Mörderliebchen - Sabine Maucher - E-Book

Mörderliebchen E-Book

Sabine Maucher

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Beschreibung

Hier kommt sie, die Vorgeschichte zum „Räuberliebchen“: Er ist ein zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilter Mörder, sie eine Tochter aus bestem Hause. Im Oberschwaben des Jahres 1780 treffen diese beiden aufeinander. Schon bei ihrer ersten Begegnung entscheidet sich beider Schicksal und ihr von nun an gemeinsamer Lebensweg beginnt. Darauf sind viele Hindernisse zu überwinden. Schließlich befindet er sich in einer ganz und gar hoffnungslosen Lage. Er sitzt nämlich als Straftäter in der nagelneuen Fronfeste des Grafen Schenk von Castell in Oberdischingen für die nächsten zwanzig Jahre fest. Und die Verhältnisse dort sind nicht darauf ausgerichtet, eine solche Strafe zu überleben. Sie steht kurz vor ihrer Hochzeit mit einem anderen Mann.Eine gemeinsame Zukunft scheint daher für beide unmöglich. Oder etwa doch nicht? Mit ihrer Hartnäckigkeit gegen alle Widerstände an ihm festzuhalten und seiner Willensstärke, alle Schikanen, denen er ausgesetzt ist, zu überstehen, schaffen sie es zunehmend, nicht zuletzt mit Hilfe ihrer Freunde, ihr weiteres Leben selbst zu bestimmen.

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Seitenzahl: 528

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sabine Maucher

Mörderliebchen

Ein historischer Roman aus der galanten Zeit Oberschwabens

Titelbild: „Mädchen vor dem Spiegel“,

Gemälde von Joseph Esperlin

(Museum Biberach, 88400 Biberach/Riß).

Titel: Mörderliebchen

Untertitel: Ein historischer Roman

aus der galanten Zeit Oberschwabens

Autorin: Sabine Maucher

Autorinnenfoto: Foto Hölderle, Laupheim

Herstellung: verlag regionalkultur

Satz: Jochen Baumgärtner, vr

Umschlaggestaltung: Jochen Baumgärtner, vr

Endkorrektorat: Eva Westphal, vr

ePub-Erstellung: Robin Koßmeier, vr

eISBN: 978-3-89735-030-4

ISBN 978-3-95505-037-5

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. Autoren noch Verlag können für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses E-Books entstehen.

Alle Rechte vorbehalten.

© 2024 verlag regionalkultur

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Bahnhofstraße 2 • 76698 Ubstadt-Weiher

Tel. 07251 36703-0 • Fax 07251 36703-29

E-Mail [email protected]

Internet www.verlag-regionalkultur.de

Inhaltsverzeichnis

Prolog 5

1. Kapitel 6

2. Kapitel 19

3. Kapitel 25

4. Kapitel 47

5. Kapitel 56

6. Kapitel 66

7. Kapitel 83

8. Kapitel 92

9. Kapitel 105

10. Kapitel 109

11. Kapitel 114

12. Kapitel 135

13. Kapitel 150

14. Kapitel 169

15. Kapitel 175

16. Kapitel 197

17. Kapitel 210

18. Kapitel 222

19. Kapitel 233

20. Kapitel 252

21. Kapitel 266

Nachtrag 294

Die Autorin 296

Prolog

1775

Gustav

Nur wenige Menschen kennen den Tag und die Stunde ihres Todes.

Ich gehöre zu diesem erlauchten Kreis, denn heute ist meine letzte Nacht auf dieser Erde. Morgen früh um zehn Uhr werde ich sterben, auf grausame Weise und vor den Augen einer gaffenden Menge.

Um zu verhindern, dass ich die Justiz um die Genugtuung meiner Hinrichtung bringe, hat man mich mit einer kurzen Fußfessel an der Wand meiner Zelle angekettet, die Bewegungen nahezu unmöglich macht. Und so habe ich genügend Muße, über das Kommende nachzudenken. Ich versuche abwechselnd zu beten und mich mit dem Gedanken zu trösten, dass ich morgen meine leiblichen Eltern und meinen Pflegevater wiedersehen werde. Nur leider bin ich vor Angst so starr, dass mir beides nicht gelingen will.

Ich bin allein, Todeskandidaten lassen sie immer alleine vor sich hin schmoren. Das Armsünderlicht, das sie mir dagelassen haben, ist bereits vor längerer Zeit erloschen. Die Dunkelheit um mich herum ist mittlerweile so undurchdringlich wie das Grab. Das es für mich aller­dings nicht geben wird, da ich am Galgen hängen werde, bis sich mein Körper durch die Witterung zersetzt. Vorbeifliegende Vögel werden das ihrige tun, diesen Prozess zu beschleunigen. Nicht dass mich das dann noch küm­mern wird, aber trotzdem ... aber trotzdem ist dies kein sehr angenehmer Gedanke.

Schließlich bin ich erst zweiundzwanzig Jahre alt und hatte bis vor kurzem gedacht, mein Leben noch vor mir zu haben.

Wie man sich doch täuschen kann.

Nach einer endlosen Ewigkeit geht diese, die furchtbarste Nacht meines Lebens zu Ende. Als die Dämmerung durch die Schießscharten des früheren Stadtturmes, den sie hier als Gefängnis benutzen, herein kriecht, nehme ich mir fest vor, trotz meiner Todesangst ruhig zu bleiben. Das ist das Einzige, das mir zu tun übrig bleibt.

Gleichgültig was sie mir antun werden, ich werde ruhig bleiben und versuchen, so würdevoll wie möglich zu sterben.

1. Kapitel

1775

Elsa

Das Innere des Zeltes von Madame Souza ist sehr exotisch.

Die Wahrsagerin sitzt vor einem kleinen Tischchen auf einem Hocker. Der Boden ist mit bunten Teppichen belegt, die kostbar aussehen. Auf einem Tischchen vor ihr steht in einer Art gusseisernem Untersatz eine große gläserne Kugel sowie ein silbernes Glöckchen. Flüchtig frage ich mich, wie eine Zigeunerin zu so wertvollem Interieur kommt. Beleuchtet wird das ganze durch viele im Zelt verteilte Bienenwachskerzen in ebenfalls silbernen Leuchtern, die ihren angenehmen Duft nach Honig in die Umgebung abgeben. Auf einem Stuhl döst eine schwarze Katze auf einem bunten Kissen vor sich hin. Eine vollkommen schwarze Katze, schwarz von ihrer rosa Schnauze bis hin zu ihrer Schwanzspitze. Das ist außergewöhnlich.

Bei unserem Eintreten blickt Madame Souza auf. Bei dieser Beleuchtung und mit der Schminke, die sie aufgelegt hat, ist ihr Alter schwer zu schätzen. Sie trägt ein schwarzes Mieder über einer hellen Bluse, die tief ausgeschnitten ist und den makellosen Ansatz ihrer Brüste sehen lässt. Um den Kopf hat sie nach Art der Muselmanen ein buntes Tuch geschlungen, das ihre Haare verdeckt. Dieses scheint aus demselben Stoff zu sein wie ihr Rock, der im diffusen Licht der Kerzen, in allen Farben des Regenbogens aufschimmert. Kein Frauenzimmer, das etwas auf Anstand und Schicklichkeit hält, würde sich in solch einer Aufmachung zeigen.

„Nur herein, die jungen Damen“, sagt sie gerade nicht unfreundlich, „ihr wollt etwas über Eure Zukunft erfahren?“

Meine Freundin Hilde, die mich zu diesem Besuch hier überredet hatte, räuspert sich.

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht“, antwortet sie schüchtern.

„Es ist meine Profession und mein Schicksal, den Schleier, der über der Zukunft liegt, lüften zu können“, antwortet die Zigeunerin theatralisch.

Während Hilde neben mir ehrfürchtig erschaudert, muss ich ein Lächeln unterdrücken, vor allem als sie hinzufügt: „Ihr habt bezahlt?“

Ganz offensichtlich eine geschäftstüchtige Wahrsagerin!

Zwischenzeitlich hat die Katze den Kopf gehoben und betrachtet uns aufmerksam aus goldenen Augen mit dunkler senkrechter Iris. Ich kann einfach nicht anders, ich gehe in die Knie und locke sie zu mir. Ich liebe nämlich Katzen und sie lieben mich. Leider sieht meine Mutter darin den Untergang ihres so peinlich genau geordneten Haushaltes: „Katzen haben Flöhe und zerkratzen alles und ich wünsche keinesfalls, dass so ein Vieh mir hier alle Polster volldreckt!“, pflegt sie zu sagen, und so war mir strengstens das Halten einer solchen verboten worden.

Diese Katze hier vor mir macht gerade einen fast halbkreisförmigen Buckel und springt von ihrem Sitz. Dann schlendert sie auf mich zu und reibt sich an meinem Rock. Ich bücke mich und streichle ihr den schmalen Kopf, was sie mit einem kehligen Schnurren beantwortet. Als ich aufblicke, sehe ich direkt in die schwarz umrandeten Augen der Wahrsagerin, die von einem hellen Graublau sind. Welche Zigeunerin hat schon blaue Augen? Sehr seltsam.

„Bitte entschuldigen Sie“, murmele ich, „ich wollte nicht ... aber sie ist so wunderschön! Wie heißt sie?“

„Feli als Abkürzung für Felidae, das ist der lateinische Name für Katze“, erklärt sie mir. „Wie ich sehe, versteht ihr beide euch recht gut.“

Was für ein außergewöhnlicher Name! Ganz offensichtlich nicht nur eine geschäftstüchtige, sondern auch noch eine gebildete Zigeunerin!

„Wer von den Fräuleins möchte zuerst?“, fragt diese in meine Gedanken hinein.

