Mortimer & Miss Molly - Peter Henisch - E-Book

Mortimer & Miss Molly E-Book

Peter Henisch

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Beschreibung

Italien 1944: Kurz vor Kriegsende landet in San Vito in der Toskana ein amerikanischer Soldat mit seinem Fallschirm mitten in einem malerischen Renaissancegarten, ausgerechnet unter dem Fenster der englischen Gouvernante, die ihn vor den deutschen Besatzern versteckt. Das ist die Geschichte von Mortimer und Miss Molly, eine Liebesgeschichte. Jedenfalls der Anfang davon, wie sie knapp dreißig Jahre später ein alter Amerikaner erzählt, als er Julia und Marco kennenlernt, die es nach San Vito verschlagen hat. Am nächsten Morgen ist er verschwunden. Und so beginnt das junge Paar, die Geschichte der beiden für sich selbst fortzuspinnen. Ein Roman aus Österreich über die Magie des Erzählens.

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Deuticke E-Book

Peter Henisch

Mortimer & Miss Molly

Roman

Deuticke

Jegliche Ähnlichkeiten der in diesem Roman

vorkommenden Figuren mit real existierenden Personen

sind zufällig und in keiner Weise beabsichtigt.

ISBN 978-3-552-06232-0

Alle Rechte vorbehalten

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2013

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Schutzumschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,Dominic Wilhelm,

unter Verwendung zweier Fotos von © privat (Mauer und Landschaft) und © Getty/Frank Rossoto Stocktrek (Fallschirmspringer)

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für Eva, ohne die dieses Buch

nicht entstanden wäre

Eins

1

Die Geschichte könnte damit beginnen, dass Mortimer vom Himmel fällt. Ein Fallschirmspringer, der im Zentrum des Renaissancegartens landet. Dieser Renaissancegarten ist geometrisch gestaltet, sechs von Hecken gesäumte Trapeze umgeben ein kreisförmiges Zentrum. Radius: nicht mehr als fünf Meter. In diesem Zentrum landet Mortimer.

Steht Miss Molly am Fenster? Zweifellos wäre das eine schöne Szene. Für einen Film, den ein Fellini hätte drehen können. Miss Molly steht am Fenster, sie hat den weißen Vorhang ein wenig beiseite geschoben. Und sieht Mortimer, einen soeben mit dem Fallschirm gelandeten, amerikanischen Soldaten.

Das heißt: Sie sieht ihn noch nicht – er ist ja vorerst vom Fallschirm bedeckt. Oben Miss Molly, die den Vorhang ein wenig beiseite gezogen hat, unten Mortimer, der unter der Fallschirmseide hervor muss. Das soll möglichst rasch gehen, aber es ist nicht so einfach. Verwicklungen kommen vor, bei aller Routine.

Miss Molly wartet, bis sich der Mann entpuppt. Gewiss, eine schöne Filmszene, sagte Julia.

Fellini hat diesen Film nicht gedreht, Gott sei Dank. Denn vielleicht werde ich ihn eines Tages drehen, sagte Marco.

Die Maschine ist tief geflogen, über Miss Mollys Kopf haben die Dachziegel gezittert. Ein Jagdbomber P-40 (Tomahawk) oder P-47 (Thunderbolt). Es ist ein Tag im Frühling 1944. Die alliierten Truppen sind vom Süden heraufgekommen.

Ist der amerikanische Soldat zielgenau gelandet? Nein, das ist Unsinn. Mortimer hat dieses Ziel nicht anvisiert. Er hat aussteigen müssen, die Maschine war von der deutschen Flak getroffen. Irgendwo jenseits der Stadtmauer ist sie explodiert.

Dass der Kreis, in dem er vorläufig noch mit dem Fallschirm kämpft, beinahe so aussieht wie das Zentrum einer Zielscheibe, kommt ihm erst später zu Bewusstsein. Reiner Zufall, dass er darin gelandet ist – oder war es am Ende doch Fügung? Auf jeden Fall, so wird er später erzählen, ist er in diesem Kreis gelandet. Unter den Augen oder zu Füßen von Miss Molly.

2

Der alte Amerikaner im Albergo Fantini. Als Marco und Julia das erste Mal dort hinkamen, war er außer ihnen der einzige Gast. Er bewohnte das Zimmer 9 im zweiten Stock, sie bewohnten das Zimmer 11. Von beiden Zimmern sah man hinüber in den giardino.

Aus Zimmer 9 sah man mehr vom Garten als aus Zimmer 11. Aus dem Fenster des Zimmers, in dem Marco und Julia wohnten, sah man ja eigentlich nur das Tor. Aus dem Fenster von Zimmer 9 hatte man, was den Garten betraf, den besseren Blickwinkel. Von dort aus sah man etwas von der Geometrie der Beete, und vor allem sah man das schmale Haus in der Stadtmauer.

Sie hatten ihn gar nicht von Beginn an bemerkt. Die ersten paar Tage, die sie in diesem etwas ramponierten, aber sympathischen kleinen Hotel verbrachten, hatten sie geglaubt, sie wären allein. Zumindest dort oben im zweiten Stock. Das war ihnen sehr recht. Da benahmen sie sich sehr unbefangen.

Manchmal liefen sie nackt aus ihrem Zimmer zum Etagenbad, wo sie in der großen, mitten im Raum stehenden Blechwanne miteinander badeten. Und dann liefen sie, nur in Handtücher gewickelt, zurück in ihr Zimmer, in dem sie meist gleich wieder ins Bett fielen. Auch was Geräusche betraf, taten sie sich keinen Zwang an. Vor allem lachten sie viel, denn sie hatten es lustig miteinander.

Den alten Amerikaner bemerkten sie erst nach etwa einer Woche. Schon eigenartig, dass er ihnen nicht früher aufgefallen war. Es war gegen Abend, sie kamen vom Fluss zurück, an dem sie einen heißen Nachmittag verbracht hatten, auf einem der großen, flachen Steine, auf denen sie so gern lagen. Ihre Haut glühte noch nach. Sie überquerten die Piazza. Und da sahen sie ihn zum ersten Mal dort oben am Fenster stehen.

Schau, sagte Julia. Der alte Mann dort oben.

Che tipo, sagte Marco. Sieht ein bisschen aus wie der alte Hemingway.

Das sagte Marco allerdings auf Französisch, nicht auf Italienisch und sicher nicht auf Deutsch. Französisch war die Sprache, in der sie sich anfangs am besten verständigen konnten.

3

Marco war aus Turin, Julia aus Wien. Kennengelernt hatten sie einander in Siena. Dort hatte Julia einen Italienischkurs begonnen. Marco hatte an einem Seminar über französischen Film teilgenommen.

Alle Filme in Originalfassung, ohne Untertitel. Aber Französisch konnte er offenbar gut. Sie konnte es weniger gut, obwohl sie es in der Oberstufe des Realgymnasiums gelernt hatte. Ihr Französisch, sagte sie mit dem Charme, der sich manchmal daraus ergibt, dass man in einer nicht perfekt beherrschten Sprache nach Wörtern sucht, ihr Französisch sei ein bisschen eingeschlafen, aber durch den Umgang mit Marco werde es wieder erweckt.

