Salome oder Der Sündenfall - Markus Saxer - E-Book

Salome oder Der Sündenfall E-Book

Markus Saxer

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Beschreibung

Vor Jahren verlor Pascal Caviezel seine Frau bei einem Autounfall. Während eines Schneesturms sucht er Zuflucht in einer Kathedrale. Ein älterer Herr setzt sich zu ihm und beginnt seine Version vom Sündenfall zu erzählen, und er konfrontiert Pascal mit Dingen aus dessen Vergangenheit, die er eigentlich gar nicht wissen dürfte ... Ist der Alte ein Spinner oder gar der Satan höchstpersönlich? - Eine spannende Geschichte, die den Leser, der in diesem Netz von Mythologie und Philosophie nie genau weiß, was Wahrheit und was Lüge ist, nicht mehr loslässt.

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Markus Saxer

SALOME ODER DER SÜNDENFALL

Roman

Engelsdorfer Verlag Leipzig 2017

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig Alle Rechte beim Autor Titelbild © Fernando Cortés – Fotolia.com Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)www.engelsdorfer-verlag.de

Selbst die kleinste Katze ist ein Meisterwerk Leonardo da Vinci

Jedes Ding, das wir sehen, verdeckt ein anderes, und wir würden sehr gerne sehen, was uns das Sichtbare versteckt René Magritte

Ich habe keine Angst vor der Hölle, und ich freue mich auch nicht auf den Himmel Katherine Hepburn

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Prolog

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Epilog

Kurzvita

Prolog

Apokalyptischer Regen, der auf dem Boden regelrecht zu explodieren schien, beherrschte diese Nacht. Die Scheibenwischer vermochten die Wassermassen kaum zu bewältigen, während die Lüftung auf Hochtouren lief. Die Fahrerin des Citroën CX kannte den Standort der alten Eiche genau. Als kleines Mädchen hatte sie dort oft gespielt und dem Baumriesen ihre Geheimnisse anvertraut.

Körperlich ein bisschen unscheinbar und mit der etwas zu langen Nase gehörte sie eher weniger zu den Frauen, nach denen sich Männer auf der Straße spontan umzudrehen pflegten. Ihr Antlitz, dem etwas Animalisches anhaftete, wurde von kohlrabenschwarzem Haar umrahmt. Sie entsprach nicht unbedingt dem gängigen Schönheitsideal, doch waren es diese wilden Züge und ihre betörenden Augen, die Salome Caviezel auf den zweiten Blick unwiderstehlich machten. Ihrer Ausstrahlung konnte sich so leicht niemand entziehen, und es gab Zeiten, in denen nicht ausschließlich Männer von ihr geküsst wurden.

Müde kniff Salome die Augen zusammen und erhöhte das Tempo. Die linke Fensterscheibe war halb heruntergelassen, der einfallende Regen peitschte in ihr maskenhaft erstarrtes Gesicht. Im Wageninneren dröhnte die Musik der Doors. Salome, die unter dem Einfluss eines Barbiturate-Cocktails stand, umkrampfte mit der rechten Hand das Steuer, während sie sich mit links sanft über den Leib strich.

Bald fing das Licht der Scheinwerfer die Umrisse der Eiche ein, die zudem spärlich beleuchtet war von einer gebogenen Straßenlaterne, die sich ehrfurchtsvoll vor dem Baum zu verneigen schien.

Ein Adrenalinschub verscheuchte Salomes Müdigkeit. Flüchtig spürte sie salzige Tränen im Mundwinkel. Sie, die früher so sehr am Leben gehangen hatte und der ein fast eroshaftes Verhältnis zur Natur innewohnte, war im Begriff, sich dem Tod auszuliefern. Die jäh aufkommende Angst vor Feuer, die seit der Kindheit in ihr ruhte, ließ den Schweiß aus ihren Poren schießen.

Wenn der Wagen nur nicht Feuer fängt …! Oh Gott, bitte lass ihn nicht brennen!

