunft des Weines. Das kommt sehr gut an und ist vielleicht auch einer der Gründe, warum Zackes kleine Weinbar sowohl bei den Foodbloggern als auch in den Restaurant-Tipps der Zeitungen immer wieder erwähnt und in den höchsten Tönen gelobt wird.

In diesem Jahr hatte Zacke lange überlegt, wohin die Reise gehen soll. Er hatte zwar eine wachsende Nachfrage nach neuseeländischen Weinen festgestellt, aber keine Lust, ans andere Ende der Welt zu fliegen. Und Frankreich und Italien hatte er schon viele Male besucht. In Cornwall war er schon zweimal im Urlaub, und es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Deshalb fiel ihm die Entscheidung leicht, als er entdeckte, dass er diesen Landstrich auch als Weinhändler bereisen konnte. Hier fühlt er sich wohl und sicher, was er besonders im Augenblick dringend benötigt. Denn die vergangenen Monate sind alles andere als angenehm und leicht gewesen. Genau genommen hat er den reinsten Albtraum hinter sich.

»Okay, that will be forty pounds!«

Zacke blinzelt überrascht, als er sieht, dass sie am Hafen von Padstow angehalten haben. Angekommen.

Ihm bricht der Schweiß aus, als er die Scheine aus dem Portemonnaie zückt. Vierzig Pfund – das sind fast fünfhundert Kronen. Für eine zwanzigminütige Taxifahrt. Über Padstow lässt sich wirklich viel Gutes sagen, aber günstig ist es hier nicht.

*

Gegen acht Uhr abends hat die Abenddämmerung den kleinen Fischerort in ein violettes Licht getaucht.

Zacke liegt in der Badewanne, auf dem Rand ein Gin Tonic und in der Hand der neueste Band der amerikanischen Thrillerkönigin Tess Gerritsen, den er sich morgens in der kleinen Buchhandlung um die Ecke gekauft hatte. Er handelt von einer Frau, die in ein altes Haus in Maine zieht, wo unheimliche Sachen passieren und sie von einem alten Fischer heimgesucht wird. Sein Handy liegt neben dem Gin Tonic auf dem Badewannenrand und spielt Jazz. Er liebt Jazz. Beim Kochen hört er immer Jazz. Und dazu trinkt er immer ein Glas Wein. Jonathan mag auch Jazz. Allerdings mochte er ihn nicht von Anfang an, aber Zacke hat ihn schließlich überzeugt. Es ist verblüffend, wie sehr einen eine Beziehung verändern kann. Wie man seinem Lebensgefährten im Laufe der Zeit immer ähnlicher wird. Das ist schon ulkig.

Nachdem der Gin Tonic ausgetrunken und das nächste Kapitel ausgelesen ist, zieht Zacke den Stöpsel aus der Badewanne, duscht sich kurz ab und trocknet sich dann mit dem weißen Handtuch ab, das weich wie Lammfell ist. Das schwarze Hemd passt hervorragend zu seinen feinen Lederschuhen, ein bisschen Wachs in die Haare, und schon steht Zacke auf dem Kopfsteinpflaster von Padstow. Handy in der Jackentasche und die Lektüre im Rucksack. Das Meer ist ruhig und gluckst gemütlich gegen die Hafenmauer. Abends ist es selten windig. Er kommt am BinTwo vorbei, der winzigen Weinbar, in der er gestern ein Glas trinken war. Ganz in der Nähe ist auch das Ruby’s, die Bar des Starkochs und Gastronomen Rick Stein, die hervorragende Cocktails anbietet, die man in gemütlichen Chesterfield-Sesseln genießen kann. Dann hat er das Barnaby’s erreicht, das ebenfalls Rick Stein gehört, einem Sohn der Stadt. Am Eingang des kleinen Restaurants nennt er seinen Namen und wird an seinen Tisch am Fenster geführt, auf dem schon eine brennende Kerze steht.

Zacke bestellt sich ein Glas weißen Bourgogne aus dem eher bezahlbaren Preissegment und ein paar Vorspeisen: Haschee mit Zucchini und orientalischen Kräutern und Blumenkohl aus regionaler Zucht mit Ziegenkäse und lila Brokkoli. Dazu wird frisches Sauerteigbrot und Olivenöl gereicht.