Der alte Mann am Fenster war also für sie zuerst einmal Le vieux Hemingway. Tatsächlich sah er Hemingway irgendwie ähnlich. Der weiße Bart, die hohe Stirn, die, soweit man das von unten, von der Piazza aus, sehen konnte, kräftige, aber schon etwas korpulente Statur.

Ein neuer Gast?, fragte Marco den padrone, der wie meist um diese Zeit auf einem Klappsessel vor dem Portal saß. – Der da oben? Ach was! Der ist doch schon lang da.

Seltsam, tatsächlich, dass sie ihn nicht eher bemerkt hatten. Wohnte er doch, wie ihnen nun bewusst wurde, nur wenige Meter von ihnen entfernt. Das war ihnen jetzt beinahe ein bisschen peinlich. Aber Mortimer war ein dezenter Nachbar.

Signore Mortimer. Un americano. Stammgast in diesem Hotel seit vielen Jahren. Die einzigen Gäste waren sie also nicht. Doch so viel ist wahr, dass das Albergo Fantini, dessen Name auf der abgeblätterten Fassade kaum mehr zu lesen war, nicht zu den besuchtesten gehörte – der Ort, in dem es ihnen von Tag zu Tag besser gefiel, war vom Tourismus noch so gut wie unentdeckt.

Ein Ort in der Südtoskana, mit teilweise noch sehr gut erhaltener Stadtmauer. Obwohl die Deutschen vor ihrem Rückzug einiges gesprengt hatten. Die Porta Romana im Südosten zum Beispiel. Und den Turm im oberen Teil des Gartens, der ausgesehen hat wie die Türme auf den Bildern des Malers de Chirico.

Anderswo, etwa in San Gimignano, gab es mehr von dieser Sorte. Hier hatte es nur diesen einen gegeben. Kein besonders schönes Exemplar, aber immerhin fast vierzig Meter hoch. Ein Turm ist ein Turm. Aber dann war da nur mehr ein Trümmerhaufen.

Im Süden und Osten ist die Parkmauer identisch mit der Stadtmauer. Im unteren Teil des Gartens ist ein schmales Haus in die Mauer eingepasst. Das Dach gedeckt mit blassroten, von der Zeit etwas grau gewordenen Ziegeln. So sieht man es auf den Fotos, die sie heute vom Hubschrauber aus schießen, so wird es auch Mortimer bei seinem Absprung gesehen haben.

Aber nur kurz, in den paar Augenblicken zwischen Absprung und Landung. Bei solchen Einsätzen geht alles viel schneller, als man glaubt. Kaum hat sich der Fallschirm geöffnet, bist du auch schon unten. Und dann hast du andere Sorgen, als die Geometrie der Gartenanlage zu bewundern – seitlich abrollen, Fallschirm einziehen, möglichst rasch Deckung suchen.

Und was bietet sich dazu besser an als das Gewölbe unter dem Haus in der Mauer? Das Gewölbe, auf dessen immer wieder vergebens geweißte Wände die ragazzi von heute, respekt- und pietätlos, wie sie sind, ihre Zoten schreiben. Just unter dem Fenster, aus dem Miss Molly geschaut hat, den Vorhang bloß einen Spaltbreit beiseite ziehend oder schiebend, wird Mortimer Deckung suchen. Und nur bei dem Krach, den der Absturz des Flugzeugs verursacht hat, da draußen irgendwo in den crete, nur bei der Detonation hat sie kurz die Augen geschlossen.

Von dem Punkt, an dem Mortimer gelandet ist, bis zu diesem Gewölbe sind es vielleicht zwanzig Meter. Für einen gut trainierten Soldaten kaum mehr als zwölf Schritte, das heißt eher Sprünge. Und das muss schnell gehen, verdammt schnell, das dauert nicht mehr als ein paar Sekunden. Danach ist der soeben Aufgetauchte fürs Erste schon wieder aus Miss Mollys Blickfeld verschwunden.

Miss Molly ist also am Fenster gestanden, obwohl sie eigentlich im Luftschutzkeller hätte sein sollen, denn gewiss haben die Sirenen geheult. Aber um in den großen Keller unter der Casa del Popolo zu kommen, hätte sie nicht nur zwei Treppen aus dem Obergeschoß des Mauerhauses hinunterlaufen müssen, sondern danach noch schätzungsweise hundert Meter durch den Park bis zum Tor. Und das Tor, das immer verschlossen ist – denn zu diesem Zeitpunkt ist der giardino noch kein öffentlicher Garten –, das Tor mit dem schweren Schloss hätte sie aufsperren müssen. Und dann quer über die Piazza laufen – aber das hat sie, seit es in diesem Städtchen Bombenalarm gibt, nur einmal getan und danach nie wieder.

Während sie über den Platz gelaufen ist, hat sie Sünden abgebüßt, die sie nie begangen hat. Und im Keller der Casa del Popolo hat sie erst recht nichts als Angst ausgestanden. Erst Platzangst, dann Raumangst. Traumangst. Denn von so etwas hat sie vielleicht schon als Kind geträumt. Träume, aus denen sie stets mit schwerer Atemnot erwacht ist.

So könnte es gewesen sein. Als junges Mädchen hat sie Asthmaanfälle gehabt. Miss Molly, die englische Gouvernante der Familie Bianchi. Das war vielleicht der Grund, warum sie nach Italien gegangen ist. Ins bessere Wetter. Aber das ist zu dem Zeitpunkt, als ihre Geschichte mit Mortimer beginnt, schon ungefähr zwanzig Jahre her.

4

Die Geschichte von Mortimer und Miss Molly. Sie beginnt im Mai 1944, als Mortimer mit dem Fallschirm dort oben im Garten landet. Aber da ist auch die Geschichte von Marco und Julia. Die beginnt fast vierzig Jahre später, als die beiden zum ersten Mal im Albergo Fantini wohnen.

Oder nein, sie begann schon ein bisschen früher. Als die beiden einander in Siena über den Weg liefen. Julia und ihre Freundinnen Susanne und Marianne besuchten dort einen Italienischkurs. Sie lernten den Basiswortschatz und ein paar Grundbegriffe der italienischen Grammatik, sie begannen den Pinocchio zu lesen, aber nachdem Julia Marco kennengelernt hatte, fing sie an, den Kurs zu schwänzen.

Das lag einerseits daran, dass Marco ihr gesagt hatte, mit ihm lerne sie sicher besser Italienisch. Anderseits lag es daran, dass in den Stunden, in denen Susanne und Marianne an der Uni saßen, die Wohnung in der Via del Giglio, in der sich die drei Mädchen einquartiert hatten, frei war. Sturmfreie Bude, sagte Julia, Marco versuchte das nachzusprechen. Damals bestand noch die Möglichkeit, dass nicht nur sie von ihm Italienisch lernte, sondern auch er von ihr ein bisschen Deutsch.

