MORTIFERA - Markus Saxer - E-Book

MORTIFERA E-Book

Markus Saxer

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Beschreibung

Zweiundzwanzig spannende Storys mit garantierter Gänsehautatmosphäre, die meisten davon angereichert mit Elementen der dunklen Phantastik. Auf leisen Sohlen schleichen sie sich hinterrücks an den Leser heran, nur um ihn bei passender Gelegenheit unvermittelt aus dem Hinterhalt anzuspringen. Manche Geschichten sind im Mittelalter, andere wiederum im Hier und Jetzt angesiedelt. Die Lektüre von MORTIFERA hinterlässt nichts weniger als den Eindruck eines angstvoll durchlebten Albtraums; von subtilem Grusel bis hin zu eiskaltem Horror ist hier alles vertreten.

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Seitenzahl: 185

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Markus Saxer

MORTIFERA

Düstere Geschichten

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2013) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Coverfoto © ninared– Fotolia.com

Hergestellt in Leipzig Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

COVER

TITEL

IMPRESSUM

ÜBER DEN AUTOR

JUDITH UND HOLOFERNES

DAS WEISSE GESICHT

BEGEGNUNG IN DER KATHEDRALE

DA VINCI’S MAGIERIN

MONDFINSTERNIS

DAS PORTRÄTFOTO

DIE GOLDENE TASCHENUHR

MARFAS SCHATTEN

GORGO 2012

SINFONIE DES TODES

DAS GEHEIMNIS DER FENSTERROSE

VANITAS

EIN FREMDER IN DER BADEWANNE

ELYSIA UND IHR SPIEGEL

BARBARAS BABY

FEMME FATALE

DAS GEISTERKIND

HERR ADAM SIEHT SCHWARZ

IM GARTEN GETHSEMANE

DAS GESCHÖPF DER SENNEN

DER DOPPELTE FALSCHE MOZART

LEBENDE TATTOOS (scherzhaftes Outro)

Markus Saxer, 1961, lebt mit seiner Familie in Stettlen/CH. Zahlreiche Kurzgeschichten des Autors mündeten im Laufe der Jahre in Romanheften, Buch- und Hörbuch-Anthologien. Im 2004 wurde sein erster Roman DIE SYMMETRIE DES BÖSEN beim deutschen VirPriV-Verlag publiziert. Das Buch wurde in der Sparte Roman-Debüt für den Deutschen Phantastik Preis2005 nominiert.

Im 2013 wurde sein Krimi TÖDLICHES MANUSKRIPT vom Engelsdorfer Verlag in Leipzig herausgegeben.

Das älteste und stärkste Gefühl des Menschen ist Angst, die älteste und stärkste Form der Angst, ist die Angst vor dem Unbekannten.

H.P. Lovecraft

JUDITH UND HOLOFERNES

Das Hotelzimmer lag in tiefem Schweigen. Theo de Fago schob die Gardine zur Seite und schaute auf die ins Sonnenlicht getauchten Weinberge und auf den Spiegel des Sees, dessen aquamarinblaue Oberfläche sich sanft kräuselte. Diese Landschaft hatte etwas von einer Hochglanzpostkarte an sich, erschien ihm künstlicher und weniger real, als die Frau auf dem Ölgemälde über dem Sekretär. Zum wiederholten Mal seit seiner heutigen Ankunft im Kurhotel Engel wandte er sich diesem Bild zu. Von ihm ging eine enorme Suggestivkraft aus, sodass er mit hinter dem Rücken verschränkten Händen nahe an die Bildgestalt trat. Die majestätische Dame im Gewand aus goldenem Damast hielt wie eine Trophäe einen abgeschlagenen Kopf an einem Haarbüschel in der linken Hand. Dass diesem Haupt mit den höchst unansehnlichen Blutgefäßen des Halses das Gesicht fehlte, verlieh der Darstellung etwas höchst Surreales. Die beringte Rechte der Schlächterin umklammerte den Griff eines bluttriefenden Kurzschwerts. Ihr mit einem purpurroten Band zusammengehaltenes Haar floss in langen, welligen Flechten nach hinten über ihre Schultern. Blutdurst, Triumph und kühle Leidenschaft blitzten in ihren Augen. Um ihren Mund lag ein grausamer und doch sinnlicher Zug.