Zu allem entschlossen atmete Salome tief ein, drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch, sodass der Motor aufheulte. Unerbittlich jagte sie den Wagen durch diese Sintflut. Die letzten Sekunden vor Augen sang sie die Strophe eines Liedchens vor sich her, um so ihre Furcht zu verdrängen: »Und mit leuchtendem Schlüssel fliegt ein Engel herbei, der schließt mir den Sarg auf und lässt mich dann frei. Da renne ich lachend ins Grüne davon, um ewig zu baden in Sonne und Strom.«

Der CX raste über den rechten Straßenrand hinaus direkt auf die Eiche zu. In einer Vision glaubte Salome anstelle des Baumes ihren Mann zu erblicken, der sie mit aufgerissenen Augen und abwehrenden Händen aufzuhalten versuchte. Als sich der Wagen krachend ins splitternde Holz verkeilte, verlor sie das Bewusstsein.

Nachdem sie wieder zu sich gekommen war, hörte sie wie durch dicke Lagen Watte den Regen auf das zerschlissene Dach des Wracks trommeln, gerade so, als klopfe bereits der Tod mit tausend feinen Knöcheln an, um Einlass zu begehren. Das Wasser drang durch die zersplitterten Scheiben, vermengte sich mit dem Blut, das plötzlich überall war. Schwer verletzt konnte Salome sich nicht mehr bewegen. Beim Aufprall hatte ihr Oberkörper das Lenkrad verbogen. Benommen blickte sie auf ihre verdrehten Beine herab und spürte die warme Nässe ihres Urins, der an ihnen hinunterrann. Ihr Körper war mit Glassplittern übersät, welche die unbedeckten Hautstellen gepflügt hatten. Rippenteile stachen in ihre Organe, sie vermochte kaum mehr zu atmen.

Der Schockzustand betäubte ihre Schmerzen, aber sie fühlte Kältewellen, die sich zunehmend ausbreiteten.

Das sind die Sendboten des Todes! Der Tod holt mich … was für ein jämmerlicher Abgang!

Die Welt begann sich um Salome Caviezel zu drehen, immer schneller, weiter und höher. Dann drehte sich Salome mit ihr. Binnen Sekunden zog das ganze Leben, zersplittert und mehrfach gespiegelt, an ihr vorüber. Sie sah Dinge, die sie beschämten, über die sie lächeln musste, die sie staunen ließen.

Das anschwellende Heulen der Polizeisirenen hörte sie nicht mehr, denn inzwischen war ihr Lebenslicht erloschen.

Etwa zur selben Zeit räkelte sich nur wenige Kilometer entfernt ein nacktes Liebespaar in seidenen Laken und genoss einen eisgekühlten Dom Pérignon. Auf dem Bettläufer lag ein Körbchen mit Früchten. Als sich die Geliebte über den Bettrand beugte, um sich eine Erdbeere zu nehmen und sie in den Mund zu stecken, spürte sie, wie seine Hände sich um ihre Brüste wölbten. Sein Atem verriet seine Lust und bereitete ihr eine Gänsehaut, während der Schein des Kaminfeuers ihre dunklen Augen glänzen ließ und Blut in ihre Wangen schoss. Als sie ihn dann in sich spürte und seine langsamen, kräftigen Bewegungen sie ausfüllten, zerbiss sie die Frucht. Saft lief aus ihren halb geöffneten Lippen. Sie lachte laut und lasziv auf. Das Feuer warf wild tanzende Schatten an die Wand und beschien die beiden Körper mit roten Flammen. Auf dem Nachttisch stand wie eine Beobachterin die Katzen-Statuette der Göttin Bastet, die im alten Ägypten als Beschützerin der Menschen galt.

Das Paar ahnte nicht, dass es durch das Schlafzimmerfenster bei seinem Liebesspiel beobachtet wurde. Trotz des strömenden Regens harrte jemand aus, erfüllt von einer unsäglichen Wut über das, was er dort drinnen beobachtete. Als von draußen zuerst Hundegebell und dann klägliches Jaulen ins Schlafzimmer drang, zog sich der Mann etwas an und ging nachschauen. Entsetzt entdeckte er vor dem Haus einen der beiden Dobermänner tot in seinem Blut liegend. Die flüchtende Gestalt, die im selben Moment von der Regenwand verschluckt wurde, bemerkte er hingegen nicht.