Damals bestanden noch viele Möglichkeiten. Und sie verstanden einander auch ohne Worte. Vor allem in Liebesdingen, die gar nicht so viele Worte brauchten. In der Dreizimmerwohnung in der Via del Giglio gab es zwar keine Betten, sondern nur Matratzen, aber als Unterlage waren diese Matratzen ganz in Ordnung.

Wenn Marco und Julia nach ihren erfreulichen Umarmungen auf dem Rücken nebeneinander lagen, wirkte der ohnehin hohe Raum mit dem stuckverzierten Plafond noch um einiges höher. Durch die grünen Läden an den hohen Fenstern fiel ein schönes Licht, draußen, wo auf dem kleinen Platz vor der Kirche ein grüner Baum stand, zwitscherten vormittags die Spatzen, die auf Italienisch passeri hießen, und nachmittags sangen die Amseln, die Marco merli nannte. So lernte Julia wirklich ein wenig Italienisch, insbesondere die Bezeichnungen für diverse Körperpartien, vom Kopf bis zur Zehe, mit allem dazwischen. Einige von den Worten, die ihr Marco zärtlich beibrachte, hätte sie im Italienischkurs wahrscheinlich nicht gelernt.

Doch auf die Dauer war das kein haltbarer Zustand. Die Freundinnen waren nicht prüde, aber irgendwie gehörte sich das denn doch nicht. Sie hatten den Kurs gemeinsam gebucht, sie hatten sich ihre Dreiweiberwohngemeinschaft in Siena so schön ausgemalt. Und nun wurde ihre Dreisamkeit durch diesen Mann gestört.

Der war zwar ganz nett, o doch, das fanden sie auch. An zwei oder drei Abenden saßen sie zu viert auf dem Campo und aßen Pizza. Da war er (so Marianne) ganz amüsant, ja sogar (so Susanne) ganz charmant. Aber dass er seine virile Aufmerksamkeit hauptsächlich Julia schenkte und ihnen, bei allem scherzhaften Geplänkel, doch nur nebenbei, verstimmte sie.

Erst recht, wenn die beiden sich dann bald wieder absetzten. Einmal um Mitternacht, nachdem Julia sich nach einem sehr romantischen Spaziergang unter einem erstaunlich gelben Mond von Marco verabschiedet hatte, erwarteten sie die zwei Freundinnen zu einem klärenden Gespräch. Dass ihnen die ständige Anwesenheit dieses Mannsbilds, so nannten sie den amüsanten, ja charmanten Marco auf einmal, in ihrer Abwesenheit nicht recht sei. Und dass sie es leid seien, seine Barthaare in der Waschmuschel vorzufinden und die Klobrille in der falschen (frauenfeindlichen) Position.

Am nächsten Tag begann Julia ihre Sachen zu packen. Und am übernächsten fuhr sie mit Marco nach Süden. Es traf sich, dass das Seminar über französischen Film beinahe zu Ende war. So hatte alles begonnen. Und so kamen sie nach San Vito.

5

Aus Siena waren sie gegen zehn aufgebrochen. Mit dem Citroën 2CV, Le Canard, der Ente, die so gut zu Marco passte. Marco mit seiner Baskenmütze, Marco mit seiner auch bei sommerlichen Temperaturen selten abgelegten Windjacke. Er sah damals tatsächlich ein bisschen aus wie der Regisseur, der er gern geworden wäre.

Vorläufig war er beinahe medico. Wenn Julia ihn richtig verstanden hatte, hatte er sein Medizinstudium im Mai abgeschlossen. Im September sollte er ein Turnusjahr antreten. An irgendeinem Krankenhaus in einer Stadt in der Region Piemont.

Er machte allerdings nicht den Eindruck, dass er das wirklich wollte. Seine Mutter wollte es. Und das war offenbar sein Problem. Er hatte zuerst etwas anderes studiert (Vergleichende Literaturwissenschaften oder so etwas Ähnliches), doch seiner Mutter zuliebe habe er umgesattelt, und das hatte er nun davon.

Er hatte die Abschlussprüfungen, die er als Mediziner machen musste, möglichst lang hinausgezögert. Doch jetzt war es so weit, es gab keine Ausreden mehr. Und wenn nicht ein Wunder geschah ... na ja, Arzt war ja kein schlechter Beruf ... Bloß war es nicht der, zu dem er sich berufen fühlte.

C’est comme ça, sagte er, aber lassen wir das. Davon wollte er nicht mehr reden an einem so schönen Tag wie diesem. Carpe diem, sagte er, heute ist heute. Und was morgen ist, werden wir schon sehen, hab ich nicht Recht?

Oui, sagte Julia. Was sollte sie sonst sagen? Sie saß auf dem Beifahrersitz neben ihm, sie fühlte sich wohl. Wenn sie zu ihm hinüberschaute, sah sie sein Profil. Es erinnerte sie an irgendjemanden, aber sie wusste noch nicht, an wen.

Sie fuhren auf der Via Cassia, die, wie die meisten alten italienischen Staatsstraßen, nach einem altrömischen Senator benannt war, nach Süden. Sie hatten kein konkretes Ziel, sie fuhren ins Blaue. Das heißt: Der Himmel war blau – die Landschaft darunter war ocker, gelb und grün. Die Landschaft lag offen vor ihnen. Ein Hügel hinter dem anderen. Eine verführerische Landschaft. Sie verführte erstens dazu, immer wieder von der Hauptstraße abzuzweigen. Auf Sandstraßen, die meist vielversprechend begannen, aber dann oft im Nichts endeten. Sie verführte zweitens dazu, immer wieder auszusteigen und zu fotografieren. Und das tat Marco, der seine Minolta dabeihatte, leidenschaftlich gern.

Die Landschaft brachte einen drittens auf schöne Gedanken. Jedenfalls einen wie Marco, der auf poetische Weise von ihr schwärmte. Wie es sich hebt und senkt, dieses Land, sagte er, erotisch. Vom Wind gekämmt und vom Wind zerzaust.

Auf Französisch klang das womöglich noch besser. Oder sagte er es auf Italienisch?

Jedenfalls klang es ein wenig wie ein Gedicht.

Stimmt, sagte Marco. Das habe er irgendwo gelesen.

Natürlich fotografierte er nicht nur die Landschaft, sondern auch Julia. Zum Beispiel am Rand eines alten Brunnens, auf dessen Grund sie ihr Spiegelbild suchte. Oder inmitten einer Herde von Schafen, deren Wolle sie zupfte. Oder laufend, mit fliegenden Haaren, in einer von Pinien gesäumten Allee.

Das war hübsch, und die Komplimente, die er ihr zwischendurch machte, brachten sie immer wieder zum Lachen. Doch auf die Dauer war es auch etwas strapaziös. Schluss jetzt, basta, sagte sie und ließ sich in den Schatten einer Steineiche fallen. Und das fotografierte er zwar auch noch, wie sie dalag mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Augen, aber dann hängte er die Kamera an einen Ast und legte sich zu ihr.