Komm, schienen diese Lippen ihn aufzufordern, komm zu mir und erwecke mich zum Leben!

Die Drastik der Darstellung war schlicht atemberaubend. Theos Empfindungen wechselten zwischen Ablehnung und Faszination, wobei letztere allmählich obsiegte. Er streckte die Hand so weit aus, dass er mit dem Finger beinahe den Firnis dieses todestrunkenen Werks berühren konnte. Langsam breitete sich ein Kribbeln in seinem Körper aus. Er spürte, wie sich die Schönheit dieser düsteren Heldin heimtückisch in sein Herz schlich. Eine Heldin, die auf ihn lebendiger und leidenschaftlicher wirkte, als so manche Zeitgenossin aus Fleisch und Blut. Die Stille im Zimmer mochte nicht zuletzt von diesem Bild ausgehen, dessen Aura den Betrachter absolut gefangen nahm. Theo versenkte sich immer tiefer in dieses Meisterwerk. Es stachelte seine Phantasie an und ließ ihn die Zeit und seine Umgebung vergessen. Erst als es dämmrig wurde, riss er sich davon los. Er packte seinen Koffer aus, räumte die Sachen in den Schrank und ging dann etwas geistesabwesend aus dem Hotelzimmer, um in der Gaststube das Abendessen einzunehmen.

Theo händigte den Zimmerschlüssel dem kahlköpfigen Alten in der schwarzen Livree an der Rezeption aus. »Sagen Sie, dieses Bild in meinem Zimmer…«

Der Alte schob die Unterlippe vor, schaute auf die Schlüsselnummer und sagte: »Soll ich dieses schaurige Bild vielleicht aus Ihrem Zimmer entfernen, mein Herr?«

»Nein, nein. Ich bin ganz fasziniert davon. Leider konnte ich keine Signatur auf der Leinwand entdecken. Wissen Sie, wer es gemalt hat?«

Der Alte schüttelte bedächtig den Kopf: »Einen Moment bitte, ich hole die Chefin.«

Die Dame, die kurz darauf hinter den Hoteltresen trat, lächelte den Gast an und warf einen Blick in das Gästebuch. »Womit kann ich Ihnen dienen, Herr de Fago?« Ihre Stimme passte zu ihren wachen Augen und den graumelierten, kurz geschnittenen Haaren, die ihr herbes Gesicht betonten.

»Ach, ich wollte mich bloß erkundigen, von wem das Bild auf Zimmer 207 stammt.«

Sie zuckte die Achseln. »Das weiß man nicht. Mangels Signatur konnte es bislang noch keinem Künstler zugeordnet werden. Wieso fragen Sie?«

»Na ja, es gefällt mir. Ich finde, es ist vortrefflich gemalt.«

»Sind Sie vielleicht Kunstsammler?« Sie stützte sich mit den Händen auf dem Tresen ab.

Lächelnd winkte er ab. »Nein. Aber dieses Bild könnte mich vielleicht dazu verleiten, mit dem Sammeln von Kunstwerken anzufangen. Verkaufen Sie es mir?«

»Wissen Sie, obschon wir keine Expertise davon besitzen, und eine genaue Datierung dadurch nicht möglich ist, stufe ich es als ziemlich wertvoll ein.«

»Der Preis würde keine Rolle spielen. Wirklich nicht.« Theo war es etwas peinlich, dass er sein Interesse an dem Bild so unverhohlen zur Schau stellte.

