Der Ammersee-Clan - Inga Persson - E-Book

Der Ammersee-Clan E-Book

Inga Persson

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Beschreibung

Der Ammersee im Drogenrausch – kernig, stimmungsvoll und mit Humor erzählt. Ein Jugendlicher liegt tot auf dem Grund des Ammersees. War es ein tragischer Unfall? Oder musste er sterben, weil seine Mutter als Clanchefin einer Drogenfarm dem Münchner Kartell in die Quere gekommen war? Kommissar Lenz Meisinger dringt immer weiter in die Abgründe der oberbayerischen Idylle vor. Seine Freundin Carola kann ihm dabei diesmal nicht zur Seite stehen, weil sie in Berlin einem groß angelegten Polit-Komplott auf die Spur kommt. Laufen am Ende alle Fäden zusammen?

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Inga Persson hat Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie studiert, 1994 promovierte sie. Anschließend schrieb sie jahrelang im Auftrag anderer: erst für Bundestagsabgeordnete, später für ihre Agenturkunden. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn am westlichen Ammersee und betreibt dort die traditionsreiche Pension »Schatzbergalm«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: photocase.de/Sanjarok

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-045-7

Oberbayern Krimi

Originalausgabe

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Für Sylvia

1

Die Tasche!

Vor ihr senkten sich ebenso unerbittlich wie konsequent alle Türen des ICE gleichzeitig mit einem sattdunklen »Wo-opp« in die ovalen Öffnungen des weiß-roten Zuges. Es pfiff in ihren Ohren, ihr Herz tat einen Satz, und mit ihm sprang sie einen Schritt nach vorn. Doch der stählerne Lindwurm fuhr wie an einer Schnur gezogen, erst leise, dann immer lauter surrend an ihr vorbei aus dem Halbdunkel des Kopfbahnhofs hinaus in die helle Mittagssonne am Ende der Halle. Hilflos riss sie die Hände empor. Der Zug hatte nur noch eine Lücke hinterlassen, graubraun, nach Abrieb und Exkrementen stinkend.

Wo war die Tasche? Eben hatte sie sie doch noch gehabt. Sie rang mit sich und der plötzlichen Gewissheit: dass sie noch im Zug stand. Aus dem sie gerade ausgestiegen war. Von dem sie nur noch seine Umrisse im Gegenlicht erkennen konnte.

Hektisch sah sie sich um. Inmitten der anderen Reisenden auf dem Bahnsteig stand ihr kleiner Rollkoffer und glotzte sie an. Aber die Tasche, diese eine wichtige Tasche, auf die sie aufpassen musste, die stand nicht daneben. Das konnte doch nicht wahr sein. Eine Panikwelle brach über ihr. Aus der Ferne erklang ein Geräusch. Neu. Irgendwie bekannt. Pulsierend, rhythmisch. Wahnsinnig nervend.

Ihr war schlecht. Wo hatte sie die Tasche das letzte Mal gesehen? Sie hatte sie mit in den Zug genommen. Da war sie sich sicher. In den Zug, der sie von München nach Berlin bringen sollte. Sie neben ihren Füßen abgestellt. Einem sicheren Ort. Hatte sie zumindest gedacht. Was brummte bloß so laut?

Die gesichtslose Menge aus Fahrgästen, die eben noch mit ihr in dem Zug gesessen war, von dem sie inzwischen nicht einmal mehr die Rücklichter sah, setzte sich wie auf einen geheimen Befehl hin in Bewegung. Ging in die gegensätzliche Richtung, die der Zug genommen hatte, den Bahnsteig hinunter. Das Geräusch wurde lauter und lauter.

Was hatte sie bloß getan? Die Tasche stehen gelassen? Wirklich? Wie konnte sie nur so vergesslich sein? Diesen Job, diesen einen Job, den sie hatte, komplett vor die Wand fahren? Ein Wimmern formte sich in ihrer Kehle. Lautlos rang sie nach Luft. Eine Katastrophe, sie hatte versprochen, auf die Tasche aufzupassen, sie nach Berlin zu bringen. Das war doch so wichtig! Sie hatte sie im Zug gelassen. Was für eine Versagerin sie doch war.

Und wie erschöpft. Jede Zelle ihres Körpers fühlte sich leer an. Vollkommen ausgelaugt. Aber es half nichts. Sie musste jetzt gehen, sich bewegen, dorthin, wo sie jemanden nach der Tasche fragen konnte. Aufgesogen von der Gruppe ließ sie sich mitziehen, setzte einen Schritt vor den anderen, schloss sich Menschen an, mit denen sie nichts gemeinsam hatte, außer aus demselben Zug ausgestiegen zu sein. Sie waren überall, dicht an dicht schoben sie über den Bahnsteig. Und dann dieses Geräusch. Was war das bloß? So ausdauernd und so penetrant?

Ein Gedanke flog auf sie zu. Irgendwie … kannte sie das alles doch schon. Urplötzlich wie das Umlegen eines Lichtschalters in einem dunklen Raum war ihr sonnenklar: Sie hatte den Zug, den Bahnsteig und die Leute schon einmal gesehen. Sie hatte schon mal getan, was sie gerade tat. Ganz bestimmt sogar. Und nicht nur einmal. Aber wieso? Das Brummen wurde ohrenbetäubend.

Moment.

Klang so nicht ihr Telefon? Wenn es auf Vibration gestellt war? Ja, klar, das war es. Sie hatte es vor dem Schlafengehen auf ihren Nachttisch gelegt. Jemand rief sie an. Mit einem Ruck trat sie vom Bahnsteig in ihr Zimmer, öffnete die Augen, tastete nach dem umherrobbenden Gerät und drückte auf den grünen Hörer.

»Ja«, ächzte sie und stützte sich mit dem Ellenbogen auf.

»Caro, ich bin’s, der Seppi. Weck ich dich etwa?«

Mühsam kniff sie die Augen zusammen und fokussierte ihren Blick. Ihr Digitalwecker zeigte vier rote Ziffern und einen Doppelpunkt. »02:46«. »Klar weckst du mich. Aber passt schon, hab eh ganz grausam geträumt.« Sie fuhr sich durch die Haare. »Was ist denn los? Warum rufst du an?« Ermattet ließ sie sich wieder in ihr Kissen fallen. Mannomann. Schon wieder dieser ätzende Traum. Wie oft hatte sie ihn nun schon geträumt? Sie konnte sich nicht erinnern.

»Du, ich bräucht dich, bitte. Kannst du mich abholen? Ja?« Seppis Stimme klang flehentlich.

Sie riss die Augen auf. »Sag einmal, spinnst du? Abholen? Wieso? Wo steckst du überhaupt?« Auf was für Ideen kam ihr Kollege denn noch? Mitten in der Nacht anzurufen war eine Sache. Sie um drei Uhr in der Früh aus ihrem warmen Bett zu holen aber eine ganz andere. Vor allem, wenn man bedachte, dass er sie gestern im Büro noch ordentlich von der Seite angeredet hatte. Jetzt mal ehrlich. Gab es nicht genug Schwererziehbare in seinem Freundeskreis, die diese Dienste für ihn erledigen konnten?

»In Dießen auf der Wache. Meine Kumpels trauen sich nicht her. Wär super, wenn du mich holen könntest. Würd mir eine Menge Ärger ersparen.«

Seppi? Bei der Polizei? Carola atmete aus und verschluckte eine Oberlehrerinnen-Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag. Das half jetzt auch nicht weiter. »Ist schon recht. Ich bin in fünfzehn Minuten bei dir.«

Aus Seppis Stimme war das Strahlen zu hören, das sich auf seinem Gesicht ausgebreitet haben musste. »Merci! Bist einfach die Beste. Hast was gut bei mir.«

Aber so was von. Sie drückte auf den roten Hörer, schwang die Beine aus dem Bett und angelte nach ihrer Jeans.