La belle au bois dormant, sagte er – nun ja, das war wohl etwas übertrieben. Nicht nur was Julias Schönheit betraf, die sie bis dahin eher realistisch eingeschätzt hatte. Weit und breit kein Wald, sondern eben nur diese Steineiche. Die allerdings vibrierte vom Chor der Zikaden in ihrer Krone.

Und Marco küsste Julia, er küsste sie von oben bis unten. Er war ein begabter und fantasievoller Liebhaber. Ganz anders als der, mit dem sie sich die letzten zwei Jahre geplagt hatte. Ein Mann namens Hans, auf den sie aus irgendeinem Grund, den sie selbst nicht nennen hätte können, fixiert gewesen war, aber das hatte auch nichts genützt, eher im Gegenteil, und jetzt war sie auf dem besten Weg, diese Fixierung loszuwerden.

Das tat gut, aber danach hatten sie Hunger und Durst. Sie hatten Lust auf eine kleine merenda. Aber es war schon viel später, als sie dachten. Sie hätten geschätzt, es sei Viertel vor zwölf, doch es war schon halb drei.

Dass ihnen die Zeit miteinander so schnell verging, war ja schön. Nun aber hatten sie ein kleines Problem. Ihre Mägen knurrten. Und ihre Kehlen waren trocken. Doch es war die Zeit der Nachmittagsruhe, die damals in der Gegend südlich von Siena noch streng eingehalten wurde.

Das merkten sie, sobald sie auf die Via Cassia zurückgefunden hatten. Wozu sie übrigens auch noch ein Weilchen brauchten. Es muss dann schon gegen drei gewesen sein. Kilometer um Kilometer kein offenes Lokal.

Keine Pizzeria, keine Bar, kein Alimentari-Laden. Nicht einmal eine Imbissstube an einer Tankstelle. Und je weiter die beiden nach Süden kamen, desto häufiger waren die Hügel links und rechts der Straße schon abgemäht. Wie Dünen sahen die aus. Sie kamen sich vor wie in der Wüste.

Doch dann erschien rechter Hand auf einer kleinen Anhöhe die Oase. Von der Straße aus sah man vorerst den Kirchturm und ein Stück Mauer. Man sah auch die mit viel Sinn für ästhetische Wirkung gesetzten Zypressen. San Vito Nuovo mit seinen an Lego-Spielzeug erinnernden Reihenhäusern gab es noch nicht.

Bei diesem Anblick schöpften sie wieder Hoffnung. Vielleicht gab es ja da drin eine kleine Osteria. Es sah danach aus, es machte auf sie diesen Eindruck. So fuhren sie also von der Via Cassia ab und hielten an der Porta Pellegrini.

In den späteren Jahren, in denen Julia und Marco noch immer und dann (nach einer mehrjährigen Abstinenz, die sie beide, jeder für sich, nur schwer ertragen hatten) wieder nach San Vito kamen, versuchten sie immer aufs Neue, sich diesen ersten Tag, an dem sie hier eingetroffen waren, zu vergegenwärtigen. Von der ersten Stunde an, von den ersten Schritten, die sie in den Ort hineingingen. Sie kamen also durch die Porta Pellegrini, das nördliche Stadttor. So benannt, weil San Vito nicht nur an der Via Cassia, sondern auch an der Via Francigena, der mittelalterlichen Pilgerstraße, lag, und weil die von Norden kommenden Pilger durch dieses Tor die Stadt betreten hatten.

Sie tauchten kurz durch die Kühle des Stadttors, die Straße, auf der sie auf der anderen Seite herauskamen, zitterte vor Hitze. Nur ein schmaler Streifen Schatten fiel auf die alten Pflastersteine. Kein Mensch war zu sehen, nur ein paar blinzelnde Katzen, sagte Julia. War nicht auch ein Hund dabei? Also gut, ein paar blinzelnde Katzen und ein auf einem Fußabstreifer lungernder Hund.

Eventuell auch eine Ratte im Rinnsal?

Nein, sagte Julia, das war erst am Abend.

Aber die Tauben natürlich, die zwischen den Sandsteinfiguren der alten Kirche saßen. Und im Schlaf oder im Traum gurrten. Falls Tauben träumen.

Aber natürlich träumen Tauben, sagte Marco.

Und was träumen sie deiner Ansicht nach?

Flugträume, sagte Marco. Wunderschöne Flugträume. Gerade, wenn sie schon alt und hässlich sind und kaum mehr fliegen können.

Hatte er das schon damals gesagt, oder sagte er es erst Jahre später? Die Erinnerung, sagte Marco, ist eine immer wieder aufgenommene Montage. Wie ein Film, den man immer aufs Neue schneidet. Manche Szenen nimmt man vielleicht heraus, andere dreht man nach und fügt sie hinzu.

Sie waren also zuerst bis zu der Kirche gekommen, der in den ältesten Bauteilen tausend Jahre alten Collegiata. Und Marco hatte die Minolta gezückt. Zuerst einmal angesichts der zwei Figuren von Pisano. Oder aus der Schule des Pisano – die Kunsthistoriker waren diesbezüglich vorsichtig. Wie dem auch sei, sie flankierten das Südportal der Kirche. Zwar hatte die Zeit ihre Gesichter verwischt und die Falten ihrer Gewänder. Aber die Anmut ihrer Haltung wurde dadurch vielleicht noch deutlicher. Che grazia, sagte Marco, che bellezza!

Das hätte er gern fotografisch festgehalten. Mit oder ohne träumende Tauben im Bild. Aber das Licht war um diese Stunde noch schlecht. Absolut knallig. Es gab fast keine Kontraste.

Das betraf leider auch das Westportal. Mit seinen kaum weniger interessanten Motiven. Zwei vom Zahn der Zeit beharrlich abgenagte Löwen, die nichtsdestoweniger immer noch die verknoteten Säulen trugen, die man, auf ihre steinerne Geduld vertrauend, auf ihre Rücken gestellt hatte. Und die Relieffiguren über dem Architrav – einander lasziv bezüngelnde Ungeheuer, die bei aller beabsichtigten Grausigkeit etwas Witziges hatten, zumindest aus der Gegenwart betrachtet: ein romanischer Comicstrip.

Aber die Sonne war einfach ein Desaster. Jedenfalls vom fotografischen Standpunkt aus. Es nützte nichts, das wurde jetzt einfach nichts Gutes. Vielleicht später, sagte Marco, wenn wir uns gestärkt haben.

Denn das hatten sie ja nicht aus dem Sinn verloren. Dass sie etwas essen und trinken wollten. Ganz im Gegenteil. Nur wo, war die Frage. Womöglich wurde die Nachmittagsruhe in diesem Städtchen noch strenger eingehalten als draußen.