»Ich muss Sie leider enttäuschen, aber das Bild ist unverkäuflich.«

Theo nickte enttäuscht. »Ich verstehe… Wie sind Sie dazu gekommen? Und wer ist diese Dame mit dem Schwert?«

»Hm. Also kurz nachdem ich hier das Hotelmanagement übernommen hatte, entdeckte ich das Bild im Winkel einer Abstellkammer, eingehüllt in ein Wachstuch. Wahrscheinlich stellt es Judith mit dem Haupt des Holofemes dar– ein in der klassischen Malerei sehr beliebtes und oft variiertes Motiv. Aber das ist lediglich meine Vermutung.«

»Schade, dass dieser Holofernes kein Gesicht besitzt, denn dann wäre das Bild vollkommen.«

»Nun ja… Alles Menschliche an sich ist stets unvollkommen. Wäre etwas vollkommen, dann wäre es nicht mehr menschlich, sondern göttlich, nicht wahr?« Nach dieser Entgegnung wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Telefon zu, das schrill ihre Rede unterbrach. »Antonio!«, rief sie ärgerlich nach dem Alten, ehe sie den Hörer abnahm, »alles muss man hier alleine machen…«

Nachdem Theo mit einigen Kurgästen ein leichtes Abendmahl in der Gaststube eingenommen hatte, kehrte er in sein Zimmer zurück. Unter Judiths Blicken ging er ins Badezimmer und stieg unter die Dusche. Im weißen Bademantel mit der Goldstickerei Kurhotel Engel und nassen, nach hinten gekämmten Haaren, legte er sich eine Weile aufs Bett und starrte an die Decke. Eigentlich war er hier, um übers Wochenende fernab von Familie und Kinderlärm eine Dissertation zu prüfen. Aber das Gemälde übte eine geradezu magische Anziehungskraft aus, sodass er seinen Kopf drehen und es ansehen musste. Jetzt, nachts, schien es von einem schwelenden Licht erfüllt, das die Frauengestalt fast plastisch hervortreten ließ. »Judith«, murmelte er nachdenklich, »oder wer immer du sein magst, meine unerschrockene Heldin.«

Der kleine, zu allem entschlossene Mund in ihrem Gesichtsoval, raubte ihm fast den Atem, er konnte einfach nicht wegschauen.

Komm, erwecke mich zum Leben!

Er wusste, dass es abartig war, ein solch blutrünstiges Weib zu verehren. Und trotzdem… Um seine Unruhe zu kaschieren, setzte er sich auf den Rand der Matratze, drehte das Radio an, suchte und fand einen Klassik-Sender. Das Andante von Mahlers sechster Sinfonie erscholl und verbreitete eine trübe Stimmung. Musik, wie eine Verbindung zum Unendlichen und Unfassbaren. Theo stand auf, nahm sich eine Erdbeere aus dem Fruchtkörbchen und verzehrte sie genüsslich vor dem offenen Fenster. Kühle Nachtluft strömte herein, umhüllte ihn wie eine Decke.

Nach weiterer eingehender Betrachtung des Gemäldes, das nun wie schwerer Wein seine Sinne benebelte, entschloss er sich, um jeden Preis in dessen Besitz zu gelangen. Es mutete ihn selbst verrückt an, aber er war gerade dabei, dieser Judith rettungslos zu verfallen. Sie musste ihm gehören, ihm allein, und gierig streckte er seine Hand danach aus. Theo merkte, wie er vor Begierde anfing zu zittern. Als er das Bild von der Wand nahm, glitt kalt und schnell wie eine Messerspitze ein Schweißtropfen zwischen seinen Schulterblättern hinunter. Schnell biss er sich auf die Unterlippe, ein winziger Blutstropfen trat hervor. Bebend hielt er den Rahmen fest in den Händen und küsste versessen Judiths Lippen. Ein Schauer der Erregung rieselte durch seinen Körper.

Seine Sachen hatte er gepackt, das Bild in ein Badetuch gewickelt. Ohne die Konsequenzen seines Handelns zu bedenken, schlich Theo frühmorgens auf Zehenspitzen samt der Diebesbeute die Hoteltreppe hinunter. Einmal blieb er kurz stehen und lauschte. Jemand schnarchte. Klopfenden Herzens stieg er weitere Stufen hinab, duckte sich auf einem Treppenabsatz– und sah direkt auf Antonio. Doch der Alte schlief mit offenem Mund und in sich zusammengesackt auf einem Stuhl hinter dem Tresen. Lautlos durchquerte Theo de Fago das Foyer, verließ das Kurhotel und eilte zu seinem Wagen; dabei beschlich ihn permanent das Gefühl, jemand sei ihm dicht auf den Fersen. Immer wieder blickte er sich um, doch er sah nichts. Er spürte nur ein Zittern, ein Vibrieren der Luft, als signalisiere die Dunkelheit die Präsenz einer Art Energie oder das unsichtbare Vorhandensein von etwas Fremdartigem.

