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Humorvolle Spannung vor atemberaubender Alpenkulisse. Hitze plagt das Ammertal, und das sinkende Wasser des Sees gibt die Überreste eines lange vermissten Toten frei. Kommissar Lenz Meisinger ermittelt, dass der Mann vor seinem Verschwinden mit der Gemeinde um ein Grundstück rang. Ist es Zufall, dass genau dieses Stück Land auch heute wieder für Zündstoff sorgt? Dass dort gebaut werden soll, gefällt längst nicht jedem, und während Meisingers Freundin Carola Witt noch versucht, die Gemüter zu beruhigen, wird ein toter Gemeinderat entdeckt ...
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Seitenzahl: 380
Veröffentlichungsjahr: 2025
Inga Persson hat Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie studiert, 1994 promovierte sie. Anschließend schrieb sie jahrelang im Auftrag anderer: erst für Bundestagsabgeordnete, später für ihre Agenturkunden. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn am westlichen Ammersee und betreibt dort die traditionsreiche Pension »Schatzbergalm«.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2025 Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, 50667 Köln
www.emons-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: stock.adobe.com/Fel1ks
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-322-9
Oberbayern Krimi
Originalausgabe
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Für Anja
Winter, in den letzten Februartagen vor über zwanzig Jahren
Hundskrüppel, gottverreckter.
Was glaubt der, wer er ist?
Was glaubt der, dass er ist?
Kleinhäusler, dreckerter. Meint, dass er das Maul aufreißen kann. Merkt der nicht, wem er seinen Schmarrn verzählt? Ja, was der sich traut. Aber eins sag ich euch, damit ist es gleich vorbei. Stopfen werd ich’s ihm, stopfen, sein loses Maul, dass er’s nie mehr aufsperrt, der Sauhund, der dreckerte!
Ja, was bildet der sich ein? Mir sagen wollen, was ich zu tun hab. Oder noch besser: was ich zu lassen hab. Mir was sagen wollen, mir! Mich belehren wollen, was gut ist. Für die Umwelt. Die Um-Welt! Scheißumwelt, dass ich nicht lach!
Wegen so einem Gschiss so einen Aufstand machen. Dass dies nicht geht, das nicht geht, wegen der Pflanzen, der Tiere und was er sonst noch alles hatte. Ach ja, der Bienen! Was gehen mich die Bienen an?
Weitergehen muss es da im Dorf, weiter, und nicht so ein rückständiger Scheißdreck. Die Schöpfung bewahren. Was soll ich? Die Schöpfung bewahren?
Das Maul stopf ich dir mit deiner Schöpfung!
»Leute, ist das heiß, oder?«
Was sollte das gewesen sein? Eine Feststellung, eine Frage oder, Gott bewahre, ein Gespräch? Wahrscheinlich weder noch. Hauptsache, die Luft scheppert. Sie tat, als ob sie nichts gehört hätte, und hob wieder das Fernglas an die Augen. Natürlich, er saß, sie stand.
Was ging bloß in dem Typen vor? Sie waren nicht aus Spaß auf dem See, sondern weil sie Tonnenleger einer Regatta im Bundesligaformat am Ammersee waren, die ihr Segelverein erstmals ausrichtete. Ihre Aufgabe war es, die Regattatonnen genau dorthin zu legen, wo die Wettfahrtleitung sie haben wollte. Bei drehenden Winden musste die Start- und Ziellinie laufend angepasst und verlegt werden, entsprechend auch die Tonnen. Das hieß, Anker an Ketten hochzuziehen und an anderer Stelle samt Tonne wieder ins Wasser zu werfen. Ein echter Knochenjob.
»Ich brauche was zu trinken. Noch jemand?«
Sie schüttelte den Kopf. Hoffte, dass er hinter ihrer Sonnenbrille und dem Cap, das sie sich tief ins Gesicht gezogen hatte, keinen ihrer Gedanken erraten konnte.
Alles, wirklich alles an dem Typ nervte sie. Erstens, weil er sich vorgedrängt hatte, als es um die Besatzung der Tonnenlegerboote ging. Sie hätte lieber ihre Mitseglerin und Vorschoterin dabeigehabt, aber der Depp hatte sich durchgesetzt. Zähneknirschend hatte sie nachgegeben. Jetzt musste sie es einen ganzen Tag lang mit ihm aushalten. Zweitens, weil er nicht bei der Sache war. Anstatt vor dem Start mit der Wettfahrtleitung zu kommunizieren, mit anzupacken, Anker zu ziehen und die Tonnen in den Wind zu legen, textete er mit seiner Liebsten. Und jetzt wollte er etwas trinken. Sie hatten nach dem Start aufzupassen, dass alle den richtigen Kurs absegelten und nicht die Tonnen berührten. Und drittens, weil er allen Ernstes seine Akku-Kühlbox hervorzog, in der seine Getränke lagerten. Pure Provokation. Sie wusste, dass er wusste, dass sie das Nachhaltigkeitsreferat im Verein leitete. Sie hatte ausgerechnet, wie viel Strom die Kühlschränke auf den Dickschiffen im Verein brauchten. Und sich für deren Abschaffung ausgesprochen. Wozu gab es Thermosflaschen? Die funktionierten auch in die Gegenrichtung.
»Ah!« Er nahm einen tiefen Schluck aus einer Dose, auf deren Oberfläche sich Kondenswasser gebildet hatte. »Willst du auch was? Ist genug da. Eiskalt!«
»Nein, danke.« Sie biss sich auf die Unterlippe. Wenn sie sich nicht gewaltig zusammenrisse, würde sie noch ausfallend werden. Und das machte auch keinen Sinn. Sie hatte andere Probleme. Unter anderem die Hitze. Es war einfach viel zu heiß. Obwohl es ordentlichen Wind hatte, klebte das T-Shirt an ihrem Rücken.
Was genau mussten die alten Säcke eigentlich noch an Argumenten hören, um zu kapieren, dass niemand auf der Welt mehr so weitermachen konnte wie bisher? Sie waren ein Segelverein in einem der schönsten Reviere Bayerns. Das war nicht in Stein gemeißelt, das konnte auch ganz schnell zu Ende sein. Sahen diese Deppen nicht, dass sie an dem Ast sägten, auf dem sie saßen?
Den Naturschützern waren sie mit ihren Stegen, Krananlagen und Verbrennermotoren schon lange ein Dorn im Auge. Der Ammersee war das bedeutendste süddeutsche Rast- und Überwinterungsgebiet für Wasservögel und Brutgebiet von Röhricht- und Wiesenbrütern. Darüber hinaus durch die Ramsar-Konvention streng geschützt. Die Maßnahmen zeigten Erfolge: Der am Ammersee als ausgestorben geltende Brachvogel war zurückgekehrt.
Es war ein ständiger Kampf. Zwischen Umweltschutz und dem Bedürfnis der Menschen nach Freizeit und Erholung. Sie hatte Verständnis dafür, wenn am Wochenende halb München und ganz Augsburg am Ammersee einfielen. Aber was zu viel war, war zu viel. Schilfgürtel waren No-go-Areas, der Südzipfel durfte weder befahren noch betreten werden. Alle, auch die Segler, mussten Regeln befolgen, Ruhezonen respektieren, Betretungsverbote akzeptieren und Abstände einhalten. Ausnahmslos. So klappte es einigermaßen am See.