Alles schlief. Oder schien zumindest zu schlafen. Fensterläden geschlossen, Rollläden dicht. Auch in der Via Dante – und die sah immerhin aus wie die Hauptstraße. Die Hoffnung, die sie zuvor, noch im Auto, in diesen von außen gesehen so sympathischen Ort gesetzt hatten, die Hoffnung auf eine kleine, offene Osteria, war drauf und dran, in Enttäuschung umzuschlagen.

Dachten sie später daran, so mussten sie lächeln. In diesem Ort, der ihnen mit der Zeit so vertraut werden sollte, kannten sie sich schlicht und einfach noch nicht aus. Das war logisch und trotzdem, aus der Distanz betrachtet, komisch. Sie hatten noch keine Ahnung von den örtlichen Verhältnissen.

Das Caffè Italiano, in dessen kleinem Hinterhof sie später so gern saßen, hielten sie für geschlossen. Obwohl Pietro und Bruna, die beiden alten Leute, die in den folgenden Tagen und Wochen so nett zu ihnen waren, bestimmt da drinnen unter dem Ventilator dösten. Die Bar Centrale auf der Piazza hatte tatsächlich zu. Doch es war Mittwoch, und das war dort der traditionelle Ruhetag. Bis zur Bar Osenna im unteren Teil der Via Dante drangen sie gar nicht vor. Stattdessen bogen sie links ab und verliefen sich in den Seitengassen. Sie gingen im Kreis und kamen genau an der Stelle, wo sie abgebogen waren, wieder heraus. Dort gab es damals noch die kleine Coop-Filiale neben der Casa del Popolo, aber die sperrte erst um halb sechs wieder auf.

Schon waren sie entschlossen, zum Auto zurückzukehren, in dem in einer noch in Siena gekauften Plastikflasche ein Rest Mineralwasser sein musste. Schön warm von der Sonne, aber – darüber waren sie sich einig – besser als nichts. Sie mussten was trinken, und nach dem ersten, rettenden Schluck konnten sie ja weiterfahren. Etwa nach Pienza oder Montepulciano, wo die Mittagsruhe vielleicht nicht ganz so lang dauerte.

Wären sie weitergefahren, so hätten sie nie die geringste Ahnung davon gehabt, was ihnen in (oder an) San Vito entgangen wäre. Es wäre für sie ein Ort geblieben, in dem sie eine kurze Pause gemacht, einige Tiere, aber keinen Menschen getroffen und kein Lokal gefunden hatten. Ein Ort, der weiter nichts für sie bedeutet hätte, ein Ort, dessen Name ihnen entfallen wäre. Und bestimmt hätten sie dann nie etwas von der Geschichte von Mortimer und Molly gehört.

6

War der Hotelier Fantini wirklich der erste Mensch, den sie in San Vito zu Gesicht bekamen? Ja, sie konnten sich an keinen anderen erinnern. In der Erinnerung an diesen Nachmittag tauchte kein anderer auf. Es war ihnen keiner über den Weg gelaufen.

Der Hotelier Fantini – das klingt reichlich hochtrabend. Wenn man das hört (oder liest), bekommt man einen völlig falschen Eindruck von ihm. Fantini betrieb schlicht und einfach das Albergo. Und das hatte schon etwas hergemacht, damals, in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als noch sein Vater der Chef und ein richtiger Hotelier war. Ein korpulenter Mann mit einer Uhrkette am Bauch. Die Daumen in den Hosenbund gesteckt, steht er vor dem Hotel, an dessen Fassade damals noch alle Buchstaben prangten. Vielleicht sogar golden, noch kein einziger abgestürzt. So sah man ihn, den alten Fantini, auf alten Fotos, aber das war einmal gewesen.

All’epoca, wie man sagt, in der guten, alten Zeit. Schon wahr, da hatten sich die Faschisten wichtig gemacht, und die hatten nach 1945 keine gute Nachrede. Doch damals, in den Dreißigerjahren, war auch hier etwas los gewesen. Hohe Besuche. Zwei oder drei Mal war sogar der Graf Ciano da.

Vielleicht war Fantini senior gar kein Faschist. Jedenfalls kein glühender. Aber er war ein Hotelier. Da kann es schon sein, dass einer bereitwillig den Arm zum römischen Gruß erhebt. In der Hotelbranche verdient man sein Geld nicht mit der Faust in der Tasche.

Na ja, und nach dem Krieg war halt alles anders. Da war San Vito eine rote Gemeinde. Das hat dem Hotel nicht unbedingt gutgetan. Zwar konnte der Sohn nichts für den Opportunismus seines Vaters, aber er war sein Erbe, das war sein Pech. In den Fünfzigerjahren, als er das Hotel übernommen hatte, ging es noch einigermaßen. Da fuhr noch die Mille Miglia durch den Ort, die berühmte Auto-Rallye. Und der Giro d’Italia kam hier vorbei, mit legendären Radstars wie Bartali und Coppi. Aber dann, als die Straße, die Cassia, nach draußen verlegt wurde und an San Vito vorbeiführte, kamen die mageren Jahre, da war nichts zu machen.

Manchmal erschien dem Sohn der Vater im Traum. Du bist ein schlechter Sohn, sagte er, du hast das Hotel heruntergewirtschaftet. Aber Papa, sagte er dann, das war nicht nur ich. Die Zeit, die Verhältnisse ... Aber der alte Fantini wollte ihm nicht zuhören.

Das war ein Traum, den der Sohn leider öfter träumte. Ein Traum mit einer fatalen Tendenz zur detailgetreuen Wiederholung. Möglich, dass er ihn gerade wieder geträumt hatte, als Marco und Julia zum ersten Mal bei ihm auftauchten. Möglich, dass er ganz froh war, dass ihn die beiden aus dem Nachmittagsschlaf weckten.

Buongiorno, rief eine Stimme, c’è qualcuno? Das war Marcos Stimme. Und das kam so: Marco und Julia hatten, wie gesagt, schon zum Auto zurückgehen wollen. Aber da hatten sie die offene Tür gesehen.

Das heißt, eigentlich war es nur eine halboffene Tür. Gegenüber der Casa del Popolo. Eine halboffene Tür, gerahmt von einem, wenn man genauer hinsah, recht schönen Portal aus Travertin. Aber in dieser Situation sahen Marco und Julia noch nicht genauer hin.

Auch die fast elegant geschliffenen Milchglasscheiben in den Türflügeln aus schwarz lackiertem Holz beachteten sie kaum. Es ging ihnen darum festzustellen, ob da jemand war. Jemand, den man nach einem Lokal fragen konnte. Denn vielleicht – dieser Funke Hoffnung glomm nun wieder auf – vielleicht gab es ja doch eines in diesem Ort, und sie hatten es nur nicht gefunden.

Diese kleine Chance wollten sie einfach noch wahrnehmen. Denn auch der Gedanke, zum Auto zurückzugehen, war bei der Hitze, die immer noch herrschte, alles andere als verlockend. Sie hatten Durst. Sie hatten Hunger (auch wenn ihnen der schon fast vergangen war). Und ehrlich gestanden waren sie inzwischen auch recht müde.

