Rache am Ammersee - Inga Persson - E-Book

Rache am Ammersee E-Book

Inga Persson

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Beschreibung

Ein herrliches Krimischmankerl mit viel Lokalkolorit und herzhaftem Humor. Carola Witt hat ein neues Herzensprojekt: In einer Volksbefragung sollen die Bürger ihrer Ammersee-Gemeinde über den Neubau einer Großgastronomie abstimmen. Doch dem Projekt droht das Aus, bevor es überhaupt gestartet ist: Ruprecht Prestel, Gemeinderat und Mentor der Initiative, stürzt beim Gleitschirmfliegen ab. Nur ein Unfall oder doch ein Mord? Carola will es herausfinden, kommt dabei aber Kommissar Lenz Meisinger immer wieder in die Quere. Und womöglich auch dem Mörder ......

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Inga Persson hat Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie studiert und 1994 promoviert. Anschließend schrieb sie jahrelang im Auftrag anderer: erst für Bundestagsabgeordnete, später für ihre Agenturkunden. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn am westlichen Ammersee und betreibt dort die traditionsreiche Gastwirtschaft »Schatzbergalm«. »Rache am Ammersee« ist ihr zweiter Krimi.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Franz Marc Frei/Lookphotos

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-481-0

Oberbayern Krimi

Originalausgabe

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Für Mick

Hopfentee

Einmal ein gescheiter Rempler, und der Kas wär bissen. Das Arschloch würd den Berg runterkugeln, dass es eine Freud wär. Aber irgendein Idiot hatte ja eine Steinschlagverbauung unterhalb vom Startplatz hinstellen müssen. Und drunterhalb von derer hatte es auch noch einen Haufen krummhaxiger Latschen. Wenn’s also blöd rausging, könnt die Sau sich noch derfangen. Entweder in den Latschen – oder an der Verbauung. Würd nicht den Berg runterkugeln und als blutiger Haufen Knochen und Fleisch liegen bleiben. Sich nur ein paar Knochen brechen. Nicht das Gnack. Dann müsste er in den Knast, und das Schwein käm davon.

Er atmete durch. Damit wär nichts gewonnen. Rein gar nichts. Im Gegenteil. Also doch der Plan. So, wie er ihn sich ausgedacht und vorbereitet hatte. Er kniff die Augen zusammen, sah klar, urplötzlich, und die Welt um ihn herum materialisierte sich in Blau. Wie lange hatte er schon am Startplatz gestanden und nichts gesehen? Alles um ihn war blau, blau, blau!

Als gigantische Kuppel, weit und hoch, nicht zu fassen, sosehr man sich auch strecken wollte, spannte sich der Himmel über ihm, freie Sicht von West über Nord nach Ost. Unter ihm ruhte, türkisblau und spiegelglatt, der Forggensee, Seite an Seite mit dem blau melierten Bannwaldsee und dem dunkelblauen Tupfer des Hopfensees. Das bisschen Grün der Felder dazwischen wand sich als barocker Bilderrahmen um die Seen herum.

Unwillkürlich atmete er das Blau ein, fühlte es, spürte, wie es nach ihm griff, ihn in der Tiefe seiner Seele zart berührte. Und wenn er doch …? Er sah die Tat vor sich, fragte sich zum millionsten Mal: Willst du das wirklich tun? Gibt es nicht doch eine andere Lösung? Er zuckte zusammen. Nein. Nicht jetzt. Jetzt nicht mehr. Jetzt waren sie schon hier oben, am Tegelberg, am Startplatz, jetzt gab es keinen Weg zurück. Oder doch? Er müsste doch nur …

Nein! Sein Rücken wurde immer wärmer. Hier oben war der Tau schon verdunstet, mit jeder Sekunde gewann die Morgensonne an Kraft. Er musste sich beeilen. In ein paar Stunden würde die Frühlingshitze unbarmherzig sein. Noch war die Luft weich, leicht und süß, aber er spürte einen Bilderbuchfrühsommertag in seinem Kreuz. Er sah zum Windsack hinüber, leichter Wind aus Nordost, keine zwei Beaufort. Wolken formten sich zu Kumulushaufen. Ruhig.

Ideales Flugwetter. Wieder warf er einen Blick hinab ins Tal. Von Westen mäanderte silbern der Lech in seinem Kiesbett daher. Direkt vor ihm lag die kleine Kirche, die niemand beachtete, weil alle auf die Schlösser stierten, die der geniale Irre vor langer Zeit in den Berg geklotzt hatte.

In ein paar Stunden wäre alles anders – nicht nur brüllend heiß. Jetzt war der Startplatz noch leer, aber in ein, zwei Stunden würde es von Menschen wimmeln, von spielenden Kindern, neugierigen Rentnern und Touristen, die Fotos machen wollten. Und davor auch noch die Piloten, die ihre Schirme auslegten.

Und noch etwas wäre anders. Er gestattete sich den Gedanken. Sein neues Leben hätte begonnen. Ohne das Schwein. Ohne Ruprecht. Er spürte die Vorfreude in sich aufsteigen. Nie wieder diese selbstgefällige Fresse sehen müssen. Nie wieder dieses dreckige Grinsen. Nie wieder sagen: »Ja, Rupi, sicher, Rupi, natürlich, Rupi.«

Er rang die Vorfreude nieder. Ruhig. Ganz ruhig. Nicht das Fell verkaufen, ehe er den Bären erlegt hatte. Sapperlot, ein schönes Bild! Er musste lächeln bei dem Gedanken. Der Tag war jetzt schon voller schöner Bilder.

Im Morgengrauen waren sie den langen und seiner Meinung nach spektakulären Weg zum Tegelberghaus hinaufgestiegen. Nach den ersten Metern auf der ebenso steilen wie langweiligen Teerstraße eröffnete sich nach jeder Kurve ein neuer Ausblick auf die Schlösser. Die Welt konnte so unendlich ruhig sein in diesen ersten Stunden des Tages, wenn nur ein paar Vögel in den Bäumen tschilpten oder einzelne Mäuse durchs Laub raschelten. Oberhalb der Baumgrenze dann rollte sich das Füssener Becken wie ein kostbarer persischer Teppich in seiner ganzen Pracht vor ihnen aus. Immer wieder waren sie stehen geblieben, hatten so getan, als ob sie die Schlösser bestaunten, eigentlich aber mussten sie verschnaufen. »Schon geil hier«, hatte Rupi geknurrt, bevor er wieder weitergestiefelt war.

Er grinste. Er hatte es vollkommen vergessen gehabt und sich noch am Parkplatz ein Lachen verkneifen müssen. Denn der Weg hieß … Schutzengelweg! Zum Brüllen komisch. Dumm für dich, Rupi, dass dein Schutzengel sich verzupft hat, dachte er. Dein Schutzengel, Rupi, der hat nämlich einfach nimmer mögen. Weil du halt eine gar so linke Sau bist. Und jetzt bist du allein. Keiner weiß, dass wir hier sind. Du bist ganz allein. Mit mir.

Seite an Seite standen sie am Startplatz, der wie ein Sprungturm ins Land ragte, und er strengte sich an, so zu tun, als genösse er die Aussicht. Aus dem Augenwinkel beobachtete er Ruprecht neben sich. Der sah wie immer nichts. Außer sich selbst. Jeder Ort, an den der Rupi kam, wurde zur Bühne und er zur Rampensau. Wie ein römischer Feldherr stand er am Startplatz, breitbeinig, die Arme in die Hüften gestemmt. Wichtig. Wie er das nur immer machte. Wichtig ausschauen, auch wenn keine Sau ihm zusah.

