Tod am Ammersee - Inga Persson - E-Book

Tod am Ammersee E-Book

Inga Persson

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Beschreibung

Ein Krimi mit Charme, Humor und wunderschönem bayerischen Flair. Eigentlich ist Carola Witt von Berlin an den Ammersee gereist, um ihrem Chef den oberbayerischen Wahlkreis zu sichern. Bevor sie aber überhaupt beim ersten Pressetermin erscheinen kann, stolpert sie unglücklicherweise über die Leiche eines Provinzpromis – und damit geradewegs ins Visier des Mörders. Doch zum Glück ist der ewig grantelnde, aber sehr fesche Kommissar Meisinger dem Täter auf den Fersen ...

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Inga Persson hat Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie studiert, 1994 promovierte sie. Anschließend schrieb sie jahrelang im Auftrag anderer: erst für Bundestagsabgeordnete, später für ihre Agenturkunden. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn am westlichen Ammersee und betreibt dort die traditionsreiche Gastwirtschaft »Schatzbergalm«. »Tod am Ammersee« ist ihr Debütkrimi.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

©2018 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: mauritius images/Westend61/Michael Bottari Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Susanne Bartel eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-345-5 Oberbayern Krimi Originalausgabe

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Für Siegfried und Elisabeth

Februar 1949

Er hatte vergessen, wie lange er im Schnee gestanden und versucht hatte, sich die Hände sauber zu reiben. Im hellen Mondlicht sah er, dass ihr Blut immer noch in dunklen Striemen in den Riefen seiner Schwielen klebte. Er drehte seine Hände, besah sie von oben, von unten, zögerte– und steckte einen Finger in den Mund. Er konnte es schmecken. Er stockte kurz, dann sog er heftig an seinem Finger. Ein süßer Tropfen rann seine Kehle hinunter. Er fühlte Hitze im Körper, spürte, wie ein Lächeln in ihm aufstieg. Er sah sich um. Weiß. Schwarz. Weiß. Alles weiß, schwarz. Und vollkommen still. Wie im »Abendlied«. Der Wald steht schwarz und schweiget.

Lautlos war er durchs Haus getappt, war auf jeder Stiege genau dahin getreten, wo sie nicht knarrte, hinauf, ganz hinauf zum Dach. Er sah zu dem kleinen Dachfenster hinaus, wie sonst immer im Frühjahr, wenn er auf der alten Leiter stand und die Gänse an sich vorüberrauschen ließ. Wenn er den Kopf hob, konnte er über den First auf die andere Seite des Daches sehen, eine riesige weiße Fläche, strahlend hell im winterlichen Mondlicht. Ein Husten ballte sich in seinem Hals zusammen, mit aufeinandergepressten Lippen schluckte er ihn hinunter, atmete gierig die kalte Winterluft durch die Nase tief in sich hinein. Sein Atem entfuhr ihm grellweiß leuchtend in die schwarze Nacht. Bloß keinen Lärm.

Er winkelte die Arme an, holte noch einmal Luft und schob sich mit einer einzigen glatten Bewegung auf dem Bauch aufs Dach. Den Kopf auf die verschneiten Ziegel gelegt, blieb er liegen. Und atmete. Weißer Atem, schwarze Luft. Er spürte, wie die Kälte in seine Kleidung drang– wie Wasser, das einen Stoff durchnässt. Gott, war das kalt. Das Zittern, das ihn erfasste, konnte er nicht mehr unterdrücken, wie ein Trommelfeuer schüttelte es ihn durch, seine Zähne klapperten. Rattattattattatta. Er sah auf und dem Mond direkt ins Gesicht, scheißhell, wie Flakscheinwerfer im Krieg. Aber keine Bombe krachte in die dröhnende Stille der Winternacht. Die Welt gab keinen Laut von sich, war tiefgefroren in Weiß und Schwarz.

Er zog die Beine an und schob sich weiter– weiter, weiter. Er wusste, er musste sich beeilen. Es blieb nur noch wenig Zeit. Unter sich im Stall hörte er die Kühe schnaufen, hörte, wie sie kauten und kauten, wieder kauten. Sie warteten aufs Melken, warteten aufs Futter, warteten auf seine Leute. Bald, sehr bald, würden die Knechte aufstehen aus ihren klammen Betten, in den Stall gehen, füttern, melken, misten. Wie aufgezogen. Wie jeden Tag. Die Zeit zerrann.

Der heiße Knall. Die Erinnerung traf ihn hart wie ein Hufschlag. Brennend jagte der Schuss durch seinen Körper. Er schüttelte sich.

Franziska, seine Franzi, seine süße, süße Franzi, zum Affen hatte sie ihn gemacht, die Schlampe. Tanzen, tanzen, dreh, dreh, dreh, übereinanderwälzen, tanzen, tanzen, tanzen, dreh, dreh, dreh, Franziska, seine Franzi, Faschingsprinzessin. Wangen glühten, Münder lachten, Hände lagen auf der Franzi. Max, ausgerechnet Max, der gottverdammte Kleinhäusler Max! Getanzt hatte sie mit ihm, wieder und wieder, die ganze Nacht. Und wie sie lachte! Gelacht, gelacht, Max angelacht hatte sie.

Er fuhr sich über die Augen. Im Wirtshaus hatte er am Rand gestanden und ihnen zugeschaut. Wie sie tanzten. Sich drehten. Und lachten. Lachten. Lachten!

Glühender Stahl bohrte sich durch sein Herz. Mit dem, mit dem da drüben konnte sie lachen. Aber nicht mit ihm. Nicht gestern im Stall, nicht heute beim Ball und auch nicht morgen als seine Frau. Sein Herz schmerzte so, dass er sich krümmte und ihm schwarz vor Augen wurde. Nie! Nie, nie mehr würde sie lachen!

Die andern! Wie ein Schulbub war er dagestanden, vor allen andern. Die andern hatten ihn ausgelacht. Ihn, Quirin Schmied, ausgelacht! Den reichsten Bauern weit und breit!

Er hörte nicht mehr, wie er schrie, wie er brüllte, spürte die Tränen nicht, die sein Gesicht bedeckten. Vier Pferde zogen an seinen Armen und Beinen, vier Pferde rissen ihn auseinander und schleiften ihn in alle Himmelsrichtungen, bis nur noch Schmerzen übrig waren.

Er war nach Hause gerannt, hatte die Pistole aus der Ecke im Schrank gerissen, dort, wo sein Vater sie hingelegt hatte, nachdem er nach Hause gekommen war, aus dem Krieg, mager, schweigend, grau. Wo er sie nie wieder angerührt hatte. Dann lief er zurück und wartete an der Ecke, bis eine Welle aus Licht und Lärm Franzi aus dem Wirtshaus schwappte.

Als er ihr in den Weg trat, schrie sie ihn an, schwankend. An ihn lehnte sie sich, als er sie mit sich zog, weg vom Wirtshaus, in die kalte schwarze Nacht. Er konnte ihn spüren an seinem Hals, ihren heißen Atem, ihren heißen Mund. Der Mond war so hell, der Schuss so dunkel, dann war alles still. Wie erstaunt sah die Franzi aus, wie leicht war sie, wie warm. Er warf sie in den Müll, in den Müll, er hatte die Franzi in den Müll geworfen!

Er schob sich ein wenig weiter zum First, winkelte die Beine an und stand auf. Der First war ein langer, gerader Strich und vollkommen trocken. Zwei, drei, vier Schritte, er wusste, er stand auf dem Vordach. Er hob den letzten Firstziegel hoch, legte das Bündel in die Öffnung, setzte den Ziegel wieder ein, drehte sich um und lief schnell und lautlos zurück. Langsam glitt er durch das Fenster zurück ins Haus.

DeinListenplatz?

»Carola? Zu mir!«

Gerade noch war Montagmorgen, ein ganz normaler Montagmorgen. Vielleicht ein bisschen anstrengender als andere Montage, weil es der Montag einer Sitzungswoche war. Dazu kam das, was ein Norddeutscher »Schietwedder« nannte. Seit Tagen klatschte kalter Dauerregen gegen die Fenster. In diesem September glich Berlin einem verlorenen Huhn, zerzaust, nass und verfroren. Das Regierungsviertel trug vornehmlich Grau, vor allem im Gesicht, die gedeckten Anzugträger verloren sich im Matschbraun des Reichstags. Mühsam, stotternd und hustend wie ein Schiffsdiesel startete der Motor des Regierungsviertels und nahm Fahrt auf in Richtung Sitzungswoche.