Auf Zehenspitzen, ihre Schuhe in der Hand, tappte sie ein paar Minuten später die breite Stiege nach unten. Vorsichtig öffnete sie die schwere Haustür des Secklerhofs, der seit vier Jahren ihre bayerische Heimat war, und trat ins Freie. Die Kühle der Nacht umfing sie. Es war stockdunkel und still. So still. Sie horchte für einen Moment. Nichts. Nur Ruhe. Es faszinierte sie immer wieder.

Schnell schlüpfte sie in ihre Schuhe und zog die Tür vorsichtig ins Schloss. Dass sie keinen Schlüssel eingesteckt hatte, empfand sie als kleines Bekenntnis, in Bayern angekommen zu sein. Hier schloss niemand hinter sich ab. Leise knirschte der Kies unter ihren Füßen. Die Oktobernacht roch nach feuchter Erde, Laub und Gras.

Sie ließ ihr Auto den Berg herunterrollen. Was in drei Teufels Namen hatte ihr Kollege nur schon wieder angestellt? Sie hatte Josef Hinterstraßer, seines Zeichens Sportstudent und langjähriger Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Johannes Ludwig, quasi geerbt, als sie vor vier Jahren den Dienst im Wahlkreisbüro in Weilheim angetreten hatte. Seppi hatte ihr den Weg geebnet, ihr als waschechter Schleswig-Holsteinerin und Berliner Reichstagspflanze die Bayern erklärt und die bajuwarische Lebensart schmackhaft gemacht. Inzwischen waren sie ein verdammt gutes Team. Und irgendwie auch Freunde.

Dass Seppi aber nicht nur ein loyaler Abgeordnetenmitarbeiter und Student, sondern auch ein echter Schlawiner war, merkte sie immer dann, wenn er montags mit einem blauen Auge oder der einen oder anderen Schramme am Kopf wieder im Büro auftauchte. Sie war sich sicher, dass er sich diese Blessuren nicht beim Eishakeln oder Fußballspielen holte. Die blutigen Riefen auf seinen Fingerknöcheln sprachen eine andere Sprache.

Aber Fragen hatte sie ihm nie gestellt. Mind your own business, hatte sie sich gedacht. Schließlich kommentierte Seppi ja auch nicht ihr Privatleben, das sich überwiegend um Laurentius Meisinger drehte, den ältesten Sohn ihrer Vermieterin Resi Meisinger. Laurentius oder Lenz, wie ihn alle nannten, war Kommissar in Weilheim und der Mann an ihrer Seite. Aber eben auch nur überwiegend. Wo kam sie denn hin, wenn alle immer alles wussten? Da, wo sie herkam, sagte man: Wer viel fragt, kriegt viel Antwort. Und sie fragte nicht und wollte keine Antwort geben.

Aber Seppi und die Polizei? Davon hatte sie in all den Jahren noch nichts gehört. Was um Himmels willen hat er bloß verbockt, dachte sie, als sie die Stufen zur Dießener Polizeiwache hinaufstieg und den Klingelknopf drückte.

Aus dem Lautsprecher neben der Tür kam unverständliches Kauderwelsch. »Grüß Gott, Carola Witt. Ich komme wegen Josef Hinterstraßer«, sagte sie und drückte die Tür auf.

In einem kleinen Vorraum saß ihr Kollege auf einer schmalen Bank. Auf seinem T-Shirt prangte eine Spielkarte. Er hob grüßend das Kinn und schaute anschließend wieder sparsam geradeaus.

Ui, dachte Carola, wie sieht der denn aus? Sie murmelte ein »Grüß Gott«.

»Servus«, sagte die erstaunlich junge und ebenso blonde Polizistin hinter dem Tresen. »Wie war der Name?«

»Witt«, antwortete Carola und deutete mit dem Daumen auf Seppi. »Herr Hinterstraßer hat mich angerufen. Kann ich ihn jetzt mitnehmen?«

»Ja«, beschied die Blondine streng, »das dürfen Sie. Ihr Freund sollte sich in Zukunft aber überlegen, wo und mit wem er sich nachts trifft.«

Seppi hatte seinen Mund für eine Antwort schon geöffnet, klappte ihn aber wieder zu, als er Carolas Blick auffing.

»Das wird er«, sagte sie. »Seppi, kommst du bitte.« Grußlos schob sie ihren Kollegen vor sich zur Tür hinaus.

»Caro –«

»Sag jetzt nichts«, unterbrach sie ihn. »Ich brauch einen Kaffee.« Sie sah auf die Uhr. Drei Uhr dreißig. Jesus. »Sag mal, was ist das denn für ein bescheuertes T-Shirt?«

»Schafkopf.« Er strich sich über den Bauch. »Gras-Ass.«

»What?« Sie zuckte mit den Schultern. »Ist jetzt eh schon alles wurscht. Wir fahren heim. Dann erzählst du mir die Story. Von Anfang an.«

Schweigend fuhren sie erst durch die menschenleeren Straßen Dießens, dann durch die Felder zum Secklerhof hinaus. Behutsam öffnete Carola die Haustür, nahm Seppi am Ärmel und zog ihn mit sich in die große Küche.

»Hock dich hin«, befahl sie und wies auf die lange Eckbank unter der Fensterreihe. »Du auch einen Kaffee?«

»Gerne«, antwortete Seppi und setzte sich gehorsam.

Carola füllte Wasser in die Maschine und schaltete sie an. Mit zwei Handgriffen nahm sie getöpferte Becher aus dem Vitrinenschrank, stellte Milch und Zucker auf den schweren gescheuerten Eichentisch. Minuten später erfüllte Kaffeeduft den Raum.

»So«, sagte sie und setzte sich auf den Platz übereck. »Jetzt schieß mal los. Was verschafft mir die Ehre, dich um diese Uhrzeit von der Wache abholen zu dürfen?«

»Danke noch mal. Das war echt voll nett …« Seppi lächelte schief.

Carola schüttelte abwehrend den Kopf. »Lass gut sein, ich weiß, ich bin ein echter Menschenfreund. Obwohl du gestern noch etwas anderes behauptet hast. Also. Spuck’s aus. Was ist los?«

Seppi strich mit den Händen eine imaginäre Tischdecke vor sich glatt. »Also, das war so, ich –«

»Sag mal, wurdest du eigentlich erkennungsdienstlich behandelt?«, unterbrach Carola ihn erneut.

Seppi schlug die Augen nieder. Seine Wangen färbten sich rosa. »Ja«, antwortete er leise.

Carola beugte sich vor. »Alkoholtest?«

Nicken.

Sie kniff die Augen zusammen. »Jetzt sag bloß auch noch Drogentest.«

»Caro, es ist nicht so, wie du denkst.« Wie von einem Stromschlag getroffen, zuckte er zusammen, als sie neben ihm ihre flache Hand auf den Tisch schlug.