I

Draußen tobte ein Schneesturm und die sakrale Stätte, in der ich mich zum Schutz niedergelassen hatte, erschien mir wie das ruhige Zentrum eines Zyklons. Um diese Tageszeit war die dreischiffige Kathedrale von St. Belem menschenleer. Die Kirchenorgel strahlte in den ganzen Raum und brachte die kalte Luft zum Vibrieren, indes die Steinwände den Weihrauch von Jahrhunderten ausdünsteten. Mit einem Knarren öffnete sich plötzlich hinter mir das Südportal. Ich spürte den eisigen Luftzug im Nacken und hörte Schritte. Man kann sich meine Überraschung vorstellen, als sich gleich darauf ein älterer Herr zu mir hinsetzte und seinen Hut vor mir zog. Ich nickte ihm zu. Andachtsvoll lauschten wir in der Folge der majestätischen Musik, während ich den Mann aus dem Augenwinkel beobachtete. Er schien das spitzbogige, mit Maßwerk verzierte Buntglasfenster in der linken Wandfläche zu betrachten, und ich folgte seinem Blick. Es stellte den Sündenfall des ersten Menschenpaares im Paradies dar. Das durchströmende Licht verlieh dem Glasbild eine spirituelle Aura. Die kunstvolle Darstellung zeigte den Augenblick, in dem Gott Adam und Eva aus dem Garten Eden vertrieb. Die über dieser Szene schwebenden Engel schienen in fassungslosem Entsetzen erstarrt zu sein. Ich war beeindruckt und mir war, als leuchte hier nicht das Tageslicht, sondern eine überirdische Welt durch die Scheiben. Das Gesamtmotiv, das der Künstler, einem Puzzle gleich, aus farbigen Glasfragmenten arrangiert hatte, erinnerte mich in seiner Intensität an die apokalyptischen Bilder des Hieronymus Bosch. Ich dachte an dessen »Garten der Lüste« und den mittleren Teil des von ihm als Triptychon angelegten Gemäldes, auf dem sich in einem utopischen Paradies Tiere und nackte Menschen tummelten.

Mein Name ist übrigens Peter Gent, ich bin Witwer und handle mit Antiquitäten. Seit dem Unfalltod meiner Frau Salome vor vier Jahren bin ich ganz allmählich zu einer ausgebrannten Seele geworden. Innerlich zerrüttet habe ich mich in einer düsteren Innenwelt verloren und werde zerfleischt von den wühlenden Klingen der Verzweiflung. Als ich ihren Leichnam damals im pathologischen Institut identifizieren musste, hatte ich nach ihrer Hand gegriffen. Dabei war das weiße Leintuch verrutscht und hatte ihren zerfetzten Oberkörper entblößt. Dieser Anblick, von dem ich mich auch heute noch nicht lösen konnte, hatte mir fast das Herz zerrissen. In meiner Erinnerung existiert das traumatische Ereignis als eine Abfolge von Bildern – kurz aufblitzende Schock-Szenen, beleuchtet von einem Stroboskop: Ich nahm die zerfließende Silhouette ihres leblosen Körpers wahr, der von einem flirrenden Glanz umgeben schien, dann wurde mir schwarz vor Augen und ich fiel in Ohnmacht. Im Nebel der Depression, abgespalten von den Wurzeln der eigenen Existenz, bin ich nicht mehr fähig ein neues Lebenskapitel aufzuschlagen, und genau genommen verbringe ich mein Leben nur noch in aufrechter Grabeshaltung. Ich weiß nicht mehr, wer oder was ich bin, ich habe kein Bild von mir, nicht einmal ein hässliches. An ganz schlechten Tagen vermag ich gar nicht erst in den Spiegel zu blicken, ich ertrage die Finsternis in meinen Augen nicht.