Die meisten haben Vorurteile, wenn es um englisches Essen geht, aber sowohl in den Großstädten als auch in den ländlichen Touristengegenden hat das Königreich einiges zu bieten. Vor allem verwenden die Köche lokale und regionale Produkte. Bevor Zacke vor ein paar Tagen mit dem Zug nach Cornwall aufbrach, hat er für einen Abend in London Station gemacht. Er wohnte in einem sehr einfachen Hotel in der Nähe von Paddington, um das ganze Geld für Essen und Drinks auszugeben. Mit dem Taxi fuhr er nach Soho und begann den Abend mit einem Cocktail im Bob Bob Richard – einer superedlen und sauteuren Bar mit blauen Ledermöbeln und großen goldenen Lampen. Hier sprechen die meisten Gäste russisch, und ein French 75 kostet zwanzig Pfund. Danach schlenderte er zum Social Eating House, von dem er schon so viel gehört hatte. Ein lebhafter und geheimnisvoller Ort mit gedimmtem Licht und Industriecharme. Die Speisekarte machte ihn überglücklich, und er aß sich fröhlich durch das Angebot. Frittierte Zucchiniblüten, Mac and Cheese mit Trüffel und das saftigste Lamm, das er seit Langem gegessen hat. Aus der Karte erfuhr er auch, dass alle verwendeten Lebensmittel aus der Umgebung stammten. Kent, Lancashire, Schottland, Brighton. Sogar Seetang aus Cornwall war mit dabei.

An diesem Abend ging er zu Bett und war bis obenhin voll mit Köstlichkeiten. Regionalen, ökologischen und ausgeklügelten Köstlichkeiten. Trotzdem fehlte etwas. Dieser Gedanke beschleicht ihn auch jetzt, in der kleinen, wunderbar eingerichteten Kneipe in Padstow. Während er seinen Wein genießt, wirkt der leere Stuhl auf der anderen Seite des Tisches besonders leer.

Zacke hat kein Problem damit, allein zu verreisen. Noch nie gehabt. Manchmal hat er es sogar regelrecht genossen, bestimmte Reisen allein zu unternehmen. Er genoss seine eigene Gesellschaft. Er ist Einzelkind und konnte sich schon immer sehr gut selbst beschäftigen.

Nur im Moment würde er alles dafür geben, ihn dabeizuhaben. Seinen Jonathan. Zacke weiß, dass es ganz allein sein Fehler ist. Es ist seine Schuld, dass er allein ist. Das Essen wird serviert, und er gibt sich Mühe, es zu genießen. Nachdem er aufgegessen und ausgetrunken hat, gibt er der Kellnerin ein großzügiges Trinkgeld von zwanzig Pfund und macht sich auf den Weg. Unten am Hafen kommt er an einem kleinen Supermarkt vorbei. Er zögert. Tritt von einem Fuß auf den anderen. Jonathan hasst es, wenn er raucht. Allerdings ist Jonathan nicht da. Und es ist doch erlaubt, sich ein bisschen Trost zu gönnen? Entschlossenen Schrittes betritt er den Laden und kauft bei der kugelrunden Verkäuferin mit den freundlichen Augen eine Packung grüne Marlboro. Damit schlendert er hinunter an die Hafenpromenade, setzt sich auf eine Bank mit getrockneter Möwenkacke und zündet sich eine Zigarette an.

Er saugt den Rauch tief in die Lunge ein und stößt ihn in Richtung Meer wieder aus. Eine Gruppe betrunkener Jugendlicher wankt vorbei, ihre Absätze klappern über das Kopfsteinpflaster. Von der anderen Seite kommt ein älteres Paar mit ihrem Cockerspaniel auf ihn zu. Zacke nimmt einen zweiten Zug und holt sein Handy aus der Tasche.

Sein Daumen schwebt eine ganze Weile über der Nummer.

Dann wagt er es.

2

Cilla

Ich bin auf dem Weg in die Küche, um meine Schale mit einer zweiten Runde Häagen-Dazs-Eis aufzufüllen, als mein Telefon auf dem Couchtisch vibriert. Adam gähnt herzhaft und sieht auf das wild gewordene Ding.

»Wer ruft dich denn um diese Uhrzeit noch an?«

Ich schnappe mir das Handy und grinse, als ich die Nummer sehe.

»Da muss ich kurz mal ran.«

Mit Schale und Handy schlurfe ich in die Küche.

»Hallo beim heißen Draht, Cilla am Apparat.«

Zacke lacht am anderen Ende.

»Du hast ja keine Ahnung, wie schön es ist, deine Stimme zu hören, Cilla.«

Ich stelle die Glasschale neben die Spüle und betrachte mein Spiegelbild in dem Küchenfenster, das auf den kleinen Innenhof zeigt. Alles in Adams Wohnung ist so Stockholm-Vasastan. Moderne Küchenschränke, weiß lackierte Möbel und … ein Innenhof. Daran gibt es natürlich überhaupt nichts auszusetzen. Aber alle Wohnungen in Vasastan, in denen ich bisher gewesen bin, haben einen Innenhof. Innenhöfe findet man auf Söder eher selten. Oder sagen wir lieber, das Haus, in dem ich wohne, hat keinen.