»Superidee von dir, vor allen anderen hier raufzugehen!«, rief Ruprecht, obwohl er direkt neben ihm stand. »Keiner nervt, keiner glotzt, und keiner latscht dir über den Schirm.« Er lachte. Als wäre er witzig. »Allerdings auch keine Hasen, die dich anhimmeln. Schon ein wenig schad. Ein paar hättest schon herbestellen können, wenn ich’s mir recht überleg. Allein wegen der Show.« Wieder wieherndes Gelächter.

Er lachte pflichtschuldigst mit. Soso, Rupi. Keine dich anhimmelnden Hasen. Nicht dass du verheiratet wärst. Keine Hasen, keine Zeugen, Rupi, so seh ich die Sach. Zumindest nicht hier oben. Er machte sich keine Illusionen. Ganz allein war man nie am Berg. Schon gar nicht an so einem herrlichen Samstag im Mai. Irgendein verirrter Naturfreak kroch garantiert schon zu dieser frühen Stunde durch die Latschen und zählte irgendwelche Krabbelviecher. Er hatte darüber nachgedacht, ob Zeugen am Berg ihn belasten könnten. Und war zu dem Ergebnis gekommen, dass sie vollkommen wurscht wären. Ihn würde niemand identifizieren können, die Schirme hatten keine Nummern. Sie mussten halt nur in der Luft sein, bevor die Ersten mit der Bahn raufkämen. Aber bis dahin hatten sie noch locker eine Stunde Zeit.

Er sah zu Ruprecht hinüber. Klar, der war als Erster am Start. Packte seine Ausrüstung aus. Den Helm in der Hand, brüllte er: »Schlafst schon wieder, oder was? Weißt schon, ich muss a wengerl Gas geben. Zefix, der Gemeinderat mit seinem Schmarrn, der geht mir so was von auf den Sack. Ich muss halt aufs Podium, die sind doch rettungslos verloren ohne mich.« Er lachte gackernd. »Hätten wir uns nicht einfach so verzupft, hätt’s bestimmt nur Gemecker und Gemaule gegeben.«

Darauf kannst du einen lassen, Ruprecht, dass keiner weiß, dass wir hier oben sind, dachte er. Musste dir das ja nur als deine Idee verkaufen, und schon hast du’s geschluckt. Er zog seine Thermosflasche aus dem Rucksack, drehte den Verschluss auf, ging die paar Schritte zu Ruprecht hinüber und goss eine dampfende Flüssigkeit in die Kappe. »Tee?«, fragte er.

Ruprecht starrte ihn an und brach, wie erwartet, schon wieder in brüllendes Gelächter aus. »Tee! Bist du irre! So krank kann ich gar nicht sein, dass ich des trink«, japste er. »Hast du nichts Gscheits?«

Er lächelte still. War eigentlich zu einfach. Er drückte Ruprecht die Kappe mit dem Tee in die Hand, griff in seine Jackentasche und zog einen kleinen Flachmann hervor. »Tee mit Rum?«, fragte er.

»Bist doch immer noch mein Bester«, grölte Ruprecht und schlug ihm mit seiner Pranke auf die Schulter.

Er gab einen ordentlichen Schuss in Ruprechts Tee und sah zu, wie der ihn in sich reinschüttete. »Das ist doch mal ’ne Ansage! Apropos Ansage. Wir starten jetzt, sonst hätten wir uns die Latscherei hierherauf gleich sparen können. Auf geht’s! Pack mer’s!«

Wie selbstverständlich ließ er Ruprecht den Vortritt am Startplatz. Das war schon immer so gewesen, hier am Berg, drunten im Tal, daheim, an jedem einzelnen beschissenen Tag. Während Ruprecht sein Gurtzeug anlegte, den Helm aufsetzte, seinen Schirm ausbreitete und die Leinen ordnete, wandte er sich ab. Mit gesenktem Kopf ging er gedanklich seine Checkliste durch. Er hörte Ruprecht vor sich hin pfeifen. Gott sei Dank, so brauchte er nichts zu sagen.

Er beobachtete Ruprecht, wie er erst sein Gurtzeug, dann den Luftraum überprüfte und in die Grundhaltung ging. Mit Bremsen und A-Leinen in den Händen schrie er über die Schulter: »Schaust, dass du übers Gipfelkreuz kommst! Dann kriegst du unten einen Hopfentee!«

Mit zwei, drei raumgreifenden Schritten trat Ruprecht an. Der Schirm füllte sich mit Luft und stieg über ihm auf. Routiniert verlangsamte Ruprecht seine Geschwindigkeit, warf den Kontrollblick nach oben in die Kappe und rannte los.

Während Ruprecht abhob, ins Gurtzeug glitt und eine weite Rechtskurve flog, schloss er seine eigenen Karabiner. Wie lange würde es dauern, bis die Wirkung des Betablockers einsetzte? Zehn Minuten? Zwanzig? Ruprecht war einfach so dämlich, er hatte es noch nicht mal gemerkt, dass er ihm seine eigenen Tabletten geklaut hatte.

Diagnose Bluthochdruck. Ab und zu mal Herzklabastern. Welches Herz?, dachte er und grinste. Der Choleriker nahm schon seit Jahren dieses Zeug. Betablocker. So ging’s Ruprecht ja gut mit dem ganzen Medikamentenscheiß, aber die Dosis in seinem Tee, die würde ihn umhauen. Fünf Minuten? Er hatte nicht an den Tabletten gespart, die er in den Rum gebröselt hatte. Schon echt der Hammer, was die Ärzte so verschrieben.

Er sah hinab ins Tal, prüfte aus alter Gewohnheit den Luftraum über sich, obwohl ihm klar war, dass außer ihnen noch niemand in der Luft sein konnte.

Ein letztes Mal die Windrichtung kontrollieren, die Leinen in den Armgelenken, dann anlaufen und den vertrauten Ruck fühlen, wenn er den Schirm über sich aufzog.

Ein letzter Blick in die Kappe, er entschied sich zu starten, gab Gas und hob ab.

Ruprecht war gut fünfzig Meter vor ihm. Er ließ sich in sein Gurtzeug kippen, flog seine Rechtskurve möglichst eng, um zu Ruprecht aufzuschließen. Ein Teil seines Bewusstseins nahm den Zug in seinem Körper wahr, fühlte, wie die Luft an ihm vorbeirauschte, die Geschwindigkeit. Er konnte es nicht verhindern, Begeisterung darüber, in der Luft zu sein, perlte in kleinen Blasen in ihm hoch. Mit aller Macht kämpfte er dagegen an. Nein, nein, nein, freuen durfte er sich auf gar keinen Fall. Der Fahrtwind zog an seinem Gesicht, zerrte an den Steuerschlaufen, und er fühlte, wie Adrenalin sich in seine Blutbahnen ergoss. Heut war nicht der Tag, um glücklich zu sein, heute war er wach, so wach, unendlich wach.

Ruprecht war immer noch etliche Meter vor ihm, flog die Hangkante entlang nach Osten, auf der Suche nach Hangaufwinden. Der Forggensee und der Bannwaldsee lagen schräg vor ihnen. Rechts huschten schroffe Felswände, in die sich Kiefern und Latschen krallten, an ihm vorbei. Sein Drucksensor begann zu piepsen, und er gewann schnell an Höhe. Jetzt war Ruprecht schräg unter ihm, bekam aber auch den Aufwind zu fassen und stieg in die Thermik ein.