„Ich, ich!“, ruft Hilde und kann dabei die Gier in ihrer Stimme nicht mehr ganz unterdrücken.

„Ihre Hand bitte“, sagt die Zigeunerin.

Als Hilde ihre rechte Hand ausstreckt, wirft sie einen halben Blick hinein und meint: „Sie werden in nicht allzu weit entfernter Zukunft einen reichen Mann heiraten, der Ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen wird. Sie werden eine Menge Kinder haben. Die Jungen werden schneidige Kavaliere, die Mädchen alle Schönheiten sein, und im Übrigen werden Sie Ihr Leben in Wohlstand und ohne Sorgen verbringen.“

Ich halte meinen Kopf gesenkt und konzentriere mich darauf, Feli hinter ihren spitzen Ohren zu kraulen. Katzen mögen das. Dabei bemühe ich mich, mein Lachen in ein Husten zu verwandeln. Daraufhin wendet sich Feli ganz offenbar beleidigt von mir ab und springt mit einem Satz auf ihren Stammplatz zurück, wo sie sich zusammenrollt. Ich blicke auf. Hildchen ist vor Freude ganz rot im Gesicht.

Also wirklich!

Für solch einen Schwachsinn Geld zu verlangen! Welches Mädchen wünscht sich nicht einen reichen Ehemann und viele Kinder? Von mir einmal abgesehen?

„Sind Sie sicher?“, fragt Hilde gerade mit bebender Stimme.

„Allerdings“, antwortet die Wahrsagerin kurz angebunden.

„Sie dürfen jetzt draußen warten, während ich mich mit Ihrer Freundin hier noch etwas unterhalte.“

Sie läutet das auf ihrem Tischchen stehende silberne Glöckchen und die Zeltplane wird daraufhin von einem ihrer Lakaien in orientalischer Aufmachung, an denen wir beim Eintreten vorbeigekommen waren, aufgehalten. Als sich diese wieder hinter Hilde geschlossen hat, sagt sie:

„Und nun zu dir. Nimm bitte Platz.“ Als ich auf den von ihr angebotenen Hocker sinke, beschließe ich, es ihr nicht so leicht zu machen wie Hildchen.

„Deine linke Hand bitte“, sagt sie. Als ich sie ihr reiche, sage ich: „Bei meiner Freundin eben haben Sie aber aus der rechten Hand ...“.

Sie ergreift meine Linke, ihre eigene Hand fühlt sich warm und fest an. Unwillkürlich breitet sich ein Kribbeln von meinem Handgelenk über meinen Arm bis zu meiner Schulter hin aus. Das muss ich mir jetzt einbilden. Sie studiert aufmerksam meine Handfläche. Dabei runzelt sie die Stirn. Dann studiert sie weiter. Das Kribbeln in meinem Arm verstärkt sich. Mir wird mulmig. Aber ich werde mich von so einem Hokuspokus hier auf gar keinen Fall einschüchtern lassen. Die Wahrsagerin blickt auf.

„Du hast sehr eindeutige Handlinien“, meint sie.

„Denken Sie, ich bekomme auch einen reichen Mann ab?“, frage ich spöttisch.

„Das sehe ich keineswegs“, antwortet sie da zu meiner Überraschung.

„Oh wie schade“, sage ich, „wer könnte nicht einen gebrauchen?“

Jetzt lacht sie ein perlendes Lachen.

„So jung und schon so zynisch.“ Sie beugt sich vertraulich nach vorne. „Was ich deiner Begleiterin erzählt habe, sage ich bei vielen meiner Kundinnen, deren Zukunft so langweilig sein wird, wie sie selbst es sind. Es wird immer bereitwillig geglaubt. Was denkst du wohl, warum?“

„Weil Sie ihnen ihre innigsten Wünsche bestätigen“, antworte ich sofort.

„Stimmt genau“, meint sie und lächelt. „Dabei liege ich im Fall deiner Freundin bestimmt nicht daneben. Nach den vielen Schleifen auf ihrem Kleid zu schließen, wird sie keinen armen Mann heiraten. So viel ist schon einmal sicher.“

Diesmal kann ich meine Belustigung nicht verbergen. Sie hat natürlich recht.

„Aber nun zurück zu dir“, fährt sie fort. „Deine Handlinien sind, wie ich schon sagte, sehr deutlich. Du bist noch recht jung, fünfzehn, vielleicht sechzehn Jahre alt?“, hierbei sieht sie mich fragend an. „Sechzehn“ murmele ich.

„Aber du hast schon dein ganzes Leben das Gefühl, auf der Suche nach etwas zu sein.“

Jetzt bin ich erstaunt.

„Wie kommen Sie darauf?“

„Deine Handlinien verraten es mir. Deine Lebenslinie ist im Übrigen sehr tief und gerade, das bedeutet, einmal davon abgesehen, dass du ein langes Leben haben wirst, dass du dich von einem Ziel, das du dir gesetzt hast, niemals abbringen lässt.“

Jetzt bin ich verblüfft, denn die Eigenschaft, die sie mir gerade genannt hat, bereitet mir leider oft genug Probleme.

„Außerdem wird deine Schicksalslinie, siehst du hier“, und damit fährt sie mit ihrem Zeigefinger der schmalen horizontalen Linie im oberen Bereich meiner Handfläche nach, „an deiner Herzlinie unterbrochen. Das bedeutet, dass wenn du lieben wirst, und ich spreche jetzt nicht vom Verliebtsein, sondern wenn du wahrhaft lieben wirst, diese Liebe dein ganzes bisheriges Leben verändern wird. Wenn du möchtest, werde ich dir erklären, was es damit auf sich hat.“

„Ich bin ganz Ohr.“ Nun bin ich doch neugierig geworden.

Sie überlegt einen Moment.

„Du hast ständig das Gefühl, dass dir etwas fehlt“, wiederholt sie. „Eine andere Person, die dich versteht und die zu dir hält, wenn du dich in Schwierigkeiten bringst, wozu du, wie ich befürchte, durchaus in der Lage bist. Du bist im Moment noch zu unerfahren, um dahinter zukommen, dass das ganz eindeutig ein Mann sein wird. Mit anderen Worten du bist auf der Suche nach der zweiten Hälfte von dir, deinem Seelenpartner.“

Jetzt bin ich wirklich erstaunt.

„Was für eine Idylle,“, sage ich, um dies zu verbergen.

Ich entziehe ihr meine Hand und balle sie zur Faust.

„Zu spät“, meint sie und lächelt. „Was ich gesehen habe, habe ich gesehen. Im Übrigen besteht kein Grund, schon wieder so sarkastisch zu sein, denn das Festhalten an diesem einen Mann wird alles andere als idyllisch sein. Im Gegenteil, ihr werdet beide hart kämpfen müssen. Es wird auch auf den Mann ankommen, es ist nämlich wenig wahrscheinlich, dass er aus derselben Gesellschaftsschicht kommen wird wie du. Im Gegenteil, es kann sein, dass er weit über dir oder weit unter dir steht und du ihn zunächst für unerreichbar hälst. Aber ich kann dich beruhigen, es ist ein Zeichen für echte Seelenverwandte, sich über alle, auch die gesellschaftlichen Grenzen hinweg zu erkennen.“

Jetzt habe ich endgültig die Nase voll von diesem Unsinn.

„Sie sind im Irrtum“, sage ich daher so herablassend wie möglich. „Zu Ihrer Information, meine Eltern verhandeln bereits mit der Familie meines zukünftigen Bräutigams.“

„Ach ja“, erwidert sie „und, was empfindest du für ihn?“

Ich öffne meinen Mund, um zusagen, dass ich mich ganz schrecklich auf meine Verlobung freue, überlege es mir aber anders.

„Sagen Sie es mir doch“, antworte ich. „Sie sind die Hellseherin hier.“

„Das stimmt“, meint sie im Plauderton „und deshalb sage ich dir, dass du diesen Kerl nicht leiden kannst.“ Sie sieht mir ins Gesicht und fährt fort: „Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass du ihn verachtest. Aber keine Sorge, dein zukünftiger Verlobter ist dir nicht bestimmt.“

Nun bin ich verblüfft. Ehrlich und wirklich verblüfft. Über die Tatsache, dass ich Gottlieb für einen hinterhältigen Schwächling halte, den ich insgeheim verachte, habe ich noch mit niemandem gesprochen.

„Wie du es gesagt hast, ich bin die Hellseherin hier“, erwidert sie. „Dass dein Lebensweg sich von dem deiner Freundinnen grundlegend unterscheiden wird, kann ich dir an den Augen ablesen. Die sind ganz außergewöhnlich, weißt du das?“

Jetzt kann ich spüren, wie meine Wangen heiß werden. Meine Augen sind normalerweise graublau, mehr grau als blau, im Übrigen denen der Wahrsagerin gar nicht so unähnlich.

Wenn ich mich errege, Trauer, Wut oder Freude verspüre, werden sie beinahe silbern, eine Tatsache, die manchen Menschen Furcht einjagt und die ich daher möglichst zu verbergen trachte.

„Dieser Mann, von dem Sie gesprochen haben“, antworte ich daher ausweichend, „wie wird der wohl aussehen?“

„Warum schaust du nicht selbst?“, fordert sie mich auf. „Du könntest einen Blick in meine Kugel werfen.“

Das geht jetzt eindeutig zu weit. Anzunehmen, dass ich auf ihren faulen Zauber hereinfallen würde!

„Angst?“, fragt die Wahrsagerin lächelnd.

„Natürlich nicht“, widerspreche ich empört.

„Mutig geantwortet“, sagt sie anerkennend. „Setze dich hierher auf meinen Platz, wir wollen einmal ein kleines Experiment machen.“

Jetzt hat sie auch noch einen weiteren meiner wunden Punkte getroffen. Unwillkürlich denke ich an meinen Onkel und seine dampfenden Phiolen. Ich liebe es, zuzuschauen, wenn er seine Experimente durchführt, vor allem, wenn er mich dabei helfen lässt.