Ich mag Södermalm. Nein, bitte wieder streichen. Ich liebe Södermalm. Dort fühle ich mich zu Hause. Und meine traurige Bude in der Bastugatan mit dem Linoleum im Badezimmer, der Sechzigerjahreküche und den uralten Fensterrahmen, die langsam abblättern, ist so weit von dem schicken Vasastan entfernt, wie es nur geht. Trotzdem habe ich die vergangene Woche ausschließlich in Adams Wohnung am Sankt Eriksplan verbracht. Ich bin kein einziges Mal nach Hause gefahren, um mir neue Klamotten zu holen. Tagsüber bin ich sowieso nur in seinen Hemden herumgelaufen wie die Frauen in einer romantischen Komödie.

Seht her – wie lässig und schön ich in den viel zu großen Hemden meines Freundes aussehe! Ich schlendere sexy durch seine superschicke Wohnung, mein Haar ist frisch gewaschen, und ich öffne die Balkontür und lasse die Sonne herein. Wenn ich in die Kamera lächele, blenden meine weißen Zähne die Linse so sehr, dass sie einen Extrafilter benötigt.

Nein, so ist es natürlich keine Sekunde lang gewesen. Adam ist quasi magersüchtig (zumindest versuche ich mir das einzureden), weshalb seine Boyfriend-Hemden eigentlich viel zu klein für mich sind und letztes Wochenende aus Protest zwei Knöpfe gesprengt haben. Aber ich habe mich bisher nicht dazu überwinden können, wieder in meine Wohnung zu ziehen. Denn er ist ja hier. Mein wunderbarer Adam. Jeden Abend sitzt er hier, auf seinem grauen, weichen Vasastan-Sofa.

»Oha«, sage ich zu Zacke. »Du bist doch erst seit ein paar Tagen in England?«

»Ich weiß, das ist auch albern, aber … ich musste einfach deine Stimme hören.«

»Kein Thema. Wie schön, dass du anrufst. Hast du denn heute einen grandiosen Winzer und seine Weinberge besucht?«

»Hm. Hier in Cornwall. Dort gab es britischen Rosé.«

»Britischen Rosé? Wow. Die Welt ist doch immer wieder gut für Überraschungen.«

»Da sagst du was.«

Ich höre, wie er die Luft scharf einzieht, fast als würde er …

»Zacke, rauchst du etwa?«

»Ja.«

»Im Ernst?«

»Voller Ernst.«

Ich lache.

»Was würde …«

Ich beiße mir auf die Zunge, weil ich den Satz nicht beenden will. Was würde Jonathan dazu sagen? Jonathan. Ein Thema, das im Moment absolut tabu ist.

»Was würde deine Mutter dazu sagen?«

Er kichert, und ich hoffe sehr, dass er nicht weiß, was ich eigentlich sagen wollte. Jonathan hasst es, wenn Zacke raucht, auch wenn dieser sich nur ganz selten mal eine Partyzigarette gönnt. Zum Glück sieht seine Mutter das genauso.

»Nichts Gutes, vermute ich«, sagt Zacke. »Aber schwierige Zeiten erfordern … einfache Lösungen. Da muss ich mir einfach zwischendurch eine Zigarette gönnen dürfen.«

»Selbstredend. Das unterstütze ich, mein Freund.«

»Danke.«

Es wird still in der Leitung. Ich öffne den Tiefkühlschrank, hole den Häagen-Dazs-Becher raus und schaufele mir zwei große Kugeln Schokoladen-Karamell-Eis in die Schale. Nachdem ich den Becher wieder zurückgestellt habe, lecke ich den Löffel sorgfältig ab, bevor ich ihn in die Spüle lege. So ein Becher Häagen-Dazs-Eis kostet im Supermarkt bei Adam um die Ecke fast siebzig Kronen. Da darf nichts, kein einziger Tropfen, vergeudet werden.

Ich breche das Schweigen als Erste.

»Zacke. Ich möchte dich an mein Angebot erinnern. Du bist herzlich willkommen, in meine Wohnung zu ziehen. Die steht im Moment sowieso die meiste Zeit leer.«

»Ich weiß, danke. Das ist so sweet von dir und bedeutet mir viel. Aber ich kann nicht weglaufen.«

»Du hast recht.«

Und doch hat er genau das getan, er ist aus Schweden nach Cornwall geflohen. Ist vor seinen Problemen davongelaufen. So ist Zacke nun einmal. Ich liebe ihn heiß und innig, aber er ist einer, der abhaut, wenn es brenzlig wird. Leider.

»Wann kommst du zurück?«, frage ich.

»Morgen.«

»Wollen wir uns morgen Abend sehen? Wir können bei mir eine Kleinigkeit essen?«

Zacke stößt unüberhörbar den Rauch aus.