Er passte seinen Flugweg Ruprechts Drehrichtung an und kreiste über ihm. Rohrkopf und Pechkopf tauchten vor ihm auf. Er hielt nach Ruprecht Ausschau. Der war wie immer ungeduldig. Anstatt ruhig weiterzukreisen und sanft an Höhe zu gewinnen, verließ er die Thermik und flog weiter nach Norden. Sie waren schon zehn, nein, zwölf Minuten in der Luft, als er seinen Flugweg änderte. Er flog eine Linkskurve, weg vom Hang, kreiste nach rechts und sah Ruprecht wieder vor sich, mit dem Pechkopf dahinter. Sollte der Berg mit diesem wunderbaren Namen wirklich zu dem Ort werden, wo das geschah, worum sich seine Gedanken seit einem Jahr drehten? Er war wieder mit Ruprecht auf gleicher Höhe. Sein Drucksensor piepste, und er wollte gerade in die Thermik einsteigen, als er Ruprecht schreien hörte.

»Hilfe! Scheiße! Hilfe!«

In das Adrenalin mischten sich Endorphine. Es funktionierte! Das Zeug wirkte. Endlich. Schwindel und Ohnmacht standen ganz oben auf der ewig langen Liste der Nebenwirkungen. Super. Genau das, was man beim Fliegen so gar nicht brauchen konnte. Da! Ruprechts Kappe fiel einseitig zusammen, er kippte, verlor die Kontrolle über seinen Schirm, sackte durch, zehn, fünfzehn Meter, und verlor rasant an Höhe.

Unwillkürlich verzog sich sein Mund zu einem Lächeln, er stieg in die Thermik ein, kreiste und sah von oben dabei zu, wie Ruprechts Schirm großflächig zusammenklappte. Ob das Schwein noch hoch genug war, um die Rettung zu ziehen? Nein, er konnte keinen Rettungsschirm entdecken, da hatte jemand aber Pech am Pechkopf! Ruprecht war jetzt nur noch zwanzig Meter über Grund, überflog den Bergwald und hielt auf die Wiesen zu, die sich in weiten Wellen bis zu den Seen erstreckten. In rasender Geschwindigkeit überquerte er die sattgrünen Flächen und kam dann in einem breiten Kiesbett abrupt zum Stillstand. Er wünschte, er könnte es scheppern hören, sah stattdessen aber nur, wie Ruprechts Schirm nach unten segelte und sich als schlaffer, bunter Sack auf der steingrauen Ebene ausbreitete.

Er selbst flog eine Linkskurve und gönnte sich noch zwei Runden in der Thermik, um sich sein Werk von oben zu besehen. Was würde er sagen, wenn er wieder daheim wäre und alle davon wüssten? »Mei, so eine Tragödie. Seit Jahren Herzpatient, der Mann. Stressiger Job in der Gastronomie, müssen Sie wissen. Ob ihn der Aufstieg zum Startplatz zu sehr angestrengt hatte? Schwer zu sagen, der Ruprecht wirkte immer so fit, topfit! Was für ein schrecklicher Unfall, im Flug einfach so umzukippen. Was meinen Sie, war es vielleicht ein Herzinfarkt?«

Der Fahrtwind rauschte um seinen Helm. Zu gern hätte er dem Notarzt die letzte Frage gestellt. Aber besser nicht. Er flog noch einmal über die Absturzstelle. Bewegte sich da noch etwas? Er konnte nichts erkennen. Genussvoll zog er nach links, genoss noch eine Runde auf dem Weg zurück zum Landeplatz am Tegelberg. Von dort aus würde er schnell verschwinden, ab nach Hause. Wenn er Glück hatte, würde niemand merken, dass er überhaupt weg gewesen war. Er verkleinerte den Schirm, um schneller abzusteigen. Bildete er sich das nur ein, oder hörte er schon die ersten Sirenen im Tal? Auf die Naturfreaks am Berg war halt wie immer Verlass. Er hatte es getan. Gott, was war er stolz auf sich. Doch das durfte er nach der Landung niemandem zeigen.

Gschiss

»Derf i grad?« Carola tippte dem Lodenjackenträger vor sich mit ihrem Smartphone auf den Unterarm.

Der drehte sich genau so weit zu ihr um, dass er unter buschigen Augenbrauen auf sie hinabschauen konnte. »Mei, wo magst denn noch hin, Madl?«, grunzte er unwirsch. »Ist doch eh schon alles voll.« Stirnrunzelnd betrachtete er die besetzten Stuhlreihen vor sich und schnaufte missbilligend. »So ein Gschiss, alles nur wegen einer damischen Gastwirtschaft.«

Carola unterdrückte ein Grinsen. Nicht nur, weil sie als abriebfeste Schleswig-Holsteinerin inzwischen akzentfrei Bayerisch sprach. Sondern auch, weil der ewig grantelnde Metzgermeister Strobl nicht hier wäre, wenn es tatsächlich nur um »Gschiss« ginge. Dann säße er an einem frühen Samstagmittag mit seinen Spezln drüben am Stammtisch und würde über die Lokalpolitik fabulieren. Dennoch war er da, und er war sauer, weil er keinen Platz mehr bekam. Aber er blieb. Also ging es wohl um weitaus mehr als nur um »Gschiss«.

Sie schaltete ihr professionelles Lächeln an, murmelte noch einmal »Derf i?«, quetschte sich an seinem dicken Bauch vorbei und sah sich um. Viel zu wenig Sauerstoff in der Bude, dachte sie, die Luft kann man ja in Klötze schneiden.

Dabei war es nicht nur stickig, sondern auch warm und laut. Der große Saal im Gasthaus Sailerwirt in Dießen war bis auf den letzten Platz besetzt, und an der Tür drängten sich immer noch Menschen. An den Tischen im hinteren Bereich war kein Stuhl mehr frei. Mühselig kämpften sich Bedienungen mit Tabletts und Tellern zu den Gästen durch. Carola entdeckte die Juniorchefin des Sailerwirts, Andi Prestel, wie sie gerade einen Tisch abräumte. Jesus, war die immer schon so dünn? Die war ja kreideweiß, und dazu noch diese nachtschwarzen Haare! Geradezu beängstigend, wie die ausschaute. Am Essen beim Sailerwirt konnte es jedenfalls nicht liegen, denn wer einen Platz am Tisch ergattert hatte, ließ es sich schmecken. Es roch intensiv nach Schweinsbraten und Schnitzel. In das Klappern von Gläsern und Geschirr mischten sich Stimmengewirr und Gelächter. »Bringst mir noch ’ne Halbe!«, hörte Carola einen Gast einer vorbeihuschenden Bedienung zurufen. Wirtshausatmosphäre, man verstand sein eigenes Wort nicht mehr.

Weiter vorn ging der Gastraum in den Saal über. Hier standen zwölf Stuhlreihen in einem Halbkreis vor der Längswand. Carola hatte es ausgerechnet: Wenn jeder der Stühle besetzt wäre, befänden sich rund zweihundertvierzig Leute im Saal, und die Ersten drängten sich schon vor den Fenstern. In der vordersten Reihe hatten sich drei Journalisten in Stellung gebracht und nestelten an ihrem technischen Equipment herum. Dahinter machte sie einige Gemeinderäte aus, die ihre Köpfe zusammensteckten.