Ungeachtet der japanischen Touristengruppen, die auch bei waagerechtem Regen am zentralen Besuchereingang des Reichstags geduldig auf Einlass warteten, döste das Jakob-Kaiser-Haus vor sich hin, viele Zimmer dunkel, Türen zu, Flure leer. Die erste größere Menschenwelle würde erst am Mittag über die Stockwerke rollen, wenn die meisten Abgeordneten aus ihren Wahlkreisen angereist waren. Noch keine Spur vom Gewimmel und Lärmen eines Plenartages, niemand rannte hektisch über den Flur, kein Abstimmungsläuten, keine Durchsagen, keine laufenden Fernseher mit der Übertragung der Debatte aus dem Plenum. Ab und zu klimperte ein Telefon in den Morgen.

Bundestagsabgeordneter Johannes Ludwig ging, eine rote Mappe und Zeitungen unter den Arm geklemmt, sein Mobiltelefon in der Hand, ohne besondere Hast am grauen Schreibtisch seiner Büroleiterin vorbei in sein Büro. Carola Witt, seit drei Jahren seine Berliner Mitarbeiterin, hob, ohne ihr Telefonat zu unterbrechen, den Blick von ihren Notizen vor sich und sah ihrem Chef hinterher. Carola, nicht Caro. Eine Silbe mehr war gleichbedeutend mit Formalität, und Formalität war gleichbedeutend mit Ärger. Noch während sie dies dachte, stand sie bereits, griff mit der Rechten nach Kladde und Stift und beschied ihrem Anrufer, mit der Linken das Headset vom Kopf ziehend: »Ich melde mich.«

»Mach die Tür zu.« Ludwig hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt und die Lampe vor sich angeknipst. Der Lichtkegel fiel auf den mit Akten und Papier bedeckten Schreibtisch. Sein Büro bestand aus den Standardmöbeln des Deutschen Bundestages und Unmengen an Papier, in schwindelerregende Höhen gestapelt auf seinem Schreibtisch, im Regal und auf dem Fußboden. Die einzigen persönlichen Gegenstände waren mehrere von einer Selbsthilfegruppe psychisch Kranker getöpferte grüne Frösche, die als Briefbeschwerer breit grinsend auf den Papierbergen ruhten.

Ludwig sah seine Mitarbeiterin nicht an, während sie sich auf die Kante des Besucherstuhls hockte, ihren Notizblock auf den Knien. Carolas Herz pochte. Rumbum. Spontan fiel ihr nichts ein, was schiefgelaufen sein könnte. Sie lehnte sich zur Seite und zog die Tür neben sich ins Schloss.

»Schorsch ist krank, du musst in den Wahlkreis.« Erstmals blickte Ludwig auf, sah Carola in die Augen. »Sofort.«

»Was heißt, Schorsch ist krank, Wahlkreis, sofort?«, schoss sie zurück.

Die Antwort kam prompt, mit einer Spur Schärfe im Tonfall. »Das heißt, dass der von dir so sehr geschätzte Kollege Georg Forster mit einem Bandscheibenvorfall im Krankenhaus liegt und für die nächsten acht Wochen ausfällt. Wahlkreis ist der Ort, an dem ich lebe und an dem auch die Menschen leben, die mich wählen. Und sofort heißt subito.«

Carola starrte ihren Chef schweigend an. Sie wusste, sie hatte einen dieser Knöpfe gedrückt und musste sich jetzt einen Vortrag anhören.

»Ist es nach Berlin vorgedrungen, dass in drei Monaten die bayerische Landesliste aufgestellt wird?«

Natürlich wusste sie das.

Johannes Ludwig beugte sich über seinen Schreibtisch und tippte auf einen Stapel Papier vor sich. Der Briefbeschwererfrosch wackelte hin und her. »Wenn du mir den Pressespiegel aus dem Wahlkreis nicht immer nur hinlegen, sondern auch mal einen Blick hineinwerfen würdest, hättest du lesen können, dass Kathi Bergegger es blutig ernst meint. Sie hat die ganzen alten Weiber aus dem Unterbezirk auf ihrer Seite.« Er machte eine Kunstpause, bevor er mit Grabesstimme hinzufügte: »Die Bergeggerin will meinen Listenplatz.«

Deinen Listenplatz?, lag es Carola auf der Zunge. Lustiges Demokratieverständnis. Sie biss sich auf die Unterlippe. »Und was ist mit der Debatte und der Anhörung?«, fragte sie stattdessen ihren Chef.

Johannes Ludwig war Berichterstatter der Fraktion für das Psychotherapeutengesetz. Schon zu Oppositionszeiten hatte er an einem Gesetzentwurf gearbeitet, acht Jahre später war nun die Novelle dran. Den ganzen Sommer über hatten sie den Gesetzentwurf durch die Gremien getragen, übernächste Woche sollte die erste Lesung im Bundestag und zwei Wochen später eine dreitägige Anhörung mit den Verbänden stattfinden.

»Ach, das kann Luise schon machen«, sagte Johannes Ludwig leichthin und kramte in den Papieren auf seinem Schreibtisch.

Carola kannte das. Für ihn war das Gespräch beendet, die Angelegenheit geklärt. Nicht aber für sie. »Luise?«, platzte sie heraus. »Das ist jetzt nicht dein Ernst.«

»Wieso nicht?« Johannes Ludwig wich ihrem Blick aus. Flog da etwa eine leichte Röte auf seine gefurchten Wangen? »Für eine Praktikantin macht sie ihre Sache doch recht gut.«

»Stimmt, wenn ich ihr jeden Handschlag einzeln diktiere.« Carola verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihr Selbstbewusstsein verhält sich umgekehrt proportional zu ihrer Kompetenz.« Weshalb sie ja auch so gut in den Bundestag passt, dachte sie. Laut sagte sie: »Willst du unsere Arbeit vor die Wand fahren?«

Die Antwort von Johannes Ludwig kam prompt und kühl. »Carola.« Er machte eine Pause und sah ihr direkt in die Augen.

Sie wich ihm nicht aus.

»Du hast diese Woche Zeit, die Vorbereitungen abzuschließen und Luise einzunorden. Dann gehst du ins Wahlkreisbüro nach Weilheim und machst drei Monate lang die beste Wahlkreisarbeit, die die Welt je gesehen hat. Ich will meinen Namen täglich sehen, hören, lesen. Ich will Fotos auf jeder Website und täglich einen Post auf Facebook. Du berichtest mir, was die Bergeggerin macht, was sie nicht macht und am besten noch, was sie vorhat. Du hast dein Ohr am Herz der Wähler und besetzt die Themen. Sobald ich meinen Listenplatz habe, kommst du zurück.«

»Ich fass das mal zusammen: Dir ist es also egal, dass deine inhaltliche Arbeit hier in Berlin in Rauch aufgeht?« Carola spürte, wie heißer Zorn aus ihrem Bauchraum in ihr hochstieg.

»Also, jetzt fass ich das mal zusammen, Carola.« Noch einmal sah er ihr in die Augen, dann schaltete er sein strahlendes Jungengrinsen an, das ihm so viele Sympathien einbrachte. »Wenn mir die Bergeggerin meinen Listenplatz abjagt, ist mir meine inhaltliche Arbeit in der Tat egal. Dann ist mein Mandat den Bach runter, und ich kann meine politische Karriere vergessen. Du dann deine übrigens auch. Kein Staatssekretär, kein Job im Ministerium.«

Sein Grinsen wurde noch breiter. Er wusste, er hatte gewonnen. »Zweites Frühstück?«

Eine quälend lange halbe Stunde später rauschte ihr Chef ab in die parlamentarische Gesellschaft. Während des Essens hatten sie bemüht Konversation gemacht und das Thema »Wahlkreisbüro« nicht einmal gestreift. Eigentlich mochte Carola die Pausen während der Sitzungswochen. Die kunterbunte Kantine, wegen der bunten Hängeleuchten liebevoll »Lampenladen« genannt, brummte vor Geschäftigkeit. Die Schlange reichte bis vor die Tür, praktisch jeder der stylishen Stühle war besetzt.

Das Anstehen hatte den Vorteil, die Blicke in alle Richtungen schweifen lassen zu können: Wer sprach mit wem, saß an welchem Tisch– und vor allem, an welchem nicht?

»Ich werde fürs Tratschen bezahlt«, hatte sie lachend ihrer Mutter erzählt.

Heute ging Carolas Blick durch grüßende Kollegen, schwatzende Abgeordnete und nickende Journalisten hindurch. Obwohl sie wusste, dass die Anruferliste in ihrem Büro immer länger werden würde, hatte sie nach einer knappen Verabschiedung von ihrem Chef den direkten Weg zu ihrem Kollegen Matthias im Nachbarbüro genommen.

»Wie bitte? Wahlkreis? Krass. Und was ist mit der Anhörung?« Über einen Aktenstapel hinweg sah Matthias Schibowski seine Kollegin an, die zusammengesunken auf dem einzig leeren Stuhl im Büro hockte.