»Wie denn sonst? Sag mal, wie blöd bist du eigentlich? Was du privat in deinen vier Wänden nimmst, ist mir vollkommen egal. Aber dass du mit dem Dreck in die Öffentlichkeit gehst und unsere Arbeit gefährdest, finde ich echt nicht mehr witzig.«

Seppi starrte in die Tasse vor sich. »Darf ich …«

»Nein, darfst du nicht«, fuhr Carola ihn an. »Dass du deinen Job verlierst, wenn du verknackt wirst, ist dir schon bewusst, oder? Ist mir eigentlich auch wurscht. Aber dass der Scheiß auf unseren Chef zurückfallen wird, wenn rauskommt, dass du Drogen nimmst, finde ich unter aller Sau.«

Seppi sah auf. »Bist du jetzt fertig?«

Carola verschränkte die Arme vor der Brust. »Ja, bin ich«, schnappte sie.

»Okay.« Seppi stand auf. »Es tut mir ja wirklich leid, dass ich dich und uns in diesen Mist mit reinziehe. Aber ich hab mit Drogen nichts zu tun.« Er schlenkerte mit seinen langen Armen durch die Luft. »Wirklich! Das musst du mir glauben!«

Carola verzog skeptisch die Stirn. »Okay. Ich sag mal: In dubio pro reo. Auch wenn’s mir schwerfällt. Aber wenn sie dich nicht wegen Drogen hopsgenommen haben, warum denn sonst?«

»Lass mich bitte erklären.« Seppi ging mit drei Schritten Richtung Waschbecken und drehte um. »Ja, ich war gestern Nacht in Utting. Am See. Im Summerpark am Dampfersteg. Da bin ich in letzter Zeit öfter.«

»Aha. Und? Was ist so spannend da? Anders gefragt: Wieso waren die Bullen auch da?«

»Na ja, eine Menge Leute gehen halt zum Chillen da runter. Wo sollen sie sonst auch hin? Man kann sich ja sonst nirgendwo treffen.«

»Mir kommen gleich die Tränen.« Spott troff aus Carolas Stimme. »Das kannst du echt deiner Großmutter erzählen, dass die nur zum Chillen da hingehen.«

»Mein Gott, da wird halt geraucht und auch ein bisserl gedealt. Aber nur Gras und so.« Seppi machte eine Kehrtwende vor der Küchentür.

»Na großartig.« Carola hatte ihren Kopf in die Hände gestützt. Erst ein mieser Traum und jetzt auch noch das. Was hatte sie bloß verbrochen? »Und was machst du dann so da, nachts in Utting am See? Wenn du nicht rauchst und nicht dealst?«

»Was die anderen auch machen. Chillen halt.« Seppi stiefelte Richtung Waschbecken.

Carola lachte auf. »Nicht dein Ernst. Und das soll dir jemand abkaufen? Kein Wunder, dass dich die Bullen mitgenommen haben. Wieso eigentlich? Wenn du nichts geraucht hast?«

Seppi warf die Arme in die Luft. »Der Typ neben mir aber schon.«

Sie warf ihm einen langen Blick zu.

»Caro, du kannst mir glauben! Ich saß da nur so rum. Und dann kamen halt die Bullen und haben alle Leute eingesammelt. Den Typ neben mir und mich eben auch.«

»Wie jetzt? Und das war alles? Was hast du sonst gemacht?« Sie unterdrückte den Impuls, sich an die Stirn zu tippen.

»Nix. Ich hab blöd beim Fenster, nein, auf den See rausgeschaut. Es war eh ein Scheißabend.« Wieder drehte er sich vor der Tür um.

»Wieso?«

»Weil’s nicht so entspannt war wie sonst. Es waren neue Leute da. Die haben totalen Stress gemacht.«

Carola schüttelte den Kopf. Gleich würde ihr der Geduldsfaden reißen. »Wie ›Stress‹?«

»Die sind mit fetten Autos vorgefahren. Mit so goldenen BMWs und haben voll aggressiv gedealt. Haben ihr Zeug den Leuten regelrecht aufgedrängt. Aber keiner wollte was von ihnen kaufen.«

Sie verdrehte die Augen. Was sollten diese Kifferstorys? »Das war’s? Mehr war nicht?«

Seppi stiefelte an ihr vorbei. »Sag ich doch. Als die Bullen angerückt sind, waren die schneller weg, als du gucken kannst.«

Carola beugte sich über den Tisch. »Josef Hinterstraßer. Das glaubt dir doch kein Mensch. Ich nicht und die Polizei erst recht nicht. Und du dir doch selbst auch nicht!«

»Mein Gott, lass mich doch einfach!« Seppi hatte noch einen Zahn zwischen Tür und Waschbecken zugelegt.

Carola rieb sich über das Gesicht. »Seppi, ich bin hier, um dir zu helfen, also …«

Abrupt blieb er stehen. »Wos geht di des o?«, schnauzte er.

Zum zweiten Mal krachte Carolas Hand auf die Tischplatte. »Seppi!«

»Okay, okay!« Er ließ sich auf die Bank sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. »Sie heißt Sophie.«

Sie schloss für einen Moment die Augen. Ihr Kollege war hinter einem Mädchen her? Darauf hätte sie ja auch gleich kommen können. »Und wie weiter?«

Jetzt verschränkte Seppi die Arme vor der Brust. »Sophie Weiß. Sie hängt immer im Summerpark ab.«

»Seppi, jetzt lass dir doch nicht jeden Wurm einzeln aus der Nase ziehen. Sie ist da unten, weil …?«

Störrisch schob er die Unterlippe vor. »Weil ihrer Mutter, der Mitzi Weiß, die Segelschule in Utting gehört. Und ein Segelschulschiff. Die Amazone.«

Seit wann interessierten sich junge Mädels für Schiffe? »Verkauf mich nicht für blöd. Das ist nicht der Grund, weshalb die Sophie in der Nacht am Dampfersteg ist. Also noch mal. Sie ist da unten, weil …?«

»Weil sie mit einem Typen zusammen ist. Dem Goferl.«

Gleich hau ich ihm eine runter, dachte Carola. »Der …?«

»Der hauptamtlich Sohn ist, von der Senta Engels, der die andere Hälfte des Ammersee-Westufers gehört. Eigentlich sind die Fischer. Aber die haben eben auch den Ruderbootverleih in Dießen. Und die Segelschule da. Aber chillen tut er in Utting, der Goferl. Der, wo halt Sohn ist. Und wo der Goferl ist, da ist die Sophie.«

Wow, dachte Carola, das waren jetzt aber mal wirklich viele Worte auf einmal. »Und wo die Sophie ist, da ist auch der Seppi. Ich verstehe.« Sie gähnte herzhaft.

Seppi starrte sie an. »Was will die bloß von dem? Der Typ ist doch voll scheiße.«

Da fragst du mich was. Was Frauen von Männern wollen, ist eines der großen Mysterien der Menschheit. »Ist mir jetzt ehrlich gesagt wurscht.« Sie warf einen Blick auf die Uhr über dem Vitrinenschrank. »Es ist gleich halb fünf. Zu allem zu spät und auf jeden Fall zu früh für irgendwas. Ich kutschiere dich jedenfalls nicht mehr durch die Gegend. Du kommst jetzt mit und legst dich auf meine Couch.«

Mit hängenden Armen stand Seppi vor ihr. »Und dann?«

»Nix ›und dann‹. Dann frühstücken wir zusammen, und ich fahr dich heim. Da kannst du dann über deine Sünden nachdenken.«

2

»Servus!« Lenz hob freundlich die Hand. Das Paar, das ihre Bank auf dem Sträßlein neben ihnen zügig nach Süden passierte, winkte zurück.