C’è qualcuno?, rief Marco also. Ist da jemand? Und hatte die halboffene Tür schon etwas weiter geöffnet. Buongiorno!, rief er. Oder (vielleicht war das dem fortgeschrittenen Nachmittag schon angemessener): Buona sera! Von drinnen wehte ihnen ein kühler Hauch und ein dezenter Duft von Naphthalin entgegen.

Dass sie soeben die Schwelle des Hotels übertreten hatten, in dem sie dann nicht nur die nächsten zwei Wochen, sondern in der Folge noch ungeahnt viel mehr Zeit verbringen sollten, wussten sie in diesem Moment natürlich noch nicht. Sie begriffen ja noch nicht einmal richtig, dass sie im Flur eines Hotels standen. Von außen hatten sie das Gebäude nicht als Hotel erkannt. Die kleine Tafel am linken Türflügel (Albergo & Affittacamere stand da), diese kleine Messingtafel am linken Türflügel hatten sie glatt übersehen.

Und eigentlich wollte Marco ja nur etwas fragen.

Solo una domanda, sagte er zu dem Mann, der die Treppe herunterkam, auf dem Kopf einen Strumpf statt einem Haarnetz – der Mensch sah ein bisschen aus wie ein verschlafener Pirat. Kann man hier irgendwo etwas zu trinken bekommen? Wir sind am Verdursten. Und finden kein offenes Lokal.

Etwas zu trinken?, sagte Fantini junior. Il giovane Fantini hatte man ihn im Ort lange Zeit genannt, aber inzwischen war er schon längst nicht mehr jung. Er war auch nicht wirklich alt, auch wenn ihm schon einige Zähne fehlten. Die waren nach und nach ausgefallen, wie die Buchstaben an der Fassade abgefallen waren.

Die paar Goldkronen, die jetzt aufblitzten, hatte man ihm schon früher verpasst. Aber so etwas konnte er sich schon seit längerem nicht mehr leisten.

Ich habe Acqua minerale und Tè freddo im Eisschrank, sagte er. Das hier ist keine Osteria, sondern ein Hotel, aber verdursten lassen werde ich Sie nicht.

Ein Hotel?, sagte Marco.

Ma certo, un albergo.

Und? ... Marco sah sich nach Julia um ... Hätten Sie ein Zimmer frei?

Con letto matrimoniale?

Sì. Con letto matrimoniale.

Sollen wir?, fragte Marco.

Ja, sagte Julia. Ich glaube schon.

Und das war’s dann. Das Bett hing zwar ziemlich durch. Aber sie waren froh, dass es für sie da war. Später legte ihnen Fantini ein Brett unter die Matratze. Aber an diesem Nachmittag, an dem sie vorerst sofort einschliefen, und an diesem Abend, an dem sie dann umso munterer wach waren, genügte das Bett, wie es war, durchaus ihren Ansprüchen.

7

Den Garten entdeckten sie erst am nächsten Morgen. Das heißt, es war schon am späteren Vormittag. Sie hatten (natürlich) etwas länger geschlafen. In der Nacht war das Treiben unter ihrem Fenster lang nicht zur Ruhe gekommen – ganz im Gegensatz zu dem Eindruck, den sie um die Stunde ihrer Ankunft gehabt hatten, war dieser Ort offenbar von jeder Menge lebendiger Menschen bewohnt, die sich bei gutem Wetter auf der Piazza trafen und sich alle gleichzeitig zu unterhalten schienen.

Es war also möglicherweise schon gegen elf. Es kam ihnen allerdings früher vor, weil sich die Sonne an diesem Tag vorerst nicht sehen ließ. Wolken zogen vorbei, es blies ein frischer Wind. Ein Wind, der auch die Bäume dort drüben bewegte.

Stimmt schon, vom Fenster des Zimmers Nummer 11 sah man vor allem das Tor zum giardino. Und je ein Stück Mauer links und rechts davon. Aber im Hintergrund sah man auch einige Bäume. Das waren die lecce, die Steineichen, die den unteren Teil des Gartens vom oberen trennten.

Die Gebärdensprache dieser Bäume! Die sollten sie später noch wiederholt bewundern. Manchmal machten diese Steineichen wirklich den Eindruck, als wollten sie etwas sagen. Oder zumindest – ihren Artikulationsmöglichkeiten entsprechend – etwas andeuten.

In ihren Bewegungen lag etwas Suggestives. Etwas Verlockendes, etwas, das Ahnungen evozierte. Und das kam denn auch auf der Stelle zur Wirkung. Beide, Marco und Julia, hatten sofort das Bedürfnis, diesen Garten oder Park oder was es war, in Augenschein zu nehmen.

Glaubst du, ist er privat, oder ist er frei zugänglich?, fragte Julia.

Das werden wir ja gleich sehen, sagte Marco, wir brauchen nur über den Platz zu gehen.

Und wenn er privat ist, dieser Garten, was dann?

Das werden wir auch sehen, sagte Marco. Vielleicht klettern wir irgendwo über die Mauer.

Das hatten die Kinder hier früher tatsächlich getan. Solang der giardino noch im Besitz der Familie Bianchi war. Die ihn partout nicht für alle öffnen wollte. Aber das erfuhren Marco und Julia erst später.

Was sie betraf, so mussten sie jedenfalls nicht über die Mauer klettern. Der Garten war offen. Aperto dall’alba al tramonto stand auf einem Schild neben dem Tor. Das war eine Formulierung, die sich Marco auf der Zunge zergehen ließ. Geöffnet von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang.

Wie Marco und Julia dann den Garten betraten. Den Garten oder genau genommen: die Gärten. Es gab ja zwei Ebenen, die untere und die obere. Unten ein französischer Garten, oben ein englischer.

In ihrer Erinnerung an diese Szene ist es sehr still. Der Wind, der zuvor die Steineichen bewegt hat, hat nachgelassen. Und sie sind an diesem Vormittag die einzigen Besucher. Der Garten ist öffentlich zugänglich, aber die Ortsansässigen kommen erst am Abend.

Touristen? Nein, Touristen gibt es noch nicht. Nur sie beide. Die sie vorerst in den unteren Garten hineingehen. Schritt für Schritt. Und unwillkürlich dämpfen sie ihre Stimmen. Als ob es gälte, den Genius Loci nicht zu verscheuchen.

Ma guarda, sagt Marco, come è fatto bello! Wie schön das gemacht ist! Così bello e così semplice. Così semplice e così raffinato. So schön und so einfach. So einfach und raffiniert.

Das Areal des unteren Gartens hat etwa die Form eines gleichschenkeligen Dreiecks. Oder eher die eines Deltoids? Die Form eines Dreiecks oder eines Deltoids, aus dessen spitzem Winkel man kommt. Und Schritt für Schritt öffnet sich die Perspektive.