Das Telefon schrillte.

»Geh ran. Ich bin nicht da«, pfiff er seinen jungen Praktikanten am Schreibtisch gegenüber an.

Matthias war ganz eindeutig Carolas Lieblingskollege. Mit Betonung auf Kollege. Er war das, was eine Kölner Freundin einmal ein »schäbbich Kind« genannt hatte. So wie er aussah, hätte er leicht in einer Geisterbahn mitspielen können, aber hinter dem zerknautschten, von Akne vernarbten Gesicht wohnte ein hellwacher Geist.

In seinem früheren Leben Tierarzt, war Matthias gemeinsam mit seinem Tierarztchef, der für einen gottverlassenen norddeutschen Wahlkreis in den Bundestag eingezogen war, nach Berlin gekommen. Hauptberuflich versuchten beide, ethische Probleme im gewinnorientierten Gesundheitswesen zu lösen. Exakt das, was ein kluger Kopf einmal als »Bohren dicker Bretter« bezeichnet hatte.

Das Doktorspielen konnte Matthias trotzdem nicht lassen, und da es ihm in Berlin-Mitte an Tieren mangelte, nahm er sich die Menschen vor. Er kümmerte sich um die Leiden und Wehwehchen des gesamten Jakob-Kaiser-Hauses. Wen etwas zwackte, der ging zu Matthias, der aus dem Schrank Salben in großen Plastikeimern holte, auf denen Kühe und Pferde abgebildet waren. Dann betastete, cremte und bandagierte er und sprach seinen Tierarzttrost: »Das beobachten wir jetzt drei Tage lang, und wenn es nicht besser wird, amputieren wir.« Schallendes Gelächter. Jedes Mal.

Neben der Sicherstellung der medizinischen Grundversorgung war er mit allen politischen Wassern gewaschen und geizte nicht mit Wissen und Rat. Als Carola drei Jahre zuvor ihren Job bei Johannes Ludwig angetreten hatte, verpasste er ihr einen Crashkurs in Sachen Parlamentarismus. Als Erstes stellte er ihr das knallgelbe Büchlein »Wegweiser für Abgeordnete«, die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages und den rot-weiß gestreiften Kürschner, ein Verzeichnis aller Abgeordneten, auf den Schreibtisch. Anschließend hatte er sie, die sich nicht traute, mit in die Arbeitsgruppen und in die Ausschusssitzungen geschleppt und jeden Tag, geduldig wie ein Muli, alle Fragen zu Tagesordnungen, Datenbanken und Diensten des Deutschen Bundestages beantwortet.

Carola sah hoch. In ihren kühlen norddeutschen Augen glitzerten Tränen. »Matthias, es hilft nichts. Ich muss nach Weilheim, ob ich nun will oder nicht.« Sie versank wieder in Schweigen.

»Wahlkreis. Weilheim. Wo ist dieses Kaff denn überhaupt?«

»Oh mein Gott.« Sie schüttelte den Kopf. »Diese unfassbar grottendämliche Lokalpolitik. Ich bin doch nicht nach Berlin gegangen, um dann in der Provinz zu enden. Ich will verdammt noch mal Bundespolitik machen, und zwar in Berlin, und keine Scheißlokalpolitik irgendwo auf dem platten Land. Stell dir das mal vor, Matthias. Straßenfeste, Tombola, Sparkasseneröffnung. Da werde ich glücklich sein, wenn ich mal ein Planfeststellungsverfahren für eine Stromtrasse machen darf.« Sie stockte, dachte kurz nach. »Der schickt mich echt aufs Land, kapierst du überhaupt, was das heißt? Da komm ich her, da wollt ich weg. In die große, große Stadt. Landleben ist total scheiße, Matthias. Da ist nix los, alle kennen sich, und jeder quatscht über jeden: Das fand ich schon immer grauenhaft.« Carola holte Luft, aber nur, um weiterzuschimpfen. »Und ganz besonders scheiße finde ich, dass ich nach Bayern muss. Noch nicht mal nach München, ich muss glatt in die Diaspora.«

Matthias, der ihr Gezeter wortlos über sich hatte ergehen lassen, blickte kurz auf. »Meine Liebe, unabhängig davon, dass auch München in Bayern liegt– was redest du da? Diaspora? Merkst du eigentlich noch irgendetwas?«

Carola starrte ihn verständnislos an. Sie hatte kein Wort kapiert. »Dass ich seine Berliner Büroleiterin bin, ist ihm wurscht. Die Anhörung ist ihm völlig wurscht. Und Berlin ist ihm scheißegal. Der denkt nur noch an seinen Listenplatz. Matthias!« Carola sah ihren Kollegen jetzt flehend an. »Du musst mir versprechen, dass du ein Auge auf die Luise hast.«

Matthias’ zerfurchtes Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.

»Nicht so! Geh immer mal wieder bei ihr vorbei und mach einen auf netten Kollegen. Das kannst du doch, hat bei mir ja auch funktioniert. Bring ihr eine Tasse Kaffee und frag sie, wer von den anderen Fraktionen bei der Anhörung reden wird und welcher Verband sein Kommen zugesagt hat. Dann wirst du schon merken, ob sie was tut oder nicht. Und im letzteren Fall sag mir Bescheid, dann kann ich vielleicht noch etwas retten.« Carola vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und stöhnte. »Das ist echt nicht wahr. Jetzt sklave ich seit drei Jahren Tag und Nacht für diesen Mann, und dann tut er mir das an.« Sie funkelte ihren Kollegen an. »Nimm sofort dieses blöde Grinsen aus dem Gesicht.«

Matthias kicherte.

»Dann geh ich eben nicht mit dir zur Weihnachtsfeier der Fraktion.«

»Stimmt, wenn ich das richtig sehe, gehe ich da dieses Jahr mit deiner Praktikantin hin«, erwiderte Matthias trocken, setzte sein Headset auf und wandte sich seinem Bildschirm zu.

Carola starrte ihn einige Sekunden wortlos an, dann stand sie auf. Was für ein Vollidiot!

Später, während der Landesgruppensitzung, schlich sie sich ins Büro ihres Chefs und sah die alten Pressespiegel durch. Johannes Ludwig hatte schon recht, Katharina Bergegger hatte eindeutig Ambitionen. Sie wurde in jedem zweiten Artikel genannt, oft mit Bild. War ja auch kein Wunder, fand Carola, als sie die Fotos der Konkurrentin betrachtete. Sie machte eindeutig mehr her als der Rest des Dinosauriervereins. Jung, für die Verhältnisse der Partei, gut aussehend, selbst nach außerpolitischen Maßstäben, offensichtlich nicht blöd und zu allem Überfluss auch noch glaubwürdig. Sie betrieb einen Biobauernhof am westlichen Ammersee und hatte sich in den letzten Jahren für Umweltthemen engagiert. Nicht unbedingt die Kernkompetenz ihrer Partei, das wusste Carola, aber gerade deswegen hatte sie ihre Nische gefunden und kam mit ihren Äußerungen überzeugend rüber.

Carola googelte die Ergebnisse der letzten Kommunalwahl und pfiff durch die Zähne. Zweitbestes Ergebnis nach dem amtierenden Bürgermeister. Gemeinderätin, stellvertretende Bürgermeisterin. Und das im ersten Anlauf. An einige Artikel hatte ihr Wahlkreiskollege Schorsch ein Ausrufezeichen gemalt.

Georg Forster aka Schorsch. Carola blätterte in ihrem Hirn nach einem Bild ihres Kollegen. Mittelgroß, liebevoll gepflegter Bierbauch, Dreitagebart, rasierter Schädel, in der Partei alt geworden, scharfzüngig, zynisch, äußerst intelligent und ein Macho vor dem Herrn. Schreiben konnte er, dichten auch. Carola bekam jedes Jahr zum Geburtstag eine E-Mail mit gereimten Zeilen, die durchaus unterhaltsam waren. Aber das war es auch schon. Seine politischen Methoden hatten eher Brechstangenqualität, und Diplomatie war seiner Meinung nach etwas für Weicheier.

Carola schob die Pressespiegel zusammen, griff zum Telefonhörer und knipste sich ein Lächeln ins Gesicht, bevor sie sich zurücklehnte und eine Kurzwahltaste drückte. Wie erwartet ging ihr Kollege sofort ran. So viel zum Thema Handyverbot im Krankenhaus.

»Grüß dich, Johannes, was kann ich für dich tun?«, brummte es ihr entgegen.

»Schorschi, altes Haus, wie geht es dir? Ich höre, du hast Rücken?«, tirilierte sie in die Leitung.