Die ersten Monate nach diesem traumatischen Ereignis waren in meinem Gehirn nur bruchstückhaft gespeichert. Wenn ich heute zurückdenke, verschwindet alles in einem Strudel aus Alkohol, Selbstmitleid und Trauer. Freunde und Verwandte, die anfangs noch in mein Haus gekommen waren, machten mit ihrem betretenen Schweigen alles nur noch schlimmer, sodass ich bald keinen Besuch mehr empfing und zusehends vereinsamte.

Und nun saß ich neben diesem Fremden in der Kathedrale, während meine Gedanken in die Vergangenheit schweiften.

II

Auf unserer Hochzeitsreise vor sechzehn Jahren hatten Salome und ich die Kathedrale Nôtre Dame von Reims besucht. Zwei Tage lang hatte meine Frau jeden Winkel dieses meisterlichen Monumentalwerkes erforscht. Dessen Architekten und Erbauer waren inzwischen nahezu in Vergessenheit geraten. Wir blickten auf die Strebepfeiler, die wie Prachtfeuerwerke einzeln aufragten. Die Höhe des Mittelschiffs schien über das menschliche Maß hinaus gesteigert. Salome konnte sich nicht sattsehen an dem rätselhaft lächelnden Engel mit den ausgebreiteten Flügeln auf dem linken Portal.

Wir bestaunten die Rippengewölbe, die sich in himmlische Höhen erstreckten, die in die Ewigkeit blühenden Steinrosen und Kreuzblumen, die Laubranken in Karmesin und Grünspan. Salome sagte andächtig: »Ich spüre den Atem der Unendlichkeit, der jeder Steinpore dieser Kathedrale entströmt, den Atem der zahlreichen französischen Könige, die im Andenken an die Taufe des Frankenkönigs Chlodwig in diesem Sakralbau gekrönt wurden.«

Ihr geschichtshistorisches Fachwissen zauberte mir ein stolzes Lächeln ins Gesicht. Die Kathedrale war ein in sich geschlossenes Werk, das Erhabenheit und Energie ausstrahlte. Alles, was sich hier an Architektur präsentierte, war absolut vollkommen. Die Kräfte, die aus den Gewölben kamen, wurden von den Gewölberippen über die Pfeilerdienste gut sichtbar nach unten abgeleitet. Die Darstellung dieses Kräfteverlaufs erweckte den Eindruck von Harmonie und präziser Eleganz. Dazu trugen auch die spitzbogigen Fenster bei, deren Glas wie ein Filter wirkte und nur wenig Licht von außen durchließ. Meine Frau erklärte mir, die Fenster dienten nicht als geöffnete Wandflächen zum Einlassen von Licht, sondern würden vielmehr durchleuchtete Wände darstellen. Und dies war es, was ich so an ihr liebte und wofür ich sie anbetete: mit welcher Leidenschaft sie das erzählte! Wie ein kleines Mädchen, das mit glänzenden Augen ein Wunder beschreibt!

Abends tranken wir weiße Martinis an der Bar im örtlichen Stars Hôtel und schmiedeten Zukunftspläne. Später duschten wir gemeinsam, und ich lag schon nackt auf dem breiten Bett, als Salome ihr nasses Haar über mir schüttelte. Ein Nebel aus Wassertröpfchen hüllte mich ein. Ihr beiges Seiden-Negligé mit dem tiefen Ausschnitt versetzte mich in Erregung. Ich war verrückt nach ihr und begehrte sie in einem Ausmaß, das fast unerträglich war. Meine Finger glitten unter den Stoffsaum und verharrten einen Augenblick auf dem handtellergroßen, vernarbten Gewebe unterhalb ihres linken Gesäßes. Wie Brailleschrift auf ihrer Haut – das traurige Andenken an eine Feuersbrunst, aus der sie als Siebenjährige hatte gerettet werden können. Leider waren ihre Eltern und die jüngere Schwester Corina dabei ums Leben gekommen. Schnell verbannte ich den Gedanken aus meinem Kopf.