Carola, die sich eng an ihn gekuschelt hatte, fädelte ihren linken Arm unter Lenz’ rechtem ein, ergriff seine Hand und legte ihren Kopf auf seine Schulter. »Sag mal, wen kennst du hier eigentlich nicht?« Sie gähnte. Das an zwei Ketten über ihnen aufgehängte hölzerne Deko-Krönchen schwankte leise.

»Die kenn ich doch gar nicht. Ich bin einfach nur nett, damit die beiden nicht allzu frustriert sind, weil sie nicht auf dem Bankerl hocken können, sondern wir. Und ich will jede Sekunde genießen. Schließlich muss ich gleich zum Dienst. Und du fährst ja morgen schon.« Er streichelte ihre Hand. »Ist es nicht schön hier?«

»Ja, sehr schön«, antwortete Carola und schloss die Augen. Sie rückte noch etwas enger an ihn heran. Wie angenehm warm er doch war. Sie gähnte erneut. Viel Schlaf hatte sie nicht mehr gekriegt heute Morgen. Da war es ihr jetzt ehrlich gesagt ziemlich schnuppe, wie es um sie herum aussah. Aber sie konnte ja früh ins Bett gehen, wenn Lenz zur Arbeit gegangen war.

»Spatzerl, nun schau doch, die Zugspitze!« Lenz ließ nicht locker.

»Okay.« Carola richtete sich auf, öffnete die Augen und ihr Herz für den Anblick. In sanften Wellen fiel das Land vor ihnen ab. Geruhsam reihte sich Wiese an Feld und Feld an Wald und Wald an Berg. Zum Horizont hin erhob sich die erste Kette der Voralpen. Spitz ragte der Sendemast auf dem Hohen Peißenberg in die Höhe. Dahinter baute sich kantig und wuchtig die Zugspitze auf, schon weiß angezuckert. Von einem unfassbar blauen, komplett wolkenlosen Himmel gleißte die Sonne auf sie herab.

Eine Gänsehaut rieselte ihren Rücken hinunter. Und das alles sollte sie gegen die grauen Straßen Berlins eintauschen?

»Caro«, hatte die Stimme ihres Chefs, des Bundestagsabgeordneten Johannes Ludwig, vorgestern aus dem Lautsprecher der Telefonanlage im Weilheimer Abgeordnetenbüro gescheppert, »pack dein Glump und komm nach Berlin. Luise geht nächste Woche mit dieser Völkerverständigungstruppe nach Washington.«

Ludwig hatte eine Kunstpause gemacht, die Carola die Gelegenheit gegeben hatte, den Hintergrundgeräuschen des Reichstags zuzuhören – halblaute Stimmen, hallende Schrittgeräusche, Abstimmungsklingeln – und die Informationen, die er ihr vor die Füße geschmissen hatte, zu verarbeiten.

Sie wusste, dass sich ihre ehrgeizige junge Kollegin im Berliner Abgeordnetenbüro für das Austauschprogramm des Bundestages mit dem US-amerikanischen Kongress beworben hatte. Letztes Jahr war sie mit der Idee um die Ecke gekommen und hatte Ludwig offiziell um Erlaubnis gebeten. Der ihr leichtsinnigerweise eine Empfehlung geschrieben hatte. Wohl in der Hoffnung, dass sie abgelehnt werden würde. Was dann auch zu niemandes Verwunderung geschehen war. Nur Luise war tagelang geknickt gewesen. Carola hatte sich gefragt, wer ihr beibringen sollte, dass sie mit ihrer Vita wirklich niemanden hinter dem Ofen hervorlocken konnte. Dreiundzwanzig Jahre jung, Studentin des internationalen Rechts, Mitarbeiterin eines Bundestagsabgeordneten. Von ihrer Sorte gab es Hunderte in Berlin. Um nicht zu sagen Tausende. Geradezu zum Säufuadern, wie man es in ihrer neuen bayerischen Heimat ausdrücken würde. Aber jetzt war sie doch dabei.

»Wieso?«, grätschte sie in Ludwigs Redefluss. »Ich dachte, sie wurde –«

»Abgelehnt. Jaja, ich weiß, ich weiß«, unterbrach sie Ludwig ungeduldig. »Sie rückt nach. Ich wusste gar nicht, dass man da überhaupt nachrücken kann. Wie auf einer Landesliste. Anyhow, kannst du dir das vorstellen? Luise rückt allen Ernstes nach. Kurzfristig. Weil nämlich eine von den Schnepfen, die ursprünglich angenommen worden waren, schwanger geworden ist. Die will nicht mehr mitfahren, um ihr Mutterglück nicht zu gefährden. Schwanger! Jesus Maria!«

Carola sah vor ihrem inneren Auge, wie Ludwig sich auf den Fluren des Reichstags an die Stirn schlug. Sie grinste.

»Kapierst du so was? Schwanger!«, ereiferte sich Ludwig weiter. »Wie kann man schwanger werden, wenn man nach Washington gehen will? Und die anderen, die vor ihr auf der Nachrückerliste gestanden sind, haben inzwischen andere Jobs. Nur Luise hat Zeit. War ja irgendwie klar. Wie konnte dieses andere Weibsbild bloß schwanger werden?«

Soll ich’s dir erklären, wie das geht? Carola verschluckte ihre Antwort und sagte stattdessen: »Okay. Verstanden. Luise ist bald weg. Wann brauchst du mich in Berlin?«

»Was heißt hier ›bald‹? Sie ist weg. Ich brauch dich am Montag. Du kommst erst mal interimsmäßig. Für ein paar Wochen. Wir suchen gemeinsam nach einem Ersatz. So lange kann Seppi in Weilheim die Stellung halten. Wir treffen uns um neun Uhr im Büro.«

Carola starrte auf ihre Schreibtischunterlage. Beredte Stille breitete sich aus. Ihr gegenüber saß Seppi mit gigantischen Micky-Maus-Ohren ähnelnden Kopfhörern, machte irgendwas und hatte von alldem nichts mitgekriegt. Johannes hatte einfach aufgelegt. Sie kannte das. Es war noch nicht mal böse gemeint. Was wichtig war, hatte er ihr gesagt. Für soziale Gesten wie ein »Grüß Gott« oder ein »Pfiat di« blieb in der Hektik einer Sitzungswoche einfach keine Zeit. Oder er nahm sie sich nicht.

Während das Telefonat in ihr nachhallte, war die Information langsam nach unten gesackt. Berlin? Berlin! Nicht nur für drei Tage mit einer depperten Besuchergruppe in die Hauptstadt tingeln, gemeinsam Termine abklappern, nur um ihre Schäflein ja wieder alle vollzählig einzusammeln und sicher zurück nach Bayern zu bringen. Sondern für – ja, für wie lange eigentlich? Ein paar Wochen, hatte Johannes gesagt. Sie hatte ihr Gehirn durchsucht. Aber das Austauschprogramm mit dem amerikanischen Kongress dauerte – ein Jahr!

»Hurra!« Sie war aufgesprungen und hatte die Arme Richtung Decke gerissen. Seppi hatte irritiert hinter seinem Bildschirm hervorgesehen und den Kopfhörer runtergezogen. »Sag einmal, spinnst du jetzt komplett?«

Die Erinnerung an ihre freudige Endorphindosis, die vorgestern durch ihre Adern gerauscht war, klang in ihr nach und ließ sie lächeln. Ihr Grinsen verschwand, als sie an Seppis pikierten Gesichtsausdruck zurückdachte.