Theo fuhr durch schlafende Dörfer. Anfänglich grinste er noch wie im Wahn vor sich hin, doch bald schon spürte er die Müdigkeit auf den Lidern lasten und auch auf dem Fuß, der das Gaspedal trat. Während er mit links den Wagen steuerte, schaltete er mit dem rechten Zeigefinger die Innenbeleuchtung an und bewunderte das Gemälde auf dem Beifahrersitz. Da bemerkte er erschrocken, dass die Frau auf dem Bild fehlte. Unwillkürlich machte er einen Schlenker mit dem Wagen, korrigierte aber sofort, fuhr sich mit der rechten Handfläche zweimal rasch übers Gesicht und versuchte, sich auf die Straße zu konzentrieren. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.

Die Müdigkeit spielt mir einen Streich. Oder vielleicht sind es die überreizten Nerven…

Plötzlich spürte er den Druck von Fingern auf seiner Schulter und schrie überrascht auf. Mit weit aufgerissenen Augen warf er den Kopf herum.

Wie ein Gespenst saß Judiths Inkarnation stumm in voller Lebensgröße auf dem Rücksitz, mit Augen, die wie zwei Sterne glitzerten.

Theo konnte kaum glauben was er sah. Fassungslos saß er mit offenem Mund reglos in seinem Sitz.

Er hatte tatsächlich die Forderungen ihrer Lippen eingelöst und sie zum Leben erweckt…

Eine Autohupe zerfetzte die Stille der Nacht. Theos Herz raste, gehetzt blickte er nach vom und wurde von Scheinwerfern geblendet. Entsetzt stellte er fest, dass er von seiner Spur abgekommen war. Er riss hektisch das Steuer herum, verwechselte in seiner Panik die Pedalen und gab Vollgas.

Judiths Finger streichelten sachte sein Haupt, ehe sie sich in seinem Haar festkrallten und seinen Kopf brutal nach hinten rissen, bis er brüllte. In Sekundenschnelle schnitt sie ihm mit dem Kurzschwert die Kehle durch und säbelte ihm den Kopf ab. Blutfontänen spritzten an die Scheiben und über die Armaturen, während der Wagen schleudernd in einer Rechtskurve die Straße verließ und sich wuchtig um einen Baum wickelte.

Das Wrack wurde im Morgengrauen geborgen. Die Bergungskräfte trafen auf eine männliche, aber kopflose Leiche im Wageninneren. Der Schädel wurde trotz intensiver Suche nicht gefunden.

DAS WEISSE GESICHT

Vorgestern fand er ein Foto in der Post. Darauf war nichts weiter als sein Briefkasten abgebildet. Verblüfft und mit einer leisen Beklemmung schaute er es sich an. Kein Vermerk auf der Rückseite. Gewiss nur ein dummer Scherz, dachte er und kehrte in sein Haus zurück. Depressiv und ängstlich wie er war, geriet er dennoch ins Grübeln.

Nachts fand er keine Ruhe, knipste immer wieder die Nachttischlampe an und betrachtete wiederholt dieses so banale, wie rätselhafte Foto, suchte nach versteckten Hinweisen, fand jedoch nichts. So machte er die Lampe endgültig aus. Ein weißes Licht zeichnete die Form des Schlafzimmerfensters auf den Boden. Die Möbel, größer als bei Tag, fleckten undeutlich das Dunkel. Er faltete die Hände über dem Bauch und starrte das schwarze Rechteck der Zimmerdecke an. Wie ein offenes Grab grinste die Decke herab. Er schloss die Augen, konnte aber nicht einschlafen. Ein unerträgliches Gemisch aus körperlicher Müdigkeit und dem Gefühl von etwas, das ihn innerlich aufzehrte, zermürbte ihn. Gedanken, bevölkert von abscheulichen Existenzen und Wesen ohne Leben, tobten auf einmal in seinem Gehirn. Etwas Unwägbares, Gestaltloses, das in der Finsternis zu lauem schien, peitschte seine Nerven zusätzlich auf, während sein Herz geradezu galoppierte. Er atmete mehrmals hintereinander tief ein und aus, versuchte es mit mentalen Entspannungsübungen. Es half nichts, der Schlaf floh ihn wie einen Verdammten, wies ihn ab, wie Ölzeug das Wasser. Er hörte die Zeit fallen, Tropfen um Tropfen.