Salome beugte sich zu mir herab und ihre Zungenspitze glitt wie ein feuchtes, wild gewordenes Tier über meine Brust, kroch zuckend und sich windend hinauf und hinunter, um sich schließlich ausdauernd und virtuos mit meinem Geschlecht zu befassen. Sie versetzte mich dermaßen in einen Lusttaumel, dass ich meine Finger in ihr Haar krallte und ihr meine zitternden Lenden entgegenreckte. Plötzlich gab sie mich frei und ihr Gesicht schwebte ganz dicht über mir, ihr heißer Atem streifte meine Wange. Sie fixierte mich mit einem starren Blick, so wie eine Schlange ihr Opfer, und ihre Augen wurden zu zwei tiefen Mahren, als sie sich auf mich setzte. Während sie wie entfesselt und mit fiebrig geröteten Wangen auf mir ritt, stieß sie spitze Schreie aus. »Mach mir ein Kind, Pascal, mach mir einen Jungen …«, stöhnte sie mir heiß ins Ohr.

Als wir nach unserem gemeinsam erlebten Höhepunkt wie zwei Gestrandete schwer atmend nebeneinanderlagen, weinte Salome leise und ihr Herz schlug wie ein aufgeregtes Metronom. Ich nahm sie sanft in die Arme und fragte nach dem Grund. »Jedes Mal, wenn wir uns lieben«, wisperte sie, »fühle ich nicht nur dein Fleisch, sondern zugleich auch deinen Geist und deine Seele in mir. Auf dem Höhepunkt habe ich jeweils eine kurze Vision, in der unsere Körper zu einem mächtigen Wesen verschmelzen. Ein Wesen, das viel mehr ist als die bloße Summe von uns beiden.«

Nach minutenlangem Schweigen schenkte sie mir eines jener Lächeln, das mir die Tore ihrer Augen öffnete, in denen ich mich augenblicklich verlor. Trotzdem regte sich in mir eine diffuse, unangebrachte Eifersucht auf dieses dritte Wesen, das scheinbar wie ein Gespenst unserer gemeinsamen Ekstase zu entsteigen vermochte.

Im Dämmerlicht des darauffolgenden Morgens blickte ich in ihr Gesicht, das auf so geheimnisvolle Weise hübsch war. Sie kam aus dem Bad und ihre körperliche Ausstrahlung zeigte Kraft und Zerbrechlichkeit zugleich. Manchmal erschien sie mir wie eine mythologische Frauengestalt aus einer alten Sage. Meine Angetraute kam zu mir und ich umfasste mit beiden Händen ihre Wangen, jede einzelne ihrer Regungen in mich aufsaugend. Ich spürte die süße Last ihrer sich um meinen Hals windenden Arme und die Fingerkuppen, die über meinen Nacken strichen, sodass sich meine Härchen aufrichteten. Sie wusste, dass ich das mochte. Ich fühlte ihr feines Zittern das sie fast immer hatte, wenn sie noch vom Schlaf gezeichnet war. Offenbar hatte sie wieder einen unangenehmen Traum gehabt, der sie noch zu beschäftigen schien. Meine Berührung hinterließ kaum wahrnehmbare Spuren von Trauer auf ihrem blassen Antlitz.

»Wovon hast du denn geträumt?«, fragte ich.

»Im Traum sah ich das Gesicht einer mir unbekannten Frau. Einer sehr attraktiven Frau, die großen Einfluss auf dich hatte, Pascal …«, antwortete sie bedrückt.

Mein Lächeln sollte »Blödsinn, und das weißt du auch« ausdrücken, um sie zu beruhigen.