»Danke, Frau Kollegin«, hatte er gesagt, als er den Grund ihrer Freude realisierte, »ich verstehe. So arg ist die Zusammenarbeit mit mir also, dass du hier rumspringst wie der Osterhas, wenn man dir sagt, dass du nach Berlin abzischen darfst. Na«, hatte er abgewehrt, als sie ihn begütigend unterbrechen wollte, »hab schon kapiert. Danke! Reicht. Reisende soll man nicht aufhalten.«

Bei der Erinnerung zog Carola immer noch die Augenbrauen nach oben. Er war auch mit viel Überredungskunst und dem Angebot, ihn einzuladen, nicht zu bewegen gewesen, mit ihr Mittag essen zu gehen. Eine Jobübergabe hatte er auch nicht machen wollen. »Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Ich komm schon klar. Ansonsten frage ich halt Johannes.«

Unwillkürlich entfuhr ihr ein »Pah«.

»Was schnaufst denn so?«, fragte Lenz.

»Ach nichts. Ich musste nur gerade an Seppi denken und wie der sich am Freitag aufgeführt hat. Nur weil Johannes mich nach Berlin ruft. Was kann ich denn dafür? Gar nichts.« Sie setzte sich auf, löste ihre Hand aus seiner und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Musst dich vielleicht nicht ganz so arg freuen, dass du von uns wegkommst«, antwortete Lenz und gab ihr einen Knuff in die Schulter.

»Was heißt hier ›freuen‹? Ich hab nie ein Hehl daraus gemacht, dass ich gerne in Berlin gelebt habe. Natürlich bin ich auch gerne hier. Bei dir«, beeilte sie sich zu ergänzen, als sie Lenz’ Blick auf ihrer linken Wange spürte. Sie gähnte. »So sehr kann Seppi der Abschied von mir dann auch nicht schmerzen, ansonsten hätte er mich gestern Nacht ja nicht angerufen. Und du bist dir sicher, dass da nicht noch was kommt?«

»Vielleicht muss Seppi noch mal als Zeuge aussagen. Bei dem Einsatz am Freitag wurden bei einigen Personen illegale Substanzen festgestellt. Bei Seppi wurde nichts gefunden, aber er hat vielleicht etwas beobachtet. Da unten im Summerpark wurde gedealt. Aber da der Drogentest bei ihm negativ war, hat er nichts zu befürchten.«

Carola ließ ihren Kopf wieder auf seine Schulter sinken. »Da bin ich erleichtert. Ich hoffe nur, dass er auf keine blöden Ideen mehr kommt, solange ich weg bin. Wer soll ihn denn in Zukunft von der Wache abholen?«

Lenz angelte nach ihrer Hand. »Apropos weg sein. Lass uns doch mal darüber sprechen, was wir machen, wenn du wieder da bist.« Er rückte näher an sie heran.

»Ja? Was geht dir durch den Kopf?« Carola sah ihren Lebensgefährten von der Seite an. Was kam denn jetzt? Hoffentlich nicht schon wieder das Thema Kinder. Das hatten sie doch schon letztes Jahr abgehakt. Aus ihrer Sicht zumindest.

Lenz drückte ihre Hand. »Ich hab darüber nachgedacht, wie wir wohnen.«

»Gefällt es dir nicht mehr bei deiner Mutter?« Sie setzte sich auf. »Also ich finde den Secklerhof toll. Und meine Wohnung ist eigentlich auch sehr schön. Nein«, korrigierte sie sich. »Meine Wohnung bei deiner Mutter finde ich super.« Innerlich rollte sie mit den Augen. Denn das war der Teil, der sie an ihrem Berlin-Trip wirklich nervte. Ihre eigene Berliner Wohnung in Charlottenburg hatte sie seit Jahren untervermietet. Da kam sie kurzfristig nicht mehr ran. Sodass nach einer kurzen Onlinesuche für sie nur eine winzige Wohnung am Kottbusser Tor drin gewesen war. Fünfundzwanzig Quadratmeter, Seitenhaus, fünfter Stock, ohne Aufzug und ohne Heizung. Sie könne den Backofen aufmachen, hatte ihr das Mädel, das ihr die Wohnung untervermietet hatte, am Telefon gesagt. Das würde schon gehen. Sie war sich sicher, sie würde ihre lichtdurchflutete Drei-Zimmer-Wohnung auf dem Secklerhof mit dem alten Parkett, den rohen Deckenbalken und dem zerknautschten Ledersofa ab dem ersten Tag vermissen.

»Ja, natürlich ist die schön. Aber es ist eben deine Wohnung. Und ich hab halt meine Wohnung.« Lenz drückte erneut ihre Hand.

Carola schwante, was als Nächstes kommen würde. Wie kam sie aus dieser Nummer bloß wieder raus? »Also ich finde es völlig okay, dass wir mal bei dir und mal bei mir sind. Mehr Platz hat deine Mutter einfach nicht im Haus.« Sie streichelte seinen Handrücken.

Lenz rückte zur Seite und strahlte ihr ins Gesicht. »Ich meine ja auch nicht das Haus meiner Mutter. Ich frage mich, ob wir uns ein gemeinsames Nest suchen? In Weilheim vielleicht? Was meinst du?«

Ein »gemeinsames Nest«. Eine Doppelgarage, ein Walmdach und Sprossenfenster tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Mit Gardinen. So wie in den Neubaugebieten ihrer schleswig-holsteinischen Jugend. Da wurde samstags der Rasen gemäht. Jeden Samstag.

Sie stöhnte innerlich. Da hatte dieser Mann diese unfassbar schönen, warmen braunen Augen. Und ein riesengroßes mitfühlendes Herz. On top ein großartiges Gehirn, das er für einen verantwortungsvollen, spannenden Job einsetzte. Warum war er gleichzeitig so wahnsinnig spießig und bieder? Sie atmete aus. Was genau war es eigentlich, weshalb Männer mit Frauen unbedingt zusammenziehen wollten? Obwohl, wie in ihrem Fall, keinerlei Notwendigkeit dafür bestand?

»Ach, Lenz«, sagte sie. Sie wohnten doch faktisch zusammen, unter einem Dach, in demselben Haus. Es gab mit den wenigen Ausnahmen, wenn Lenz Dienst hatte, praktisch keine Nacht, die sie nicht zusammen verbrachten. Entweder ging sie zu ihm, oder er kam zu ihr. Was sollte da fehlen? Sie fand es entspannend, ab und zu eine Tür hinter sich zumachen zu können. Eine gesunde Distanz. Ihr taugte das sehr. Aber ihm schien es nicht zu reichen. Warum bloß?