»Nichts lieber als das.«

»Wunderbar. Passt dir sieben Uhr? Kommst du direkt vom Flughafen?«

»Das passt perfekt.«

Ich sage ihm, dass er immer anrufen kann, wenn er reden will, und dass er höchstens noch eine Zigarette rauchen darf. Nachdem wir uns Küsschen durch die Leitung geschickt haben, lege ich auf und gehe zurück ins Wohnzimmer.

Doch als ich den Raum betrete, spüre ich sofort, dass sich etwas verändert hat. Ich erstarre mitten in der Bewegung.

Hier stimmt etwas nicht. Aber was? Mein Blick wandert suchend durch den Raum. Zu den Balkontüren, die geschlossen sind und die dunkle Aprilnacht aussperren. Dann hoch zu der eleganten Deckenleuchte aus den Sechzigern, deren gedämpftes Licht auf das Fischgrätparkett fällt. In den vergangenen Monaten haben sich einige dramatische Dinge zugetragen. Unheimliche Dinge. Gruseliges. Geheimnisse. Morde. Aber was in diesem Raum passiert ist, seit ich ihn vor ein paar Minuten verlassen habe, ist alles andere als gefährlich. Ich sehe in Adams lächelndes Gesicht.

Erst dann sehe ich den Gegenstand, den er auf den Couchtisch gelegt hat. Er glitzert im Licht der Lampe.

Es ist ein Schlüssel.

Die Glasschale mit beiden Händen umklammert, komme ich näher.

»Was ist das?«

Adam lächelt, aber antwortet nicht. Stattdessen schiebt er den Schlüssel in meine Richtung.

Ich wiederhole meine Frage.

»Was ist das?«

»Eine Line Koks, wollen wir uns die teilen?«

Ich nehme den Schlüssel und drehe ihn zwischen den Fingern.

»Das ist ein Schlüssel, Cilla.«

»Ah.«

»Was meinst du, für welches Schloss er ist?«

Ich schlucke.

»Ein geheimes Tagebuch? Von deinem Großvater aus dem ersten Weltkrieg?«

»Erster Weltkrieg? Für wie alt hältst du mich?«

Ich lache und lasse mich neben ihn aufs Sofa sinken. Auf das graue, weiche, perfekte Sofa.

»Ist das der Schlüssel für … deine Wohnung?«

Adam nickt.

»Aber … warum? Dann kann ich jederzeit herkommen? Bist du dir da ganz sicher? Glaubst du nicht, dass du das bereuen wirst?«

»Das bezweifle ich. Du bist die gesamte letzte Woche hier gewesen. Das hast du vorher noch nie gemacht, stimmt’s?«

Ich beiße mir auf die Lippe und drehe den Schlüssel hin und her.

»Darauf war ich nicht vorbereitet. Aber es fühlt sich total … natürlich an.«

Er lächelt. Und fährt sich mit der Hand durch die stets weichen dunkelbraunen Haare. Als wäre er mit Balsam im Haar geboren worden. Und zwar nicht einbalsamiert wie eine Mumie, sondern wie Andie MacDowell in der L’Oréal-Reklame. Ich streichele seine Wange, kann es selbst noch nicht fassen, dass ich, Cilla Storm, in einer ernsten Beziehung mit dem heißesten Polizisten Stockholms bin. Vor zehn Monaten haben wir uns auf Bullholmen kennengelernt, einer kleinen Insel in den Stockholmer Schären, auf der ich mir eine winzige Laube in einer Schrebergartenkolonie gekauft und seither dort einige Abenteuer erlebt habe. Und jetzt sitze ich bei ihm auf dem Sofa und habe einen Schlüssel zu seiner Wohnung in der Hand.

Wenn man Adam kennt, dann ist das, als hätte er mir ein Stück vom Mond geschenkt.

Ich küsse seine weichen Lippen.

»Du wirst das hier bereuen, Adam Ångström.«

»Man lebt ja nur einmal«, sagt er und erwidert meinen Kuss.

3

Julia

Julia Appelqvist hastet die Treppe des Mietshauses hinunter. Ihre Schritte hallen so laut von den Wänden, dass es in den Ohren wehtut. Endlich hat sie das Erdgeschoss erreicht. Sie reißt die Haustür auf und stürmt nach draußen. Ein eiskalter Wind weht ihr entgegen, sie läuft, so schnell sie kann. Nur fort, fort von diesem Haus. Sie bleibt erst stehen, als die Entfernung zwischen ihr und dem Haus groß genug ist.

Da meldet sich ihr Asthma.

Es ist lange her, dass sie einen Anfall hatte. Aber jetzt schnürt sich ihr Hals zu, sie schnappt nach Luft, setzt sich auf eine Parkbank, nicht weit von der U-Bahn-Station Aspudden. Hektisch wühlt sie in ihrer Handtasche nach ihrem Asthmaspray und atmet drei Sprühstöße tief in die Lunge ein.