In letzter Zeit wurde es nur nicht einfacher, optimistisch zu bleiben. Seit Wochen war es brüllend heiß. Jeden Tag um die dreißig Grad. Knallblauer Himmel. Ostwind. Nie unter drei Beaufort, meistens vier bis fünf. Zum Segeln wirklich schön, aber es regnete einfach nicht mehr. Als ob Niederschlag vom Stundenplan des Universums gestrichen worden wäre.
Ihre anfängliche Euphorie wegen des schönen Sommers hatte sich schon lange in Luft aufgelöst. In heiße Luft. War das noch Wetter oder schon Klima? Eine Frage, die in Internetforen, an Abendbrottischen und in Supermarktschlangen diskutiert wurde. Sie rollte mit den Augen. Was sollte der Schmarrn, man musste doch nur hinschauen. Der Rasen war verdorrt, die Bäume hatten erst das Obst und anschließend ihre Blätter abgeworfen, und jeder kannte jemanden, der an Hitzschlag gestorben war.
Und jetzt noch dieser Sturm. Vor einer Woche hatte der Wind auf Süd gedreht und Wüstenstaub aus Afrika herangeblasen. Alle starrten ihre bepuderten Autos an und fluchten innerlich, weil die Autowaschanlagen schon vor Wochen geschlossen worden waren.
Seglerisch war heute ein anspruchsvoller Tag. Zickiger Wind, drehend aus Süd-Süd-West, fünf Windstärken, in Böen sieben. Zudem war es verdammt eng geworden auf dem Wasser. Die Pegel waren gesunken, die Wasserfläche in den letzten Wochen geschrumpft, eine zusätzliche Herausforderung für die Wettfahrtleitung, den Kurs zu planen. Denn die gleiche Menge Freizeitsegler, Ruderer und SUP-Fahrer teilte sich mit der Ammerseeschifffahrt und ihrem Regattafeld deutlich weniger Platz als in den Jahren zuvor. Sie hob wieder ihr Fernglas an die Brille.
Das Feld war vor Breitbrunn gestartet. Die Boote näherten sich gerade zügig der Luvtonne. Die Wettfahrtleitung hatte sie so weit weg von den Dampferstegen geplant wie möglich, auf Höhe des Seeholzes, zwischen Utting und Riederau. Hier gab es keine Strandbäder, keine Villen am Ufer und damit weniger Menschen an und im Wasser. Besser ging’s nicht.
Das übliche Gedränge bei der ersten Tonne. Wie auf einem Formel-1-Kurs trennten nur Zentimeter einen Rennboliden von dem anderen. Hinter der Tonne setzten die Crews die Gennaker und beschleunigten Richtung Gate. Plötzlich schoss eins der Boote quer durchs Feld.
»Shit.«
»Wie?«
Hatte der Typ keine Augen im Kopf? Jetzt musste sie auch noch kommentieren. Sie starrte durch ihr Fernglas. »Sonnenschuss. ›GER 734‹, glaub ich.«
Die Crew hatte nach der Wende die Kontrolle über das Boot verloren und war gekentert. Das Rennen war für die gelaufen. Aber sie konnten die Regatta immer noch zu Ende segeln. Sie kniff die Augen zusammen. Richtete die Mannschaft das Boot wieder auf? Nein, warum auch immer. Stattdessen trieb es Richtung Ufer. »Das sehen wir uns an.« Sie fasste das Steuer fester und schob den Gashebel nach vorn. Das Schlauchboot sprang förmlich aus dem Wasser, wie ein Pferd aus dem Stand in den Galopp.
»Hey, pass doch auf.« Er rieb an dem Fleck auf seiner Hose. »Jetzt hab ich mich bekleckert.«
Sie ignorierte sein Gemaule und beschleunigte. Irgendetwas musste passiert sein. Sie kannte die Crew. Alles gute Segler. Außerdem war sie sich sicher: So jemand wie der Kerl neben ihr hatte Personal, das ihm die Flecken aus den Bermudas wusch.
Keine zwei Minuten später näherten sie sich dem havarierten Boot. Dunkel hob sich der alte Eichenwald gegen den vertrockneten Schilfgürtel ab. Davor, rund hundert Meter vom Ufer entfernt, lag das Boot mit schlagendem Groß. Die Fock war eingerollt, der Gennaker wehte aus. Seltsam. Wieso trieb es nicht weiter? Hatte sich das Gennaker-Fall verhakt? Hatte sich das Boot irgendwo verheddert? Bloß wo? Taktiker und Vorschoter hingen an der Reling. Langsam fuhr sie etwas weiter heran. »Was ist los?«, rief sie grinsend. »Habt ihr euch verfahren?«
Der Steuermann schlug mit der flachen Hand aufs Wasser. »Was gibt’s denn da zu lachen? Wir hängen fest! Jetzt glotzt nicht so blöd, sondern helft uns mal!«
Sie kontrollierte mit Mühe ihre Gesichtszüge. Bis dato hatte sie nicht gewusst, dass zu viel Testosteron sich auf den Orientierungssinn auswirkte. »Lass einfach mal die Füße runter.«
»Wie …?« Der Steuermann warf ihr einen wütenden Blick zu.
»Mach ruhig. Du kannst da stehen.«
Bildete sie sich das ein, oder wurde er rot wie eine überreife Tomate? War er hin- und hergerissen zwischen der Wut, an Land gefahren zu sein, und der Scham, sich von einer Frau etwas sagen lassen zu müssen? Sie zuckte mit den Schultern. Da musste er durch.
Er schluckte seine Antwort herunter, ließ los – und erstarrte.
»Was ist los?«, rief sie.
»Ich bin in was getreten.« Er griff unter sich und hob ein längliches, grauweißes Etwas in die Höhe, starrte es eine Sekunde an – und fuhr zusammen, als hätte er in eine Steckdose gefasst. Im hohen Bogen flog das Ding davon. »Knochen! Da unten sind Knochen!«
Hauptkommissar Laurentius Meisinger verschränkte die Arme hinter dem Rücken, reckte sich ein wenig und angelte nach dem Saum seines Hemdes. Schlimm genug, dass er nur ein kurzärmeliges Sportshirt trug. Noch schlimmer, dass es an ihm klebte. Festgepappt an seinem verschwitzten Rücken, der von der Halskrause abwärts über seine Schulterblätter bis zum Hosenbund reichte. Von den Pfützen unter seinen Achseln gar nicht zu reden. Unangenehm. Sehr, sehr unangenehm. Und sehr unangemessen. So sah er sich nicht, im Freizeitlook mit Rändern unter den Armen am Ufer stehend. Sondern souverän, gut gekleidet und trocken. Kontrolliert. Sowohl intellektuell als auch emotional. Und ganz besonders in Bezug auf seine Körpersäfte.
Sein Blick ging über den See und blieb an der weißen Andechser Wallfahrtskirche auf dem Moränenrücken am gegenüberliegenden Ufer hängen. Da thronte sie auf der Anhöhe und sah seit sechshundert Jahren dabei zu, wie die Menschen unter ihr am Ufer lebten. Hocherhobenen Hauptes, kühl, distanziert. Und was machte er? Aus jeder Pore schwitzen.
Im Gegensatz zu ihm hatte die Mehrheit seiner Mitbürger heute einen schönen Tag. Sonntag, Sonnenschein, Sommer, und das am Ammersee. Direkt vor seiner Nase breitete es sich aus, das pralle Leben, in voller Blüte. Hunderte, womöglich Tausende paddelten, ruderten, segelten kreuz und quer über den See. Ab und zu schaufelte auch einer dieser großen Raddampfer vorbei. Die Passagiere auf dem Oberdeck winkten ihm fröhlich zu.