Sein Strahlen war um kein Lux dunkler geworden. »Und? Was meinst du? Wär das nicht schön?«

»Ach, weißt du, Lenz, findest du nicht, wir sollten mit dieser Entscheidung warten, bis ich wieder aus Berlin zurück bin? Noch ist ja nicht ganz klar, wie lange ich weg bin. In Berlin ziehe ich erst mal in eine winzige Wohnung in Kreuzberg. Das ist ein echter Notnagel. So wie ich das sehe, wird die Bude auf gar keinen Fall mein Zuhause werden. Und da fände ich es schon gut, wenn in meiner bayerischen Wohnung alles beim Alten bliebe.«

»Hm.« Lenz verzog den Mund. »Du in Kreuzberg? Das hört sich nicht gut an. Muss ich mir da Sorgen um dich machen?«

Carola lachte auf. »Ich glaube, die Kreuzberger arbeiten aktiv an ihrem miesen Ruf. Damit ja keine bayerischen Landeier auf die Idee kommen, zu ihnen zu ziehen.« Sie tätschelte seine Hand. »Glaub mir. Alles halb so wild.«

»Bist du dir da sicher?« Er klang ernst. »Also die Statistik spricht eine andere Sprache.«

»Das mag schon sein«, antwortete Carola sanft. »Aber du musst auch zugeben, dass in den zentralen Stadtteilen Berlins einfach sehr viele Menschen auf sehr engem Raum leben. Und da ist es doch ganz logisch, dass die Kriminalitätsrate nach oben geht.«

»Hm«, wiederholte Lenz. »Und wie muss ich mir das vorstellen? Ich meine, du und Kreuzberg?«

Irgendwie war es ja ganz süß. Dass er sich um sie sorgte. Sie drückte seine Hand. »Das Kottbusser Tor ist ein Verkehrsknotenpunkt. Oder inzwischen ist es das wieder. Während der Mauer war dieser Teil der Stadt das Ende der Welt. Heute kreuzen sich mehrere Straßen und U-Bahn-Linien dort.«

»Hört sich ja toll an«, gab Lenz trocken zurück. »Da lob ich mir doch die klare bayerische Luft und die Aussicht auf die Zugspitze.«

»Lenz, das ist nicht fair. Das ist Äpfel mit Birnen verglichen.« Sie knuffte ihn in die Seite. »Rund um den Platz sind Geschäfte und Imbissbuden. Da tobt den ganzen Tag das Leben.«

»Okay, weiter.«

»Ich hab in einer Seitenstraße eine ganz kleine Wohnung. Nur fünfundzwanzig Quadratmeter. Unten im Haus ist ein großes Programmkino, das ist ziemlich berühmt. Und daneben sind Restaurants und Bars. Meine Bude ist im fünften Stock im Seitenhaus. Aus meinem Fenster schau ich über die Dächer Berlins.« Den Hinweis auf den fehlenden Aufzug und die nicht vorhandene Heizung verkniff sie sich. Er musste ja nicht alles wissen.

»Das hört sich sehr städtisch an, findest du nicht?« Er schenkte ihr einen schrägen Blick.

»Schon. Aber ehrlich gesagt freue ich mich auch drauf. Dann kann ich nach der Arbeit noch ausgehen oder ins Kino. Finde ich schon toll.«

Lenz setzte sich auf wie ein Schulkind, das ein Gedicht aufsagen sollte. »Ich wollte dir einen ganz anderen Vorschlag machen. Keine Verkehrskreuzung und auch kein fünfter Stock. Meinst du nicht, ein schönes Haus für uns zwei wäre toll? Im Grünen? Ohne den Rest meiner Familie, nur du und ich? Und ein großer Garten?« Er strahlte sie an.

Carola spürte, wie ihr die Brust eng wurde. Ein Haus? Im Grünen? Hatte sie nicht gerade gesagt, dass sie mitten in die Großstadt ziehen würde? Und dass sie sich darauf freute? Hörte er ihr überhaupt einmal zu? Sie lachte auf. »Lenz, nichts für ungut, aber das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was ich mir derzeit vorstellen kann. Und vorstellen mag.«

Lenz krauste die Stirn. »Aber Spatzerl, meinst nicht, es wär langsam mal an der Zeit, zur Ruhe zu kommen? Dein Nomadenleben endlich aufzugeben und sesshaft zu werden?«

Carola spürte einen Stock in ihrem Rücken. »Wie meinst du das denn bitte? Gefällt dir irgendetwas an meinem Leben nicht?«

Lenz sah an die Decke. »Ja, weißt du, du kommst nicht zur Ruhe. Hier in Bayern, am Ammersee, bei mir, hast du endlich deinen Platz gefunden. Aber was machst du? Du stehst einfach auf und ziehst weiter. Du bist nicht geerdet. Aber wir in Bayern, wir sind bodenständig.«

What? Nicht geerdet? Sie, die mit beiden Beinen so was von fest im Leben stand? Was bildete sich dieser Typ bloß ein, solche Urteile über sie zu fällen? In Carolas Eingeweiden bollerte der Jähzorn von unten an ihr Zwerchfell und wollte, dass sie schrie. Sie holte Luft und atmete ganz, ganz langsam aus. »Weißt du, Lenz, Berlin, Verkehrskreuzung, fünfter Stock, das ist genau das Leben, das ich führen will. Weswegen ich ehrlich gesagt weggegangen bin. Von Schleswig-Holstein nach Berlin. Genau das wollte ich. Und ich hab mich dabei sehr wohlgefühlt.« Sie quälte sich ein Lächeln ab.

Seines erlosch. Er wandte sich ab und sagte mit fester Stimme: »Weißt, aber jetzt bist in Bayern. Bei mir. Wo du hingehörst. Irgendwann musst dich halt dreinschicken.«

Das war’s. Sie stand auf. »Dreinschicken? Ich?« Sie tippte sich an die Stirn. »Ich hab zwar keine Ahnung, was das ist, dreinschicken. Aber ich kann dir versichern, dass ich das auf gar keinen Fall tun werde. Dieses Dreinschicken.« Sie hatte ihm das Wort vor die Füße gespuckt, drehte sich um und stürmte davon, weg von ihm, zurück zum Secklerhof.

Ihre Augen brannten. So wie ihr Herz. Vor Wut. Vor Enttäuschung. Das war ihr letzter gemeinsamer Nachmittag vor ihrer Abreise? Ein Streit? Wegen ihrer Wohnung? Sie wischte sich über das Gesicht und stapfte weiter. Sollte er doch gleich zum Dienst gehen. Machte auch nichts. War eh schon wurscht. Sie würden sich vor ihrer Abreise sowieso nicht mehr sehen. Später würde sie den Zug nach Berlin nehmen. Und da würde sie bleiben. Und er konnte ihretwegen in Bayern verschimmeln. Seinen Blick konnte sie bei jedem Schritt in ihrem Rücken spüren. Aber sie sah sich nicht mehr um.

3

»Caro, hörst du mich?«

»Moment.« Das Telefon zwischen ihr rechtes Ohr und ihre Schulter geklemmt, stand sie im Eingangsbereich des ICE-Waggons, den Griff ihres Rollkoffers in der linken Hand. Schnaufend schlossen sich neben ihr die beiden Türhälften zum nächsten Abteil. Schnell sah sich noch einmal um. Die Frau, die eben beim Einsteigen hinter ihr gedrängelt hatte, wandte ihr den Rücken zu und wuchtete vornübergebeugt einen riesigen Metallkoffer über die steilen Stufen des ICE nach oben.

»In welchem Wagen sind wir hier eigentlich?«, rief die Metallkoffer-Dame durch die geöffnete Tür auf den Bahnsteig hinaus, auf dem eine Gruppe Jugendlicher ihr ungerührt dabei zusah, wie sie sich abplagte.

War die Frage ernst gemeint? Die Nummer stand neben der Tür, die sie Sekunden vorher passiert hatte. Carola schloss kurz die Augen und entschied sich, die Frau zu ignorieren. »Klar und deutlich, Lenz.« Sie umfasste den Griff ihres kleinen Rollkoffers etwas fester. Wieso rief er sie jetzt an? Er wusste doch, dass sie zum Zug musste. Wollte er ihr etwa wieder etwas von Häusern im Grünen erzählen? Ihre Aktentasche, die sie auf den Koffer gestapelt hatte, schwankte gefährlich. »Was kann ich für dich tun?«, fragte sie, um einen geschäftsmäßigen Ton bemüht. Sie wandte sich nach rechts und ging den Gang an den Sechserabteilen entlang Richtung Großraum.