An der Längsseite des Saales hatte sie am Vormittag gemeinsam mit ihrem Kollegen Seppi Hinterstrasser, seines Zeichens studentische Hilfskraft im Weilheimer Wahlkreisbüro, zwei Tische zu einem improvisierten Podium zusammengeschoben. Auf ihm stand jetzt ein Laptop, dahinter saß dauerlächelnd Gemeinderat Weckerle, der unlängst in das Gremium nachgerückt war. Carola sah ihm mitleidig dabei zu, wie er eifrig in die Runde grinste. Greenhorn, mit dir kann man’s ja machen. Hinter ihm, an der Rückwand des Saales, hing eine Leinwand, zwischen Podium und Sitzreihen war ein Beamer aufgebaut und projizierte ein Bild vom Dießener Töpfermarkt samt eingebautem Veranstaltungstitel auf die weiße Fläche. Ein schöner Nebeneffekt, wie Carola fand, war, dass ein Teil der Bildergalerie verdeckt wurde, die sonst die Wand schmückte – mindestens zwanzig Schnappschüsse, die den Juniorchef des Hauses mit lokalen B- und C-Promis zeigten.

»Bürger-Frühschoppen«, schrie es in großen Lettern von der Leinwand herab. An und für sich war eine als Frühschoppen getarnte Ortsversammlung kein Anlass für einen solchen Andrang, schon gar nicht an einem Samstagmittag. Das hatte die maue Beteiligung bei vergleichbaren Veranstaltungen in den letzten Jahren eindeutig bewiesen. Aber die Tagesordnung, die zwei Wochen zuvor im »Westufer Kurier« veröffentlicht worden war, enthielt einen Punkt, über den seit zwei Wochen auf der Straße, an der Supermarktkasse und den Stammtischen heftig spekuliert wurde. Und deshalb waren sie alle, alle hier.

Vor den Tischen diskutierte ihr Chef, Bundestagsabgeordneter Johannes Ludwig, mit dem Bürgermeister Valentin Schwarz. Vor knapp zwei Jahren hatte Ludwig Carola in seinen Wahlkreis an den Ammersee geschickt, um ihn bei der Kandidatur für seine Wiederwahl zu unterstützen. Neugierig, wie sie nun einmal war, hatte sie sich innerhalb weniger Tage eine Leiche, einen Kommissar und jede Menge Aufregung eingehandelt. Sie war am Ammersee geblieben, die Bundestagswahl war inzwischen Geschichte, und ihr Chef, Johannes Ludwig, saß wieder im Hohen Haus. Im politischen Berlin wurde er immer noch als heißer Kandidat für einen Staatssekretärsposten gehandelt, weshalb er sich in letzter Zeit noch häufiger in der Hauptstadt aufhielt als sonst schon. Aber wenn es seinen Zwecken diente, dann machte er auch in Lokalpolitik. So wie heute. Carola musterte ihren Arbeitgeber anerkennend. Heute gab er wieder alles, das musste man ihm lassen.

Braun gebrannt, die Halbglatze glänzend wie frisch poliert, die grauen Locken schulterlang und frisch geföhnt, wäre er von hinten auch als Hippie durchgegangen. Gar nicht hippiesk war hingegen der edle nachtblaue Dreiteiler aus feinster italienischer Wolle, den er über seinen radlgestählten Körper gezogen hatte. Dazu trug Ludwig ein modisches schneeweißes Button-down-Hemd, eine kreischend pinkfarbene Krawatte und glänzende, handgenähte karamellbraune Budapester. Wer ko, der ko, dachte Carola und lächelte ihren Chef an.

Der zwinkerte ihr einmal kurz aus strahlend blauen Augen zu. »Caro«, begrüßte er sie. »Gut schaust aus.«

»Merci«, lächelte sie. Sie hatte vorausgeahnt, dass Ludwigs Aufzug heute einem Dressman zur Ehre gereichen würde, und sich deshalb ein magentafarbenes Etuikleid übergestülpt und die blonden Haare hochgesteckt. Sie wusste selbst, dass sie gut aussah, aber es war erfreulich, das auch einmal aus berufenem Munde zu hören.

»Grüß Gott, Herr Bürgermeister. Passt so weit alles?«

Der Bürgermeister nickte, ohne sie anzusehen, und zog sein Smartphone aus der Tasche. Carola musste sich schon wieder ein Grinsen verkneifen. In der Kreisliga gab man sich halt betont geschäftsmäßig. Als ob die Kanzlerin gleich anrufen würde.

»Alles gut, Caro. Über mangelnde Publicity können wir uns heute nicht beklagen«, antwortete stattdessen ihr Chef.

Sie lächelte und freute sich über das implizite Kompliment. Sie wusste, wie sehr Ludwig es liebte, im Rampenlicht zu stehen. Sobald Scheinwerfer aufleuchteten und Mikrofone sich ihm entgegenstreckten, blühte er auf.

»Wo bleibt denn bloß der Rupi?« Valentin Schwarz ließ sein Smartphone zurückgleiten und sah sich suchend um. »Das ist mal wieder typisch. Ein einziges Mal soll er in seiner Funktion als Gemeinderat ein Projekt vertreten, und schon lässt er uns hängen. Wenn er nicht gleich auftaucht, müssen wir ohne ihn anfangen.«

Was nun wirklich nicht schlimm wäre, dachte Caro. Sie hatte Ruprecht »Rupi« Prestel, den Juniorchef des Sailerwirts und langjährigen Gemeinderat, bisher ausschließlich als einen ausgesprochen unangenehmen Zeitgenossen erlebt. Zu laut, zu ehrgeizig und ja, auch zu sexistisch. Nicht dass er sie einmal blöd angefasst hätte, seine Blicke reichten ihr. Rupi Prestel konnte ihr getrost gestohlen bleiben. Ihrer Meinung nach war ihr Chef eh der bessere Redner.

Aber der schien heute Morgen Kreide gefrühstückt zu haben, denn er klopfte dem Bürgermeister beruhigend auf die Schulter. »Der wird schon noch kommen.« Als er einen Blick auf die Uhr warf, zog er aber doch die Augenbrauen hoch. »Mei, schon so spät. Du kannst ja mal mit dem Zahlenteil beginnen. Hast schon recht, wir wollen die Leute nicht warten lassen, gell?«

Der Bürgermeister brummte etwas, was man als Zustimmung werten konnte, und ergriff das Mikrofon. Ludwig nickte Carola zu, marschierte hinter das Podium und setzte sich.

»Auf geht’s«, sagte Carola leise, sah sich um und zwängte sich zwischen die an den Fenstern Stehenden. Ein großer, schlanker Mann mit Dreitagebart machte ihr Platz, und sie meinte, ihn schon einmal beim Optiker gesehen zu haben.

»Servus«, grüßte er. »Sie sind Kundin bei mir, gell?«

Carola nickte freundlich, aber stumm. Ein einziges Mal hatte sie eine Sonnenbrille bei ihm gekauft, und daran erinnerte der sich? Was wollte der jetzt von ihr?

Er beugte sich zu ihr hinunter und flüsterte verschwörerisch: »Ein seltener Anblick.« Er machte eine kleine Kopfbewegung. »Alle Sailers beieinander.«

Carolas Blick folgte seiner Geste. Die drei auf der gegenüberliegenden Seite mussten sie sein, die Sailers. Die spindeldürre, blasse Andi im schwarzen Servicedirndl stand zwischen einer herrisch dreinblickenden Mittsechzigerin im knallgrünen Lodenjanker und einem untersetzten, fülligen Mann mit kahl rasiertem Schädel, Dreitagebart und verträumten Rehaugen. Er trug eine Kochjacke und hatte sich so hingestellt, dass sich Andi leicht an ihn lehnen konnte.

Im lärmigen Saal ging die Stimme des Bürgermeisters fast unter. »Grüß Gott, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger.« Er blickte streng in die Zuschauerreihen und machte eine Kunstpause. Die Geräuschkulisse wurde leiser, aber noch immer waren einzelne Stimmen zu hören.