Sie schließt die Augen.

Wartet, dass sich ihr Atem wieder beruhigt. Wartet, dass er ihren Körper wieder mit Sauerstoff versorgt.

Dieser Idiot. Dieser verdammte Douglas. Das ist alles seine Schuld.

Wenn sie jetzt stirbt, wegen Atemnot oder so, dann wird er mit der Gewissheit weiterleben müssen, für ihren Tod verantwortlich zu sein. Und er wird leiden. Schrecklich leiden. Schlaflose Nächte wird er haben. Und alle werden ihn auf ihrer Beerdigung verfluchen.

Nachdem sich ihr Atem wieder langsam beruhigt hat, verdreht Julia die Augen und muss über sich selbst lachen. Sie wird nicht sterben. Sie hat doch ihr Asthmaspray. Außerdem hatte sie nur einen Asthmaanfall. Krieg dich mal wieder ein, ey.

Sie bleibt noch eine ganze Weile auf der Parkbank sitzen und genießt die friedliche Umgebung, die sie innerlich erdet. Über ihr zwitschern die Vögel in den Bäumen, zu ihren Füßen leuchtet das grüne Gras. Hier und da blühen bunte Blumen um die Wette. Alles Anzeichen des nahenden Frühlings. Was eigentlich niemanden verwundern sollte, denn es ist schon Anfang Mai. Aber der Frühling hat sich dieses Jahr besonders viel Zeit gelassen.

Als ihr Atem sich so weit normalisiert hat, dass sie wieder tief Luft holen kann, macht sie sich gemächlich auf den Weg zur U-Bahnstation. An der Schranke holt sie ihr Handy aus der Hosentasche ihrer Jeans und ruft Frida an.

»Hallo, Julia! Ich bin auf dem Weg zu einer Besprechung, kann ich dich später zurückrufen? Oder hast du dich gerade verlobt? In diesem Fall erteile ich dem Blumenboten noch schnell einen Auftrag.«

»Nicht wirklich«, brummt Julia und fährt mit der Rolltreppe nach unten zum Gleis. »Das Wiedersehen verlief … nicht unbedingt nach Plan.«

»O nein … Krise?«

»Ich sage mal so. Es werden auf jeden Fall ein paar Gläser Wein zur Bewältigung vonnöten sein.«

»Verstanden. Ich werde Henrik bestechen, den Kindern was Essbares zusammenzupanschen. Im E&G um sieben?«

»Um sieben erst? Was soll ich denn so lange machen?«

»Ich bin Anwältin, Julia. Sei froh, dass ich nicht halb elf gesagt habe.«

»Okay. Bis nachher.«

*

Julia ist vor ihrer Freundin da, was nicht weiter überrascht. Sie ist seit zwei Jahren selbstständig und kann frei über ihre Zeit verfügen, was sowohl Vor- als auch Nachteile hat.

Klarer Nachteil: Man hat nie wirklich frei. Es gibt immer noch etwas zu erledigen. Neue Auftraggeber akquirieren oder sich um künftige Projekte in der Food- und Weinbranche bemühen. Denn dort fasste sie erst langsam Fuß. Und nicht zu vergessen die fehlenden Kollegen. Julia war eine Expertin darin geworden, sich zum Mittagessen mit Freunden zu verabreden. Aber während sie am liebsten danach noch stundenlang sitzen blieb und plauderte, mussten ihre Freunde meistens wieder zurück ins Büro hetzen, nachdem sie sich den Salat mit Ziegenkäse reingestopft hatten, wie ein Marathonläufer, der dringend Proteine braucht.

Klarer Vorteil: Sie kann morgens so lange schlafen, wie sie will. Und ist immer die Erste bei der Verabredung zu einem After-Work-Drink.

Sie setzt sich an einen der Tische am Fenster. Das E&G ist eine neue, gemütliche Weinbar am Ende (oder Anfang?) der Birger Jarlsgatan. Aus den Lautsprechern kommt diskrete Loungemusik, und Julia bestellt sich ein Glas eiskalten Riesling. Zum einen, weil sich die Bar auf deutsche Weine spezialisiert hat, und zum anderen, weil besonders diese Traube in letzter Zeit boomt. Die Leute wollen etwas anderes trinken als die gängigen französischen und italienischen Weine. Ein gut aussehender Kellner mit Schnäuzer bringt ihr die Karte, und ihr läuft beim bloßen Lesen der Vorspeisen das Wasser im Mund zusammen. Kopfsalat mit Crème-fraîche-Dressing, frittierter Brie, sauer eingelegtes Gemüse … Da ertönt ein Pling auf ihrem Handy. Julia schließt die Augen. Muss sie das sofort lesen? Entweder ist die Nachricht von Frida, die sich verspätet oder … Nein, sie wird jetzt nicht ihre Gedanken davon vereinnahmen lassen. Das hatte sie sich und ihrer Therapeutin versprochen.