Deltoid oder Dreieck – in sich ist diese geometrische Figur jedenfalls unterteilt in von Buchsbäumen begrenzte Felder. Marco und Julia zählen. Es sind zwölf. Sechs dreieckförmige Felder außen, sechs trapezförmige Felder innen. Und in der Mitte ein Sechseck, beinahe ein Kreis.

Der Kreis, in dem Mortimer gelandet ist. Mortimer, dessen Geschichte sie nachhaltig beeindrucken wird. Aber an diesem Vormittag wissen sie noch nichts davon. Und der Mann, den sie ein paar Tage später am Fenster seines Zimmers im Albergo stehen sehen werden, der alte Amerikaner, der ein bisschen aussieht wie der alte Hemingway, existiert für sie noch nicht.

Obwohl er vielleicht auch jetzt schon am Fenster steht. Und in den Garten hinunterschaut, denn das tut er meistens. Vielleicht beobachtet er die beiden schon seit einer Weile. Jetzt gehen sie von der Stelle, an der er gelandet ist, hinüber zu dem schmalen Haus, dem Haus in der Mauer, unter dessen Gewölbe er damals, im Jahr 1944, rasch Deckung gesucht hat.

An den Torbogen vor dem Gewölbe schmiegt sich ein Baum mit wilden Kirschen. Ein schönes Motiv, gewiss, besonders mit einer jungen Frau wie Julia darunter. Und Marco führt die Kamera ans Auge, aber dann zögert er einen Moment. Möglicherweise spürt er Mortimers Blick.

Dieses Haus, an dessen sienabraunes Gemäuer sich nicht nur der Wildkirschenbaum schmiegt, sondern an dem sich auch eine märchenhafte Bougainvillea-Hecke hochrankt ... aus einem einzigen Stamm emporwachsend, weit verzweigt bis fast hinauf zu Miss Mollys Fenstern ... Dieses Haus, so gut es zum Renaissancegarten passt, den Gärten genau genommen, den so genannten Horti Valentini ... Dieses Haus ist, jedenfalls in seiner gegenwärtigen Form, verhältnismäßig neu, auch wenn man ihm das nicht gleich ansieht.

Das Haus, in dem Miss Molly bis zu ihrem Tod im Jahr 1965 wohnte ... Sein romantisches Erscheinungsbild und seinen erstaunlich guten Zustand verdankt es sehr nüchternen Tatsachen ... Einem Schachzug oder Trick der ehemaligen Besitzer des Gartens, der sehr adeligen und einflussreichen Familie Bianchi ... Der bei allem Adel und bei allem Einfluss die Enteignung des Gartens schon 1918 drohte, bald nach dem Ersten Weltkrieg.

Da war die Gemeinde San Vito auf einmal rot. Wie übrigens beinahe alle Gemeinden in der Region. Für das Desaster des Krieges machten die einfachen Leute die Besitzenden verantwortlich, in einer hoffentlich besseren Zukunft wollten sie es anders haben. Ein verständlicher Wunsch. Aber aus der Sicht einer Familie wie der Bianchis eine Bedrohung.

Toscana rossa. Für kurze Zeit sah es wirklich so aus, als müsste man sich darauf einstellen. Aber noch war nicht aller Tage Abend. Und es gab Gott sei Dank noch bürgerliche Gesetze. Und es gab noch Juristen, die damit umzugehen wussten.

Zum Beispiel den mit allen juristischen Wassern gewaschenen Signore Belpulito, den Anwalt, der den Bianchis schon vor dem Krieg ein verlässlicher Freund und Helfer gewesen war. Melden Sie Eigenbedarf an, riet er, Eigenbedarf für ein Objekt im giardino. Zum Beispiel für dieses Haus in der Mauer, genau. Lassen Sie dieses hübsche Häuschen ein bisschen renovieren und setzen Sie eine für die Familie unentbehrliche Person hinein.

Also quartierte man die Gouvernante dort ein. Und blockierte die Sozialisierung der Gärten. Sollte die Gemeinde das juristisch anzufechten versuchen, so würde man das Verfahren in die Länge ziehen. Das erübrigte sich dann: 1922 marschierten Mussolinis Schwarzhemden auf Rom, 1924 wurde Matteotti ermordet, 1926 gab es auch im verstecktesten Winkel Italiens keinen roten Bürgermeister mehr.

Miss Molly kann nichts dafür, sie war nur die Gouvernante. Davor war sie ein Jahr als Englischlehrerin an einer Privatschule in Siena tätig. Wo sie der Marchese Bianchi, heißt es, entdeckte und vom Fleck weg engagierte. Das heißt wahrscheinlich, dass er sie einfach abwarb.

Die dortige Schulleitung musste sich mitten im Jahr eine andere Englischlehrerin suchen. Aber er war eben der Marchese Bianchi. Er machte ihr ein Angebot. Er nahm sie mit nach San Vito und stellte sie seiner Frau und seinen Töchtern vor. Er zeigte ihr das Haus im Garten, das noch eingerüstet, aber fast schon bezugsfertig dastand.

Konnte Miss Molly da nein sagen? Natürlich konnte sie das nicht. Denn es war Liebe auf den ersten Blick. Zu diesem Haus wohlgemerkt. Und zu dem Garten, der es umgab. Von dem Spiel, in dem sie bei aller Freundlichkeit ihres neuen Dienstgebers benutzt wurde, durchschaute sie wahrscheinlich nicht viel.

Wenn es stimmt, dass sie schon vor 1922 da war, mit, sagen wir, einundzwanzig, so muss sie 1944, als Mortimer für sie vom Himmel fiel, schon Mitte vierzig gewesen sein. Aber solche Berechnungen stellten Marco und Julia erst später an. Vorläufig wussten sie ja von ihr ebenso wenig wie von Mortimer, vorläufig hatten sie noch nicht die leiseste Ahnung von der Geschichte, die sie dann so nachhaltig beschäftigen sollte. Sie taten die ersten Schritte auf den Spuren dieser Geschichte, aber das wussten sie noch nicht.

Ein paar von diesen Schritten sind fotografisch dokumentiert: Julia unter den Wildkirschen – mit diesem Foto ist der Bann, die Hemmung, die einen Moment lang auf Marco gelegen ist, gebrochen. Julia neben dem Januskopf – das ist die Büste am Fuß der Treppe, die in den oberen Teil des Gartens führt. Janus, der Doppelgesichtige – ein junges Gesicht und ein altes Gesicht.

Julia hat leicht lachen, sie ist damals noch sehr jung, noch nicht fünfundzwanzig. Auf der Treppe sitzend wirkt sie allerdings schon ein bisschen nachdenklich. Vielleicht fällt ihr da ein, dass sie noch nicht gefrühstückt haben. Wenn sie diese Fotos später ansehen, werden sie und Marco einiges hineininterpretieren.