»Sch-sch-sch.«

»Jetzt halt einmal dei Bappn.«

»Ruhe!«

Schließlich erstarb das Getuschel vollends, und Valentin Schwarz ließ wieder seinen Blick über die Runde schweifen. »Herzlich willkommen zur diesjährigen Bürgerversammlung im Gasthof Sailerwirt. Ich freue mich darüber, dass Sie so zahlreich erschienen sind, und möchte Sie deshalb auch nicht warten lassen. Gemeinderat Ruprecht Prestel, der eigentlich mit uns die Versammlung eröffnen sollte, verspätet sich offensichtlich. Beginnen möchte ich damit, dass ich Ihnen den Haushalt der Marktgemeinde für das vergangene und laufende Geschäftsjahr vorstelle.« Er nickte Gemeinderat Weckerle zu, der eine Taste auf dem Laptop berührte. Eine Seite mit Spiegelstrichen und Zahlenkolonnen erschien auf der Leinwand und löste das Bild vom Töpfermarkt ab.

Carola spürte, wie sie gedanklich wegdriftete und die Zahlenparade vor ihren Augen verschwamm. Stattdessen begann ihr Kopfkino, die Bilder des vergangenen Wochenendes abzuspielen. Das passierte dauernd seit letztem Sonntag. Kaum ließ sie einmal fünf Sekunden die Konzentration schleifen, dachte sie an ihren neuen Bekannten Sven. Sie dehnte sich, seufzte leise und hätte am liebsten vor Wohlbehagen geschnurrt. Sven hatte sie aber auch nach Strich und Faden verwöhnt.

Sie hatte ihn im Supermarkt an der Gemüseauslage kennengelernt. Gut hatte er ausgeschaut mit seinen strubbeligen aschblonden Haaren, den blauen Augen und den verwaschenen Jeans. Er hatte ihr zu einer bestimmten Tomatensorte geraten und sie dann nach ihrer Nummer gefragt. Ein paarmal hatten sie geschrieben, bevor er sie zum sonntäglichen Brunch einlud.

Im ersten Moment hatte sie gezaudert. Ihr Flirt – oder war es mehr? – mit Laurentius »Lenz« Meisinger, dem älteren Sohn ihrer Vermieterin, seines Zeichens Kriminalkommissar bei der Kripo Weilheim, lag schon etliche Monate zurück, und Lenz war nicht nur ihr Nachbar und Kriminalkommissar. Vor knapp zwei Jahren wäre er fast ihr Liebhaber geworden. Aber auch nur fast. Bei den Ermittlungen rund um einen toten Restaurator waren sie sich nähergekommen, anschließend essen gegangen und durch den Wald spaziert. Sie hatten Händchen gehalten, er hatte sie in den Arm genommen, sie hatten viel gelacht, und dann …

Bei der Erinnerung spürte sie, wie ihr Herz sich zusammenkrampfte. Shit. Das tat weh. Mühsam kämpfte sie gegen einen Schwall Tränen an, der aus ihren Augen stürzen wollte. Von einem Tag auf den anderen hatte sich Lenz nicht mehr gerührt. Hatte es geschafft, ihr nicht mehr zu begegnen, obwohl sie in ein und demselben Haus wohnten. War einfach verschwunden gewesen. Kein Anruf, keine Nachricht. Wie vom Erdboden verschluckt.

Sein Schweigen hatte sie härter getroffen, als sie zugeben wollte. Fassungslosigkeit wich Schmerz, Schmerz Wut und Wut schließlich Sturheit.

In einem Winkel ihres Herzens wusste sie, dass sie ungerecht zu ihm war. Wenn ihr so an ihm gelegen wäre, hätte sie ja auch den Mund aufmachen können. Aber wer hatte denn gesagt, dass sie souverän sein musste, während er sich kindisch benehmen durfte? Nach all den Jahren des ununterbrochenen Verständnisses für die Kapriolen diverser Männer hatte sie es einfach satt. Am Ende hatte sie geschwiegen, als sie Lenz eines Morgens wieder vor der Haustür begegnet war. Mehr als ein knappes »Servus« war in den folgenden Wochen nicht mehr drin gewesen.

Und dann war eines Tages Sven in ihr Leben geflattert, hatte sich als Koch vorgestellt und sie zum Frühstück eingeladen. Aber das erste Date gleich bei ihm zu Hause? Ihr Kollege Seppi hatte gelacht, als sie ihn gefragt hatte, ob sie die Einladung annehmen solle. »Wovor hast du Angst? K.o.-Tropfen? Mädchenhandel? Hannibal Lecter?« Sie hatte ihren Stift nach ihm geworfen und Sven zugesagt.

Bei dem Gedanken lief sie immer noch leicht rosa an. Warum hatte sie eigentlich gezögert? Aber man wird ja wohl noch fragen dürfen, dachte sie. Sie horchte in sich hinein. Ganz hinten in ihrem Bewusstsein blinkte ein rotes Lämpchen. War das ein Sven-Alarm – oder ein Dauerleuchten aufgrund einer nicht enden wollenden Lernkurve mit Männern? Sie wusste es nicht.

Der Sonntag, den sie mit Sven verbracht hatte, war aber auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. Er hatte sie barfuß in Jeans, T-Shirt und Schürze an der Tür empfangen. Neugierig war sie ihm in die Küche gefolgt und hatte dabei versucht, um die Ecken seiner Wohnung zu linsen. Seppi hat schon recht, schalt sie sich selbst, was erwarte ich denn? Eine Streckbank samt Nietengeschirr? Neunschwänzige Katzen, die an Fleischerhaken hängen? Eine Großpackung Kabelbinder? Sie konnte nichts dergleichen entdecken, stattdessen bog sich der riesige Esstisch in Svens blauer Küche schier unter Schüsseln, Tellern und Körben. Darauf und darin: frisch gebackenes Brot, von ihm gebeizter Lachs, selbst gekochte Marmeladen und eigens für den Anlass angerührte Frischkäsekreationen. Ich hätte viel früher einen Koch kennenlernen sollen, damit verbessert sich meine Versorgungslage schlagartig um hundert Prozent, hatte Carola gedacht und vergnügt gekaut.

An die Wand beim Sailerwirt gelehnt, lief ihr bei der Erinnerung das Wasser im Mund zusammen. Staunend hatte sie Sven dabei zugesehen, wie er einen Pfannkuchen nach dem anderen wendete, indem er ihn in die Höhe warf. Und dabei gedacht: Herrjemine, wie verdammt sexy, wenn ein Mann am Herd steht und mehr zustande bringt, als Kaffeepulver in heißem Wasser aufzulösen.

Sie hatten gegessen, geredet und gelacht. Sven hatte sie nach ihrem Job gefragt und sie nach seinem. In Hamburg hatte er gelernt, im Hafen, bis er es eines Tages sattgehabt hatte. Immer nur Fisch, Fisch, Fisch. »Aber dann gleich Bayern?«, hatte sie gefragt. Sven war sich durch die Haare gefahren und hatte von einem Restaurant erzählt, von dem sie noch nie gehört hatte. Altes Haus, neues Konzept, super Team und das Beste – zwei Tage in der Woche frei!

Bevor die Situation am Esstisch peinlich werden konnte, hatte Sven ein Nachmittagsprogramm vorgeschlagen, dem sie sofort zugestimmt hatte. Sie waren durch die warme Frühlingssonne zum Ammersee geradelt, hatten sich ein Segelboot gemietet und den Nachmittag auf dem Wasser verbracht. Kreischend war sie in den viel zu kalten See gehüpft und hatte sich einen gewaltigen Sonnenbrand auf der Nase geholt. Nachdem er sie noch zum Abendessen eingeladen hatte, hatte er sie, ganz Gentleman, nach Hause begleitet.