Leider aber gelingt es ihr nicht, die Neugier zu beherrschen, und es endet damit, dass sie das Telefon aus der Tasche fischt.

Baby – wir müssen doch darüber reden? Du kannst nicht einfach abrauschen! Wir sind doch erwachsene Menschen!

Lange starrt Julia fassungslos auf die Zeilen im Display. Wie erwachsene Menschen? Meint er das etwa ernst? Er findet sich erwachsen? Erwachsen? Ihre Hand zittert, als sie nach dem Glas greift und einen großen Schluck von ihrem Riesling trinkt. Der ist so was von nicht erwachsen. Eher die Kategorie Gerade vom Schnuller entwöhnt worden. Das ist unerträglich peinlich. Aber sie ist noch viel peinlicher. Denn sie ist auch ein zweites Mal auf ihn reingefallen.

»Oh Liebes, sorry, dass ich mich verspätet habe!«

Julia steckt das Handy schnell in die Tasche, als Frida in die Bar gerauscht kommt und sie stürmisch umarmt. Sie duftet, wie nur Frida duftet – nach Vanille und frisch gewaschener Baumwolle. Dann lässt sie sich schnaufend auf den Stuhl gegenüber plumpsen.

»Uff, ich sitze da gerade an so einem Fall, wo einfach kein Ende in Sicht ist«, stöhnt Frida. »Scheidung, Kampf um die Kinder und das Sommerhaus und so weiter … Manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass es den Leuten gar nicht um ein sinnvolles Ergebnis geht. Die wollen einfach nur streiten.«

Sekunden später steht der Kellner an ihrem Tisch, und Frida bestellt »ein Glas von dem, was meine Freundin hier trinkt«. Das tut sie immer. Und wenn Julia mal ausnahmsweise noch nichts bestellt hat, dann ordert sie: »Ich nehme alles über 13 Prozent!«. Julia und ihre beste Freundin könnten nicht unterschiedlicher sein. Trotzdem sind die beiden seit der Oberstufe unzertrennlich, was fast über zwanzig Jahre her ist. Julia könnte sofort allerlei Konfliktpunkte aufzählen, über die sie sich zerstreiten könnten. Ihr Leben als Freiberuflerin, Fridas Festanstellung als Rechtsanwältin, Julias Weigerung, Kinder zu bekommen, Fridas Reihenhaus und die zwei Kinder … Aber trotz dieser großen Unterschiede ist jede der Anker im Leben der anderen. Und an solchen Abenden, wenn alles über einem zusammenzubrechen droht, ist Julia unendlich dankbar für diesen Anker.

Frida bekommt ihren Riesling, sie stoßen an und trinken. Dann stellt sie ihr Glas ab, stützt ihr Kinn auf der Faust ab und sieht Julia fragend an.

»Also … erzähl.«

»Ach, ich weiß gar nicht, ob es da so viel zu erzählen gibt«, sagt Julia. »Er ist … er ist …«

»Ein Arschloch?«

Julia schüttelt den Kopf.

»Ich weiß nicht, ob ich es so ausdrücken würde.«

»Dann übernehme ich das gerne für dich. Dem kannst du einfach nicht über den Weg trauen. Er ist vollkommen unzuverlässig. Und nach allem, was du durchgemacht hast, ist das ungefähr das Allerletzte, was du gerade gebrauchen kannst.«

»Aber … er hat auch gute Seiten«, protestiert sie etwas uninspiriert.

»Himmel, Julia. Das ist noch keinen Tag her, und du fängst schon an, alles wieder zu verdrängen. Nacktfotos auf dem Handy seines Freundes zu finden bedeutet nichts Gutes.«

Julia nimmt einen Schluck Wein und versucht, nicht an die Fotos zu denken, die sie an einem Freitagabend vor ein paar Wochen auf Douglas’ Handy entdeckte. Sie stand in seiner Küche und kochte gerade, als sein Handy verräterische Laute von sich gab.