Wenn die wüssten. Vorsichtig schnappte er einen Hemdzipfel und wedelte sich etwas Luft auf die feuchte Haut. Alle hatten einen schönen Sonntag. Und was hatte er? Ein einsames Frühstück am großen Esstisch in der Küche seines Elternhauses, des Secklerhofs. Der seit Generationen die Heimat der Familie Meisinger war, hoch über dem Dorf, am Waldrand, weit weg vom Gewusel unten am See.
Er hatte die Ruhe immer sehr geschätzt, aber heute Morgen war die Stille erdrückend gewesen. Denn es war niemand da, der mit ihm diese kostbaren Sonntagsstunden teilte. Carola, sein Herzensmensch, hatte zwar ihren Hauptstadtaufenthalt beendet, leitete nun nicht mehr das Büro des Bundestagsabgeordneten Johannes Ludwig im Berliner Reichstag, sondern wieder dessen Wahlkreisbüro in Weilheim. Sie war zurück in Bayern, endlich, aber nicht bei ihm auf dem Hof. Sondern hatte sich eine Wohnung genommen. In Riederau. Ihre eigene Wohnung wohlgemerkt, nur für sich allein. Ihn hatte sie noch nicht einmal gefragt. Sondern ihn einfach vor vollendete Tatsachen gestellt.
Das ärgerte ihn. Auch nach mehrmaligem Nachdenken. Was ihn noch mehr nervte. Aber ihr Alleingang war ja keine Einbahnstraße. Wenn sie es nicht nötig hatte, mit ihm zu sprechen, wieso sollte er das tun?
Diese Alleingänge waren anscheinend sehr modern. Seine eigene Mutter, Therese Meisinger, die er nur kochend und backend in der Küche des Secklerhofs kannte, hatte einen Freund. Keinen neuen, nein, den hatte sie schon seit etlichen Jahren. Nur ihm war der Umstand unbekannt gewesen, dass es einen Mann im Leben seiner Mutter gab. Einen netten noch dazu. Das musste er zugeben. Und einen charmanten, wohlerzogenen, kultivierten. Reza. Aus Teheran, nein, aus München, Augenarzt, der selbige nur noch für seine Mutter hatte. Seitdem es öffentlich war, dass die beiden nicht nur seit Jahren miteinander verbandelt, sondern auch seit sage und schreibe fünf Jahren eine gemeinsame Zweitwohnung in Utting hatten, tirilierte seine Mutter, wenn sie denn mal da war, in den allerhöchsten Tönen. Gestern hatte er sie kurz vorbeihuschen sehen. »Grüß dich«, hatte sie gerufen und war sich durch die nassen Haare gefahren. Was sollte das? Wieso war ihr Kopf nicht trocken? Was war los mit den Frauen in seinem Leben?
Dann gab es noch seinen Bruder Tom, der eigentlich auch auf dem Hof lebte. Eigentlich, denn er hatte ihn gefühlt seit Jahren nicht gesehen. Seitdem er eine Freundin mit zwei kleinen Kindern in der Nähe von Polling hatte, kam er überhaupt nicht mehr nach Hause. So geschah es, dass er beim Sonntagsfrühstück am großen Esstisch saß und allein sein Rührei in sich hineinstopfte. Noch nicht mal die Katze schaute vorbei.
Als das Telefon klingelte, hatte er sich kurz gefreut. Ausgesprochen kurz. Nicht seine Freundin, sondern die Leitstelle rief an. Er war aufgestanden und gegangen. In Polohemd, Jeans und den ältesten Turnschuhen, die er hatte. Er hätte kotzen können.
Mühsam riss er seinen Blick von den fröhlichen Wassersportlern auf dem See und betrachtete den Himmel über Andechs. In den fast fünf Jahrzehnten seines Lebens war dieser im Sommer blau gewesen. Zumindest, wenn die Sonne schien, was heute eindeutig der Fall war. Aktuell erinnerte ihn seine Farbe aber eher an ein länger nicht gewaschenes Küchentuch. Das eine undefinierbare Tönung zwischen beige, braun und fettig-gelb angenommen hatte, mit langen hell- bis dunkelgrauen Schlieren durchzogen. Wenn er nach Süden Richtung Ammermündung schaute, brannte die Sonne ganz weit oben ein kreisrundes Loch in das Muster. Darunter zog der dunkle Scherenschnitt der Alpen eine schwarze Zickzacklinie über den Horizont. Tag für Tag der gleiche Anblick.
Dazu dieser Wind aus Süden, fast schon Sturm. Er musste sich abwenden, es war nicht auszuhalten. Ein Gefühl wie im Windkanal. Und heiß war es, unfassbar heiß. Tag und Nacht. Seit einer Woche brauste es von Süden daher, was das Zeug hielt. Der Sturm hatte Sand im Gepäck, feinen gelben Staub aus der Sahara, der den Julihimmel umfärbte und sich auf alles legte, was ihm in den Weg kam: Häuser, Bäume, Menschen. Der Staub bedeckte jeden Millimeter. Selbst hier, am Westufer des Ammersees, in der Abgeschiedenheit des Seeholzes zwischen Riederau und Utting, war jeder Fleck mit einer gelben Schicht überzogen.
Die Erde ist ein umgestürzter Hafen, dachte er. Wieso kam ihm diese Zeile in den Sinn? Vor langer Zeit hatte er das einmal gelesen. Wann mochte das gewesen sein? Schulzeit, er tippte auf Büchner. Als Jugendlicher hatte ihn die Aussichtslosigkeit, die ihn aus diesen Worten ansprang, schockiert. Wenn der Mann wüsste, wie es zweihundert Jahre später um die Menschheit stand. Wie kurz vor dem Armageddon.
Es half nichts. Sie waren nicht hier, um auf Andechs zu schauen, den Sandsturm zu beklagen und das Weltende kommen zu sehen, sondern weil sie einen Job zu tun hatten. Er drückte sein Kreuz durch. Als Vorgesetzter hatte er Zuversicht zu verbreiten. So beschissen er sich selbst auch fühlen mochte. Er räusperte sich. »Na? Schönes Wochenende gehabt?«
»Geht so.« Sein Kollege Franz Pollinger, den Temperaturen entsprechend in einem leichten Leinenhemd, weit sitzenden Hosen und italienischen Wildlederslippern ohne Socken, sah stur geradeaus.
»Kann ja noch werden.«
Franz rührte sich nicht. Und schwieg.
»Was schaust denn so? Kann immer noch ein schöner Tag werden. Zumindest ein guter.« Mit der Linken zupfte Lenz an seinem Hemdzipfel. Hoffentlich merkte sein Kollege nicht, dass es ihm am Rücken festgetackert war. Dann hätte er ihm den Schmarrn endgültig nicht mehr abgekauft.
Franz gab ein Geräusch von sich.
Lenz rollte mit den Augen. Bei dem war kein Blumentopf zu gewinnen. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Von Süden bahnte sich jemand seinen Weg am Ufer entlang. Den gleichen Weg, den er leise vor sich hin fluchend vor einer halben Stunde genommen hatte. Dem Rand des Schilfgürtels folgend, der das streng geschützte Seeholz auf der Wasserseite begrenzte. Der das erste Mal seit Menschengedenken komplett trockengefallen war.
Eine hochgewachsene Blondine kam auf sie zu. Energisch. Gut aussehend. Entschlossen. Unwillkürlich nahm er Haltung an.