„Was ist mit Ihren anderen Kunden? Werden die nicht ungeduldig werden?“, frage ich zögernd.

Sie zuckt die Schultern.

„Die können warten, kleine Schwester. Die sind mir im Moment, ehrlich gesagt, ziemlich gleichgültig“.

„Wie haben Sie mich eben genannt?“, frage ich ungläubig, als ich auf ihrem Hocker Platz nehme. Ich muss mich gerade verhört haben.

„Wir werden sehen“, sie lächelt jetzt ein wirklich geheimnisvolles Lächeln. Und auch ein liebevolles. Instinktiv vertraue ich ihr.

„Fühlst du dich wohl?“

Als ich automatisch nicke, fällt mir auf, dass ich mich seltsamerweise so entspannt fühle wie schon lange nicht mehr. Das Halbdunkel des Zeltes, die überaus angenehmen Gerüche nach Bienenwachs, nach Orangenschalen und anderen mir unbekannten Dingen sowie das beruhigende, gleichmäßige Schnurren der Katze scheinen eine einschläfernde Wirkung auf mich zu haben.

„Gut“, sagt sie. „Das ist gut. Schließe deine Augen.“

Ich tue, wie mir geheißen. Ich fühle, wie ich müde werde.

„Um etwas sehen zu können“, fährt sie fort, „ist es wichtig, dass du deinen Geist zunächst einmal von allen überflüssigen Gedanken reinigst.“

Während ich mich insgeheim frage, wie ich mit geschlossenen Augen irgendetwas sehen soll, fährt sie fort: „Für den Anfang hilft es, wenn man sich auf etwas Bestimmtes konzentriert, um alle anderen Dinge in seinem Geist zum Verschwinden zu bringen.“

Sie macht eine Pause, die Katze schnurrt lauter, die Gerüche werden intensiver. Als sie fortfährt, ist ihre Stimme zwar sehr sanft, hat aber etwas ungeheuer Zwingendes.

„Stelle dir eine Wand vor“, sagt sie leise und eindringlich. „Eine helle, sehr hohe Wand. Du blickst genau darauf. Du siehst nichts anderes, nur diese große helle Fläche.

Kannst du das?“

Als ich nicke, ich bin jetzt eindeutig zu müde, um auch nur den kleinen Finger zu rühren, fährt sie fort: „Du wirst noch eine kleine Weile diese Wand betrachten. Wenn ich dich rufe, machst du deine Augen auf und siehst in meine Kugel, die direkt vor dir steht.“

Wieder vergeht eine lange Zeit, während ich mit geschlossenen Augen auf die gleißende Fläche vor mir starre. Gerade als diese anfängt, mich zu blenden, höre ich, wie jemand „Jetzt!“ ruft und mit den Fingern schnippt.

Ich öffne meine Augen und blicke in die große Kristallkugel, in deren Tiefen etwas beginnt, sich zu bewegen.

Überaus ... interessant!

Ich beuge mich vor und erkenne, wie sich darin treibende Schlieren zu einem Bild formen. Ich sehe viele Menschen, die sich in einem Raum zusammendrängen. Vor einer Schranke steht ein Mann und wendet mir den Rücken zu. Er ist groß und hat pechschwarze Haare. Obwohl ich sein Gesicht nicht sehen kann, erkenne ich an seinen breiten Schultern und seiner aufrechten Haltung, dass er jung und stattlich ist. An der Art und Weise, wie er Schultern und Nacken anspannt, sehe ich außerdem, dass er verzweifelt ist. Seine Verzweiflung ist so groß, das sie bis in mein Innerstes vordringt. Gerade als mir ganz sonderbar warm wird, beginnt alles zu verschwimmen.

Ich blicke auf. Die Hellseherin steht direkt neben mir.

„Nun?“, fragt sie. Plötzlich bin ich benommen.

„Wie machen Sie das? Ich meine, dass in diesem Ding da Bilder erscheinen?“

„Ich habe gar nichts gemacht“, antwortet sie, „du hast das Bild ganz allein heraufbeschworen.“

„Das ist nicht wahr“, rufe ich empört und will von dem Hocker hochfahren. Dabei wird mir schwindelig.

„Das muss eine Finte sein“, flüstere ich.

„Langsam, kleine Schwester. Bleibe noch kurz sitzen und ruhe dich aus. Am Anfang ist es immer sehr anstrengend. Aber du kannst es wenden, wie du willst, du bist eine von uns. Hier, trinke etwas“, sagt sie und reicht mir einen Becher. Einen silbernen.

Offensichtlich gehen die Geschäfte gut.

„Was ist das?“, frage ich misstrauisch.

Sie überlegt einen kurzen Moment. „Ein Tee aus Orangenschalen, Pomeranzen, und noch ein paar Zutaten. Er hilft dir, dass dein Kopf wieder klarer wird. Für meine Sitzungen habe ich immer etwas davon vorbereitet.“

Ich nippe zögernd. Es schmeckt sehr gut. Ich nehme einen größeren Schluck. Schon fühle ich mich besser.

„Ich werde dich nicht fragen, was du gesehen hast, denn das geht nur dich etwas an. Allein die Tatsache, dass du gleich beim ersten Mal überhaupt etwas gesehen hast, ist außergewöhnlich. Du scheinst ein Naturtalent zu sein. Du bist auf jeden Fall eine von uns.“

„Würden Sie bitte aufhören, das immer zu wiederholen“, sage ich mürrisch. „Überhaupt, was meinen Sie eigentlich damit?“

„Nun,“ antwortet sie, „du kannst es das zweite Gesicht oder auch Hellseherei nennen. Wie auch immer du es nennen willst, du besitzt es. Frauen wie wir kennen einander und sind sich gegenseitig behilflich. Diese Schwestern sind in ihrem bürgerlichen Leben in der Regel meist angesehene Mitglieder der jeweiligen Gemeinden. Natürlich ist stets Vorsicht gegenüber der Obrigkeit geboten, da unser Gewerbe streng verboten ist und keine von uns Lust hat, im Gefängnis zu landen. Daher muss ich auch dich bitten, über alles, was hier vorgefallen ist, strengstes Stillschweigen zu bewahren. Versprichst du mir das?“

„Selbstverständlich“, antworte ich sofort.

Bei mir denke ich, dass ich darüber bestimmt mit niemandem sprechen werde. Denn das hier ist einfach alles zu ... unwirklich.

„Bist du gar nicht neugierig, wie es für dich weitergehen könnte?“, fragt sie

Das bin ich allerdings. Andererseits ...

Sie sieht mein Gesicht und lächelt schon wieder.

„Ich bin noch einige Tage in der Stadt“, erklärt sie. „Hauptsächlich, wie du ganz richtig erkannt hast, um Fräuleins wie deiner Freundin ihre innigsten Wünsche vorauszusagen.“

Sie seufzt. „Schließlich muss auch ich von etwas leben. Dir rate ich, über das, was heute geschehen ist, nachzudenken. Wenn du interessiert bist, kann ich dir ein Mitglied unserer Schwesternschaft empfehlen, das dich ausbilden könnte. Die Fähigkeit zu sehen, wie wir es nennen, kann nämlich wie jede andere Fähigkeit geübt werden und es ist wichtig, dass dies unter Anleitung geschieht. Sonst kann es gefährlich werden. In deiner Verwandtschaft ist nicht zufällig jemand, der dies übernehmen könnte? Diese Gabe wird nämlich meistens vererbt.“

Jetzt lache ich auf. „Bestimmt nicht“, sage ich.

„Diejenige könnte es geheim halten“, antwortet sie. „Manche schämen sich dafür.“

„Sicher nicht“, wiederhole ich, noch immer grinsend. „Allerdings habe ich einen Onkel, der versucht, Blitze in einer Glasphiole zu fangen. Aber das zählt ja wohl nicht“, setze ich scherzhaft hinzu.

Das bringt eine Reaktion hervor!

Sie wird, das kann ich selbst bei der schummerigen Beleuchtung des Zeltes sehen, sehr bleich. Dabei treten unter der Schminke eindeutig Sommersprossen hervor, die vorher noch nicht da waren. Eine blauäugige, sommersprossige Zigeunerin!

Wirklich sehr seltsam.

„Wie bitte“, flüstert sie, „was hast du gerade gesagt?“

„Oh“, mache ich und beschließe, sie nun meinerseits etwas zu beeindrucken. „Onkel ist sehr an wissenschaftlichen Entwicklungen interessiert. Er ist der Meinung, dass die Wissenschaft neue Wege einschlagen muss, um sich zum Nutzen der Menschheit weiterzuentwickeln. Er hat ein ganzes Labor voller Versuche und im Moment ist seine neueste Beschäftigung die Elektrizität. Er behauptet steif und fest, dass damit Ungeheuerliches zu Wege gebracht werden kann. Natürlich wird er von allen nur belächelt, aber das stört ihn nicht. Er meint, dass die meisten Menschen einfach nur zu dumm sind, um Dinge zu begreifen, die über das tägliche Geschehen um uns herum hinausgehen.“

Sie ist noch immer sehr bleich. Anscheinend hat es ihr zudem die Sprache verschlagen. Nach einer Weile putzt sie sich die Nase mit einem sauberen Taschentuch, das sie aus ihrer Rocktasche zieht. Und verschmiert damit ihre Schminke. Darunter kommt helle Haut zum Vorschein.

„Damit hat er sehr recht“, schnupft sie hinter ihrem Tüchlein hervor.„Dieser Onkel“, jetzt hört sie sich erstickt an, „du magst ihn?“

„Aber ja“, antworte ich „er ist der Einzige, mit dem ich ...“, und verstumme.