Und dann, dann … Sie ließ die Erinnerung genüsslich über sich hinwegfluten. Die beiden Abschiedsküsschen links und rechts hatten sich zu einem Geknutsche vor der Haustür ausgewachsen. Hölle, fühlte sich das gut an! Sie schmolz wie Butter in der Sonne, sah sich schon mit Sven auf ihrer cognacfarbenen Ledercouch, bis, ja, bis … Bis die Tür von innen aufgerissen wurde und Sven und sie auseinanderstoben wie zwei Teenager. Im warmen Licht des Hauseingangs stand Tom Meisinger vor ihnen, der gut aussehende, ewig schlecht gelaunte Zimmerersohn ihrer Vermieterin Resi. Er hatte erst sie angestarrt, dann Sven gemustert, irgendetwas gebrummt, was man mit sehr viel gutem Willen als »Servus« hätte deuten können, und dann die Tür vor ihrer Nase scheppernd wieder zugeschlagen.

Sie und Sven hatten gelacht, aber die Stimmung war dahin gewesen. Carola seufzte im Sailerwirt. Ansonsten, das war so was von klar, wäre die Ledercouch am ersten Abend fällig gewesen. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen und in den Unterleib strömte. Jetzt reiß dich mal zusammen, du bist doch kein Teenager mehr, ermahnte sie sich. Komm mal runter von deiner rosaroten Wolke und benutz lieber dein letztes Gramm Gehirn, das noch übrig sein muss. Contenance, meine Liebe, Contenance, rief sie sich zur Vernunft. Too good to be true, der Typ muss einfach einen Haken haben. Du weißt vielleicht noch nicht, welchen, aber irgendeinen hat er mit Sicherheit. So wie jeder Mann.

Während sie immer noch an der Wand lehnte und ihren mit Glückshormonen getränkten Erinnerungen nachhing, krabbelte plötzlich ein unangenehmes Gefühl vom Steißbein ihren Rücken hinauf. Jemand starrte sie an, das spürte sie genau. Aber wer?

Sie sah sich um und entdeckte auf der anderen Seite der Stuhlreihen … Lenz. Himmelherrgott, wieso denn ausgerechnet heute? Erst versaute der eine Meisinger-Sohn ihr erstes tolles Date seit Menschengedenken, dann erschien der andere bei einer ihrer Veranstaltungen und brachte sie damit in Verlegenheit. Was tat der denn um diese Uhrzeit am Ammersee? Und in diesem Aufzug? Leuchtend orangefarbener Pulli, eindeutig aus Kaschmir, weißes Hemd, dunkle Jeans und bestimmt, wie sie Lenz kannte, sündhaft teure italienische Schuhe. Gab’s denn so gar nichts zu ermitteln im schönen Oberland? Sie runzelte die Stirn, nickte ihm zu, er nickte zurück und verzog dabei keine Miene. Ach, Lenz, dachte sie, dann hat dich also die Nachricht erreicht, wer mich letzten Sonntag nach Hause gebracht hat.

Ihr Smartphone fing an zu brummen. »Sven«, teilte ihr das Display mit. Eine neue Nachricht. »Date? WE? Nur wir zwei diesmal?« Und ein Smiley.

Das war’s dann auch mit ihrer Selbstbeherrschung, sie freute sich wie ein Kleinkind. »Klaro«, schrieb sie zurück und setzte ein Smiley dazu. »Bin bei der Arbeit, melde mich, Caro«, tippte sie und dann schnell auf »Senden«. Sie musste jetzt zuhören, sonst verpasste sie noch etwas Wichtiges.

»Gibt es Fragen dazu?«, sagte Bürgermeister Schwarz gerade. »Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann übergebe ich jetzt das Wort an den Bundestagsabgeordneten Johannes Ludwig.«

Schwarz drückte Ludwig das Mikro in die Hand. Der stand auf, strich sich mit seiner freien Hand das Sakko glatt und setzte sein Millionen-Dollar-Lächeln auf.

Johannes, du kannst das einfach, dachte Carola stolz. Sie hatten wochenlang darüber diskutiert, erst ob und dann wie sie ihre Nachricht unters Volk bringen sollten. »Johannes«, hatte Carola zu guter Letzt gesagt, »du musst die Machos im Gemeinderat dazu bringen, die Bürger mitzunehmen. Natürlich wär’s denen lieber, sie würden die Sache einfach par ordre du mufti durch die Gremien tragen. Einmal beraten im Gemeinderat, kurz die Hand heben, gibt es Gegenstimmen? Nein, das ist nicht der Fall, dann danke und weiter zum nächsten Tagesordnungspunkt. Und dann den Beschluss, zack, bumm, umsetzen, und fertig ist die Laube.«

»Und wenn schon, Caro«, hatte Ludwig gelacht. »Das machen wir halt so in Bayern.«

»Johannes.« Carola hatte seinen Blick gesucht. »Die Nummer ist zu groß für eine Gemeinderatsentscheidung. Ihr müsst die Bürger von Anfang an informieren und mitentscheiden lassen. Sonst wird das ein Rohrkrepierer. Wenn ihr das hinter verschlossenen Türen macht, gibt es nur Gemecker und Gemaule im Dorf. Du hast das doch schon oft genug in anderen Wahlkreisen gesehen. Dass alle selbst berufenen Bedenkenträger und hauptamtlichen Nörgler sich aufmachen, das Haar in der Suppe zu finden. Wir Deutschen sind so kleingeistig, wir kritteln, stänkern und verspritzen so lange Gift, bis das Projekt stirbt, bevor es überhaupt geboren wurde.« Sie sah ihren Chef an, der die Brauen gehoben hatte. Seine stahlblauen Augen schauten amüsiert. Sie holte Luft, um nachzusetzen. »Und wenn das passiert, dann kündige ich. Ich hab nämlich jetzt schon ein ganzes Jahr Lebenszeit mit dem Bockmist verbracht.«

Jegliches Amüsement war aus Ludwigs Gesicht gewichen, als er sie erschrocken ansah. »Meinst du wirklich, Caro?«, hatte er gefragt.

»Ja. Meine ich wirklich«, hatte sie mit fester Stimme geantwortet.

Das hatte den Ausschlag gegeben. Es hatte noch einer ganzen Reihe von Treffen mit dem Bürgermeister und dem Gemeinderat bedurft, bis Ludwig diese von der Notwendigkeit einer Bürgerbeteiligung überzeugt hatte. »Aber das nimmst dann du auf deine Kappe«, hatte der Bürgermeister verkündet, bevor sie die Tagesordnung in die Zeitung gesetzt hatten.

Ludwig steckte nun eine Hand in die Tasche und räusperte sich. »Meine Damen und Herren, herzlichen Dank auch von meiner Seite, dass Sie so zahlreich gekommen sind. Ich nehme an, Sie sind sehr gespannt, was sich hinter dem Tagesordnungspunkt«, er nickte Gemeinderat Weckerle zu, der wieder auf das Laptop tippte, »›Neubau einer Gastronomie in Seenähe‹ versteckt.«

Carola spürte, wie sich die Atmosphäre im Saal abrupt änderte. Aus freundlicher Langweile wurde innerhalb von Sekundenbruchteilen Gereiztheit. Oh, oh, Johannes, dachte sie, übertreib’s bloß nicht mit deiner Ankündigungsrhetorik. Das Gemurmel um sie herum schwoll merklich an.