»Grüß Gott. Kann ich helfen?« Franz trat an ihm vorbei und ihr in den Weg. Über die Schulter seines Kollegen hinweg sah Lenz Irritation in ihrem Gesicht. »Nein. Mein Name ist Sörensen. Liv Sörensen. Kripo Hamburg. Das Austauschprogramm? Ich soll mich bei Hauptkommissar Meisinger melden.«
»Ah, Frau Sörensen.« Lenz schob sich vor Franz und streckte seine Hand aus. Stimmt. Das hatte er komplett vergessen. Das Programm. So eine Art Völkerverständigung der Polizei. Beni war nach Hamburg gegangen, dafür wurde eine Kommissarin aus der Hansestadt nach Bayern entsandt. Die nun leibhaftig vor ihm stand und ihn mit klischeehaft knallblauen Augen kritisch fixierte. »Wir haben telefoniert. Herzlich willkommen am Ammersee. Und gleich in medias res. Ich bin Hauptkommissar Laurentius Meisinger. Das ist Hauptkommissar Franz Pollinger.«
»Moin. Alle nennen mich Liv.« Ihr Händedruck war fest und trocken.
»Wenn das so ist«, Lenz deutete auf sich, dann auf seinen Kollegen, »Lenz, Franz.« Und spürte mehr, als dass er es sah, dass Franz ihr neues Teammitglied sehr wohlwollend von oben bis unten musterte. Wenn sie seine Blicke wahrnahm, zeigte sie keinerlei Reaktion. Chapeau, dachte er, Nerven aus Stahl. An der beißt sich Franz die Zähne aus.
»In Weilheim sagte man mir, dass ich euch hier finden werde.« Liv sah ihn fragend an. »Was gibt es denn?«
Lenz machte eine Handbewegung Richtung See. In knapp hundert Meter Entfernung hatten vier Boote Anker geworfen. Zwischen ihnen wateten Personen in weißen Overalls im hüfthohen Wasser. »Bisher nur einen Notruf. Die Leitstelle in Fürstenfeldbruck hat den Anruf um zehn Uhr achtundzwanzig entgegengenommen. Ein Mitglied der Wettfahrtleitung einer Regatta hat Knochen gemeldet. Was genau gemeint sein könnte, wissen wir noch nicht. Die Zeugin beharrt aber darauf, dass es sich um menschliche Überreste handelt.«
»So?« Liv hob die Augenbrauen. »Wie begründet sie das?«
»Sie hat beobachtet, wie ein Regattateilnehmer abtrieb, vor dem Seeholz stoppte, und sich mit ihrem eigenen Boot genähert. Dabei hat sie ihrer Meinung nach Knochen gesehen. Menschliche Knochen.«
»Aha.«
War sie so cool? Oder tat sie nur so? Lenz warf Liv einen prüfenden Blick zu. Er hatte ihren Lebenslauf und ihre Zeugnisse studiert. Sie war die Beste ihres Jahrgangs, hatte hervorragende Ergebnisse vorzuweisen. Aber Papier war ja bekanntlich geduldig.
»Dass jemand im See ums Leben kommt, ist nicht besonders ungewöhnlich«, meldete Franz sich in aufgeräumtem Ton zu Wort.
Lenz krauste die Stirn. Eben noch ein maulfauler Mufflon, jetzt eloquent bei der Sache? Woher kam der plötzliche Stimmungswandel?
»Korrekt«, unterbrach Liv seine Gedanken. »Im letzten Jahr sind bei Badeunfällen in Deutschland über hundertdreißig Menschen gestorben, die meisten in Seen.«
Respekt, dachte Lenz, die ist auf Zack. »Am Ammersee haben wir – was meinst du, Franz? – so drei bis vier im Jahr.«
»Stimmt.« Franz nickte und strahlte die neue Kollegin an.
»Was ist hier die häufigste Todesursache?«, fragte Liv in Lenz’ Richtung.
Bevor er den Mund öffnen konnte, wedelte Franz seine Rechte nonchalant durch die Luft. »Es ist ganz unterschiedlich und doch immer das Gleiche. Einige überschätzen sich und ihre Fähigkeiten, egal, ob sie segeln, rudern oder schwimmen, und ertrinken dabei. Oder sie unterschätzen das Wetter, das schnell mal umschlagen kann, und ertrinken ebenfalls. Dazu kommen Hitzschläge mit Ertrinken, Herzinfarkte mit und ohne Ertrinken oder auch Unfälle mit Ertrinken, wenn Boote sich rammen oder ein Segler über Bord geht. Die wahre Pest sind diese Paddelfritzen.«
»Ich denke, du meinst SUPs.« Liv schenkte ihm einen kühlen Blick.
»Exakt. Die Typen sind vollkommen naiv, haben nicht die blasseste Ahnung, wissen nichts über den See, das Wetter, Entfernungen oder Verkehrsregeln auf dem Wasser. Manche können noch nicht mal schwimmen. Die fallen von ihrem aufblasbaren Trumm und versinken wie ein Stein. Allein von denen sind im letzten Jahr zwei ertrunken.«
Liv nickte knapp. »Bei uns auch. Auf der Alster.«
Lenz kniff die Augen zusammen. Sollten das Sätze sein? Wo waren die Verben abgeblieben? Sprach man heutzutage so? Oder war er der Einzige, den das nervte?
»Und wenn jemand ertrinkt, besteht durchaus die Möglichkeit, dass er nicht gefunden wird.«
»Richtig.« Erneutes Nicken. »Die Leiche sinkt auf den Grund, würde theoretisch durch die entstehenden Gase wieder an die Oberfläche steigen. Muss aber nicht sein, wenn sie sich irgendwo verhakt. Und/oder Tierfraß.«
Und/oder Tierfraß? Lenz sog Luft durch die Nase ein. War das hanseatisch? »Stichwort verhaken. Die Seglerin, eine, Moment«, er sah auf seine Notizen, »Frau Dr. Gesa Schröder, hat angegeben, dass der gekenterte Regattateilnehmer hängen geblieben ist. Mit seinen, wie heißt das, Tauen?«
»Tampen. Schoten.« Liv sah ihm gerade in die Augen.
»Auch das. Meinetwegen. Der ist also gekentert, abgetrieben und hat sich mit seinen, äh, Tampen in dem Skelett verheddert.«
Franz schüttelte den Kopf. »Im Skelett? Wie soll ich mir das vorstellen? Und das ist sicher von einem Menschen? Und nicht von einem Tier?«
»Wie kommst du dadrauf?«
»Na ja, damit es sich um menschliche Überreste handeln kann, muss uns zunächst einmal ein Mensch fehlen. Und soweit ich weiß, geht uns doch in den letzten Jahren niemand ab. Selbst besagte Unfallopfer im See haben wir, beziehungsweise die Kollegen von der Wasserwacht, doch alle wieder rausgefischt. Und von einer Vermisstenmeldung wüsste ich auch nichts.«
Liv betrachtete ihn wortlos.
»Es kann doch auch irgendein Viech gewesen sein«, legte Franz eilig nach, »das im See verreckt ist. Eine Kuh, die abgehauen ist. Ein Pferd. Hier draußen im Seeholz findet das doch nie wieder zurück.«
Lenz verdrehte innerlich die Augen. Was sollte das Getue? Franz machte doch sonst nicht so eine Welle. »Nein. Unabhängig von der Frage, wieso ein Tier im See versterben sollte, ist der Segler, der gekentert ist, im Übrigen unter Schock steht und vom Kriseninterventionsteam betreut werden muss, Fachdienstsanitäter. Der weiß, was er gesehen hat. Und die andere Zeugin, die den Vorfall gemeldet hat, bestätigt seine Aussage.«
»Okay. Wenn es sich wirklich um menschliche Überreste handelt …« Franz stopfte die Hände in die Taschen seiner Leinenhose.