»Mei, wie soll’s mir schon gehen? Beschissen halt. Was tust du im Büro des Chefs?«, knurrte er zurück. »Und hör bloß auf, dein Mitgefühl glaubt dir kein Mensch. Was willst du?«

Charmant wie immer. »Ich darf doch wohl mal fragen, wie es dir geht, oder?«, flötete Carola. »Hast du schon gehört, Johannes schickt mich ins Wahlkreisbüro nach Weilheim.«

»Schon.«

Vorwurfsvolle Stille.

»Johannes hat mich gefragt, ob ich damit einverstanden bin.«

Nie. Im. Leben.

»Ich hab ihm gesagt, wieso ich einverstanden sein sollte, dass du meinen Job kriegst.« Schorsch schnaubte, offensichtlich empört bei dem Gedanken, heftig ins Telefon.

Als ob ich deinen Job gewollt hätte, dachte Carola und unterdrückte dauerlächelnd ein drohendes Gegacker.

»Ich hab ihm aber auch gesagt, dass sein Listenplatz wichtiger ist als meine persönlichen Belange.« Schorsch machte, tief ergriffen von seinem eigenen Edelmut, eine Pause.

Carola schwieg.

Als sie keine Anstalten machte, etwas zu sagen, fragte er beleidigt in die Stille hinein: »Wann kommst du denn?«

»Am Montag oder Dienstag mit dem ersten Flieger. Ich muss hier noch aufräumen und Luise briefen.«

»Ah, Luise!« Schorsch klang begeistert. »Nettes Mädel. Wie geht’s ihr denn?«

»Gut«, antwortete Carola einsilbig. »Du, Schorsch, wer hält denn im Wahlkreisbüro die Stellung, wenn du nicht da bist?«

»Mei, das ist schon ein Problem, gell? Eigentlich niemand. Uneigentlich der Seppi. Sei nett zu ihm, der ist studentische Aushilfe und noch grün hinter den Ohren. Sorry, Caro, Visite, ich meld mich, pfiat di.«

Freizeichen.

Nix bist scho

Fototapete, schoss es Carola durch den Kopf. Das sieht aus wie eine Fototapete. Vorsichtig steuerte sie den japanischen Kleinwagen auf der Olympiastraße den Hirschberg nach Weilheim hinunter. Sie war noch nie in Bayern gewesen und hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit den Alpen.

Abrupt türmten sie sich vor ihr auf, himmelhoch, grau, zerklüftet, die Gipfel mit Schnee bedeckt und so nah, dass sie das Gefühl hatte, gleich dagegenzufahren. Doch irgendwie zwängte sich sattgrünes, sanft gewelltes Land zwischen Auto und Berge, aus dem Zwiebeltürme, Bauernhöfe und Satellitenschüsseln– wieso Satellitenschüsseln?– emporragten. Von einem unfassbar knallblauen Himmel blendete die Sonne.

Du meine Güte, es ist wirklich schön hier, dachte sie, um sich sofort zurückzupfeifen. Sie war Hauptstädterin. Da hatte man Bayern nicht zu mögen. Aus Sicht einer Neuberlinerin, die sie nun einmal war, kamen aus Bayern die Menschen, die sich vom »Arm, aber sexy«-Charme der Bundeshauptstadt partout nicht bezirzen lassen wollten und stattdessen unentwegt über die schrägen Berliner Finanzen nörgelten.

Den Flug von Tegel nach München hatte sie abgesessen, eingezwängt zwischen zwei Anzugträgern, die sich noch nicht einmal den Anschein gaben, ihr einen Quadratzentimeter der Armlehnen zu überlassen. Während sie nach Schildern zu den Autoverleihern suchte, waren sie grußlos davongetrottet.

Die Dame beim Autoverleiher war hingegen so liebenswürdig gewesen, dass Carola sich bei der Frage ertappt hatte, ob sie sie auf den Arm nehmen wollte. Jetzt ist es so weit, jetzt werte ich Freundlichkeit als Hohn, dachte sie. Sie bedankte sich schuldbewusst bei der netten Frau, die ihr auch noch einen wundervollen Tag wünschte, und fahndete nach ihrem japanischen Kleinwagen. Wie putzig und wie neu er war! Und dann roch er auch noch so unbenutzt.

Zu ihrem Erstaunen sprang der Wagen widerspruchslos an. Vorsichtig lenkte sie ihn aus der Parklücke, verfluchte die Bilder von Fahranfängern, die sie aus Pannenshows kannte, und machte sich auf die Suche nach der Ausfahrt. Jetzt bloß nicht die Schranke rammen. Das Navi in ihrem Smartphone sagte ihr, dass sie in zwei Stunden auf dem Secklerhof sein würde.

»Und wo soll ich wohnen?«, hatte sie ihren Chef am Freitag bei der Jobübergabe gefragt.

»Auf dem Secklerhof«, hatte Ludwig geantwortet. »Die Resi macht das für mich.«

»Die Resi macht was für dich?«

»Eine Preußin bei sich wohnen lassen.« Wieder dieses Grinsen.

»Aha.«

Jetzt kommt die ausgelatschte Nummer von wegen Preußen und Bayern, und ich bin noch gar nicht da, hatte Carola sich gedacht. Wenn sie an ihrer Arbeit für einen oberbayerischen Abgeordneten irgendetwas überflüssig fand, dann war es der in ihren Augen durch nichts begründete bayerische Lokalpatriotismus. Dabei waren die Bayern doch auch nur die Nachfahren fußlahmer römischer Legionäre, von Flüchtlingen vieler Kriege und– aktuell– Wirtschaftszugereisten. Aber bei der Arbeit für einen oberbayerischen Abgeordneten hatte sie eine Grundregel schnell gelernt: In Bayern hatte man schon Migrationshintergrund, wenn man aus dem Nachbardorf stammte.

»Und wie genau darf ich mir das vorstellen? Krieg ich die Gesindekammer?«

Ihr Chef hatte schallend gelacht. »Damit liegst du gar nicht so falsch. Die Meisingers haben vor Jahren, als der alte Alois noch gelebt hat, die alten Gesindekammern zu einer Ferienwohnung umgebaut. Mit allen Schikanen. Der Alte fand es unterhaltsam, ab und zu Feriengäste auf dem Hof zu haben. Als er gestorben war, habens’ damit aber wieder aufgehört.«

»Wer sind denn ›sie‹ in ›habens’‹?«, fragte Carola.

Ludwig hatte seine Mitarbeiterin angestarrt. »Sie, das sind die alte Meisingerin, die Resi, und ihre beiden Söhne, der Lenz und der Tom.«

»Soso«, hatte Carola gebrummt, auch noch Hotel Mama. Dann hatte sie sich wieder dem vollen Terminkalender auf ihren Knien zugewandt.

Dem Navi nach würde sie noch fünf Minuten brauchen. Carola bog ab, und die Straße wurde schmal und kurvig. Wälder, Felder, Wiesen. Und noch mehr Wälder, Felder, Wiesen. Ihr Telefon dudelte. »Chef«, verkündete das Display.

»Hallo, Johannes, gleich bin ich bei Schneewittchen angekommen«, begrüßte ihn Carola.

»Schneewittchen, wieso Schneewittchen?«, fragte Johannes Ludwig verständnislos. »Ach, du meinst, hinter den Bergen bei den sieben Zwergen? Sehr witzig, Caro.« Er klang leicht verärgert. »Nein, im Ernst, am besten schaust du bei den Meisingers nur kurz vorbei und fährst dann sofort nach Weilheim. Seppi wartet da schon auf dich. Wir müssen telefonieren und den Fototermin morgen beim Korbinian Fischbach durchsprechen, weißt schon, wegen dieser Muttergottes, dieser Pietà, die er restauriert hat. Der Pfarrer kommt, der Landrat und die Bergeggerin auch. Da muss alles passen, gell? Also, vierzehn Uhr, ich ruf dich an.« Johannes Ludwig legte auf, ohne auf eine Antwort seiner Mitarbeiterin zu warten.

»Es hat mich auch gefreut, mit dir zu sprechen«, sagte Carola zur Windschutzscheibe. Sosehr sie ihren Chef mochte und seine Arbeit schätzte, manchmal empfand sie sein Politikgott-Gehabe als sehr anstrengend. Dabei wusste sie nur zu gut, dass er noch zu den vernünftigeren Abgeordneten im Parlament zählte.