»Jetzt spuck’s halt aus.«

»Was soll der Schmarrn?«

»Zeit wird’s auch!«

Ludwig lächelte. »Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen. Wie Sie alle wissen, gibt es in Dießen am See im Gegensatz zu anderen Gemeinden am Ammersee ein, sagen wir einmal, begrenztes Freizeitangebot.«

Gelächter plätscherte durch den Saal, in das sich einzelne Stimmen mischten.

»Hast du das Kneipp-Becken vergessen?«

»Mei, und die Rosen sind doch auch ganz schön, gell?«

»Mir haben halt den Sellerie. Kriechenden Sellerie!«

Ludwig hob die Hand. »Die Lage am See ist, um es vorsichtig auszudrücken, vielschichtig. Ich will Sie hier nicht mit Details langweilen, aber einer Neugestaltung des Uferbereichs sind sehr enge Grenzen gesetzt. Gleichwohl wissen wir, dass in unserer Gemeinde die Nachfrage nach einem gastronomischen Angebot in Seenähe besteht.« Er nickte dem Gemeinderat zu, der ein weiteres Mal auf das Laptop tippte, sodass ein Bild vom Ammersee mit Dampfer und Blick auf das Kloster Andechs erschien. Im Saal war es mucksmäuschenstill.

»Aus diesem Grund haben wir uns dazu entschieden, die notwendigen Reparaturarbeiten am Kiosk im gemeindlichen Strandbad zum Anlass zu nehmen, einen gastronomischen Neubau zu errichten.«

Eine schier ewig andauernde Sekunde lang herrschte Totenstille. Dann brach das Chaos aus. »Woooaaas?«, schallte es aus Hunderten von Kehlen. Vor Carola schossen die Hände in die Höhe. Andere machten sich nicht einmal die Mühe, auf die Sprecherlaubnis zu warten, sondern schrien in den Saal.

»Und mir sollen des zahlen?«

»Genau!«

»Was möchtets ihr? Ja, spinnts ihr jetzt komplett, oder was?«

Ludwig setzte sein joviales »Ich kümmere mich gleich um dich«-Lächeln auf und machte wieder beruhigende Handbewegungen. Der Lärm ließ merklich nach. »Bevor ich Ihre Fragen beantworte, möchte ich Ihnen das Projekt in aller Kürze vorstellen.« Ein Blick in Richtung Gemeinderat, und das Laptop zauberte eine neue Ansicht auf die Leinwand, ein Bild vom Kiosk im Strandbad. »Geplant ist, den renovierungsbedürftigen Kiosk durch einen Neubau zu ersetzen. Dabei sollen hundert Sitzplätze im Innenbereich und weitere hundert auf der Terrasse entstehen.« Diesmal wartete Ludwig ruhig, bis ihm die Reaktionen entgegenbrandeten.

»Hundert Plätze drinnen?«

»Und hundert draußen, hast doch gehört!«

»Ja, san mer jetzt auf einmal reich, oder was?«

»Moment, Moment, Moment.« Ludwig ging zwei Schritte auf die Zuschauer zu. »Es ist mir«, ein saurer Blick des Bürgermeisters ließ ihn Luft holen, »also, dem Gemeinderat und mir ist es gelungen, bedeutende Summen öffentlicher Förderung für dieses Projekt zu organisieren. Nach unserer jetzigen Planung stellt die Gemeinde genau die Mittel zur Verfügung, die auch für die Reparatur des Kiosks notwendig gewesen wären. Keinen Cent mehr.«

Stille. Aber nur eine weitere Sekunde lang.

»Und wer soll des dann kriegen?«, rief es von links.

»Genau!«, schrie es von rechts.

»Habts ihr des auch schon ausgekartelt, oder was?«

Ludwig lächelte erneut. »Es ist uns vollkommen bewusst, dass wir mit diesem Projekt, sagen wir es mal laut und deutlich, Begehrlichkeiten wecken. In unmittelbarer Seenähe wird ein großer, moderner gastronomischer Betrieb entstehen.«

Das Gemurmel im Saal wurde wieder lauter. Ludwig wartete und knipste sein Hundert-Watt-Lächeln an. »Moment, Moment, lasst mich mal ausreden. Es ist uns klar, dass so ein Betrieb mit hoher Wahrscheinlichkeit ein großer wirtschaftlicher Erfolg werden wird. Wer Pächter dieser Gastwirtschaft wird, kann deshalb auch nicht einfach so mit einem Gemeinderatsbeschluss entschieden werden.« Carola sah, wie ihr Chef ihr zuzwinkerte und sich ein spitzbübisches Grinsen in sein Politikerlächeln mischte. »Deshalb möchten wir die Bürgerinnen und Bürger der Marktgemeinde einladen, sich an dem Entscheidungsprozess von Anfang an zu beteiligen. Es wird zeitgleich zwei Wettbewerbe geben, einen Architektur- und einen Gastronomiewettbewerb. Wir werden ausschließlich die Bewerber aussortieren, die die Bewerbungskriterien nicht erfüllen. Alle anderen stellen sich den Bürgerinnen und Bürgern anschließend in einer Wettbewerbsausstellung vor, bevor durch eine Abstimmung ermittelt wird, wer jeweils den Zuschlag erhält.« Ludwig blickte nonchalant in die Runde und hörte dem absehbaren Geschnatter geduldig zu.

Bis plötzlich eine Stimme alle anderen übertönte. »Abstimmung? Ja, seids ihr jetzt narrisch geworden?«, donnerte Metzgermeister Strobl mit puterrotem Kopf vom anderen Ende des Saales. »Und wenn’s dann einer von … von … mei, von Hamburg wird, nehmts ihr den dann auch, oder wie? Ja, spinnts ihr?« Tosender Applaus.

Carola betrachtete missbilligend des Metzgermeisters wogenden Wanst und dessen sich vor Zorn sträubenden Bart. Irgendwann zerreißt es den demnächst, dachte sie und warf einen Blick auf sein vor Wut glühendes Gesicht.

Ludwig hatte eine verständnisvolle Miene aufgesetzt. »Lieber Herr Strobl, ich verstehe Ihre Bedenken, aber ich kann Ihnen versichern, dass die Bewerber zeigen müssen, dass sie es in Bayern zu etwas gebracht haben.« Er strahlte.

»So? Das werden wir ja sehen«, meinte Carola zu hören.

Ihr Chef hob wieder beschwichtigend die Hände. »Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, lassen Sie mich ausreden. Ziel des Bürgerbeteiligungsverfahrens ist es ja gerade, dass keine Beschlüsse hinter verschlossenen Türen getroffen werden. Sie als Bürgerinnen und Bürger der Marktgemeinde haben in jeder Hinsicht die Entscheidung in der Hand.«

Die Zuhörer im Saal hatten die Köpfe zusammengesteckt und tauschten sich brummelnd untereinander aus.

Johannes Ludwig hob die Stimme. »Ich habe die Unterlagen für die beiden Wettbewerbe mitgebracht, sie liegen hier vorne aus. Dabei handelt es sich nur um Zusammenfassungen, die kompletten Ausschreibungen können Sie ab sofort auf der Website der Gemeinde herunterladen.«

Das Gemurmel schwoll erneut an. Einzelne Zuhörer standen auf, Hände fuchtelten durch die Luft, Stuhlbeine rutschten quietschend über das Parkett. Aus dem Augenwinkel nahm Carola eine weitere Bewegung wahr. Auf der ihr gegenüberliegenden Seite des Saales gerieten die Zuschauerreihen in Bewegung. Jemand schob sich durch die Menschenmenge nach vorn.