»Das waren auch gar keine richtigen Nacktfotos …«

»Es waren zwei Riesenmöpse in Dessous, weil er seinen Tinder-Account nicht gelöscht hat und weiter mit den Tussis da chattet. Darf ich dich erinnern? Du bist weinend zusammengebrochen, und ich habe dich stundenlang getröstet. Und trotzdem hast du diesem Idioten eine zweite Chance gegeben.«

Julia nickt. Frida hat ja recht. Trotzdem hatte sie sich heute Nachmittag in der strahlenden Frühlingssonne voller Zuversicht auf den Weg zu Douglas gemacht. Er hatte sie seit Tagen mit SMS und Anrufen bombardiert, und nach langem Zögern hatte sie sich darauf eingelassen, sich mit ihm zu treffen. Um zu reden. Allerdings haben sie nicht nur das getan. Julia konnte ihm einfach nicht widerstehen. Diese blonden, strubbeligen Haare, dieser unfassbar schöne Körper und seine Küsse … Sie war keine fünf Minuten in der Wohnung, da lagen sie schon nackt auf seinem ungemachten Bett. Und weitere fünf Minuten später spürte Julia etwas unter ihrer Schulter, was sie pikste.

Es war ein winziger Stringtanga aus Spitze.

Ihr Asthmaanfall hatte sich auf der Fahrt in die Stadt wieder beruhigt. Aber Frida hatte natürlich recht. Man sollte sich nicht auf einen Mann einlassen, der bei einem Asthmaanfälle auslöst. Das würde jeder unterschreiben.

»Kannst du mir bitte versprechen, dass Douglas bei dir keinen Fuß mehr auf den Boden bekommt?«, sagt Frida mit ernster Miene.

»Verstanden.«

»Versprochen?«

»Versprochen! Okay? Ich schwöre feierlich: auf den Riesling!«

Frida nickt zufrieden.

»Sehr gut. Können wir jetzt bitte was zu essen bestellen? Ich sterbe vor Hunger. Wenn die hier nur vegane Sachen haben, bringe ich mich auf der Stelle um.«

Julia grinst.

»Wir sind in einer deutschen Weinbar, hallo? Die haben in ihrer Karte Fifty Shades of Fleisch. Magst du Schnitzel?«

»Jawoll!«

*

Zwei Stunden später haben sie wunderbare Vorspeisen, begleitet von frisch gebackenem Brot und einem gekühlten Spätburgunder, verzehrt. Sie haben den neuesten Tratsch und Klatsch in Fridas Kanzlei durchgekaut und über die Pläne für die Sommerferien gesprochen. Fridas Mann Henrik will einen Wohnwagen mieten und mit den Zwillingen durch Europa fahren. Frida hat ihn daraufhin gefragt, ob sie nicht lieber was in einem tschetschenischen Arbeitslager buchen und drei Wochen lang von Sauerkraut leben wollen. Aber Henrik hat sich durchgesetzt.

Frida verdreht beim Erzählen die Augen und bringt ihre Freundin dadurch zum Lachen. Da sieht Julia aus dem Augenwinkel einen Mann, der am anderen Ende des Tresens sitzt. Er hat im Laufe des Abends immer wieder in ihre Richtung gesehen, vielleicht hat er sie in einer Talkshow gesehen. Oder ist es … könnte er es sein? Ihr wird ganz übel, aber als der Mann sich wieder abwendet, ruft sie sich zur Vernunft. Sie ist in den letzten Jahren so häufig im Fernsehen zu sehen gewesen, es wäre nicht das erste Mal, dass sie draußen – »in der Wirklichkeit« – wiedererkannt wird.

»Und was ist mit dir?«, sagt Frida und reißt Julia aus ihren Gedanken. »Hast du Pläne für den Sommer? Oder kommst du mit auf unserem Roadtrip durch Europa?«

»Habt ihr denn noch Platz?«

»Klar. In der Dachbox. Kein Problem.«

»Schönen Dank auch. Aber, um deine Frage zu beantworten, nein, bisher habe ich keine Pläne. Vielleicht verbringe ich dieses Jahr den Sommer in Stockholm. Was anderes wird mir auch nicht übrig bleiben, wenn mein Verlag mit der Rohfassung meines Buches nicht zufrieden sein sollte …«

»Stimmt ja. Wann ist deine Deadline?«

»Erster Juni. Das heißt, ich habe noch …«

»Knapp einen Monat Zeit?«

Julia nickt.

»Verdammt. Und, wie läuft’s?«

»Nun ja …«

Den Anruf hatte sie vor einem halben Jahr bekommen. Die Sachbuchverlegerin eines großen, renommierten Verlagshauses in Stockholm hatte sie kontaktiert und um ein Treffen gebeten. Davon hatte Julia schon immer geträumt. Denn sie wollte am liebsten ein Buch über das schreiben, mit dem sie sich am besten auskannte. Essen und Wein. Das war an und für sich kein außergewöhnlicher Gedanke. Immerhin hatte sie seit Jahren einen Blog und einen Instagram-Account, der immer mehr Follower bekam. Und als wäre das nicht schon genug, gab sie regelmäßig Weinempfehlungen im Frühstücksfernsehen. Trotzdem verschlug es ihr die Sprache, als sie den Anruf bekam. Sie hatten sich in der Woche darauf im beeindruckenden Verlagshaus verabredet, und ganze zwei Wochen später war der Vertrag unterschrieben. Das Buch bekam den klingenden Arbeitstitel: Winetastic! – Wie man Wein und Essen perfekt kombiniert, ohne arm zu werden. Die Verlegerin geht davon aus, dass dieses Buch eine viel jüngere Zielgruppe anspricht, als dieses Genre ansonsten adressiert. Vor allem, weil Julia sich selbst als Marke mit in den Ring wirft und sehr beliebt bei den Dreißigjährigen ist.