»Ja, offensichtlich.«
»Dann ist der aber schon lang im Wasser. Sehr lange. Ich frage mich: Warum erst jetzt?«
Gingen allen bei dem Wetter die Verben aus? Verdorrten sie im heißen Wüstenwind? »Ich nehme jetzt einfach mal an, dass ich deine Frage dahin gehend ergänzen muss, warum der Leichnam erst heute gefunden wurde und nicht schon früher?«
»Berechtigte Frage.« Liv sah Lenz ausdruckslos an.
Was?, dachte Lenz. Meine ursprüngliche Idee oder mein Nachhaken? »So einen niedrigen Wasserstand hatten wir noch nie.«
Liv sah ungerührt von ihm zu Franz.
»Beziehungsweise sind die Pegel ansonsten deutlich höher. Dieses Jahr ist es sehr heiß«, beeilte sich dieser hinterherzuschieben. »Der Ammersee hat nur einen großen Zulauf, die Ammer, im Süden. In den Bergen regnet es wenig, von dort kommt wenig Wasser.«
»Wenig?« Liv hob eine Augenbraue.
Wie Carola, dachte Lenz. Exakt wie sie. Scheint ein norddeutsches Phänomen zu sein. »Fast gar nichts. Die Ammer hat diesen Sommer ihren historischen Tiefststand erreicht. Im Norden fließt die Amper ab. Es gibt zwar eine Auslaufsperre, aber es verdunstet auch noch viel …«
»So.«
Sie machte ihn wahnsinnig. »Was ich sagen will.« Lenz räusperte sich. »Es ist heuer wenig Wasser im See. Sehr wenig. Im Norden, wo der See ausläuft, hat die Schifffahrt ihren Dienst bereits eingestellt. Die Dampferstege können nicht mehr angefahren werden, das Wasser ist zu flach.«
»Ja«, strahlte Franz, »und bei uns hier im Süden knubbelt sich jetzt alles.«
»Entschuldigung.«
Lenz wandte sich um. Eine zweite Blondine, braun gebrannt, in Shorts und Poloshirt, mit Basecap und Sonnenbrille, stand vor ihm und streckte ihre Hand aus.
»Schröder. Ich suche einen Herrn Meisinger?«
Warum sieht ihr Shirt deutlich zivilisierter aus als meins?, dachte Lenz. »Ja, das bin ich. Grüß Gott. Sie haben den Vorfall gemeldet?«
»Richtig. Ich bin eine der Tonnenlegerinnen bei unseren Vereinsregatten.« Sie sah auf den See hinaus. »Sehr schwierige Verhältnisse heute. Viel Wind, krasse Dreher, großes Feld, wenig Platz. Und dann kentert auch noch einer unserer Teilnehmer. Eigentlich ein erfahrener Segler.«
»Wo genau ist er gekentert?«
»Kurz nach der Luvtonne.« Sie fing Lenz’ fragenden Blick auf. »Wir sind im Norden vor Breitbrunn gestartet, nach Süden gekreuzt und hätten bei der Tonne – sehen Sie die orange Boje da draußen, ja, genau die –, da hätten die Teilnehmer runden sollen. Ungefähr fünfzig Meter dahinter hat er einen Sonnenschuss fabriziert und ist gekentert.«
»Sonnenwas?«
Sie grinste. »Segler-Sprech. Wir nennen das so, wenn das Boot unkontrolliert in den Wind dreht. In diesem Fall konnte die Crew den Gennaker nicht einholen und schoss einmal quer durchs Feld. Wir hatten Riesenglück, dass nicht noch mehr passiert ist.«
»Aha.« Liv nickte knapp.
»Weiter.« Das ist ansteckend, dachte Lenz.
»Ich kann nicht sagen, an was es gelegen hat, ob ihn eine Böe erwischt hat oder ein Problem mit dem Material vorlag. Oder ob er einen Fehler gemacht hat. Ich tippe mal auf alles zusammen. Normalerweise richtet die Crew ihr Boot sofort wieder auf, sie hat das aber nicht getan. Zum Glück gab es keine Kollision. Alle anderen konnten ausweichen. Bis wir bei ihm waren, war er abgetrieben worden. Bis zu der Stelle, wo …« Ihre Stimme erstarb.
»Sie meinen, dorthin, wo jetzt unsere Boote sind?« Lenz deutete auf den See hinaus, wo die vier Boote vor sich hin dümpelten.
»Exakt. Ziemlich unter Land.«
»Okay.«
»Wir sind mit unserem Boot auch dorthin. Und dann hab ich mir einen Spaß erlaubt.« Sie lief rot an.
»Ja?«
»Ich kenne die Jungs seit Jahren. So desorientiert habe ich die noch nie erlebt. Der Steuermann und sein Vorschoter hingen noch an der Reling, halb unterm Segel. Als wir ankamen, hat der Steuermann uns angebrüllt, wir sollen ihnen gefälligst helfen.« Ihre Gesichtshaut wurde eine Nuance dunkler. »Er hatte nicht realisiert, dass das Wasser da schon ganz flach war. Ich hab ihn ausgelacht und ihm zugerufen, er solle einfach mal die Füße runterlassen.«
»Aha.«
»Ja, genau. Und da ist er mitten reingetreten. Als er kapierte, in was er stand, hat er erst recht geschrien. Hätte ich auch.«
Liv nickte. Sie schienen sich zu verstehen. »Sonst noch etwas?«
»Nein, das war es eigentlich.«
»Okay, danke.« Lenz hob zum Abschied die Hand. Eines der Boote der Kriminaltechniker setzte sich in Richtung Ufer in Bewegung. »Hinterlassen Sie bitte bei meinen Kollegen vorne am Dampfersteg Ihre Kontaktdaten?«
Ein paar Meter entfernt kam das Boot zum Stehen. Der Kies knirschte. Der Bootsführer, ein uniformierter Kollege, winkte ihnen zu.
»Gut. Sollen wir?« Liv ging voraus und stieg ein, ohne sich noch einmal umzusehen.
Was war da los in Hamburg? Hoffentlich übernahm Beni nicht diese norddeutschen Marotten. Lenz kletterte vorsichtig Richtung Sitzbank und ließ sich nieder. Franz gab dem Boot einen Stoß und sprang hinterher.
Im Schneckentempo glitten sie auf den See hinaus. Lenz hob die Augenbrauen. Der Kollege schien die Frage zu spüren. »Die Kollegen von der Spurensicherung haben darum gebeten, Verwirbelungen zu vermeiden.«
Sanft glitten sie dahin. Lenz wandte sich um. Hier, direkt unter Land, machte das Ufer einen höchst traurigen Eindruck. Das Schilf war struppig und verdorrt, weit entfernt vom Saft und der Kraft des Frühjahrs. Direkt davor, wo früher der Ammersee gewesen war, erstreckte sich ein breiter Streifen aus schlammbedecktem, muffig riechendem Kies.
»Zumindest kriecht heuer keine Mücke aus dem Dreck. Denen ist es auch zu heiß«, ließ Franz sich vernehmen.