Ah, der Franz, dachte Carola. Franz Pollinger, Lenz’ engster Mitarbeiter, war an die Seite seines Vorgesetzten getreten und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Erinnere du deinen Chef mal an seine eigentlichen Aufgaben, dachte Carola amüsiert, runzelte aber dann die Stirn. Irgendetwas musste passiert sein, denn Lenz’ Gesicht, aus dem zunächst mildes Desinteresse zu lesen gewesen war, zeigte auf einmal tiefe Besorgnis. Zu gern würde ich jetzt Mäuschen spielen, dachte Carola. Was die nur haben?

Sie hörte Johannes Ludwig sagen: »Leute, liebe Leute, jetzt gebt einmal Ruhe, wir besprechen das jetzt alle gemeinsam, deshalb sind wir ja da«, als Lenz sich zu ihm durchdrängelte und leise mit ihm sprach.

Was ist denn bloß los?, fragte sich Carola. Jetzt schaut der Johannes schon genauso erschrocken wie eben der Lenz.

»Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich muss unsere Versammlung leider unterbrechen«, ergriff der Bundestagsabgeordnete wieder das Wort. »Soeben hat mich eine traurige Nachricht erreicht. Die Kripo Weilheim hat mich darüber informiert, dass ein Mitglied unseres Gemeinderates, Ruprecht Prestel, tödlich verunglückt ist. Ich –«

Er wurde von einem schwachen weiblichen Schrei unterbrochen, dem lautes Poltern folgte. Auf einmal war die Menge in Bewegung, und Carola sah, wie der Kochjacken-Sailer am Boden kniete. Einzelne Stimmen wurden laut.

»Das ist die Andi!«

»Die Andi ist umgekippt.«

»Ist hier ein Arzt? Wir brauchen einen Arzt!«

Der Optiker, der die ganze Zeit ruhig neben Carola gestanden hatte, machte einen Schritt nach vorn. »Arzt nicht, aber Rettungssanitäter«, sagte er.

Und die Frau rechts von Carola flüsterte: »Wenn der Andi ihr Mann verunglückt ist – dann: halleluja!«

Sitting cliché

»Gastrogroßprojekt unter einem schlechten Stern, Fragezeichen, Gemeinderat tödlich verunglückt, Ausrufezeichen.« Carola sah von der Nachrichtenwebsite auf ihrem Smartphone auf, von der sie vorgelesen hatte, und forschte im Gesicht ihres Chefs nach einer Reaktion. Nichts.

Aktuell schien ihn der im Milchschaum seiner Tasse kreisende Löffel zu faszinieren. Ehedem las man im Kaffeesatz, der moderne Hipster braucht dafür einen Cappu, dachte Carola. Unbelievable. Sie schenkte sich eine spitze Bemerkung und fragte stattdessen: »Bist du noch bei mir, Johannes?«

Er sah geistesabwesend über sie hinweg. Ohne die Frage zu beantworten, brummte er dem vorbeieilenden Wirt zu: »Paolo, bring mir doch bitte noch einen Cappuccino.«

Der quadratisch geformte Italiener verlangsamte kurz von Warp- auf Impulsgeschwindigkeit, rief »Subito!«, schnappte sich die ihm entgegengestreckte Tasse und hastete in die Trattoria zurück.

Carola, die die Szene schweigend beobachtet hatte, musste sich schwer zusammenreißen, um nicht mit den Augen zu rollen. Uns hier ein walking oder eher sitting cliché zu nennen ist ja wohl gelinde untertrieben, dachte sie und runzelte die Stirn. Da wird mein Boss mitten in der Vorstellung des wichtigsten lokalpolitischen Projekts des Jahres von der Nachricht erwischt, dass der für das Projekt zuständige Gemeinderat tödlich verunglückt ist, und was macht er? Rennt geradewegs zum Italiener gegenüber, ordert Kaffee und lässt mich seine Reputation im Internet checken. Hat der sie noch alle? Und erst der Seppi! Ihr Blick wanderte weiter zu ihrem Kollegen Josef Hinterstrasser, der breitbeinig auf dem Stuhl neben Ludwig lümmelte und an einem Bierglas nippte. Er war heute mal wieder so gar keine Hilfe. Ein Mädchen in einem luftig flatternden Sommerkleid radelte vorbei, und Carola folgte dem Blick ihres Kollegen. Ein Gemüt wie ein Fleischerhund. Der Prestel Rupi ist tot, und mein Hiwi glotzt den Weibern hinterher.

Sie sah zurück zu Ludwig, der sie nicht beachtete, und wieder zu Seppi, der ebenfalls keine Anstalten machte, etwas Sinnvolles beizusteuern. Was um Himmels willen tu ich hier eigentlich?, fragte sie sich stumm. Ich könnte in Berlin sein, Ausschussarbeit machen, eine anständige Pressekonferenz vorbereiten, auf interessante Veranstaltungen gehen und ab und an mal auf eine lustige Party. Aber nein, ich hab mir ja eingebildet, in diesem dämlichen Wahlkreisbüro zu bleiben, in diesem bayerischen Provinznest. Und ständig dieser kleinkarierte Ärger, ich könnte … Mitten in ihre trüben Gedanken hinein lächelte ihr plötzlich ein aknenarbiges Gesicht entgegen.

»Du?« Sie sprang auf und fiel ihrem Kollegen Matthias Schibowski um den Hals. »Was für eine schöne Überraschung! Ich hab dich erst heute Nachmittag erwartet.«

Matthias war ihr Anker im Weltall, eigentlich Tierarzt von Beruf, aber Mitarbeiter im Deutschen Bundestag aus Berufung. Und seit über vier Jahren loyaler Kollege und Freund im Berliner Nachbarbüro von Ludwig. Vor einer Woche hatte er angefragt, ob er sie besuchen dürfte, und sie hatte hocherfreut eingewilligt.

Hinter dem breiten Rücken ihres Kollegen rückte ein kleines, schmales Persönchen in Carolas Blickfeld, das sie schüchtern anlächelte. Oha, dachte Carola, so ist das also! Nicht ich werde hier besucht. Matthias hat ein Date mit einer Ammersee-Elfe! Sie lächelte das zarte Wesen freundlich an, das sofort hellrot wurde und die Augen niederschlug. Grinsend knuffte Carola Matthias in den Oberarm. »Wo sind nur deine Manieren? Stellst du uns mal bitte vor?«

Mit kaum zu überbietendem Stolz legte Matthias seine beiden Pranken auf die schmalen Schultern seiner Begleitung und schob sie nach vorn. »Darf ich vorstellen«, kam er Carolas Aufforderung nach, »das ist Nelly. Nelly und ich«, er strahlte auf sein Zauberwesen hinunter, »haben uns online in einem Umweltschutzforum kennengelernt und uns gleich super verstanden. Sie arbeitet übrigens als Krankenschwester in Weilheim auf der Intensivstation.« Sein Strahlen wurde noch ein paar Lux heller.

Wow, dachte Carola, mein alter Kollege ist ja hin und weg. Sie versetzte einem leeren Stuhl einen Schubs mit dem Fuß in Matthias’ Richtung. »Wunderbar. Krankenschwester auf der Intensivstation, genau so jemanden brauchen wir jetzt. Wir haben nämlich einen Notfall. Setzt euch, wollt ihr was trinken?« Amüsiert betrachtete sie Seppi, der sich beeilte, Nelly einen Stuhl an den Tisch zu rücken.

Johannes Ludwig hatte die ganze Zeit teilnahmslos in seinem zweiten Cappuccino weitergerührt. Als Matthias sich neben ihn setzte, legte er ihm, ohne sich im Mindesten über seine Anwesenheit zu wundern, einen Arm um die Schulter. »Matthias, grüß dich. Hast du schon gehört?«

Matthias hob fragend eine Augenbraue und sah Carola an.