Die Straße wand sich ungerührt weiter durch Felder und Wiesen. »Noch fünfhundert Meter«, sagte die Navistimme. Carola bog in eine noch schmalere Straße ab und fuhr auf eine lange Gerade, die, wie es ihr schien, direkt in die Berge führte. Dann tauchte rechter Hand ein Haus auf. Nun, »Haus« war untertrieben, »Anwesen« passte dafür wohl eher. Sie konnte drei Stockwerke erkennen, ein weites Vordach, Balkone mit Unmengen blauer und weißer Blumen, Seitengebäude, einen Obstgarten und einen Fahnenmast. Johannes hat vergessen zu erwähnen, dass ich bei den Kardashians vom Ammersee wohne, dachte Carola.

Die Straße wand sich nach rechts und kringelte sich als Kiesweg in einer Haarnadelkurve den Berg hinauf. »Privatstraße– Benutzung auf eigene Gefahr«, unterrichtete ein Schild. Schickischickischick, dachte Caro, auch noch mit eigener Auffahrt.

Sie ließ ihren Kleinwagen in den Hof rollen. Neben einem geöffneten Tor stand ein schwarzer SUV asiatischer Herkunft, dahinter ein großer Hänger. Als Carola ausstieg, trat ein Mann aus dem Tor, der einen gewaltigen Holzbalken trug. Er blieb stehen und sah sie an. Seine dunklen Augen zeigten keine Regung.

Mittelgroß und breitschultrig, schien er die Last nicht zu bemerken. Die hellen Streifen im dichten dunklen Haar ließen erkennen, dass er nicht mehr jung war. Er trug ein kurzärmliges Karohemd und eine für einen Mann seines Alters lächerlich kurze schwarze Cordhose. Seine muskulösen Beine steckten in groben Bergstiefeln.

»Grüß Gott!«, rief Carola ihm zu. »Bin ich hier richtig bei der Familie Meisinger?«

Ihre Frage versetzte den Mann in Bewegung. Mit erstaunlicher Schnelligkeit und noch erstaunlicherer Sanftheit hob er den Balken von seiner Schulter und legte ihn lautlos auf den Hänger. Dann brüllte er »Mutter!«, warf noch einmal einen kurzen Blick auf Carola und verschwand durch das Tor, aus dem er gekommen war.

Na großartig. Hier bin ja richtig gerne gesehen, dachte Carola, wurde aber in ihren Gedanken von einer Stimme unterbrochen.

»Fräulein Witt? Herzlich willkommen auf dem Secklerhof!«

Sie drehte sich um. Eine große, schlanke Frau kam ihr mit energischen Schritten entgegen. Die dunklen Haare zu einem Zopf gebunden, streckte sie eine zarte, kleine Hand zur Begrüßung aus. Sie war bestimmt über sechzig und sehr attraktiv, wie Carola fand. Dunkle Augen, Lachfalten, schmales Gesicht, sorgfältig geschminkt, dazu enge Jeans, Streifenbluse, wattierte Weste und dezenter Goldschmuck. Hatte sie gerade »Fräulein Witt« gesagt?

»Bitte nennen Sie mich Carola. Herzlichen Dank, dass ich hier wohnen darf.«

»Dann bin ich die Resi.« Therese Meisinger strahlte ihren Gast an. »Hattest du eine gute Reise? Übrigens, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf– man sieht dir an, dass du aus Berlin kommst.«

Carola spürte, wie sie rot anlief. Sie blickte an sich hinunter: »Wieso?«

»So groß, blond und schlank, bist fast schon ein bisserl dünn, gell? Und dann deine blauen Augen! Schick angezogen bist du auch und trägst Stiefel mit Absatz. Sind übrigens vollkommen ungeeignet hier am Land. Eindeutig Stadererin!« Sie lachte Carola an und machte eine einladende Handbewegung. »Du musst hungrig sein. Komm rein, magst was essen?«

»Ich hab leider wenig Zeit, muss gleich weiter nach Weilheim, Telefonkonferenz mit Johannes Ludwig. Morgen soll eine hochberühmte Pietà präsentiert werden, und mein Chef ist mit von der Partie. Ich wollte mich eigentlich nur kurz vorstellen und das Gepäck ausladen.«

»So ein Schmarrn, in Bayern legt man Wert auf Gastfreundschaft. Du kommst jetzt erst mal rein, machst eine gescheite Brotzeit, und dann schauen wir mal.« Die Frau schien Widerspruch nicht zu kennen und bugsierte Carola ins Haus, in die Küche und auf eine Eckbank.

Während Resi auftischte, hatte Carola Gelegenheit, den Raum zu mustern. Eine große Holzküche ging in einen Wohnraum über. Sie konnte einen alten dunkelgrünen Kachelofen und ein großes helles Sofa erkennen. An den Fenstern hingen weiße Vorhänge, die dem Raum Frische verliehen. Von unzähligen Tritten zerschundenes Eichenparkett, ein blank gescheuerter Holztisch und bunte Keramik verströmten Gemütlichkeit. Carola ließ ihren Finger über den großen Keramikbecher gleiten, der schon mit Kaffee gefüllt vor ihr stand.

Resi bemerkte ihren Blick. »Schön, findest du nicht auch? Der ist von einem unserer Töpfer. Wir sind ein Töpferdorf. Jedes Frühjahr kommen Hunderte an den See und stellen aus. Dann geht’s hier zu, du glaubst es nicht. So, und jetzt iss, dass was wirst, weil nix bist scho.« Sie lachte Carola an, schnitt Bauernbrot auf und stellte Butter, Käse und Wurst auf den Tisch.

Probleme mit dem Cholesterinspiegel sollte man hier besser nicht haben, dachte Carola und biss folgsam in ihr Käsebrot. »War das eben einer deiner Söhne?«, fragte sie ihre Gastgeberin.

»Du meinst den Tom? Ja. Der ist Zimmerer.« Resi schien nicht weiter über ihren Sprössling sprechen zu wollen. »Komm, ich zeig dir, wo du wohnen wirst.«

Carola spülte den letzten Bissen mit einem Schluck Kaffee hinunter und folgte ihr.

Sie stiegen eine knarzende Holztreppe hinauf, gingen geradeaus, dann links und rechts durch einen Flur, schließlich eine weitere Treppe hoch und wieder durch einen Gang. Carolas Orientierungssinn sagte ihr, dass sie im Dachgeschoss vom Nebengebäude angekommen waren.

»Ich hoffe, es gefällt dir«, sagte Resi strahlend und öffnete eine abgebeizte alte Holztür.

Durch fußbodentiefe Fenster in einem sichtbaren Dachstuhl strömte Tageslicht in einen großen Raum mit weiß gekalkten Holzböden und hellen Wänden. Vor einem Schwedenofen in der Mitte des Raumes stand ein cognacfarbenes Ledersofa, dahinter glänzte eine weiße Küchenzeile.

»Hier geht es zur Schlafkammer.« Resi zupfte Carola am Ärmel, die ihr folgte.

Ein Doppelbett stand frei im Raum. Die Fenster gaben den Blick auf den Ammersee und die Alpenkette frei.

»Und? Was sagst du?«, fragte Resi mit Stolz in der Stimme.

Carola strahlte sie an. »Ich bin sprachlos. Es ist wundervoll! Und hier darf ich wohnen?«

»Weil du es bist.« Resi lachte, wurde dann aber unvermittelt ernst. »Ohne Schmarrn, Carola, Johannes hat mich gefragt, ob ich ihm helfe, und ich kann ihm seine Bitte nicht abschlagen. Eigentlich vermiete ich nicht mehr, aber Johannes hat mich damals, als mein Mann gestorben war, sehr unterstützt.«

Johannes unterstützt eine Witwe? So kenn ich meinen Chef ja gar nicht, dachte Carola. Als sie auf die Uhr sah, mahnte sie sich innerlich zur Eile. »Entschuldige, Resi, aber ich muss jetzt wirklich los. Der Kollege in Weilheim wartet schon auf mich.«

»Dann schau, dass d’ weiterkommst, Madl.« Die Wolke aus Ernst zog vorbei, und mit Resis Lachen strahlte wieder die Sonne. Durch die verwinkelten Flure führte sie Carola zurück in die Wohnküche.

Die Eckbank war nun von zwei Männern besetzt. Den einen hatte Carola schon gesehen. Es war derjenige, der sich die Auszeichnung für das freundlichste Willkommen der Woche redlich verdient hatte. Carola suchte in ihrem Gedächtnis nach seinem Namen. Tom, ja, so hieß er und war sowohl Sohn als auch Zimmerer. Er machte seinem ersten Eindruck alle Ehre, da er bei Carolas Eintreten nicht einmal den Blick von der Zeitung vor sich hob.