Der Vertrag wurde im November unterschrieben, die Veröffentlichung ist für den kommenden Oktober geplant, um das Weihnachtsgeschäft noch mitzunehmen. Deshalb hat sie die klare Ansage, dieses Buch so schnell wie möglich fertigzustellen.

»Es läuft!«, sagt Julia. Frida lacht laut.

»Es läuft? Das sagt meine Assistentin immer, wenn sie noch nichts von ihrer To-do-Liste erledigt hat.«

»Tja, da haben deine Assistentin und ich offenbar einiges gemeinsam … Ich wünschte nur, ich könnte mal eine Weile raus aus Stockholm. In solchen Momenten wünscht man sich das berühmte Sommerhaus und verflucht sich selbst, dass man kein Geld gespart hat, sondern immer …

»… die ganze Kohle für Jahrgangschampagner ausgegeben hat?«

Julia nickt.

»Das kann schon sein. Aber deshalb verbringt man auch so gerne Zeit mit dir. Vor allem, weil man was von diesen Jahrgangschampagnern abbekommt.«

Sie stoßen an.

Kurz darauf verkündet Frida, dass sie langsam aufbrechen muss, und sie bitten um die Rechnung. Auf dem Weg nach draußen hört Julia plötzlich jemanden ihren Namen rufen und zuckt zusammen.

Mit klopfendem Herz dreht sie sich um und entdeckt eine blonde Schönheit, die am offenen Kamin sitzt. Die Frau kommt ihr bekannt vor, und als Frida sich von ihr verabschiedet, fällt ihr der Name auch ein.

»Ich glaube es ja nicht, Angelica!«, ruft sie.

Die Frau kommt auf sie zu, und sie umarmen sich. Mehrere Sekunden stehen sie stumm voreinander, sehen sich an und lächeln.

»Das ist ja ein Ding«, sagt Julia und spürt, wie sich ihr Puls wieder langsam normalisiert. »Wie lange ist das her? Drei Jahre?«

»Mindestens! Eher vier, würde ich sagen«, sagt Angelica und lacht ausgelassen. »Du hast ja keine Ahnung, wie oft ich mich melden wollte, um etwas trinken zu gehen oder so.«

»Ich auch!«

»Na ja, aber du bist bestimmt mit deiner Karriere beschäftigt gewesen. Ich sehe dich ab und zu im Frühstücksfernsehen. Toll! Machst du das jetzt hauptberuflich? Essen und Wein?«

»Ja, in der Tat. Das ist alles ein bisschen crazy!«, sagt Julia und lächelt.

»Aber es hat genau die Richtige getroffen. So verdient. Du hast einfach ein Näschen für so etwas, das haben auch schon alle während der Ausbildung gesagt.«

»Ach was. Aber was machst du im Moment?«

Angelica streicht sich das blonde Haar aus dem Gesicht. Sie ist schon immer hübsch gewesen, aber die vergangenen drei Jahre scheinen ihre Schönheit nur noch verstärkt zu haben. Sie trägt ein eng anliegendes schwarzes Kleid mit Spitzenbesatz an den Schultern, und an ihrem Hals funkelt ein Halsband.

»Ich arbeite bei Quality Wines.«

»Das ist nicht dein Ernst? Wie kann es sein, dass wir uns da noch nicht über den Weg gelaufen sind?«

Quality Wines ist einer der führenden Weinimporteure des Landes, und Julia hatte sich vor einiger Zeit dort um einen Job beworben. Es überrascht sie nicht, dass es Angelica gelungen ist, in das Team aufgenommen zu werden. Denn aus einem unerfindlichen Grund sehen alle Mitarbeiter bei Quality Wines aus wie Filmstars.

»Das ist wirklich ein Ding. Aber jetzt ist es uns ja gelungen. Wollen wir uns nicht gleich verabreden?«

Angelicas Worte lösen eine wohlige Wärme in Julia aus. Ihre Therapeutin Louise liegt ihr ständig in den Ohren damit, dass sie mehr unter die Leute soll. Sie hat Frida, aber ein paar mehr Kontakte würden bestimmt nicht schaden. Und mit Angelica hatte sie sich vom ersten Tag der Ausbildung zur Sommelière supergut verstanden.