Keiner beachtete ihn. Jeder schien mit sich beschäftigt zu sein. Die Sonne brannte erbarmungslos auf sie herab. Von Süden fegte der Wind mit Sand gefüllte Böen über den See.
Zügig näherten sie sich der Gruppe, die sie vom Ufer aus gesehen hatten. In einem weißen Overall, bis zum Bauch im Wasser, Kamera um den Hals, stand eine dralle Mittfünfzigerin im See. Sie hob die Hand. »Kommen S’ nicht näher. Sie wirbeln mir alles auf.«
»Frau Dr. Otto, grüße Sie!«, rief Lenz der Gerichtsmedizinerin zu.
»Herr Meisinger. Herr Pollinger. Grüß Gott.« Sie wandte sich ab.
Lenz stutzte. Jetzt sind wir hier draußen, und sie zeigt uns die kalte Schulter? Was soll der Schmarrn? Muss ich sie jetzt auffordern, uns Bericht zu erstatten? »Können Sie schon was sagen?«
»Ungewöhnliche Auffindesituation.« Sie hob die Kamera ans Gesicht und drückte ab.
Da wäre ich jetzt nicht darauf gekommen, dachte Lenz. »Sie sagen es. Haben Sie noch etwas?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wenig. Wir haben abgewartet, bis wir halbwegs etwas sehen konnten, und haben Aufnahmen gemacht. Die Aussage der Zeugin kann ich aber bestätigen. Es handelt sich eindeutig um menschliche Überreste. Die wir jetzt nach und nach bergen.«
Franz warf ihm einen langen Blick zu.
Sie beachtete die Kommissare nicht. »Ein ziemliches Durcheinander, muss ich sagen. Vermutlich verursacht von den Seglern. Wir verschaffen uns gerade einen Überblick. Den Schädel haben wir eben erst gefunden.«
»Und?« Das mit der Kürze ist ansteckend, dachte Lenz.
»Wie gesagt, wir hatten etwas Mühe, ihn sicherzustellen. Der ersten Inaugenscheinnahme nach zu urteilen, ist bei dem Toten von Fremdverschulden auszugehen.«
»Dem?«, hakte Liv nach.
Die Otto schien mit ihrer Knappheit kein Problem zu haben. Das erste Mal sah sie auf, an Liv vorbei. »Sehr gut, ich sehe, Sie hören mir zu. Ja, der Größe und Form nach handelt es sich um einen Mann.«
»Todeszeitpunkt?«, fragte Liv.
Die Medizinerin ignorierte die Frage. »Näheres wird die Obduktion ergeben.«
Lenz unterdrückte ein Schnaufen. Ein bisschen mehr musste sie ihm schon geben. »Liebe Frau Dr. Otto, vor dem Hintergrund Ihrer wissenschaftlichen Expertise: Wie lange, meinen Sie, befand sich der Geschädigte im Wasser?«
»Herr Meisinger, Sie fragen nicht nach Wissenschaft. Sie wollen, dass ich spekuliere, und das mache ich nicht. Was ich aber sagen kann: Wir haben hier eine komplette Skelettierung, das deutet auf einen langen Zeitraum hin. Gleichzeitig befinden wir uns in relativer Ufernähe, also im vergleichsweise flachen und warmen Wasser. Hier gibt es ein spezielles Mikroklima, leben ganz bestimmte Tiere und Pflanzen. Wissen Sie, es gibt eine Reihe von Faktoren. Näheres …«
»… wird die Obduktion ergeben«, vollendete Lenz ihren Satz. Er hatte registriert, dass sie ihn nicht mit »Lieber Herr Meisinger« angesprochen hatte. »Sie sagten ›Fremdverschulden‹. Was können Sie über die Art der Verletzung sagen?«
»Der Schädel weist ein massives Trauma auf. Ich tippe, wenn ich mich ausnahmsweise unwissenschaftlich ausdrücken darf, eher auf etwas Brutales. Mehr kann ich nach …«
»… der Obduktion sagen. Bei normalen Verhältnissen ist es hier doch deutlich tiefer. Demnach ist es mehr als fraglich, ob Fund- und Tatort identisch sind.«
»Sie nehmen mir die Worte aus dem Mund«, sagte sie streng und hob die Kamera.
»Und Sie haben überhaupt keine Ansatzpunkte«, hakte Lenz nach, »über welchen Zeitraum wir hier sprechen? Nicht die kleinste Idee?«
»Sie wissen doch, dass ich solche Aussagen nicht treffe.«
»Liebe Frau Dr. Otto, weil ich es bin.«
»Wenn das so ist.« Errötete sie? »Lange, Jahrzehnte, mindestens zwei. Und da ist noch etwas.«
»Ja?«
»Unter dem Skelett befindet sich ein Fahrrad. Wir untersuchen das noch, aber ich gehe davon aus, dass das Opfer daran fixiert wurde.«
Fahrrad? Vor über zwei Jahrzehnten? Lenz dachte nach. Da gab es doch diesen ganz alten Fall …
Franz sah auf. »Also, bei Fahrrad klingelt was bei mir.«
Lenz nickte. »Bei mir auch. Leider.«
»Servus.« Seppi sah hinter seinem Bildschirm hervor. »Ist dein Föhn kaputt?«
Carola knallte die Tür des Wahlkreisbüros ins Schloss und fuhr sich über den Schädel. »Verdammt!«
»Was?«, rief Seppi alarmiert.
»Nichts. War nur schon schwimmen heute Morgen.«
»Haha.« Noch ein kurzer Blick. »Neues Luxusleben, was?«
Carola lächelte, schwieg und setzte sich an ihren Arbeitsplatz. Typisch Mann. Jetzt kam sie schon seit Wochen mit nassen Haaren ins Büro. Und heute fiel es ihm auf. Sie schüttelte den Kopf. Wenn Seppi wüsste, wie nahe er der Wahrheit war.
Ihre neue Heimstatt Riederau bot tatsächlich ungeahnte Annehmlichkeiten. Als sie die kleine Wohnung letztes Jahr ungesehen gemietet hatte, war ihr nicht bewusst gewesen, wie nah sie am Ufer lag. Sie hatte den See praktisch vor der Tür. Zweimal lang hinfallen, wie man in Schleswig-Holstein sagte. Und nicht nur das. Sondern gleich ein ganzes Strandbad mit dazu. Mit makelloser Liegewiese, herzlicher Wirtin, Kaffee den ganzen Tag – und einem Steg, der ihr das anstrengende Klettern über fürchterlich unangenehme Kiesel ersparte. Okay, ein echtes Luxusproblem, das nur Menschen hatten, die im steinigen Voralpenland wohnten. Zu denen sie – Gott sei Dank – wieder gehörte.
Berlin lag weit hinter ihr. Wenn sie heute daran zurückdachte, mit welcher Euphorie sie letztes Jahr in die Hauptstadt aufgebrochen war, konnte sie es immer noch nicht fassen. Sie hatte das Großstadtleben nicht mehr genießen können. Was zum einen daran lag, dass sie sich im harten Politikbetrieb des Reichstags wie eine Anfängerin vorgekommen war. Sie hatte mächtig Gas geben müssen, um wieder mithalten zu können. Zum anderen hatte sie sich nicht mehr zugehörig gefühlt. Wenn sie ehrlich war, hatte sie Heimweh gehabt. Zudem war es komplett sinnlos gewesen, ihr altes Leben zu verlassen. Denn all das, wovor sie aus Bayern weggelaufen war, holte sie in Berlin wieder ein. Aus dieser Perspektive war es gut gewesen, in die Hauptstadt gegangen zu sein, weil ihr klar geworden war, dass sie sich selbst ein paar Fragen stellen sollte. Und eigene Antworten finden musste. Wie zum Beispiel, wie sie wirklich leben wollte. Was ihr wichtig war. Ihr – und nur ihr.