Stattdessen stand der zweite Mann auf und streckte ihr seine Hand entgegen. Carola versuchte, sich ein Grinsen zu verkneifen. Der hier war offensichtlich der Bruder, die lächelnde Version seines grantigen Geschwisters. Genauso groß, ungefähr genauso alt, aber um die Hüften deutlich fülliger, hatte er einen verschmitzten Ausdruck in den gleichen dunklen Augen wie die seiner Mutter und seines Bruders. Und war todschick gekleidet. Fliederfarbener Pulli, Bügelfalte in der Hose und dunkelbraune Lederschuhe. Carola musste sich eingestehen, dass sie den mies gelaunten Meisinger attraktiver, den gut gelaunten, schicken hingegen sympathischer fand.

»Frau Witt? Herzlich willkommen in unserem Haus. Ich bin Lenz Meisinger. Sie arbeiten also für den Johannes Ludwig? Wollen Sie sich nicht zu uns setzen und ein bisschen erzählen?«

Diese Meisingers waren ja so was von förmlich. Carola drehte sich hilfesuchend Richtung Resi. »Magst du deinem Sohn sagen, dass wir schon beim Du angekommen sind? Ich bin die Carola.«

»Alles klar, Carola. Na dann: Wie geht es dem Wahlkreis deines Chefs? Sind die bayerischen Wählerinnen und Wähler auch alle brav?« So gestelzt Lenz gerade noch geklungen hatte, so blitzschnell hatte er auf informell umgeschaltet.

»Lenz ist bei der Kripo Weilheim«, wandte sich Resi an Carola. »Er schaut, dass wir uns alle an die Gesetze halten.«

Hatte der andere Meisinger etwa gerade geknurrt? Carola kniff die Augen zusammen und fixierte Tom über den Tisch hinweg. »Kripo? Wie interessant«, log sie. Das hätte mir Johannes wirklich sagen können! Ihre blauen Augen blitzten, als sie sich ihm zuwandte. »Was gibt es denn in Weilheim zu ermitteln? Gestohlene Fahrräder?«

Lenz lächelte milde aus samtigen Hundeaugen. »Das willst du gar nicht wissen, Carola. Komm, hock dich her, erzähl ein wenig und lass uns Brotzeit machen. Sonst gibt es hier gleich Tote. Ich sterbe nämlich vor Hunger.« Er wies auf die Eckbank.

Carola hatte den Mund schon für eine Antwort geöffnet, als sie Resis Hand in ihrem Rücken spürte.

»Passt schon, Lenz, die Carola hat grad schon Brotzeit gemacht und muss heute noch arbeiten«, sagte sie beschwichtigend. Dann schubste sie Carola fast aus der Stube und rief ihr ein fröhliches »Pfiat di!« hinterher.

Resi werde ich bei der UNO anmelden, die hat diplomatische Qualitäten, dachte Carola lächelnd. Der Autogriff war warm, als sie die Tür öffnete, und aus dem Wagen schlug ihr unerwartet Hitze entgegen. Der frische, sonnige Morgen hatte sich in einen heißen Spätsommertag verwandelt. Aber sie hatte keine Zeit mehr, sich umzuziehen, da musste sie jetzt durch. Sie ließ sämtliche Fenster hinunter und nestelte ihre Sonnenbrille aus der Handtasche. Der Fahrtwind roch erst intensiv nach Wald und feuchter Erde und dann nach Kuhweide. Sie spürte, wie sich ihre Laune hob. Bisher hatte Bayern sie mit Schönheit, Wärme und Herzlichkeit überrascht. Zeit, sich einzugestehen, dass sie das aus Berlin nicht gewohnt war.

Zehn Minuten später passierte sie das Ortsschild von Weilheim. Kreuz und quer an den Straßenrand gewürfelte Zweckbauten der einschlägig bekannten Supermarkt- und Bauhausketten sowie Autohäuser traten an die Stelle der sanften Schönheit der oberbayerischen Landschaft und bildeten eine gesichtslose städtische Struktur, die sich überall in Deutschland hätte befinden können. Warum nur begreifen Bürgermeister nicht, dass der Eindruck einer Stadt bereits nach ihrem Ortsschild entsteht und nicht erst auf dem Marktplatz?, fragte sich Carola. Oh mein Gott, das ist ja vollkommen trostlos hier. Und hier soll ich die nächsten drei Monate arbeiten? Ich glaube, ich muss mit Johannes über Schmerzensgeld verhandeln.

Ihre Miene hellte sich auf, je näher sie der Stadtmitte kam. An einer großen Kreuzung, offensichtlich im Zentrum, bog sie nach links ab. Giebel reihte sich an Giebel und bildete eine geschlossene Zeile. In der Mitte der Straße plätscherte ein Bach unter Bäumen und verbreitete unbegründete Fröhlichkeit. Das Erdgeschoss der gesamten Häuserzeile war mit Läden belegt. Dem Bäcker folgte ein Fahrradgeschäft, diesem ein Metzger, dann eine Dönerbude und schließlich ein Laden mit Ostasienkitsch. Carola entdeckte auch eine Eisdiele, einen Zahnarzt und eine Gastwirtschaft. Menschen bummelten mit Einkaufstüten bewaffnet die Straße hinunter und wieder herauf.

Vor der Nummer dreiundzwanzig stellte sie ihren Wagen ab. Das ochsenblutrote Haus gab nur durch ein Metallschild und eine Banderole im Fenster zu erkennen, dass in ihm das Wahlkreisbüro des Bundestagsabgeordneten Johannes Ludwig beheimatet war und kein Steuerberater.

Wenigstens ist die Versorgungslage nicht schlecht, dachte Carola, während sie die Tür öffnete. Ein asiatisches Glockenspiel zwitscherte seinen mädchenhaften Willkommensgruß. Unvermittelt fand sie sich inmitten eines Büros wieder. Zwei Schreibtische standen sich gegenüber, in Regalen türmten sich Aktenordner und Papierstapel.

An einem der Schreibtische saß ein ziemlich dünner, ziemlich junger Mann in einem schwarzen Hoodie und lächelte sie verschüchtert an. »Grüß dich, Caro, ich bin der Seppi.« Sein Lächeln gab den Blick auf eine Zahnspange frei.

Carola grinste.

Bayern stellen keine Fragen

»Jahimmelherrgottsakramentnochamal. Wo bleibt denn bloß der verfluchte Redakteur? Und wo ist der Fotograf?«, fauchte Carola in den Septembermorgen.

So norddeutsch sie auch bis in ihre Molekularstruktur war, süddeutsch zu schimpfen hatte sie in drei Jahren Arbeit für einen bayerischen Abgeordneten sehr schnell gelernt. Dass ihr Kollege Seppi sich nicht wehrte, obwohl er eindeutig nichts für die Unpünktlichkeit der Journalisten konnte, sondern stattdessen schuldbewusst vor sich hin stammelte, machte Carola nur noch fuchsteufelswilder.

»Kruzifix, ich hasse Unpünktlichkeit«, fluchte sie. »In zwanzig Minuten soll’s losgehen, wir müssen uns noch abstimmen, und diese Vollpfosten sind einfach nicht da!«

Acht Uhr vierzig. Wieder versprach es, ein strahlender Septembertag zu werden. In der Ferne leuchtete der Ammersee in Bahamasblau, die Sonne schien, die Vögel zwitscherten. Für die Schönheiten der Natur hatte Carola heute keinen Sinn. Um neun Uhr sollte der Fototermin mit Restaurator, Landrat, Pfarrer, Bundestagsabgeordnetem und Vereinsvorsitzender stattfinden, und schon seit zehn Minuten standen sie vollkommen allein am Ortsrand von Fischen. Die Journalisten des meinungsführenden Blattes hätten eigentlich kurz nach ihnen zum verabredeten Location-Check eintreffen sollen. Bei der Gelegenheit wollte Carola freundlich, aber bestimmt auf die Bedeutung von Johannes Ludwig hinweisen. Sie hatte seine Vita und weitere Fotos ihres Chefs ausgedruckt und auf einem USB-Stick dabei. Ihr Vorhaben schien aber im Sand zu verlaufen. Denn außer ihnen beiden war keine Menschenseele weit und breit zu sehen.

Von Sekunde zu Sekunde wurde sie unruhiger und lief vor ihrem Treffpunkt, einem ehemaligen Bauernhaus, auf und ab. An pittoresken Bildhintergründen mangelte es hier nicht.

»Herausgeputzt«, das war der einzig zutreffende Begriff, der Carola zu dem Haus einfiel. Von seiner landwirtschaftlichen Nutzung war nichts mehr zu erkennen. Das Wohnhaus strahlte schneeweiß, das Dach glänzte tiefrot in der Morgensonne.

»Engobiert«, flüsterte Seppi, als er Carolas Blick bemerkte. Was auch immer er damit meinte.