»Ich wollte dir nur noch mal sagen, dass es mir leidtut wegen vorhin.«

Sie blieb stehen und sah auf ihre Füße. »Ach, Lenz.«

»Und von Resi soll ich dir auch was sagen.« Er unterbrach sich. »Es ist schöner, wenn du da bist.«

Unwillkürlich prustete sie los. Eine Glastür fuhr leise zischend zur Seite und gab ihr den Weg frei. Sie trat in den Großraum und ließ ihre Augen an der Leiste mit den Sitznummern entlanggleiten. »Meinst du nicht, dass du es jetzt ein bisserl übertreibst?«

»Spatzerl, wir, nein, ich vermiss dich jetzt schon.«

»Lenz, es ist doch nur für ein paar Wochen.« Was redete sie denn da für einen Blödsinn? Womöglich blieb sie Monate in Berlin.

»Ich freue mich jetzt schon darauf, wenn du wieder da bist.«

Der Mann zog wirklich alle Register. »Ich hab’s mir doch nicht ausgesucht. Aber du weißt doch, wenn Not am Mann beziehungsweise hier an der Frau ist, hab ich keine Wahl. Johannes braucht mich in Berlin.« Da, Platz 55. Gott sei Dank konnte Lenz jetzt nicht sehen, dass ihre Wangen sich rosa färbten. »Entschuldigung, den Platz am Fenster habe ich reserviert«, sagte sie zu dem mittelalten Hipster mit Beanie und Hornbrille, der auf ihrem Platz am Fenster hockte.

»Sure?«, knurrte er zurück, ohne einen Blick vom Display seines iPhone zu nehmen.

»Yup, sure«, antwortete sie ungerührt und senkte ihr Telefon. »Would you please be so kind and –«

»Jaja, passt schon«, unterbrach sie Mr. Beanie brüsk, griff im Aufstehen nach seinem Rucksack und stürmte grußlos an ihr vorbei Richtung Speisewagen.

Carola stellte ihre Aktentasche auf den Boden, hängte ihre Jacke auf, ließ sich in ihren Sitz fallen und zog ihren Koffer zu sich heran. »Lenz, entschuldige bitte, wir fahren gleich los, und hier geht es gerade noch drunter und drüber.« Sie angelte nach der Fußstütze und klappte sie aus.

»Ich will dich auch gar nicht stören. Ich versteh dich ja. Ich wollte dir nur sagen, dass ich gerade auf dem Bankerl vor dem Haus sitze, und die Sonne scheint so schön, und ich lieb dich und …«

Erst sanft, dann immer schneller werdend fuhr der Zug aus dem Dunkel des Sackbahnhofs ins Freie. »Liebe Fahrgäste, herzlich willkommen im ICE der Deutschen Bahn auf unserer Fahrt von München nach Berlin …«, übertönte die Ansage Lenz’ Stimme.

Carola presste das Telefon an ihr Ohr. »Lenz, ich hör dich nicht. Ich melde mich, sobald ich in Berlin bin.« Sie drückte auf den roten Hörer und ließ das Telefon sinken.

Der Zug passierte den Bahnhof Donnersbergerbrücke. Im Dunkel des Fensterglases spiegelte sich ihr Gesicht. Blass, aber dafür mit deutlichen Ringen unter den Augen. Der ICE wurde schneller und schneller, bald rasten Lärmschutzwände an ihr vorbei. Sie lehnte ihren Kopf an die Stütze und schloss die Augen.

Was hatte er gesagt? »Ich versteh dich ja. Ich lieb dich.« Sie biss sich auf die Unterlippe. War es nicht das, was jede Frau hören wollte? Warum nur fühlte es sich dann so gut an, von dem Mann wegzufahren, der ihr das sagte? Der ihr seit Jahr und Tag die Treue hielt und sie trotz seines stressigen Jobs als Kriminalhauptkommissar spüren ließ, wie viel sie ihm bedeutete? Der mit ihr leben wollte? Kinder mit ihr wollte?

Donnernd raste der Zug in einen Tunnel. Sie setzte sich auf und schüttelte sich. Ein Haus! Im Grünen! Kinder! Als ob eine Beziehung nur eine gute Beziehung sein konnte, wenn man ein Haus und Kinder hatte! Himmelherrgott, sie wollte kein Haus und keine Kinder, sie wollte tun und lassen, was sie wollte, wann sie es wollte und wo. Wie zum Beispiel, in der Sekunde in Bayern alles stehen und liegen zu lassen, in der ihr Chef sie in die Hauptstadt rief.

Und genau das tat sie gerade. Carola zuckte mit den Schultern und lächelte ihrem Spiegelbild im Zugfenster zu. Draußen zog die liebliche Landschaft der Holledau vorbei.

Berlin, Berlin, endlich wieder Berlin! Vorfreude perlte wie Champagner in einem schlanken Kelch in ihr empor. Reichstag, Sitzungswochen voller Hektik, den ganzen Tag klingelte das Telefon. Ein vollgestopfter Terminkalender, ihr Chef rief ihr zwischen Tür und Angel Anweisungen zu und rannte weiter. Dazwischen sie, die die nächste Pressemitteilung schon schrieb, während ihr Chef gerade in einer Anhörung die Sachverständigen grillte. Und abends noch eine Buchvorstellung in einer Landesvertretung samt Empfang. Wie sie dieses Leben liebte! Mit einem lauten »Wuusch« rasten sie in den nächsten Tunnel. Vor den Fenstern wurde es nachtschwarz.

Sie warf einen Blick auf ihre Aktentasche zu ihren Füßen und gähnte. Dieses Ding verfolgte sie, bei Tag und bei Nacht. Sollte sie pflichtbewusst ihre E-Mails checken? Oder eine Mütze Schlaf nehmen? Sie knüllte ihren Schal zusammen und stopfte ihn sich ins Genick. Dass Zugfahren immer so müde machte. »Weißt, irgendwann muss sich jeder mal dreinschicken«, hallte Lenz’ Stimme durch ihren Kopf.

Sie schloss die Augen und gähnte erneut. Unter ihr vibrierte der Zug. Was hatte sie eben noch gewollt? Ach ja, die Mails. Sie zog ihre Jacke vom Haken und legte sie sich über die Schulter. Noch knappe drei Stunden bis zum Hauptbahnhof. Sekunden später spürte sie nicht mehr, dass ihr Kopf zur Seite fiel.

Aber sie wusste, sie hatte einen Auftrag. Die Tasche. Die war wichtig. Und die musste nach Berlin. Genauso wie sie. Sie musste auch nach Berlin. Wenn sie bloß nicht so müde wäre. Dann würde sie es schaffen.

»Liebe Fahrgäste, unser Zug hält heute außerplanmäßig in Leipzig. In Leipzig bitte alle aussteigen. Der Zug wird getauscht. Unser nächster Halt ist Leipzig.«

Leipzig? Wieso Leipzig? Sie musste doch nach Berlin. Sie hatte keine Zeit, jetzt in Leipzig auszusteigen und auf den nächsten Zug zu warten. Außerdem war sie müde, so müde, sie würde so gerne schlafen, einfach nur schlafen. Und nicht träumen.

Der Zug hielt. Um sie herum standen alle Fahrgäste auf und gingen schweigend Richtung Ausgang. Wieso war es so ruhig? Sie nahm alle Kraft zusammen, stand auf und trottete hinter den anderen her, durch die Tür, auf den Bahnsteig. Die Leute standen dicht an dicht. »Wo-opp.« Die Türen schlossen sich, der ICE setzte sich in Bewegung und fuhr langsam aus dem Kopfbahnhof heraus.