„Verstehe“, antwortet sie, „ja ich denke, dass man gut mit so einem Menschen reden kann.“

„Können Sie auch Gedanken lesen?“, frage ich verblüfft.

„Das war nicht schwierig“, antwortet sie. „Glaube mir, das war jetzt überhaupt nicht schwierig.“

Sie steht auf.

„Wir sind für heute fertig“, sagt sie abschließend.

„Du hast zwei Tage Zeit, um über alles nachzudenken. Wenn du bereit bist, dich darauf einzulassen, komm wieder und ich werde dir weiterhelfen. Wenn nicht, hat es mich gefreut, dich kennengelernt zu haben. Beim Hinausgehen kannst du den nächsten Kunden hereinschicken.“

An diesem Tag fing mein Leben an.

Gustav

Nachdem sie mich von dem Henkerskarren haben steigen lassen, beginne ich, trotz meiner tapferen Vorsätze, unkontrolliert zu zittern. Und das nicht nur wegen dem herbstlich frischen Morgenwind, der mir durch die Reste meines Hemdes fährt und direkt auf meine Knochen bläst.

„Komm schon“, meint Deininger an meiner Seite, „du bist heute die Hauptperson. Du willst doch dein Publikum nicht dermaßen enttäuschen, indem du schon jetzt zusammenklappst.“

Und tatsächlich hat sich eine recht große Menge zusammengefunden. Diese steht eng gedrängt, Kopf an Kopf, wie Blätter eines mächtigen Waldes. Ich lasse meinen Blick über die ersten Zuschauerreihen schweifen, kann aber niemanden entdecken, den ich kenne. Während ich mich frage, ob ich darüber erleichtert oder verbittert sein sollte, atme ich durch, soweit mir das möglich ist, und straffe meine Schultern, worauf das Zittern nachlässt. Dass meine Mutter nicht hier ist, darüber bin ich jedenfalls eindeutig erleichtert. Mir fällt auf, dass Deininger eine Urkunde in der einen Hand hält. Das ist seltsam, denn man hat mir mein Urteil ja bereits verlesen und daher ...

Ehe ich weiter darüber nachdenken kann, erscheinen zwei Pfarrer, von jeder Konfession einer, da auf die sogenannte Parität, die Gleichberechtigung von katholischen und evangelischen Bürgern, hier großen Wert gelegt wird. Sie lassen mich niederknien und leiern das Vaterunser herunter. Danach befiehlt mir Deininger aufzustehen und betritt mit mir das schwarz verhangene Galgenpodest. Als ich die beiden Leitern sehe, die daran angelehnt sind, und erkenne, dass oben auf der einen bereits der Henker auf einem daran befestigten Brett steht, fährt mir erneut die Todesangst in alle Glieder. Meine Beine wollen mir einfach nicht mehr gehorchen, und daher bin gezwungen, wie festgenagelt auf der Stelle stehen zu bleiben. Deininger neben mir gibt mir einen gemeinen Stoß in die Seite, unter dem ich ins Straucheln komme.

„Nur keine falsche Bescheidenheit“, meint er und grinst mich an. „Dein großer Auftritt ist gleich da.“

Daraufhin nimmt mich einer der beiden Henkersknechte am Ellbogen und zieht mich zu der einen Leiter hin. Dort angekommen macht er mit dem Kopf eine aufmunternde Bewegung und ich setze meinen Fuß auf die erste Sprosse, während ich darum bete, mich nicht übergeben zu müssen. Ich hole erneut tief Atem, das wird schließlich eines der letzten Male sein, dass ich Gelegenheit dazu bekommen werde, und beginne die Leiter hinauf zu steigen. Daraufhin fangen einzelne Witzbolde in der Menge an, anerkennend zu pfeifen und zu klatschen. Auf der Höhe des Henkers angekommen, befiehlt der mir von seiner Leiter aus, mich umzudrehen. Dieses ist auf der schmalen Sprosse schwierig und ich komme ins Straucheln.

„Nur immer mit der Ruhe“, meint der Henker an meinem rechten Ohr. „Ich habe jede Menge Zeit.“

Er grinst mich dabei doch tatsächlich an und mir kommt der Gedanke, dass er seinen Beruf liebt. Nachdem ich es geschafft habe und der Menge jetzt meine Vorderseite zuwende, hält er mich an den Schultern fest, während sein Gehilfe auf der Leiter unter mir mir meine Knöchel zusammenschnürt. Ein weiterer Gehilfe auf der zweiten Leiter fasst zu mir herüber und fesselt mir meine Handgelenke sehr fest übereinander auf den Rücken, was meine Finger schnell taub werden lässt. Nachdem die Vorbereitungen so weit erledigt scheinen, pfeift der Henker anerkennend durch die Zähne. Er fasst nach mir und zieht mich zu sich auf sein Brett. Dort legt er mir die Schlinge um, die er bereits vorsorglich am Galgenhaken befestigt hat. Diese ist hart und kratzig und bringt mich unwillkürlich dazu, den Hals zu strecken, um das Unausweichliche hinauszuschieben. Was natürlich vollkommen zwecklos ist, denn der Henker zieht sie daraufhin sofort fest an, was mich prompt zum Würgen bringt, während mir der grobe Hanf unsanft in die Haut einschneidet.

„Hör auf zu kämpfen“, knurrt er mich an. „Je weniger du dich wehrst, desto schneller wird es vorbei sein.“

In diesem Moment höre ich durch das Rauschen in meinen Ohren und dem Flimmern vor meinen Augen undeutlich jemanden rufen.

Auch der Scharfrichter scheint das mitbekommen zu haben, denn er zögert. Nach einer weiteren Ewigkeit, in Wirklichkeit waren es wohl wenige Minuten, löst er die Schlinge von meinem Nacken.

„Die da unten wollen anscheinend noch etwas von dir“, brummelt er. „Das kommt nicht oft vor.“

Dann nestelt er in meinem Rücken und löst meine Handfesseln. Er nickt seinem Gehilfen zu und dieser befreit mich von den Fußfesseln.

„Da hinunter“, sagt er und deutet auf die Leiter unter ihm.

Er hört sich enttäuscht an.

Sie hatten mein Strafmaß auf eine zwanzigjährige Freiheitsstrafe abgeändert und zwar bereits Tage vor meiner geplanten Hinrichtung. Dass ich diese jedenfalls bis zu einem gewissen Grad miterleben durfte, habe ich Deininger zu verdanken, der mir, als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, dies mitteilt.

„Diese ganze Veranstaltung hier war meine Idee. Der kleine Schrecken sollte dazu beitragen, dass du dich in Zukunft benimmst“, sagt er und strahlt mich dabei an, als hätte ich das große Los gezogen. „Solltest du zukünftig Lust bekommen, über die Stränge zuschlagen, weißt du jedenfalls was dich erwartet.“

Kleiner Schrecken!

Jetzt spüre ich die Nässe zwischen den Beinen und schaue an mir hinunter. Ich erkenne, dass sich meine Blase ohne mein Zutun geleert hat. Die endgültige Demütigung.

Dann versinkt alles um mich herum in wohltuender Schwärze.

Elsa

Natürlich bin ich bereits am darauf folgenden Tag wieder zu Madame Souza gegangen.

Diesmal trägt sie schlichte bürgerliche Kleidung, ein dunkles Kleid mit dem üblichen engen Mieder und weiten Rock. Sie hat ihre Haare, die im übrigen beinahe so blond sind wie meine eigenen, zu einer kleinen Krone auf ihrem Scheitel aufgesteckt und heute keine Schminke aufgelegt.

Als ich ankam, war sie gerade dabei, vor ihrem Zelt in der Sonne zu sitzen und in einem kleinen Buch zu lesen.

„Es freut mich, dass du wiedergekommen bist“, meint sie aufblickend und lächelt mich an. „Das freut mich wirklich ganz außerordentlich. Aber tritt doch näher.“

Dabei steht sie auf und legt ihr Buch auf den Stuhl zurück. Sie hält das Tuch, das ihr als Vorhang dient, auf und wir betreten ihr Zelt.

„Nimm Platz“, fordert sie mich auf und deutet auf einen der Hocker. „Möchtest du etwas Kaffee?“

„Ich, ähm“, stottere ich, und bin überrascht, da Kaffee bei uns zu Hause nur sehr selten gereicht wird. Meine Mutter behauptet nämlich, dass das ein heidnisches Getränk sei, das wahren Christenmenschen und damit ihrer Familie nicht anstünde. Einmal abgesehen davon, dass es so furchtbar teuer ist. Nicht dass wir uns das nicht leisten könnten, schließlich ist mein Vater einer der reichsten Männer der Stadt. Trotzdem wirtschaftet meine Mutter stets ... sparsam, um es einmal gelinde auszudrücken.

Madame sieht mein Zögern und lächelt. Dann gießt sie mir aus einer kleinen silbernen Kanne etwas von der braunen Flüssigkeit in eine zierliche Tasse aus geblümtem Porzellan.

„Möchtest du probieren?“, fragt sie, und ich nicke zustimmend, während die Neugier in mir, eine meine hervorstechendsten Eigenschaften, wieder einmal die Oberhand gewinnt.

„Milch? Zucker?“

Als ich erneut nicke, gießt sie aus einer noch kleineren Kanne Milch in die Tasse und löffelt mit einem winzigen silbernen Löffel zweimal Zucker hinein. Sie stellt die Tasse vor mich hin auf ihr exotisches Tischchen. Sie nimmt einen weiteren winzigen Porzellanteller und setzt ihn daneben. Darauf liegen verschiedene Pralinen, auch ein Luxus, den es bei uns zu Hause nicht oft gibt, die ich aber schon immer in der Auslage des hiesigen Zuckerbäckers bewundert habe. Bei uns zu Hause wird, wie gesagt, zwar reichlich, aber keineswegs kostspielig gegessen. Und natürlich streng die jeweiligen Feiertage eingehalten. Zum Beispiel die Fastenzeit. Und sämtliche Freitage, an denen Leckereien sowieso verboten sind. Erneut frage ich mich, wie eine fahrende Wahrsagerin sich solche Köstlichkeiten leisten kann.