Eine Sache wusste sie sicher: Sie wollte am See leben. Am Ammersee. An seinen steinigen Ufern fand sie Ruhe. In seinen Wassern konnte sie loslassen. Und dem Spiel aus Licht, Wellen und Wolken konnte sie stundenlang zuschauen.
Vielleicht gab es noch andere Orte auf diesem Planeten, die eine ähnliche Wirkung auf sie hatten. Sie wusste es nicht. Und es war ihr auch egal. Ihr reichte es zu wissen, wo sie diesen einen – ihren – Platz gefunden hatte.
Darüber hinaus hatte der See noch ein paar andere Aspekte zu bieten, als nur ihre Seele zu streicheln. Bald, hoffte sie, würde sie ein vollwertiges Mitglied der Frühschwimmer sein. So nannte sich eine Handvoll Menschen, meist älteren Semesters, die sich täglich zwischen sechs und sieben im Strandbad trafen, um ihren Tag im See zu beginnen. Wie sie derweil herausgefunden hatte, zu jeder Jahreszeit. Und sie gehörte inzwischen irgendwie dazu. Mittlerweile kannte sie ein paar Namen, es gab den Loisl und die Klara, eine Agnes und einen Quirin. Und noch ein paar, die ab und an kamen. Aber die vier waren immer da. Die Kernmannschaft, sozusagen.
Nicht, dass sie untereinander viel Aufwand betrieben. Man sagte »Servus« oder »Griaß di«, zog sich die Kleider vom Leib, stieg ins Wasser, schwamm, kam zurück, sagte »Schee war’s«, »Heut ein weng wärmer als gestern, gell?« oder auch nichts, trocknete sich ab, murmelte ein »Pfiats euch« und ging. Manchmal blieb der eine oder andere auch auf der Bank am Ufer hocken und starrte wortlos aufs Wasser. Aber die meisten verschwanden so zügig, wie sie gekommen waren.
Sie selbst spurtete nach dem Bad direkt zum Bahnhof auf die andere Seite der Gleise, lud ihr Rad in den Waggon und fuhr mit dem weiß-blau-gelben Bähnchen nach Weilheim. Sie fand sich irre ökologisch. Ihr Auto hatte sie schon letztes Jahr verkauft und sich stattdessen beim Carsharing angemeldet. Als sie noch auf dem Secklerhof gewohnt hatte, war das nicht möglich gewesen. Da draußen gab es keinen ÖPNV. Aber in Riederau? An ihr würde es jedenfalls nicht mehr liegen, wenn diese Welt unterging. Sie war mächtig stolz auf sich.
Während sie darauf wartete, dass ihr Rechner hochfuhr, wanderten ihre Gedanken zurück an den See. Wie unfassbar schön es dort jeden Morgen war. Und so still. Die Thermik, die tagtäglich für ein bisschen Wind auf dem Wasser sorgte, hatte um diese Uhrzeit noch nicht eingesetzt. Die Oberfläche war glatt gebügelt wie ein frisch bezogenes Bett. Blesshühner und Kormorane schaukelten zwischen den Booten, die an ihren Bojen vertäut darauf harrten, über den See zu gleiten. Der Kirchturm von Andechs winkte weiß von der Ostseite zu ihr herüber. Im Süden begrenzten blau die Alpen den Horizont, mal ferner, mal im Föhn zum Greifen nah.
Bloß, dass diese Idylle in den letzten Wochen Risse bekommen hatte. Seit sie nicht mehr wie ein Ferkel quiekte, wenn sie ihren großen Zeh ins Wasser tunkte, war sie jeden Morgen schwimmen gegangen. Im Frühjahr ganz trunken von den blühenden Bäumen und den Wolkenschiffen über dem See, im Frühsommer erleichtert, etwas Erfrischung zu bekommen, bevor sie in den Tag startete. Aber jetzt? Im Juli? Seit Wochen knallte die Sonne vom wolkenlosen Himmel herab. Jeden einzelnen Tag. Mittags stiegen die Temperaturen auf mindestens dreißig Grad. Der See war inzwischen fünfundzwanzig Grad warm. Langsam verdorrte ringsum die Natur. Und Regen war nicht in Sicht.
Jeder, den sie traf, stöhnte lang und breit über die Hitze. Es gab kein anderes Gesprächsthema mehr. Ein Rekord jagte den nächsten, und im Dorf war man sich einig, dass es schlimmer nicht mehr werden könne. Doch dann drehte der Wind auf Süd und frischte auf. Der Himmel wurde milchig gelb. Apokalyptisch. Was kam noch auf sie zu? »Wann genau ist der Termin mit Lukas Drechsel?«
Ihr Kollege Sepp, mit dem sie seit etlichen Jahren die Geschicke des Weilheimer Abgeordnetenbüros lenkte, hatte sich hinter seinen Bildschirm verzogen. »Um zehn.«
Hörte sie da einen Unterton? Sie wartete. Kam da noch etwas? Anscheinend nicht. »Okay?«
»Ja. Hat den Termin noch mal bestätigt.« Seppi schnaufte. »Leider.«
»Wieso leider?« Hatte sie doch recht gehabt mit ihrer Vermutung.
Seppi reckte seinen Hals. »Taugt mir nicht, der Typ.«
»Du musst ihn ja nicht heiraten.«
»Caro! Darum geht es doch gar nicht.« Ihr Kollege klang verärgert.
»Um was denn sonst?« Warum war er so empfindlich?
»Der Typ, das ist ein echter Schlausprecher. Ist nicht von hier, will uns aber erzählen, was wir zu tun und zu lassen haben. Kaum ist der im Gemeinderat, hat er schon alle gegen sich. Wirst schon sehen.«
»Jesus, Seppi, nur weil er ein paar unbequeme Wahrheiten ausspricht, bringt der doch nicht jeden gegen sich auf. Oder bist du schon mit ihm zusammengerumpelt?«
»Nein. Aber ich kenn Leute, die ihn bei Veranstaltungen erlebt haben. Und da wusste er immer alles besser.«
»Schon mal auf die Idee gekommen, dass er womöglich wirklich etwas weiß? Und andere nicht? Ich bin der Meinung, man kann immer etwas lernen. Wo kommt der eigentlich her?«
»Ist ein Industriemann. Physiker. Hat viel IT gemacht. Soviel ich weiß, bei Siemens. Ist aber pensioniert. Wohnt seit fünf Jahren in Dießen und mischt sich in alles ein.«
»Wie jetzt? Der Mann ist intelligent, gut ausgebildet, engagiert und kümmert sich um sein Dorf? Ist es das, was du ihm vorwirfst?«
Seppi gab ein paar Geräusche von sich.
»Was anderes: Ist das Material für die Bürgersprechstunde angekommen?«
»Nein«, gab Seppi von sich und verschanzte sich wieder hinter seinem Monitor.
Okay, dann red halt nicht mit mir. Sie wandte sich wieder den Aufgaben zu, die das über Nacht gut gefüllte E-Mail-Postfach ihres Arbeitgebers für sie bereithielt, als sie zusammenzuckte. Die Tür war aufgerissen worden, ihr Chef stürmte herein, einen Schwall heißer Luft hinter sich herziehend.