Kühl zog die Zugluft des ausfahrenden Zuges an ihr vorbei. Carola sah ihm hinterher, folgte den roten Lichtern, die im Halbdunkel der Bahnhofshalle glühten. Hatte sie alles? Oh mein Gott, die Tasche! Sie hatte schon wieder die Tasche im Zug vergessen! Aber die war doch so wichtig. Davon hing doch so viel ab. Ein verzweifelter Schrei formte sich in ihrer Kehle, sie öffnete den Mund, aber sie blieb stumm.

»Noch jemand zugestiegen? Die Fahrscheine bitte.«

»Was?« Schlaftrunken setzte sie sich auf.

»Ihren Fahrschein bitte.« Eine junge Frau in blauer Uniform mit wilden rot-schwarz gefärbten Locken, ein riesiges Lesegerät in der Hand, stand freundlich lächelnd vor ihr.

»Sicher.« Mein Gott, die Tasche, da stand sie ja. Genau zu ihren Füßen. Dort, wo sie sie abgestellt hatte. Carola zog ihr Telefon heraus, rief ihr Ticket auf und hielt es in die Höhe.

Gleichbleibend lächelnd scannte die Zugbegleiterin den Code. »Gute Fahrt.«

Sie schloss die Augen. Schon wieder dieser Alptraum. Passierte jetzt immer der gleiche Mist, sobald sie die Augen schloss? Langsam klangen die Wellen aus Adrenalin in ihr ab, wurden von Sekunde zu Sekunde flacher und liefen aus. Mühsam hob sie wieder ihre Lider. Wie kaputt sie war. Hatte sie einfach nur einen Sprung in der Schüssel, oder wollte dieser Traum ihr irgendetwas sagen?

Eine Lautsprecherstimme unterbrach ihre Gedanken. »Werte Fahrgäste, ich muss Sie darauf hinweisen, dass dies ein Nichtraucherzug ist. Rauchen ist weder in den Wagen noch in den Gängen oder den Toiletten erlaubt.« Es knisterte. »Ich wiederhole: Es besteht ein Verbot in den Zügen der Deutschen Bahn für alle Dinge, die man rauchen kann.«

Wo war sie bloß gelandet? Ihr Blick fiel auf den Bildschirm über ihr. Sie donnerten mit zweihundertdreiundachtzig Stundenkilometern durch die Weite Sachsens. Noch eine gute Stunde bis Berlin. Was sollte sie jetzt tun? Noch einmal versuchen zu schlafen? Besser nicht. Sie gähnte und griff nach ihrem Telefon. Dann doch lieber bis Berlin ihre E-Mails checken.

»Willkommen in Berlin Hauptbahnhof. Ihre nächsten Anschlusszüge …«

Sie umfasste den Griff ihres Rollkoffers, schulterte ihre Aktentasche und kletterte über die steilen Stufen nach unten auf den Bahnsteig. Die lichte Konstruktion des Hauptbahnhofs aus Stahl und Glas wölbte sich über ihr. Endlich. Endlich war sie da, in Berlin, mitten in der Stadt, auf dem wunderbar hellen, großzügigen, ja großstädtischen Hauptbahnhof. Routiniert klemmte sie ihre Aktentasche auf den Koffer, drehte sich um und strebte zügig in Richtung Rolltreppe. Ein wenig Schadenfreude überkam sie, als sie die suchenden Blicke anderer Reisender bemerkte. Tja, sie musste nicht fragen, denn sie kannte sich aus. Der Bahnsteig der S-Bahn war gleich nebenan, sie musste nur einen Stock herunterfahren und gleich am nächsten Bahnsteig wieder hinauf. Und ein Monatsticket hatte sie auch schon.

Gut gelaunt fuhr sie aus der lichten Halle in das Halbdunkel des Zwischengeschosses. Unten angekommen, wandte sie sich nach links – und blieb stehen. Im Dämmerlicht erkannte sie die Umrisse eines Mannes am Fuß der Rolltreppe zum S-Bahn-Gleis. Angeekelt verzog sie das Gesicht. Ihr Gehirn wehrte sich gegen die Anerkennung dessen, was ihre Augen sahen. Aber ja, es bestand kein Zweifel. Der Mann erleichterte sich in aller Seelenruhe in den Fuß der Rolltreppe, fummelte noch etwas an seiner Hose herum und ging weiter.

Willkommen in Berlin, dachte Carola, hob ihren kleinen Koffer hoch und stieg auf die Rolltreppe. So viel zum Thema, sie kannte sich aus. Sie konnte sich ja viel einbilden auf die Jahre, die sie in der Hauptstadt verbracht hatte. Inzwischen war sie aber wieder ein Landei, ein echtes Landei. Das schon nach den ersten zehn Minuten in der Großstadt einen Realitätsschock erlitt. Was kam noch auf sie zu?

Ihre gute Laune war verflogen. Sie stieg in die S-Bahn, fuhr drei Stationen zum Alexanderplatz, stieg aus und zog mit gesenktem Kopf ihren Koffer durch die Gänge Richtung U-Bahn. Niemand beachtete sie. Jeder hatte ein Telefon in der Hand oder Stöpsel in den Ohren.

Kottbusser Tor. Was würde sie jetzt erwarten? Sie trat auf den Bahnsteig, las die Schilder und ging Richtung Ausgang Reichenberger Straße. Dunkelgraue, ausgetretene, verdreckte Stufen türmten sich vor ihr auf. In den Ecken lag der Müll. Herrgott, sie hatte die Treppe vergessen. Sie packte den Griff ihres Koffers etwas fester.

Heftig atmend erklomm sie die letzte Stufe, wuchtete ihr Gepäck auf das Trottoir und sah sich um. Wann war sie das letzte Mal um diesen Platz gegangen? Es mussten mindestens vier Jahre vergangen sein. Aber es hatte sich nichts verändert. Autos drängten sich im Kreisverkehr um den struppigen Rasen in der Mitte des Platzes. Ein Stockwerk höher fuhr mit lautem Getöse gerade eine Hochbahn ein. In den Bürgersteig vor ihr ragten die Außenzelte der Imbissbuden und Auslagen der Gemüsehändler hinein. Zwischen wild durcheinandergeparkten Autos, Rollern und Fahrrädern bewegten sich die Menschen nach einem unsichtbaren Plan. Darüber wuchsen die Wände und Fenster des NKZ in die Höhe. Der Himmel war einfarbig grau.

Die Zugspitze blitzte vor ihrem inneren Auge auf. Unwillig schob sie das Bild beiseite, zog am Griff ihres Rollkoffers und setzte sich in Bewegung. Es war ja nicht mehr weit.

Auf der Straße stand in zweiter Reihe ein Rettungswagen. Ein kaugummikauender Sanitäter zog eine Liege aus dem Heck, ließ sie auf den Asphalt krachen und schob sie Richtung Bordstein. Scheppernd fuhr das Gestell dagegen und sprang auf den Gehsteig. Carolas Blick folgte seinem Weg. Auf dem Trottoir vor einem Imbiss lag regungslos eine junge Frau mit rotblondem Lockenschopf. Sie sah schmal aus in ihrem himbeerfarbenen Overall. Neben ihr kniete ein zweiter Sanitäter und sah seinem Kollegen ungerührt dabei zu, wie er mit der Bahre kämpfte. Passanten hasteten vorbei.