„Bediene dich“, fordert sie mich auf und zieht sich ebenfalls einen ihrer Hocker heran.

Ich nippe an meiner Tasse. Es schmeckt bitter und vermutlich durch den Zucker süß zugleich, dabei sehr aromatisch nach den Bohnen des Kaffees.

„Und, schmeckt es dir?“, fragt sie mich da auch schon.

„Köstlich“, murmele ich, während ich damit beschäftigt bin, mir eine der Pralinen auszusuchen. Schließlich wähle ich eine, die mit einer kandierten Kirsche verziert ist. Die Praline riecht wunderbar nach Schokolade, Marzipan und Zimt, deren Geruch mir überaus verlockend in die Nase steigen. Ich stecke sie mir in den Mund, dazu nehme ich dieses Mal einen etwas größeren Schluck aus der Tasse.

Als ich aufblicke, begegne ich einem wissenden Blick aus blaugrauen Augen und spüre, wie ich verlegen werde.

Verflixt!

Eine wohlerzogene junge Dame sollte genug Rückgrat haben, um Versuchungen dieser Art mit angemessener Zurückhaltung widerstehen zu können!

„Es ist schon in Ordnung“, meint Madame in meine Gedanken hinein. „Im Gegenteil, ich wäre sehr enttäuscht gewesen, wenn du abgelehnt hättest.“

„Ach ja“, murmele ich.

„Dass du probiert hast, spricht nur für deinen Charakter. Und bestätigt meine Einschätzung von dir.“

„Ach ja“, wiederhole ich.

„Allerdings“, antwortet sie und lächelt stärker. „Hier, nimm noch eine, ehe wir zum Geschäftlichen kommen.“

Als sie mir den Namen meiner zukünftigen Lehrmeisterin nennt, bin ich erstaunt.

„Das ist ja die hiesige Apothekerin“, sage ich.

„Das stimmt“, antwortet sie. „Sie ist außerdem eine meiner ältesten Freundinnen. Du bist bei ihr in guten Händen.

Ich sagte ja, die meisten von uns leben ein ausgesprochen bürgerliches Leben. Zumindest nach außen.“

„Aber Sie nicht“, wende ich ein.

„Schon wieder richtig“, antwortet sie. „Aber glaube mir, das Leben, das ich führe, hat seinen Preis. Im Übrigen habe ich meine Jugend in einer Stadt wie dieser als Tochter angesehener Bürger verbracht. Ich kenne mich also durchaus mit dem bürgerlichen Leben aus.“

Sie seufzt. Dann blickt sie mir ins Gesicht.

„Komm schon, du bist klug genug, um zu bemerken, dass ich keine wirkliche Zigeunerin bin. Das ist mein zweites Ich, das ich mir zugelegt habe, um meine Kundschaft zu beeindrucken. Mein wirklicher Vorname ist Columbina. Du wirst Theres diesen Namen nennen, sagen, dass ich dich zu ihr schicke, und ihr diesen Ring geben. Dazu wirst du das Zeichen machen, das ich dir vorher beigebracht habe. Daran erkennen wir nämlich einander. Ich werde ihr ein paar Zeilen aufschreiben, die den Zweck deines Besuches erklären.“

Sie nimmt einen Ring aus einem kleinen Schränkchen und hält ihn mir hin. Es ist ein einfacher Goldreif, auf dem ein winziger Katzenkopf, ebenfalls aus Gold, aufgearbeitet ist.

„Das Weitere wird sich finden, Theres wird wissen, wie sie mit dir umzugehen hat.“

2. Kapitel

Gustav

Als ich zu mir komme, ist das erste, das ich bemerke, dass der Untergrund, auf dem ich liege, sanft hin und her schwankt. Ich beschließe zunächst, meine Augen geschlossen zu halten, und horche vorsichtig. Ich kann das Gerumpele von Wagenrädern hören und spüre ihre Drehungen unter mir. Ich höre das Klimpern von Zaumzeug und das Schnauben von Pferden.

Vorsichtig öffne ich meine Augen ein klein wenig.

„Der Aufgehängte kommt zu sich“, ruft da eine Stimme direkt neben mir.

„Lasst den Jungen in Ruhe“, antwortet ihr eine zweite, tiefere. „Der hat schon genug durchgestanden.“

Jetzt wage ich es, meine Augen aufzuschlagen, und schaue direkt in das Gesicht eines Mannes, der sich über mich beugt.

Er ist älter als ich und hat den ganzen Kopf voller dunkler Locken, die ihm nach allen Seiten vom Gesicht abstehen. Er hat ebensolche Augen, die mitfühlend auf mich herunterblicken. Er trägt, so wie ich, Hand- und Fußeisen.

„Ich bin Blasius Depfenhard, du kannst Blaese zu mir sagen“, meint er. „Willst du dich aufsetzen?“

Als ich nicke, stützt er mich wortlos, so als wäre das selbstverständlich. Ich kämpfe mich in eine sitzende Position. Dabei werfe ich einen ersten Blick in die Runde und erkenne, dass ich mich zusammen mit anderen Leidensgenossen auf einem rumpelnden Wagen ohne Abdeckung befinde.

„Was, wohin ...“, murmele ich.

„Wir werden verlegt“, antwortet er mir. „In ein nagelneues Gefängnis, das ein Graf Schenk von Irgendwas“, er denkt einen Moment nach, „ich glaube der heißt von Castell, Graf Schenk von Castell, ganz in der Nähe extra für solche wie uns hat erbauen lassen.“

„F... für solche wie uns“, wiederhole ich zaghaft.

„Ganz genau“, antwortet mir der Mann. „Für Mörder wie uns.“

Ich schaue ihm in seine mitfühlenden Augen.

„Du hast auch jemanden umgebracht?“, frage ich und kann es nicht glauben, da er alles andere als einen blutrünstgen Eindruck macht.

„So gut wie“, meint er geheimnisvoll.

Als wir an unserem Bestimmungsort eintreffen, wird es schon dunkel. Wir waren den ganzen Tag auf diesem Wagen zusammengepfercht, ohne dass sie uns etwas zu Essen oder auch nur zu Trinken gegeben hätten. Ich fühle mich nach der ausgestandenen Todesangst bereits wieder schwindelig und verspüre brennenden Durst. Ich beschließe, dieses zu ignorieren, um meine Schwäche nicht vor den anderen zu zeigen. Endlich rumpeln wir durch die einzige Straße, aus der dieser Ort zu bestehen scheint, bis unser Wagen schließlich vor einem schlossähnlichen Gebäude zum Stehen kommt.

„Das dort ist die nagelneue Fronfeste des Grafen“, sagt der dunkel gelockte Mann neben mir und deutet mit dem Kinn. „Unser neues Zuhause. Anscheinend werden wir schon erwartet.“

Tatsächlich stehen bereits mehrere Männer in Uniform davor herum. Diese sind alle mit Schlagstöcken und Pistolen bewaffnet und sehen nicht aus, als ob sie zu Späßen aufgelegt wären. Zwei weitere Männer, in Zivil mit Akten in den Händen, mustern uns eindringlich. Der eine tritt an den Wagen heran.

„Ich bin Aktuar Merz, das da“, und er zeigt auf den anderen „ist mein Kollege Häfele. Wir werden euch jetzt namentlich aufrufen. Zuerst die Schwerverbrecher, danach die besseren Klassen und am Schluss die gesitteten Menschen, die sich nur Nichtigkeiten zu Schulden haben kommen lassen. Da es heute schon beinahe Nacht ist,werdet ihr morgen gebührend willkommen geheißen und untergebracht werden.“

Nachdem sie dieses Vorgehen in die Tat umgesetzt hatten, werde ich zusammen mit Blasius Depfenhard der ersten, zahlenmäßig kleinsten Gruppe zugeteilt, was mich seltsamerweise ein kleines bisschen tröstet. Dann werden wir zu dem Gebäude hinter uns geführt. Die Wachen wuchten die schwere, mit Eisen beschlagene Außentüre auf und führen uns über einen gepflasterten Innenhof. Sie öffnen in einem der Seitenflügel erneut eine Türe und treten beiseite.

„Nur immer hinein“, meint einer von ihnen und deutet mit seinem Schlagstock. Als wir seiner Aufforderung nachkommen, betreten wir einen großen Raum zu ebener Erde. Dessen Wände bestehen aus grob verputzen Steinen, der Boden ist mit einer dünnen Schicht Stroh bedeckt, unter der an vielen Stellen der gestampfte Lehm zu erkennen ist.

Auf diesem lümmelt eine Anzahl von Gestalten herum, wie ich noch nie in meinem Leben welche gesehen habe. Den Begriff abgerissen auf sie anzuwenden, wäre geschmeichelt. Alle sind schmutzig und klapperdürr, die Kleidung, die sie tragen, hängt ihnen mehr oder weniger als Fetzen am Leib. Ich kann ein Schaudern nicht unterdrücken. Bei dem Gedanken, dass ich gerade meiner Zukunft ins Gesicht schaue, verspüre ich den Drang, unkontrolliert loszuschreien. Gerade als ich meinen Mund öffne, brummt Blasius neben mir: „Nur mit der Ruhe. Immerhin haben wir ein Dach über dem Kopf, und heller als in dem uralten Stadtturm ist es auch.“

Das stimmt, es gibt hier unverglaste, vergitterte Fenster, die zwar klein sind, aber ein gewisses Maß an Tageslicht hereinlassen, was gegenüber der Dunkelheit meines seitherigen Gefängnisses sicherlich eine Verbesserung darstellt. Trotzdem kann ich aber auch meiner neuen Unterbringung nicht besonders viel abgewinnen und mir schießt der Gedanke durchs Gehirn, wie überaus angenehm ich doch die letzten zehn Jahre verbracht habe. Immerhin, die Wachen nehmen uns jetzt unsere Fesseln ab.