Die Fensterläden waren in einem gebrochenen Graublau gestrichen, und von den Balkonen auf der Ostseite rankten nicht die ortsüblichen Geranien in Textmarkerfarben, sondern Millefleurs, üppige blaue, rosa und weiße Hängepflanzen, Lobelien und Nelken. Die Fenster waren offensichtlich original und sorgsam abgebeizt.

Ebenso sorgfältig waren vor dem Haus Kübel im Shabby Chic arrangiert, alle mit weißen und rosafarbenen Blumen bepflanzt. Aus einem Kupferhahn plätscherte Wasser in einen Steintrog. Daneben stand ein Hausbankerl an der Wand und versprach sonnige Stunden süßen Nichtstuns. Dem frönte eine grau getigerte Katze, die zusammengerollt auf einem Kissen lag und unbeirrt von Carolas Wutausbrüchen ruhig schlief. Hinter einem Holzzaun nickten Kosmeen, Eisenhut und Phlox. Der Platz vor dem Haus war mit unregelmäßigen Kopfsteinen gepflastert, und über der schweren Eingangstür hing ein schmiedeeisernes Zunftschild. In goldenen Schnörkeln stand da zu lesen: »Fischbach– Restaurator«.

Hier hatte jemand eine hollywoodreife Oberbayernidylle geschaffen und dabei äußersten Wert auf historische Baumaterialien gelegt. Carola kam das alles schwer gewollt vor. Sie war schon genervt, bevor es überhaupt losging. Im Haus regte sich nichts. Seppi und sie konnten doch nicht unbemerkt geblieben sein!

»Ja, Zefix, spinnen die denn alle? Gleich kommen der Landrat und ein Haufen Provinzpromis, und hier ruht still der See? Wo bleiben diese Schreiberlinge? Jetzt sag doch auch mal was, Seppi!«

Seppi starrte Carola an. Er war in eine Art Schockstarre gefallen.

Carola betrachtete ihren Kollegen verächtlich von oben bis unten, dachte sich: Weichei, und entschied, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. »Wenigstens der Restaurator muss doch aufzutreiben sein, oder? Ich muss ihn sprechen, bevor die Presse anrollt. Diese Ehefrau sollte ja eigentlich auch dabei sein, oder? Oder, Seppi?«

Aus Seppis Blick sprach blankes Entsetzen.

Herr, wirf Hirn vom Himmel, dachte Carola, öffnete das Gartentor, stapfte durch den Vorgarten und klingelte zweimal kurz hintereinander an der Haustür. Es geschah– nichts. Der Wasserhahn plätscherte, die Katze schlief, und die Kosmeen nickten. Nervenzerfetzende Stille. Unfassbar.

Sie drehte sich zu Seppi um, der mit den Schultern zuckte. Ja, wenn im Haus schon niemand mit einer Tasse Kaffee auf sie wartete, dann würde doch wohl hoffentlich jemand bei der Arbeit anzutreffen sein. Wütend stürmte Carola am Haus entlang, an das sich im Westen der ehemalige Stall anschloss. Eine Inschrift über der ehemaligen Stalltür verkündete: »Werkstatt«.

Carola versuchte, durch ein Fenster ins Innere zu spähen. Außer ein paar Umrissen war nichts zu erkennen. Keine Klingel. Sie schlug mit der Faust kräftig an die Tür. »Herr Fischbach? Sind Sie da? Die Presse kommt gleich, wir sollten vorher noch einmal miteinander sprechen.«

Nichts. Stille.

»Herr Fischbach?« Carola betätigte die Türklinke. Nicht abgeschlossen. Kurz entschlossen drückte sie die Tür auf und trat ein.

Sie stand in dem ehemaligen Stall, jetzt, von Tieren und landwirtschaftlichen Maschinen befreit, ein einziger großer, heller Raum. Carola war schlagartig klar, dass etwas nicht stimmte. Selbst kreative Unordnung konnte dieses Chaos nicht erklären.

Ein offensichtlich alter Schrank lag umgestürzt und zerbrochen in der Mitte des Raumes. Stellwände waren umgekippt. Dahinter stand eine weiße Statue. Papiere lagen verstreut am Boden.

Das Tageslicht fiel von zwei Seiten durch die Stallfenster. Der Fußboden bestand aus alten Mauerziegeln, die unregelmäßigen Wände waren hell gekalkt. Von der Decke hingen futuristische Leuchten, auf einem Tisch gleich bei der Tür standen zwei dickliche hölzerne Engel, die darauf zu warten schienen, vergoldet zu werden. Unter den Fenstern auf der gegenüberliegenden Seite erblickte sie mehrere Kommoden, die alle den Eindruck von Antiquitäten machten. Den Raum durchzog ein scharfer, unangenehmer Geruch.

Immer noch stand Carola in der Eingangstür und versuchte, sich zu konzentrieren. Was war das für ein Gefühl, das in ihr aufstieg? Sie merkte, wie sich die Haare auf ihren Unterarmen aufrichteten und sich ihre Nackenmuskeln zusammenzogen.

»Caro? Carola, wo bist du denn?«, hörte sie Seppi rufen.

»Gleich, Seppi!«, schrie sie über die Schulter zurück.

Noch zwei, drei Schritte, dann konnte Carola hinter den umgekippten Schrank sehen. Auf dem Ziegelboden lag ein Mann. Vollkommen still. Braune Locken, schlank, blass, bekleidet mit Jeans, Hemd und hellbraunen Wildlederschuhen. Er lag auf dem Rücken, Arme und Beine entspannt ausgestreckt. Als würde er schlafen. Auf seinem eleganten weißen Hemd prangte ein riesiger tiefroter Fleck.

Carola griff automatisch nach ihrem Telefon. »Johannes? Wo bist du? Kehr sofort um. Nein, nein, komm nicht her. Hier liegt ein Toter. Ich ruf dich an.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte sie auf den roten Telefonhörer. Und wählte die110.

Eine halbe Stunde später fuhr Carola sich erschöpft über das Gesicht. Sie hatte sich kurz mit der Lady in der Notrufzentrale gestritten. Sollte das ein falscher Alarm sein, würde sie das teuer zu stehen kommen, hatte die Notruf-Schnepfe gedroht. Damit kam sie einer Wahlberlinerin gerade recht. Von null auf hundert in einer Zehntelsekunde pampte Carola zurück und verlangte, Lenz Meisinger zu sprechen. Das machte Eindruck. Ein Streifenwagen und ein Rettungswagen seien unterwegs. Auf die folgenden Erste-Hilfe-Anweisungen hatte Carola unwirsch reagiert. Und dann ihre Personalien buchstabiert. Seppi starrte sie die ganze Zeit mit offenem Mund an. Könnte Matthias mich jetzt sehen, er wäre stolz auf mich, dachte Carola.

Als sie aufgelegt hatte, tauchten wie auf Kommando einer nach dem anderen die Eingeladenen auf. Als Erster rauschte der Landrat in seiner schwarzen Limousine heran. Carola fing ihn vor dem Gartenzaun ab und berichtete kurz und knapp von einem Unglück in der Werkstatt und dass Polizei und Rettungsdienst unterwegs seien. So schnell, wie er aus seinem Auto geklettert war, sprang der Landrat auch wieder hinein. Gleiches galt für den Pfarrer und die Abgeordneten der anderen Parteien. Bloß nicht am falschen Ort zur falschen Zeit gesehen werden, das war weitaus schlimmer, als sich in flagranti auf der Weihnachtsfeier erwischen zu lassen.

Wer um neun Uhr morgens allerdings durch Abwesenheit glänzte, war die Presse, ganz im Bewusstsein um ihre entscheidende Position bei diesem Termin. Carola sah sich noch einmal um, dann befahl sie ihrem Kollegen: »Du bleibst hier und passt auf, ob jemand kommt. Dann rufst du mich. Ich geh noch mal rein.«

Dass Seppi, wie zu erwarten, protestierte, interessierte sie nicht. Wieder stand sie in der Tür. Wieder ergoss sich Sonnenlicht über den zerbrochenen Schrank und die Papiere, und wieder richteten sich ihre Härchen auf ihren Unterarmen auf. Aber da war noch etwas anderes. Etwas, das sich bei ihrem ersten Eintreten in ihre Netzhaut gebrannt hatte.

Carola schenkte dem Toten keine Beachtung. Dass er auf unnatürlichem Weg von dieser Welt gegangen war, stand vollkommen außer Zweifel. Um das festzustellen, brauchte sie weder einen Arzt noch die Polizei. Von ihrem Platz an der Tür aus versuchte sie sich zu erinnern, was sie wahrgenommen hatte, als sie das erste Mal in den Raum getreten war. Meter für Meter ließ sie ihren Blick durch die Werkstatt wandern. Die dicken Engel. Die schönen, alten Kommoden. Der umgestürzte Schrank. Dann fiel sie ihr auf.