Als er dann doch kurz einschlief, hatte er ein unheimliches Traumbild: Das schmale, weiße Gesicht einer Fremden, das zitterte wie auf dem Grund eines Flusses. Zwei dunkle Augen mit starrem Blick…

Gestern lag erneut ein Foto in seinem Briefkasten. Diesmal hatte der mysteriöse Fotograf seine Haustür abgelichtet. Zuerst regte er sich darüber auf, doch später bekam er Angst. Etwas Ungeheuerliches schien sich ihm auf leisen Sohlen zu nähern, unaufhaltsam pirschte es sich heran. Noch machte es Halt vor seiner Tür, aber wie lange noch?

Nachdem er ein Bad genommen und sich mit dem Frottiertuch abgetrocknet hatte, griff er nach dem Rasiermesser und stellte sich vor den Spiegel, der noch beschlagen war. Er betrachtete sein verschwommenes Spiegelbild, die Schneide nahe am Hals. Jäh kam ihm die verrückte Idee, es hätte sich vielleicht gleichzeitig mit den beiden Aufnahmen ein unsichtbares Wesen in sein Haus eingeschlichen und beschlossen, sich in seinem Körper einzunisten, sich seine Stimme und seine Bewegungen anzueignen. Und nun war es vielleicht dieses Wesen, nicht er, das statt seiner das Rasiermesser hielt. Seine Hand zitterte so heftig, dass er sich eine kleine Schnittwunde zufügte. Blut troff ins Waschbecken und vermengte sich mit Wassertröpfchen zu einem purpurnen Rinnsal. Als er wieder in den Spiegel blickte, schien es ihm, als schaute dieser andere zurück.

Oder diese andere?

Er kniff die Augen zusammen, als könne er so besser sehen. Tatsächlich, es war das Gesicht aus seinen Träumen. Zwei stetig dunkler werdende Augen hefteten sich auf ihn, bis ihn das Grauen packte. Der Spiegel wurde klar, das Gesicht eisig scharf. Aus dem Mundwinkel der Frau rann ein Blutfaden. Ihr Blick verwandelte sich in quälendes Starren– der Blick einer Wahnsinnigen. Leise bewegte sie die aschfahlen Lippen, und wäre da nicht diese Totenstille gewesen, er hätte geglaubt, sie rede mit ihm. Ihr Antlitz war voll morbider Schönheit und schlug ihn in seinen Bann. Ihre stechenden Pupillen ließen ihn nicht mehr los. Mit einem Mal brach ein Stöhnen die Stille. Das Rasiermesser entglitt seinen Fingern und landete auf der Badematte neben der Wanne. Am ganzen Körper zitternd war ihm, als verfinsterte sich der Tag, als würde alles zerrinnen, als würde er selbst aus der Zeit herausfallen. Kalter Schweiß brach ihm aus, schlagartig hatte er Eiswasser in den Adern. Allmählich verflüchtigte sich ihr Gesicht und machte seinem Ebenbild Platz. Es erschien ihm fremd. Eine Weile sah er auf seine eigene Visage, ehe er langsam realisierte, wie ihm das Blut aus der Schnittwunde am Hals warm den Körper herunterrann. Ihm wurde schwindlig. Nach Atem ringend krallte er sich am Rand des Waschbeckens fest und sackte in die Knie.

In derselben Nacht kauerte er auf dem Bett, überdachte alles nochmals und fühlte sich fix und fertig. Er nippte an der Teetasse und öffnete das Nachtschränkchen. Völlig überrascht war er, als neben den beiden ersten Fotos noch ein drittes lag. Darauf war seine Haustür einen Spaltbreit geöffnet, und durch diesen Spalt– es lief ihm eiskalt den Rücken runter– schaute das weiße Gesicht aus seinen Träumen. Er rang nach Atem. Wie hypnotisiert starrte er eine Weile auf die Aufnahme, ehe er sie durchs Zimmer schleuderte und hoffte, nicht den Verstand zu verlieren.