„Ihr könnt euch einen Schlafplatz aussuchen“, sagt der Soldat, der mir meine Eisen losmacht, nicht unfreundlich. „Noch habt ihr die freie Auswahl.“

In diesem Moment beginnt mein Magen, schmerzhaft zu knurren. Mir fällt ein, dass ich nun schon beinahe zwei Tage lang nichts mehr ...

„Entschuldigen Sie“, sage ich zaghaft, „gibt es hier wohl noch irgend­etwas ... zu essen?“

Woraufhin er loslacht.

„Alles zu seiner Zeit“, meint er fröhlich und tätschelt mir den Arm. „Bis morgen wirst du dich schon noch gedulden müssen.“ Er lässt mich los und nickt seinen Kollegen zu und die beiden verlassen, nachdem sie unsere Eisen aufgesammelt haben, den Raum.

„Also los, Junge“, brummt mein Nachbar, „suchen wir uns ein hübsches Plätzchen.“

Als wir uns wenig später auf eine freie Stelle in das spärliche Stroh legen, kommt plötzlich Bewegung in das Bündel Lumpen neben uns.

„Willkommen im Reich der Verdammten“, krächzt eine Stimme und ein kleines spitznasiges Männchen setzt sich auf.

„Oh“, macht Blaese „ich hatte dich gar nicht bemerkt.“

„Das“, antwortet das Männchen, „geht den Meisten so. Ich heiße Michael Egger, man nennt mich das Vogelmändle, da ich früher mit Singvögeln gehandelt habe. Jedenfalls bin ich froh, neue Gesichter zu sehen. Eure Vorgänger haben mich nämlich letzte Woche, nun ja, verlassen.“

„Wie das?“, frage ich, während ich versuche, es mir auf dem harten Boden so bequem wie möglich zu machen.

„Wenn das passiert“, fährt das Männlein fort und grinst, wobei es eine Reihe fehlender Zähne im Unterkiefer sehen lässt, „ist das immer ein großer Tag hier. Schließlich kommen sie dabei für immer frei und ...“

„Wie ist so etwas möglich?“, frage ich erneut und bin erstaunt.

Worauf das Männlein in meckerndes Lachen ausbricht.

„Scht“, macht Blaese, „hör auf, dem Jungen noch mehr Angst zu machen. Ich schlage vor, wir schlafen jetzt. Morgen ist ein neuer Tag, der durchgestanden werden muss.“

Am nächsten Tag werden wir, es fängt gerade an, hell zu werden, auf dem Innenhof der Feste erneut zusammengetrieben, um dort unser Willkomm zu erhalten. Dabei handelt es sich um die Verabreichung von Prügeln, die mit einem Farrenschwanz, einer Peitsche mit kurzem Stiel und langen Schnüren, verabreicht werden. Dazu werden wir nacheinander namentlich aufgerufen, um dann mit nacktem Oberkörper mit den Händen über dem Kopf an eisernen Handschellen, die in einer steinernen Säule eingelassen sind, festgemacht zu werden. Die Anzahl der Schläge richtet sich dabei nach der Schwere des Verbrechens und war bereits in unseren Urteilen festgeschrieben worden. Als verurteilter Mörder komme ich in den Genuss der Höchststrafe und werde dreißig Streiche über mich ergehen lassen müssen.

Da Blasius und ich als eine der letzten an die Reihe kommen, haben wir das zweifelhafte Vergnügen, dabei unseren Vorgängern zusehen zu können. Schon nach sehr kurzer Zeit ist mir klar, dass ich, Feigling der ich bin, den Willkomm nicht lange werde ertragen können. Das Heulen und Stöhnen meiner Leidensgenossen geht mir durch Mark und Bein, von dem süßlichen Geruch des Blutes, das von Schmeißfliegen umschwirrt auf dem Boden große Lachen bildet, ist mir bereits speiübel. Um die Demütigung vollkommen zu machen, geschieht das Ganze vor den Augen der übrigen Häftlinge, die mit Johlen und Rufen ihre Zustimmung oder Missbilligung kundtun.

Ich hatte mit all meinen Befürchtungen nur zu recht, wie ich bereits kurze Zeit später in der Lage bin, festzustellen.

Schon beim ersten Schlag verspüre ich einen furchtbaren Schmerz, der sich bis in meine Finger und Zehenspitzen ausbreitet und mich in die Brust trifft, als wäre mein Körper von einem Messer durchbohrt worden. Während ich noch nach Luft ringe, folgt schon der zweite und gleich darauf der dritte, und ich muss erkennen, das der erste im Vergleich zu allen nachfolgenden angenehm gewesen war.

Natürlich läuft auch mir in kürzester Zeit Blut und Schweiß in Strömen den Rücken herunter. Im Gegensatz zu Blasius Depfenhard, der vor mir an der Reihe war und dem das Ganze nur ein unwilliges Grunzen entlockt hatte, höre ich mich um Gnade winseln, während ich versuche, den unbarmherzigen Riemen der Peitsche auszuweichen.

Was natürlich vollkommen zwecklos ist.

Elsa

Als ich die Apotheke betrete, klingelt über der Tür ein helles Glöckchen.

Der Raum riecht angenehm nach den Kräutern, die im Hintergrund gebündelt und in Reihen von der Decke hängen, und ist sehr sauber. An einer Wand stehen in einem Regal mit verschiedenen Fächern Porzellankrüge mit lateinischen Aufschriften, ein riesiger Schrank mit zahllosen Schubladen bedeckt eine zweite Wand. Hinter einem massiven Tisch sitzt ein Mädchen wohl in meinem Alter und ist gerade dabei, in einem Mörser etwas zu zermahlen. Hinter dem Tresen steht eine ältere Frau in dem schlichten schwarzen Kleid einer Witwe mit dem dazu gehörenden weißen Häubchen als Kopfbedeckung.

Plötzlich bin ich verlegen, denn mir kommt mein Auftrag auf einmal vollkommen unwirklich vor. Auch kann ich nicht verhindern, dass ich schon wieder einmal rot werde. Verflixt!

Ich blicke mich unauffällig um und da ich außer mir keine weitere Kundschaft entdecken kann, mache ich das Zeichen. Als ich das Ringlein, zusammen mit dem gefalteten Stück Papier, das mir die falsche Zigeunerin mitgegeben hat, auf den Tresen lege und dazu sage: „Columbina schickt mich“, komme ich mir einfach nur noch lächerlich vor. Die Apothekerin nimmt es von der anderen Seite des Tresens in die Hand. Dabei fällt mir auf, dass sie lange schlanke Finger hat, in denen sie es nach allen Seiten hin und her dreht.

„Oh“, sagt sie nach einer Weile, „ich wusste gar nicht, dass sie in der Stadt ist.“

„Ist sie auch nicht“, antworte ich, „sie ist bei dem Circus, der ...“, und verstumme erneut.

„Verstehe“, mein Gegenüber faltet den Brief auseinander und liest die wenigen Zeilen.

„Du bist die Tochter von Dorothee Glaser?“, fragt sie. Für einen Augenblick bin ich verwirrt, weil sie den Mädchennamen meiner Mutter benutzt und nicht unseren Familiennamen.

Ich nicke zögernd.

Sie beugt sich jetzt nach vorne und lächelt mich verschwörerisch an.

„Und du willst eine von uns werden?“

Ich schaue ihr in die Augen. Diese sind vom dem hier üblichen Graublau und blicken freundlich und interessiert auf mich herab. Ausgesprochen interessiert, was mich dazu ermutigt, erneut zu nicken.

„Also dann, Elsa Glaser, komm herein.“

Dabei klappt sie eine Art Brett hoch, das sich an den Tresen anschließt.

„Du wirst diesen Entschluss nicht bereuen, vertraue mir“, sagt die Apothekerin. „Ich bin Theresia Gaupp, du kannst Theres zu mir sagen.“ Sie lächelt mich an. „Fürs erste darf ich dir meine Tochter Agnes vorstellen. Diese geht auch bei mir in die Lehre und wird sich sicher freuen, dabei gleichaltrige Gesellschaft zu bekommen.“

Gustav

Nachdem wir gebührend willkommen geheißen worden sind, müssen wir uns wieder in einer Reihe aufstellen.

Das will mir nicht mehr so richtig gelingen, da sich durch den Blutverlust und den Nahrungsmangel während der letzten Tage meine Umgebung vor meinen Augen erneut zu drehen beginnt. Als ich taumele, fasst Blaese nach meinem Ellenbogen und hält mich unauffällig fest.

Zwei Männer treten vor, gefolgt von zwei weiteren in Uniform, die mit Wasser gefüllte Eimer in den Händen halten.

Sie gehen unsere Reihe entlang, wobei sie unsere Rücken mustern, als wären wir eine auf dem Markt ausgestellte Ware.

Als sie uns lange genug begafft haben, sagt der eine: „Ich bin der Medicus hier, das da ist mein Kollege, der Chirurgius. Wir werden euch jetzt waschen, danach bekommt ihr eure Gefängniskleidung und anschließend werdet ihr eingeteilt werden. In ein paar Tagen seid ihr soweit, um angemessen arbeiten zu können. Kniet jetzt hin, damit wir euch zurichten können.“

Als wir ihrer Aufforderung nachkommen, leeren die Bediensteten ihre Eimer über unseren Köpfen aus. Das Wasser ist eiskalt und nach einem kurzen Moment der Taubheit wird das Brennen auf meinem Rücken beinahe unerträglich. Was manche von uns, mich eingeschlossen, erneut dazu bringt, aufzubrüllen. Die Schmerzen werden auch nicht geringer durch das aus Sackleinen bestehende Hemd, das sie uns zusammen mit einer ebensolchen Jacke und Hose geben. Im Gegenteil, bei jeder Bewegung scheuert der grobe Stoff über die Wunden und verstärkt die Schmerzen, dort wo das allmählich gerinnende Blut am Stoff kleben bleibt.