»Im weiteren Verlauf dieses Traums«, fuhr sie fort, »hielt ich plötzlich eine Landkarte in den Händen und versuchte diese zu entschlüsseln. Sie entwickelte ein Eigenleben, wand sich, um von mir wegzukommen – wie ein verängstigtes, wildes Tier. Ich musste mich an der Karte festkrallen, um sie halten zu können. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass auf dem Papier meine eigenen, verschlungenen Lebenspfade eingezeichnet waren. Ich blickte auf die Stelle, an der mein Weg endete. Dort tat sich ein gigantischer Wasserfall auf. Dann spürte ich warmen Atem im Nacken und wusste, dass du es bist. Als ich mich zu dir umwandte, hast du mir eine schwarze Rose dargereicht. Ich ergriff sie, und ihre Dornen bohrten sich sehr schmerzhaft in meine Finger. Zu meinem nicht geringen Erstaunen begann jedoch nicht meine Hand, sondern die Rose zu bluten.«

Beim Frühstück war die Stimmung angespannt. Ich war frustriert und das Schweigen breitete sich wie ein Unheil über uns aus. Salome schien immer noch über das Rätsel dieses Traumes nachzugrübeln. Nachdem wir wortlos die letzten Croissants vertilgt hatten, ging sie wieder ins Bad. Eine Kreuzspinne hockte in der Fensternische über der Wanne. Als Kind hatte Salome geglaubt, dass Tiere in Wahrheit nichts anderes als verzauberte Engel seien. Und sie war davon überzeugt gewesen, in der Sonne das Auge Gottes zu erkennen, dessen Strahlen alle Lebewesen mit einem himmlischen Licht nährten, wie sie mir einmal berichtet hatte. Sie glaubte ferner, dass Mensch, Tier und Natur in der Weltseele miteinander verbunden seien.

Ich betrat das Bad und wollte in meiner Abneigung gegen Spinnen das Tier zum Fenster hinausbefördern, doch Salome hinderte mich daran. Immerhin hatte die Gegenwart des Tieres offenbar ihre Trübsal verscheucht. Sie betrachtete die Spinne mit einem fast mystischen Interesse.

»Ich tu ihr nichts, Salo, ich möchte sie bloß nicht im Bad haben.«

»Weißt du, von ihr könnten wir viel lernen. Was hätte sie uns wohl alles zu berichten, wenn wir mit ihr kommunizieren könnten? Vielleicht wäre sie eine gute Lehrerin.«

Lächelnd schüttelte ich den Kopf und sagte: »Kleine Spinnerin, du. Ihre Welt ist nicht die unsrige.«

»Was du nicht sagst. Es ist doch so, dass wir einer Spinne nur ein sehr bescheidenes Wahrnehmungsvermögen zutrauen. Wir Arten-Chauvis glauben, nur weil wir sie am Boden zertreten können, wenn es uns gerade gefällt, sei sie uns unterlegen und eine bloß von Instinkten geleitete Kreatur. Vielleicht nimmt sie aber die Umwelt viel bewusster wahr als wir Menschen. Wer weiß das schon? Sie besitzt wohl nur sehr begrenzte Fähigkeiten, anders darauf zu reagieren als durch reflexartiges Verhalten. Glaubst du, mein Schatz, wir beide wären in der Lage, aus einem Faden unseres Körpers ein symmetrisch und radial angelegtes Netz zu weben? Und weißt du, dass das Netz der Spinne in verschiedenen Kulturkreisen als Sinnbild der kosmischen Ordnung gilt? Natürlich weißt du das nicht … Die Spinne bildet mit ihrer Körperform eine Acht. Ihre acht Beine verstärken den optischen Eindruck dieser Zahl noch. Die liegende Acht ist auch das Unendlichkeitssymbol.«

»Das mag ja alles so sein, aber wozu sollten wir beide solch ein Netz bauen? Um unsere Beute darin gefangen zu halten, sie auszusaugen und zu töten?«

»Sie fängt und hält sich Beute, weil sie überleben will und muss, das ist ganz legitim.«

»Und was ist mit diesem Spinnenweibchen, das seine Gespielen nach dem Akt tötet und auffrisst?«