Er ging ins Bad, schluckte eine Valiumtablette, legte sich anschließend aufs Bett und knipste die Nachttischlampe aus. Ein Streifen Mondlicht lag wie ein hell leuchtendes Band auf dem Boden. Als er endlich in die Anderwelt zwischen Traum und Wachen glitt, hörte er am Rande seines Bewusstseins das regelmäßige Atmen eines Schläfers.

Sein eigener Atem?

Wie schon am Morgen im Bad, vernahm er wieder dieses Stöhnen. Sofort war er hellwach und blickte panisch auf das Foto, das im Zimmerwinkel schimmerte.

Was, wenn das darauf abgebildete Wesen Gestalt annehmen und ihm entgegentreten würde?

Wie ein ängstlicher Junge zog er sich die Decke über den Kopf und verscheuchte diesen Gedanken. Glücklicherweise ließ ihn das Schlafmittel sachte wegdämmern. Während er schlief, sah er zeitgleich die Dinge um sich herum so klar wie im Wachzustand, sah sich durch eine unerklärliche Verdoppelung selbst in seinem Bett liegen. Ganz weiß war sein Gesicht, so wie das der Fremden. Leise bewegten sich seine Lippen, er beugte sich quasi über sich selbst und merkte mit Schaudern, dass sie seinen Platz eingenommen hatte. Schreiend spürte er, wie ihm das Blut mit grässlichen Geräuschen durch den Kopf schoss. Er hielt sich die Ohren zu, versuchte die Augen zu schließen, konnte es nicht, wollte wegblicken– es gelang ihm nicht.

Erst als sie die Hände hob, wurde es still in seinem Kopf. Wie durch Zauberei fiel auch die Angst von ihm ab. Er überlegte, ob er sie nach den Fotos fragen sollte.

»Du selbst hast diese Fotos gemacht.«

Hatte sie das eben gesagt, oder hatte es ihm ein Gedanke ins Gehirn geflüstert?

Während er darüber sinnierte, wurde ihm bewusst, wie schön sie war und wie selbstsicher sie nackt auf den Laken ruhte. Auf ihrem schmalen Gesicht kämpften fahles Mondlicht und Schatten miteinander. Trotz ihres zwingend-fordernden Blicks war er jetzt ganz entspannt, was ihm unter den gegebenen Umständen sehr merkwürdig erschien. Seine Furcht war wie weggeblasen, jegliche Müdigkeit von ihm abgefallen. Er war gar so kühn, sich neben sie aufs Bett zu setzen, woraufhin ein Lächeln ihre Mundwinkel verzog. Es war das Lächeln eines nichtmenschlichen Wesens, doch ging ein solcher Zauber von dieser Gestalt aus, dass er auf unerklärliche Weise angezogen wurde. In seinem Taumel wagte er es, ihr behutsam eine Haarsträhne hinters Ohr zu streichen. Sie schloss die Augen und seufzte genießerisch. Langsam glitten seine Finger in die dichte schwarze Masse ihres Haars. Ein Duft wie von vermodernden Blumen lag in der Luft.

»Wer bist du?«, flüsterte er.

»Komm…«, las er von ihren Lippen ab.

Er beugte sich über sie und schaute sie an. Sie schlug die Augen auf und es schien, als würde die anbrechende Morgenröte darin glimmen. Sacht berührten seine Lippen die ihren– sie waren kalt. Blitzartig umschlang sie ihn mit Armen und Beinen, krallte sich fest wie eine Ertrinkende. Schlagartig wurde ihm klar: Er war ihre Beute und nicht ihr Meister. Trotz oder gerade wegen dieses vollständigen Ausgeliefertseins, packte ihn eine widernatürliche, tierische Begierde. Wild vollzog er mit ihr den Liebesakt– gierig und sehnsüchtig. Auf dem Höhepunkt der Wollust erstickte er seinen Lustschrei keuchend in ihrem Haarschwall. Dann versuchte er, sich von ihr zu lösen, aber sie gab ihn nicht frei. Gesättigt und ernüchtert wollte er sein Fleisch von ihrem Fleisch reißen, aber sie hielt ihn im Schraubstock ihrer Glieder fest. Er hielt still in der Hoffnung, sie würde ihn freilassen. Sie hielt jedoch noch fester, verdrehte lauernd die Augen und öffnete ein wenig die Lippen. Wieder erklang dieses Stöhnen, das sie zwischen den Zähnen hervorpresste.