Danach rufen sie uns erneut auf, und während die andern bereits abgeführt werden, bleiben wieder Blaese und ich übrig.

„Ah, unsere neuen Stammgäste“, ruft einer der Aufseher. „Ihr bekommt eine besondere Unterbringung. Wenn ihr mir bitte folgen wollt ...“

Wir beide werden über den Hof in den Zellentrakt zu ebener Erde geführt. Während die eine Wache eine eiserne Türe aufwuchtet, werden wir von der anderen in einen nahezu fensterlosen, gezimmerten Holzkäfig gestoßen. Als ich entsetzt zögere, stößt mir die Wache ihren Schlagstock in die Seite, was mich mein Gleichgewicht endgültig verlieren und auf die Knie brechen lässt.

„Verbrecher wie ihr bekommen ihr eigenes Blockhaus“, erklärt er grinsend. „Wir kommen gleich wieder, um euch anzuschließen“, dabei deutet er auf eiserne Ringe, die in der Wand eingelassen sind, „mit etwas gutem Willen werdet ihr euch bald wie zu Hause fühlen.“

Als sie die Türe hinter sich ins Schloss knallen, überkommt mich erneut Todesangst, denn ich spüre, wie sich der Deckel meines Sarges unwiderruflich über mir schließt.

3. Kapitel

1780

Elsa

Die letzten Jahre sind schnell vergangen.

Nachdem Theres mit meiner Mutter geredet hatte – mein Vater sieht mich sowieso ja nur als einen seiner Aktivposten, aus dem er möglichst viel Gewinn herauszuschlagen gedenkt, und somit ist es ihm einerlei, wie ich meine Tage zubringe –, war mir erlaubt worden, bei ihr in die Lehre zu gehen. In deren Apotheke zu arbeiten war die beste Entscheidung meines Lebens.

Was gab es da nicht alles zu lernen!

Allein die vielen Heilkräuter, die hier zu Tropfen und Pillen verarbeitet werden.

Angefangen von der Kamille, die ein jeder kennt und die hier im Sommer an jedem Wegrain blüht, bis hin zu Pflanzen mit so seltsamen Namen wie Hirtentäschel oder Tausendgüldenkraut.

Das erste Kraut hat seinen Namen wegen seiner winzigen Schotenfrüchte, die aussehen wie die von den Hirten getragenen Felltaschen, und wirkt blutstillend. Es wird daher von Theres Frauenzimmern verordnet, die unter zu starken Monatsblutungen leiden. Über das zweite hat uns Theres folgende Geschichte erzählt: Es war einmal ein reicher Mann, der unter ständigen Fieberschüben litt und der demjeningen, der ihn heilen würde, eintausend Gulden versprach. Schließlich brachten ihm arme Leute einen Tee aus einer bestimmten Pflanze, und davon wurde er, siehe da!, gesund. Er bezahlte die eintausend Gulden und lebte lange und in Freuden.

Daher ist Tausendgüldenkraut geeignet bei Infektionen jeder Art, darüber hinaus wirkt es appetitanregend bei Magenproblemen.

Natürlich gibt es auch die verschiedensten giftigen Pflanzen, die, je nach ihrer Dosierung, heilend wirken können.

Fingerhut etwa oder die Herbstzeitlose, beide von Natur aus überaus giftig. Richtig dosiert hilft die erstere Pflanze, zu Pulver oder Pillen verarbeitet, bei Herzproblemen, die zweite bei Gichtanfällen. Werden diese Dinge allerdings falsch angewendet, so können sie fatale Folgen haben. Die Ausbildung darüber wird von Theres mit der allergrößten Sorgfalt vorgenommen, wobei sie uns, ihre Tochter und mich, stets zu besonderer Vorsicht im Umgang mit diesen gefährlichen Kräutern ermahnt. Mit Agnes übrigens hatte ich schon nach recht kurzer Zeit Freundschaft geschlossen, was etwas ist, das ich sonst nicht so leicht tue. Ich habe nämlich festgestellt, dass echte Freundschaft unter Frauenzimmern schwierig ist. Diese sind nämlich meistens ziemlich oberflächlich und ihre Gespräche drehen sich stets um die entsprechenden Heiratskandidaten und die Mittel, wie sie diese an sich binden können. Dabei wetteifern sie untereinander und sehen sich, obwohl sie nach außen hin sehr freundlich tun, als Konkurrenz an. Fachsimpeleien über Mode und Putz stehen dabei natürlich an erster Stelle. Ich hatte schon oft wirklich unendlich scheinende Nachmittage bei den entsprechenden Kaffekränzchen verbracht. In denen sich die Gespräche nur und ausschließlich um die neuesten Stoffe aus Frankreich, dem Land der absoluten Eleganz und neuesten Moden, gedreht hatten. Von solchen Gesellschaften war ich dann regelmäßig übelst gelaunt und tödlichst gelangweilt in die Apotheke gekommen, da es mir niemals möglich gewesen war, auch nur den geringsten Sinn darin zu entdecken. Es ist ja nicht so, dass ich etwas gegen ein hübsches Kleid oder einen modischen Hut einzuwenden hätte. Meine Mutter achtet schließlich sehr darauf, dass ich mich bei gesellschaftlichen Anlässen dem Rang meines Vaters gemäß kleide. Aber diese Dinge zu seinem nahezu alleinigen Lebensinhalt zu machen ...

Das erschien mir schon immer mehr als sinnlos.

Nun ja, Agnes jedenfalls teilt diese Ansicht mit mir.

„Du brauchst nicht so wütend zu sein“, hatte sie zu mir gesagt, als ich wieder einmal gezwungen gewesen war, an einem solchen gesellschaftlichen Anlass teilzunehmen, „diese dummen Gänse änderst du nicht. Daher ist es auch vollkommen zwecklos, sich darüber aufzuregen. Hier, hilf mir lieber bei dieser Paste hier“, und sie hatte mir eine Schüssel mit Ringelblumenblüten in die Hand gedrückt.

„Wohl wahr“, hatte ich gemurmelt und angefangen, die leuchtend roten Blütenblättchen abzuzupfen. Diese werden dann mit Schweinefett erhitzt und während des Abkühlungsprozesses mit Bienenwachs vermischt. Die so gewonnene Salbe ist gut gegen Hautkrankheiten aller Art und lässt diese schnell abheilen.

„Du hast gut reden, du musst dir diesen Unsinn nicht stundenlang anhören“, brummelte ich. Dann blickte ich auf und erkannte, dass sie seltsam drein sah. Amüsiert, aber vielleicht eine winzig kleine Spur sehnsüchtig?

„Du gehst niemals zu irgendwelchen ... Veranstaltungen dieser Art. Warum nicht?“

Sie zuckte ihre schmalen Schultern.

„Seit Mama die Apotheke nach Papas Tod übernommen hat, werden wir von Mitgliedern der Zunft geschnitten“, antwortete sie.

Das hatte ich bis jetzt nicht gewusst.

„Diese alten Böcke waren hinter Mamas Rezepten her, und als sie sich geweigert hat, sie zu verkaufen, da ...“, wieder ein vielsagendes Schulterzucken. „Aber Mama hat gesagt, dass sie die Apotheke hier nur über ihre Leiche bekommen würden. Sie hat sie nämlich bereits von ihren Eltern geerbt.“

„Ich weiß“, antwortete ich. Das hatte mir meine Mutter bereits über Theres erzählt. Dabei war ihr abwertender Unterton nicht zu überhören gewesen. „Die gute Theresia meint unbedingt, es mit Mannsbildern aufnehmen zu können“, hatte sie gesagt, „da ist sie genau wie ...“ und war dann unvermittelt abgebrochen.

Ich musterte nun Theres Tochter genauer. Sie war klein, noch eine Spur kleiner als ich und wesentlich zierlicher. Sie trug wie alle Tage zwar saubere, aber zweckdienliche Kleidung in unbestimmten schlammfarbenen Tönen. Ein farbloses Kleid mit der entsprechenden fleckenlosen weißen Schürze darüber. Damit erinnerte sie mich an einen der Sperlinge, die ständig in unserem Hof herumhüpften.

„Hast du eigentlich noch irgendwo ein hübscheres Kleid als das da?“, ich zeigte mit dem Kinn auf ihre Arbeitskleidung.

„Selbstverständlich“, antwortete sie und wurde rot. „Mama und ich sind ja nicht mittellos und schließlich gehen wir ja jeden Sonntag in die Kirche und auch sonst ...“.

„Das meinte ich nicht“, unterbrach ich sie. „Keine langweilige Kirchenkleidung.“ Weiß ich doch, dass unmäßiger Putz als Zeichen der Eitelkeit beim Kirchgang verpönt ist.

„Hellgrün würde dir gut stehen“, fuhr ich fort und legte meinen Kopf schief, um sie abschätzend zu betrachten, „zufällig besitze ich ein hellgrünes Kleid. Wir werden es für dich abändern“, sagte ich entschlossen. „Und das nächste Mal nehme ich dich mit. Schließlich brauche ich unbedingt moralische Unterstützung, noch so einen Nachmittag halte ich nicht allein durch.“

„Mama wird dagegen sein“, meinte sie, konnte aber ein Lächeln jetzt nicht mehr ganz unterdrücken.