Die weiße Statue. Was um alles in der Welt machte eine solche Statue in der Werkstatt eines bayerischen Restaurators? Auf Zehenspitzen tappte Carola durch den Raum. Sie wusste, sie durfte nichts anfassen, aber das hatte sie auch nicht vor.

Hinter den halb umgeknickten Stellwänden stand die Statue auf einem groben Holzklotz. Carola entdeckte noch eine zweite, die in einer großen, mit Holzwolle gepolsterten Kiste lag. Ein leeres, mit einem weißen Tuch abgedecktes Podest wirkte dagegen sehr verloren.

Carola betrachtete erst die eine, dann die andere Statue. Wie elegant, wie anmutig sie sind, dachte sie und runzelte die Stirn. So etwas wurde normalerweise im Nationalmuseum in Athen ausgestellt und war zweieinhalbtausend Jahre alt. Wie um alles in der Welt kamen solche Statuen nach Oberbayern?

Eine der Figuren stellte einen Frauenkörper dar, die andere einen Mann. Genau genommen waren es nur Rümpfe, denn beide waren arm- und beinlos. Ihre zierlichen Köpfe mit lieblichen Gesichtern neigten sich leicht zur Seite. Die Statuen trugen in Falten gelegte Gewänder und waren aus einem sehr hellen Stein gefertigt. Marmor? Carola unterdrückte den Impuls, sie zu berühren. Stattdessen fischte sie ihr Telefon aus der Tasche und machte schnell ein paar Fotos. Ihr Telefon gab dabei wie immer das alberne Klickgeräusch von sich, mit dem es den Auslöser einer Kamera imitierte. Auch dieses Mal ärgerte sich Carola darüber und nahm sich fest vor, das digitale Mimikry bei nächster Gelegenheit zu beenden.

Neben den Statuen stand ein großer Arbeitstisch. In einem offenen Holzkasten, der fast die gesamte Tischplatte einnahm, lag ein Bild, vielmehr ein Mosaik aus vielen hundert strahlend bunten Steinen. Es zeigte sehr realistisch Orangen und Zitronen mit üppigem grünem Laub. Es ist wunderschön, dachte Carola, und so naturalistisch. Als sie erneut den Auslöser an ihrem Handy betätigte, stieß sie an den Tisch, und etwas fiel klirrend um.

Oh mein Gott! Sie schrak zusammen. Was hatte sie jetzt bloß wieder kaputt gemacht? Sie bückte sich. Auf dem Fußboden lag ein Gegenstand aus dunklem Metall.

Ein riesiger Eiskratzer? Sie musterte das Ding genauer. Zum Glück war es noch heil. Bloß ein bisschen löchrig. Aber das konnte doch nicht sie gewesen sein! Von draußen hörte sie Seppi rufen und drückte noch einmal auf den Auslöser.

Schnell durchquerte sie die Werkstatt und trat vor die Tür. Ein, zwei, nein, drei Autos fuhren vor. Aus dem ersten Fahrzeug stiegen zwei Männer, offensichtlich die Pressevertreter, einer mit einer Kamera um den Hals. Aus dem zweiten sprangen zwei uniformierte Polizisten, die die beiden Reporter daran hinderten, auf Carola zuzustürzen. Das dritte Auto war ein Rettungswagen.

Während einer der beiden Uniformierten auf die Journalisten einredete, trat der andere neben Carola, den Notarzt im Schlepptau.

»Huber, Polizeihauptmeister Weilheim. Sie haben den Notruf gewählt.« Das war ein Vorwurf, keine Frage.

»Ja«, flüsterte Carola, der auf einmal ganz schwummerig wurde. Sie musste sich dringend hinsetzen. »In der Werkstatt hat ein Mord stattgefunden.«

»So.« Polizeihauptmeister Huber taxierte die schmale Blondine. »Und woher wollen Sie das wissen?«

Jetzt war es an Carola, den uniformierten Beamten anzustarren. »Weil da drin ein Mann liegt, der meiner Meinung nach nicht mehr am Leben ist. Der ist aber nicht einfach umgefallen, der hat eine große Wunde am Oberkörper. Von einer Kugel vielleicht. Oder einem Messer? Keine Ahnung, das ist Ihr Job.«

»Kugel, sagen S’? Messer? Soso.« Huber sah streng von Carola zu Seppi und befahl: »Dableiben.« Dann nickte er dem Notarzt zu, der mit seinem roten Rucksack bereits zur Werkstatt hastete, und rief in Richtung seines Kollegen: »Flori, aufpassen!« Die beiden Männer verschwanden in der Werkstatt.

Keine Minute später erschien der grantige Uniformierte wieder vor der Tür, sprach kurz mit seinem Kollegen und zog sein Telefon heraus. Carola meinte, so etwas wie »Verstärkung« zu verstehen. Vom Notarzt keine Spur. Quälende Minuten verstrichen, in denen alle etwas verloren herumstanden. Nur die Journalisten beschwerten sich lautstark, dass niemand mit ihnen sprach.

Plötzlich fuhren mit hohem Tempo, Blaulicht und Martinshorn zwei weitere Streifenwagen vor, aus denen vier uniformierte Polizisten kletterten, zwei Männer und zwei Frauen. Eine der Frauen baute sich im Vorgarten auf, die andere verschwand um die Ecke. Einer der Männer wickelte rot-weiß gestreiftes Absperrband um den Gartenzaun, sein Kollege ging in die Werkstatt, dicht gefolgt von zwei Rettungssanitätern.

Inzwischen hatten auch die Nachbarn bemerkt, dass bei den Fischbachs etwas nicht stimmen konnte. Menschen schauten über den Gartenzaun, tuschelten miteinander. Um Carola und Seppi kümmerte sich immer noch kein Mensch. Das Wasser plätscherte ungerührt in seinen Steintrog. Wie spät war es eigentlich? Carola sah auf die Uhr. Später Vormittag. So wie gestern war aus einem warmen Morgen schlagartig ein heißer Tag geworden. Niemand nahm von ihnen Notiz.

»Komm, Seppi, wir setzen uns.« Carola hockte sich auf die Bank vor dem Haus. Die Katze war verschwunden. Ihr war gar nicht gut. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und überließ sich ihrem Unwohlsein. Langsam beruhigte sich ihr Magen wieder. Sie wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte, als erneut Martinshörner durch den Vormittag plärrten. Sie schreckte hoch und sah aus dem Augenwinkel, wie Männer aus dem Wagen stiegen und sofort routiniert Metallkoffer ausluden. Und dann entdeckte sie erleichtert ein bekanntes Gesicht. Sie sprang auf.

»Lenz, in der Werkstatt liegt ein toter Mann!«, rief sie ihrem neuen Nachbarn entgegen.

Heute Vormittag war von der gestrigen Gemütlichkeit bei Lenz Meisinger keine Spur. Aus seinen dunklen Augen war jede Spur von Freundlichkeit gewichen. Kühl sah er sie an.

»Carola, ich hoffe sehr, dass das hier kein schlechter Scherz ist. Du hast einen unbekannten Toten gemeldet.«

In Bayern stellte man offensichtlich keine Fragen, sondern erst einmal fest. Carola spürte plötzlich, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Auf einmal wurde ihr die ganze Dimension des Geschehens bewusst. Sie schluckte. Mehr als ein kleines »Ja« brachte sie nicht heraus.

Lenz schien das Glitzern in ihren Augen bemerkt zu haben. In seinen Blick kehrte ein wenig Wärme zurück. »Ist schon recht.« Als er die Erleichterung in ihrem Gesicht sah, nickte er ihr zu. »Du bleibst hier, dich brauche ich später noch.«

»Ja«, krächzte Carola wieder.

Sie sah, wie Lenz mit einer Kopfbewegung einen Kollegen, der mit ihm aus dem Auto gestiegen war, zum Mitkommen aufforderte. Vor der Tür zur Werkstatt zogen die beiden weiße Overalls, Überschuhe und Handschuhe an und gingen hinein. Ihnen folgten Männer ebenfalls in Overalls und mit Metallkoffern.

Carola sackte wieder erschöpft auf der Bank zusammen. »Seppi, hast du irgendetwas Süßes dabei? Einen Schokoriegel?– Ah, danke, du bist meine Rettung.« Schnell riss sie das bunte Papier herunter und biss in die Schokolade.

Seppi strahlte.

Wenn er auch sonst zu nichts zu gebrauchen ist, dachte Carola. Wieso war es eigentlich im Haus so still? Wo war die Hausherrin? Die hätte doch eigentlich da sein sollen. Und wo war Katharina Bergegger? Schlagartig fiel Carola auf, dass die Bergeggerin als Einzige der Eingeladenen nicht erschienen war.