Bestürzt hatte er das Gefühl, mit ihr in die Tiefe zu stürzen, mit ihr sterben zu müssen. Ein glühender Schmerz durchzuckte ihn, als sie ihm schlagartig die Zähne in die Schulter bohrte. Sich aufbäumend hörte er sich selbst schreien, während er seine Hand auf die blutende Wunde drückte. Sobald ihr Körper unter ihm erschlaffte, sprang er mit einem Satz vom Bett auf, obwohl der Schmerz in seiner Schulter wütete. Bebend, aber fasziniert, sah er im Zwielicht des heranreifenden Tages ihren schmalen, zarten Körper wie tot auf dem Bett liegen. Ein dünner Blutfaden rann ihr vom Mundwinkel. Nie zuvor hatte er etwas Grausigeres und zugleich Schöneres gesehen.

In diesem Moment wurde die Schlafzimmertür aufgerissen.

Er wirbelte herum, doch da war niemand. Vor ihm klaffte nur schwarz der leere Türrahmen. Unschlüssig überlegte er, ob die Tür nicht vielleicht die ganze Zeit über offen gestanden hatte, und seine überreizten Nerven ihm einen Streich spielten. Er wandte sich wieder der Schläferin zu, doch an ihrer Stelle lag nun sein Körper: Die Gliedmaßen gebrochen, überall blutend, als hätte man ihm die Haut heruntergerissen. Von diesem Anblick zutiefst verstört, fing er an, wie ein in die Enge getriebenes Tier zu schnaufen, stürzte ins Bad und kühlte sein Gesicht mit kaltem Wasser. Tropfnass blickte er in den Spiegel, direkt in sein neues Ebenbild: ein schmales, totenbleiches Gesicht mit dunklen Augen, die ihn wahnsinnig anstarrten. Der Anblick schnürte ihm die Kehle zu. Einerseits lag sein Körper tot und verstümmelt im Schlafzimmer, andererseits war er auf gespenstische Weise noch am Leben.

Aber er war jetzt sie, war das Opfer des teuflischen Spiels, das sie mit ihm trieb!

Langsam öffnete sich sein Mund, er wollte schreien, brachte aber keinen Laut hervor. Er blickte wie aus dem Helm eines Tiefseetauchers, dem man gerade den Luftschlauch durchgeschnitten hatte. Eine Träne quoll ihm aus dem Auge und tropfte auf den Grat seines Wangenknochens. In dem Moment wurde er Zeuge eines erschreckenden Phänomens: Er sah im Spiegel, wie sie auch innerlich von ihm Besitz ergriff, schaute zu, wie er sich gegen seinen Willen mit dem Handrücken den grotesken Blutfaden aus dem Mundwinkel wischte und danach seine blassen Brüste in den Händen wog. Mit Abscheu bemerkte er, wie das schöne Antlitz einen sinnlichen Zug bekam.

Wie ferngesteuert holte er seine Digitalkamera und knipste sich vor dem Spiegel. Vom Blitz geblendet rieb er sich die Augen, legte den Fotoapparat auf den Wäschekorb und ließ mechanisch ein heißes Bad einlaufen. Vielleicht musste er tun, was sie wollte, vielleicht war er nur noch ihre Marionette. Er setzte sich in das dampfende Nass, flocht die Finger um die Knie und merkte, dass sie ihn einlullen wollte. Sein Wille wurde schwächer, aufgesaugt von ihrem Willen, der langsam in ihm wuchs. Der vollständige Verlust seiner eigenen Identität war nur noch eine Frage der Zeit.

Doch noch regte sich Widerstand in ihm. Aus dem Augenwinkel sah er das Rasiermesser auf der Badematte links von sich. Was, wenn er