„Deine Mutter wird doch sicherlich nichts dagegen haben, das du einmal für ein paar Stunden dieses Haus hier verlässt“, entgegnete ich. „Wir werden sie fragen.“

Von diesem Tage an waren wir Freundinnen.

Die Ausbildung in Kräuterkunde war aber nur ein Teil dessen, was ich bei Theresia Gaupp erlernte. Noch viel interessanter war und ist bis heute der Umgang mit der Glaskugel. Dies ist eine Sache, die wir eisern zwischen uns Dreien halten. Agnes weiß zwar darüber Bescheid, hat aber zu dem Bedauern ihrer Mutter die Gabe, wie wir es nennen, nicht geerbt. Mit der Zeit war ich dahinter gekommen, dass manche der Damen, die in der Apotheke ihre Pillen und Tröpfchen kaufen, von Theres unauffällig in die hinteren Räume gebeten werden, um dort von ihr durch einen Blick in ihre Glaskugel beraten zu werden.

Sie pflegt die meist verschleierten Frauenzimmer in letzter Zeit immer öfter auf einen zweiten Besuch zu vertrösten. Dabei bittet sie mich dazu, um eine zweite Meinung, nämlich die meinige, einzuholen. Diese bestätigt meistens ihre Lesung, aber nicht immer. Die Tatsache, dass ich in der Lage bin, in der Kugel Dinge zu sehen, die anderen verborgen sind oder noch in der Zukunft liegen, denn schließlich liegt auch die im Verborgenen, ist etwas, was mich ungeheuer fasziniert. Mittlerweile bin ich soweit, dass ich die Bilder ohne große Vorbereitung entstehen lassen kann. Zu Anfang war es beängstigend, in der Zwischenzeit und unter Theres Anleitung wird es immer selbstverständlicher. Es ist beinahe schon so, als würde ich ein Buch aufschlagen, um darin zu lesen. Theresia ist jedenfalls in dieser Beziehung sehr zufrieden mit mir.

„Columbina hatte recht“, sagte sie einmal zu mir, „du bist wirklich ein Naturtalent.“

„Hast du irgend eine Ahnung, warum gerade ich so etwas kann?“, fragte ich sie neugierig.

„Das weiß niemand“, bekam ich die wenig befriedigende Antwort, „niemand weiß, wieso er die Gabe hat oder nicht.“

Insgesamt bin ich mit dem Leben, das ich bei Theres und Agnes führe, sehr zufrieden. Ich mag beide sehr und die Arbeit in der Apotheke, die mittlerweile zu einem Zuhause für mich geworden ist, spricht meinen Verstand an, während die Ausbildung an der Glaskugel mich immer wieder aufs Neue herausfordert.

Leider ist da etwas, was mir in letzter Zeit zunehmend zu schaffen macht.

Dabei handelt es sich um meine Verlobung mit Gottlieb Scherrich von Aurdorf, die an meinem achtzehnten Geburtstag feierlich bekannt gegeben wurde mit der Auflage, dass die Hochzeit an meinem einundzwanzigsten Geburtstag stattzufinden hat. Die Verlobung wurde mit großem Aufwand gefeiert, meine Mutter war vor Stolz ganz aus dem Häuschen gewesen. Mein Vater war darüber, dass er sich durch mich mit einer weiteren, sehr bedeutenden Familie der Stadt verschwägern würde, in einer seiner gönnerhaften Launen und hatte bei der Feier an nichts gespart. Meine beiden älteren Brüder haben sich nämlich ebenfalls sehr gut verheiratet und so hat es mein Vater fertig gebracht, bei jeder Heirat seiner Kinder seinen nicht unbedeutenden Einfluss im Städtchen zu vergrößern. Die Mutter meines zukünftigen Ehemannes ist Witwe und ihr jüngster Sohn ihr Augapfel, den sie vergöttert. Die beiden bewohnen ein wirklich riesiges, dreigeschossiges Haus in der besten Biberacher Wohnlage. Dieses liegt etwas südlich des Marktplatzes und ist nicht untervermietet, was hier eine Seltenheit ist. Ihr verstorbener Ehemann war Spitalpfleger und ebenso wie mein Vater Mitglied des geheimen Rates der Stadt gewesen. Darüber hinaus hatte er das Recht, sich mit Junker anreden zu lassen. Eine Tatsache, auf die seine Witwe noch immer unübersehbar stolz ist, gibt es hier doch nicht einmal eine Handvoll Bürger, die diesen Titel führen dürfen. Mich scheint sie wohl als notwendiges Übel mit dem Blick auf meine beachtliche Mitgift in Kauf zu nehmen. Das ist für mich klar aus der Art und Weise zu erkennen, wie sie mit mir umgeht. Von oben herab, so als ob ich es als Gnadenbeweis anzusehen habe, dass sich ihr unvergleichlicher Sohn mit mir abzugeben beliebt. Mein zukünftiger Bräutigam war jedenfalls bei unserer Verlobung ziemlich schnell ziemlich stark betrunken, und schien darüber sämtliche Regeln für gutes Benehmen vergessen zu haben. Als er aufgefordert wurde, mir den Verlobungskuss zu geben, hatte er dies sofort ausgenutzt und versucht, mir seine Zunge in den Hals zu stecken. Dabei hatte ich das Gefühl, eine schleimige Schnecke im Mund zu halten, und konnte nur mit allergrößter Mühe ein Würgen unterdrücken. Als er dann endlich von mir abgelassen hatte, war mir eindeutig übel gewesen. Diese Übelkeit wollte auch später einfach nicht weichen. Daher war ich kaum in der Lage gewesen, von dem wirklich guten Essen etwas zu mir zu nehmen, da ich ständig Angst hatte, mich übergeben zu müssen.

„Deine Tochter isst ja gar nicht“, hatte meine zukünftige Schwiegermutter in einer Lautstärke, die die Nächstsitzenden hatte aufblicken lassen, bemerkt, „ich hoffe doch sehr, sie ist nicht krank?“

„Aber nein“, hatte meine Mutter erwidert und mich strafend angeblickt, „Elsa ist kerngesund.“

„Das will ich doch stark hoffen“, hatte Frau von und zu Scherrich getrötet. „Schließlich erwarte ich, dass sie im Bett meines Sohnes ihre Pflicht tut. Dabei kann ich kein schwaches Blut gebrauchen.“

Bei der Vorstellung, ihren Sohn und sie mein restliches Leben lang ertragen zu müssen, war mir endgültig der restliche Appetit vergangen. Ich befürchte, kein Haus wird groß genug sein, um das zu ertragen.

In der Folgezeit lässt Gottlieb keine Gelegenheit aus, mich zu belästigen. Er ist dabei sehr geschickt in Gegenwart anderer Personen. Sitzen wir zu Tisch, so presst er einen seiner Schenkel gegen meinen Rock oder, wenn wir uns gegenüber sitzen, zwischen meine Beine. Sind wir in Gesellschaft, zieht er mich gerne in eine dunkle Ecke, wo er dann ungeniert in meinen Ausschnitt fasst und meinen Busen zusammenquetscht. Da meistens andere Menschen in unmittelbarer Hörweite sind, ist es mir nur schwer möglich, lautstark zu protestieren. Und da wir außerdem verlobt sind, geschieht dies oft sogar unter den wohlwollenden Blicken seiner Mutter, was mir zusätzliche Schauder über den Rücken jagt. Als ich wieder einmal versuche, ihn von mir zu schieben, knurrt er mich an: „Kalt wie Eis. Aber das macht nichts. In unserer Hochzeitsnacht werde ich dir deine Flausen schon austreiben. Und danach ...“

„Lass mich los“, keuche ich und versuche mich aus der Nische. in die er mich auch schon wieder einmal hineingedrängt hatte, hervorzuwinden. Wir sind auf einer Abendgesellschaft, die meine Eltern geben, und er hat mich, als ein Tanz zu Ende war, nicht zurück zu den andern gebracht, sondern in eine nur schlecht beleuchtete Zimmerecke gezogen.

„Wirst du wohl damit aufhören“, sagt er gerade drohend, „und dich deinem Herrn und Meister unterwerfen!“

Für einen Augenblick unterbreche ich meine Bemühungen, von ihm frei zu kommen.

„Meinem Herrn und Meister“, rufe ich empört. „Du wirst niemals mein Herr ...“

Daraufhin hält er mir den Mund zu. Seine Handfläche ist wie er fleischig und schwer und hindert mich am Atmen.

„Da irrst du dich“, sagt er kalt. „Sobald ich deine Mitgift einkassiert habe, wirst du mir gehören wie eines meiner Pferde. Und ich werde dich auch genauso zureiten.“

Plötzlich erkenne ich, wie gefährlich seine Augen glitzern, und mir ist klar, dass ihm der Gedanke gefällt.

Als wohlerzogene Tochter aus bestem Hause weiß ich zwar nicht so genau, was er damit meint, aber es hört sich ... bedrohlich an.

„Solltest du dich sträuben, so wird es mir eine Freude sein, dir Manieren beizubringen. Im Laufe unserer Ehe wird meine Mutter das Ihrige tun, deine kratzbürstigen Kanten abzuschleifen und ...“

„Was ist denn hier los?“, fragt in diesem Moment eine kühle männliche Stimme hinter uns.

Die meinem Lieblingsvetter Hans gehört, dem ich wesentlich näher stehe als meinen beiden Brüdern.

Da meine mir im Alter am nächsten stehenden jüngeren Brüder als Kleinkinder verstorben sind, war der Abstand zu meinen älteren Brüdern an Jahren stets zu groß gewesen, um unser Verhältnis eng oder gar herzlich werden zu lassen. Im Gegensatz zu Hans, der sich, seit ich denken kann, seltsamerweise an deren Stelle um mich gekümmert hat.

„Hättest du wohl die Güte, meine Cousine loszulassen?“, fragt der gerade.