Salome zuckte mit den Achseln und sagte herausfordernd: »Also wirklich! Darin erkennst du ihre Intelligenz, mein Lieber. Sie benötigt Nahrung, Sex und Abwechslung, und all das holt sie sich bei den balzenden Männchen, die bei ihr dafür Schlange stehen.«

»Angenommen, du wärst solch eine Spinnenfrau«, sagte ich, »würdest du mich nach dem Liebesakt auch töten?«

»Nur, wenn du zuvor beim Spinnensex nicht alles gegeben hättest«, erwiderte sie keck. »Aber als Spinnenweib«, fügte sie hinzu und bedachte mich mit einem liebreizenden Lächeln, »würde ich dich ganz gewiss in mein klebriges Gespinst einlullen, sodass du nicht fliehen könntest und ich dich jederzeit leicht wieder entwirren und auspacken …«

Sanft zog ich sie an mich, ehe sie weitersprechen konnte. Wir blickten auf die reglose Spinne, während wir unsere Wangen aneinanderlegten und unsere Finger ineinanderflochten. Ob es wohl ein Weibchen war?

Während ich darüber nachsann, küsste sie zärtlich die Narbe über meinem linken Auge – eine unschöne Erinnerung an meinen Vater …

Er war Chefbuchhalter bei einem Textilunternehmen gewesen. Außerdem hatte er als passionierter Briefmarkensammler über Jahrzehnte hinweg zahlreiche Schätze der Philatelie gekauft. Und er war noch etwas gewesen: Quartalstrinker. Weißwein machte ihn sehr jähzornig. Eines Nachts kam er nach einer Zechtour sturzbetrunken in mein Zimmer – ich war damals zehn Jahre alt. Da sein Geburtstag kurz bevorstand, hatte ich für ihn eine Collage aus seinen schönsten und dummerweise auch wertvollsten Marken gebastelt, darunter eine kanadische 12 Pennies von 1851.

Nachdem der Vater aus glasigen Augen mein Machwerk gesichtet hatte, kam er an mein Bett, schüttelte mich und schlug mir ins Gesicht. Schreiend kam Mutter hinzu, zog ihn von mir weg und schob ihn zur Tür hinaus, um danach mein verletztes Auge zu verarzten. Von Gewissensbissen geplagt, legte sich mein Vater im Laufe der Nacht zu mir nieder und wiegte mich mit tröstenden Worten in den Schlaf. Am nächsten Tag erlitt er einen Schlaganfall, von dem er sich nicht wieder erholte. Kurz darauf starb er. Ich gab mir die Schuld an seinem Tod. Bei seiner Beisetzung legte ich anstelle von Blumen die Briefmarken-Collage auf seinen Sarg, derweil in meinen Ohren Engelsfanfaren erklangen.

Meine Mutter erkrankte einige Jahre später an Alzheimer und driftete ab ins Reich des Vergessens. Jahre später noch sah ich ihr ovales Gesicht vor mir, ihre klugen, gütigen Augen. Bevor sie starb, summte sie mit stierem Blick und strähnigem Haar vor sich hin. Manchmal schrie sie stundenlang mit angsterfüllter Stimme. Besonders schlimm waren die Phasen, in denen sie obszöne Verse deklamierte, sodass man sie isolieren musste. Am Ende war sie inkontinent und wund gelegen, ehe sie in völliger geistiger Umnachtung verschied.

Mithilfe eines Stipendiums begann ich ein Jura-Studium, das ich jedoch wieder abbrach. Es folgte eine Zeit rastlosen Umherziehens, und ich mäanderte mehr oder weniger ziellos durchs Leben, bis ich schließlich meiner großen Liebe Salome begegnete. Auf den ersten Blick irritierte mich ihr Erscheinungsbild, besonders ihr ungewöhnliches, jedoch apartes Gesicht. Später fand ich es geradezu anbetungswürdig, zumal, wenn es von ihren lichtdurchfluteten Augen überstrahlt wurde. Außerdem verfügte sie über den hinreißensten und zartesten Nacken, den ich jemals an einer Frau gesehen hatte.