»Servus.« Er wuchtete seine Aktentasche auf das Sideboard. »Bin ich zu spät?«
Immer im Laufschritt, so wie Carola ihn kannte. Man konnte viel über Johannes Ludwig sagen, dass er manchmal kurz angebunden bis zur Unhöflichkeit war, dass er keine Grenzen akzeptierte, die andere ihm setzen wollten, dass er stur war – aber nicht, dass er nicht arbeitete. Und sich für Themen einsetzte, von denen andere ihre Finger ließen.
»Nein.« Carola stand auf. »Ich wollte gerade Kaffee …«
In Johannes’ blauen Augen blitzte es. »Caro«, er schob sie beiseite, »ich habe mir heute Morgen einen Vortrag meiner Frau über die partnerschaftliche Aufteilung von Hausarbeit anhören dürfen.« Er nahm eine Tasse aus dem Schrank. »Setz dich. Cappuccino?«
Bevor sie ihren Mund zum Protest öffnen konnte, wurde die Tür erneut geöffnet. Ein hochgewachsener, drahtiger Mann Anfang sechzig mit Nickelbrille, Karohemd, grauer Sommerhose und Socken in seinen Trekkingsandalen trat ein. »Servus!«
»Lukas«, begrüßte Johannes den Neuankömmling, »servus, komm rein und mach die Tür zu. Das sind Caro und Seppi, meine Mitarbeiter«, Pause, »innen.«
Seppi krauste die Stirn. Jeu, dachte Carola, jetzt gendert er auch noch. Seine Frau musste ihm ordentlich den Kopf gewaschen haben.
»Setz dich. Auch einen Cappuccino?«
»Nein, danke, lieber ein Wasser.«
Carola betrachtete den neu gewählten Dießener Gemeinderat. Er war eine der Überraschungen der letzten Kommunalwahl gewesen. Lukas Drechsel war mit »Dießen erneuern« an den Start gegangen, einer Liste, die sich mit Naturschutzthemen, unabhängig von der grünen Partei, positioniert hatte. Im Ergebnis war er mit der neuen Liste in den Gemeinderat eingezogen. Die Grünen hatten ihren Anteil nicht ausweiten können. Für einen Newcomer wie Drechsel ein Riesenerfolg. Gleichzeitig waren die etablierten Umweltschützer ziemlich sauer, weil die neue Gruppe ihrer Partei Stimmen gekostet hatte.
»Danke.« Lukas Drechsel nahm das Glas, das Johannes vor ihm abgestellt hatte, und trank einen tiefen Schluck. »Tut gut bei der Hitze.«
Ludwig gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. »Womit wir beim Thema wären, Lukas. Ist das noch Wetter, oder ist das schon Klima?«
»Die hohen Temperaturen? Für die Jahreszeit nichts Ungewöhnliches.« Der Gemeinderat stellte das leere Glas ab. »Heiß ist es bei uns öfter. Das ist Wetter. Aber die Dauer? Das ist Klima.«
»Aha«, sagte Seppi, eine Spur zu scharf. Er stand auf, nahm sich einen Stuhl und setzte sich rittlings darauf. »Warum?«
Falls Drechsel die Tonlage gehört hatte, ging er nicht darauf ein. Er sah ihn freundlich an. »Der Klimawandel hat dazu beigetragen, dass der Jetstream in der Stratosphäre ins Stocken gerät. Dadurch bleiben vor allem im Sommer Wetterlagen längere Zeit stabil. Ein typisches Phänomen ist eine Omegalage, bei der ein Hoch in Zentraleuropa von zwei Tiefdruckgebieten an den Rändern flankiert wird. Das führt dazu, dass es in der Mitte Europas lang andauernd und gleichbleibend heiß ist, während es an den Rändern zu Unwettern kommt. Also, das, was wir haben, ist Wetter, die Dauer ist Klima. So im Groben.« Lukas lächelte Seppi freundlich über den Tisch an. »Finde ich übrigens gut, dass du fragst.«
Carola grinste. Sie kannte ihren Kollegen. Wie der gerade dreinschaute, machte ihm das Lob des Gemeinderates keine Freude.
»So«, übernahm Ludwig das Gespräch, »dann hätten wir das auch geklärt. Lass uns zu dem kommen, weshalb du heute hier bist.«
Drechsel sah ihn an. »Die Klausurtagung? Toll, dass du beziehungsweise ihr euch der Sache annehmt. Wenn wir es mit eurer Hilfe gewuppt kriegen, die Veranstaltung nächste Woche auf die Beine zu stellen, wäre mir sehr geholfen.«
»Wieso, wenn ich fragen darf? Beziehungsweise bei was?«
Carola musterte ihn. Was hatte Seppi gegen den Mann? Auf sie machte er einen angenehmen, bedachten, um nicht zu sagen klugen Eindruck.
Drechsel betrachtete sein halb leeres Wasserglas. »Wisst ihr, ich hab das Gefühl, einen Crashkurs ›Regeln der Demokratie‹ zu absolvieren. Und die sind knüppelhart.«
»Warum? Vielleicht kann ich als altgedienter MdB noch etwas von dir lernen.« Ludwig grinste.
»Recht zu haben ist nicht gleichbedeutend mit recht bekommen.«
In Ludwigs Augen blitzte es. »Da hast du recht.« Er lachte wiehernd. »Verzeih mir das Wortspiel. Und wie bist du darauf gekommen?«
»Ich habe meine politischen Ziele für die Gemeinde in Anträge umformuliert und in den Gemeinderat eingebracht. Wurden alle abgelehnt.«
Ludwig zog die Augenbrauen zusammen. »Alle, ausnahmslos? Was war denn so schlimm, dass die anderen nicht mitgehen konnten?«
Drechsel hob fragend die Schultern. »Das ist es ja, was ich nicht verstehe. Für mich ist es überdeutlich, wo die Probleme liegen und was getan werden muss.« Er zählte mit den Fingern auf: »Forcierung der Wärmeplanung für die Gemeinde, Konzeption eines Seethermie-Kraftwerks mit unseren Nachbargemeinden, Belegung aller gemeindlichen Dächer mit Photovoltaik, ein gemeindliches Förderprogramm für Photovoltaik auf Privatdächern, Gründung einer Bürgerenergiegenossenschaft, um diese Vorhaben gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern zu finanzieren und sie am Erfolg partizipieren zu lassen, Umstellung aller Gemeindefahrzeuge auf Elektromobilität, ein veganer und ein Veggie-Day in den gemeindlichen Kitas. Und der wichtigste Antrag: Planungsstopp für das neue Wohncenter. Das war’s schon.«
Das war’s schon? »Und diese Anträge hast du alle gestellt?« Carola dachte nach. So lange lief die Legislatur doch noch gar nicht.
»Na klar. In den ersten beiden Sitzungen.«
»Wow.« Langsam verstand Carola, wovon Seppi sprach.
»Lukas«, schaltete Ludwig sich ein, »ich sag das jetzt sehr ungern, aber du tust dir damit keinen Gefallen. Und der gerechten Sache auch nicht.«
»Das habe ich gemerkt. Aber warum nicht?«
Carola sah ihn an. Das konnte doch nicht wahr sein. Da war jemand so alt und so gebildet, ohne über die grundlegenden Regeln menschlichen Zusammenlebens Bescheid zu wissen.
»Caro«, ihr Chef sah sie an, »ich sehe, dass du eine Meinung dazu hast. Willst du aus Sicht einer Büroleiterin eines Bundestagsabgeordneten etwas dazu sagen?«