Die nächsten Fotos sind dann bereits im oberen Teil des Gartens aufgenommen. Marco (von Julia fotografiert), wie er auf den Trümmern des Turms herumklettert. Auch er noch recht jung, in dieser Situation hat er trotz seiner zweiunddreißig Jahre etwas Bubenhaftes. Daran ändert auch der Bart nichts, der damals für linke Intellektuelle nahezu obligat ist und von dem er sich erst mit etwa fünfzig trennen wird, sobald die grauen Haare darin überhandnehmen.

Dann Julia in ein paar tänzerischen Posen auf dem so genannten Turnierplatz. Als sie noch ein kleines Mädchen war, hat ihre Mutter sie zum Ballettunterricht geführt, aber als sie ein etwas größeres Mädchen war und allein hingehen sollte, hat sie die Verrenkungen und Posen, zu denen sie dort gezwungen wurde, immer unangenehmer und blöder gefunden und ist während der Stunden, die sie im Ballettstudio verbringen sollte, lieber ins Kino gegangen. Hier aber, vor Marco, für Marco, lässt sie sich zu einer kleinen Vorführung hinreißen. Sie dreht sogar eine Pirouette, aber dabei wird ihr schwindlig, und er muss sie auffangen.

Schließlich Marco und der Steintisch, an dem er sitzt. Eine ganze Reihe von Fotos (wieder von Julia fotografiert). Der Steintisch, an dem er dann noch ziemlich oft sitzen wird, unter den Steineichen, die auch hier oben wachsen, jenseits der freien, von zu viel Sonne vergilbten Rasenfläche, von der man am späteren Vormittag schon recht gern in den Schatten tritt. Da sitzt Marco auf der steinernen Bank und gestikuliert.

Hier, sagt er, könnte ich mein Drehbuch schreiben. Das Drehbuch nämlich, das alles verändern würde. Falls es gelingt, einen Produzenten dafür zu finden. Und natürlich würde Marco dann auch Regie führen.

Wie Chabrol, wie Truffaut, wie Godard, wie Buñuel und wie seine Vorbilder alle heißen. Und dann müsste er vielleicht doch kein Arzt werden. Bloß: Seiner Mutter wäre es halt ein Anliegen. Und wenn sich bis zum Ende seiner Turnusjahre nichts anderes ergibt, wird er sich wohl auf Augenheilkunde spezialisieren.

Jedenfalls wird er gleich nachher unten im Ort ein Heft kaufen, ein quaderno, in dem er Gedanken zu seinem Film notieren will. Zwar weiß er noch nicht genau, was das für ein Film werden soll, doch vielleicht könnte er damit beginnen, dass ein Paar (die zwei müssen nicht unbedingt Marco und Julia heißen, aber Ähnlichkeiten sind nicht ausgeschlossen) in einen Ort kommt, der ihnen beiden vorher überhaupt kein Begriff war. Purer Zufall, dass sie hierher geraten sind, doch sie haben hier eine erste (sehr nette) Nacht verbracht. Und nun, am Morgen oder am Vormittag danach, haben sie einen Park entdeckt oder einen Garten, der hat was, da liegt was in der Luft, man spürt das, und was daraus resultiert, das wird sich schon noch weisen.

Ja, dieser Tisch! Dieser Steintisch unter den Steineichen! Da war auch Miss Molly oft und gern gesessen. Etwa wenn die Kinder, die sie zu betreuen hatte – Chiara und Filiberta hießen sie –, vorne auf dem Turnierplatz spielten. Stimmt, auch sie sollten nicht allzu lang in der prallen Sonne bleiben, aber ihre italienische Haut war bei aller hochnoblen Herkunft bei weitem nicht so empfindlich wie Mollys englische.

Wenn Miss Molly aus dem schmalen Haus in der Mauer hier heraufging, mit den Kindern oder allein, dann tat sie das nie ohne Sonnenschirm. Selbstverständlich hatte sie auch einen Polster dabei, den sie auf die steinerne Bank legte, bevor sie sich setzte, mit spitzem Popo, denn diese Bank war nicht nur hart, sondern auch kalt. Das spürte auch Marco in den folgenden Tagen. Er legte dann meist die Stampa unter oder die Unità, das waren die Zeitungen, die er täglich kaufte. Und dann saß er über dem Heft, Format A4, kariert, und wartete auf Einfälle.

Miss Molly saß also im Schatten, der Sonnenschirm lag auf der Bank neben ihr, die Kinder spielten in der Sonne. Als sie noch klein waren, so zwischen fünf und sieben, spielten sie mit einem bunten Ball. Das wäre eine schöne Szene. Die Kinder in der Sonne, in Farbe, Miss Molly im Schatten, schwarzweiß. Doch solche Einfälle hatte Marco erst später.

Zehn oder zwölf Tage später, nach dem Abend, den sie mit Mortimer verbrachten ... dem Abend, an dem er anfing, ihnen seine Geschichte mit Miss Molly zu erzählen ... eine Geschichte, deren Fortsetzung er für den folgenden Abend ankündigte ... Dass es dazu nicht mehr kam, war vielleicht der Grund, warum diese Geschichte ihre Fantasie auf ganz besondere Weise anregte.

Aber davon hatten sie jetzt noch keine Idee. An ihrem ersten Vormittag in diesem Ort. Es war übrigens schon spät am Vormittag, bald würden die Glocken der Kirche Santa Maria Assunta, deren Campanile man auch vom giardino aus sah (eine recht nüchterne, gerüsthafte Turmspitze, allerdings gekrönt von einem blechernen Wetterengel, der seinen rostig-rustikalen Charme hatte), bald würden die frei hängenden Glocken dieser Kirche Mittag läuten. Höchste Zeit also, trotz allem im Ansatz bereits spürbaren Magnetismus, der hier wirkte: Sie hatten noch immer nicht gefrühstückt.

Also legten sie den Weg vom oberen Teil des Gartens, vom Steintisch, in den unteren Teil im Laufschritt zurück. Nicht über die Treppe, sondern auf einem durchs Gebüsch führenden Pfad. Und schon waren sie wieder beim Januskopf, dessen altes Gesicht in die Vergangenheit, dessen junges Gesicht aber in die Zukunft schaute. Und dann beim Haus in der Mauer, in dem Miss Molly schon längst nicht mehr wohnte.

Dort nahm Marco Julia kurz auf die Schultern, damit sei ein paar von den wilden Kirschen pflücken konnte, die von den Vögeln noch nicht gefressen waren. Davon gibt es leider kein Foto, aber es ist ein Bild, das sich beide immer wieder gern in Erinnerung riefen. Marco mit Julia auf den Schultern, Julia, wie sie sich nach den Weichseln streckt. Allerdings war bereits Juli, und die meisten waren schon ziemlich vertrocknet.

Dann aber (endlich) das Frühstück im Caffè Italiano. Das war die Bar, die sie gestern übersehen hatten. Etwas, das ihnen künftig nicht mehr passierte. Denn von da an gingen sie fast jeden Tag dorthin frühstücken.

Täglich außer Montag, denn da hielten Pietro und Bruna ihren Ruhetag. Pietro und Bruna, das waren die Pächter des Lokals. Er um die sechzig, sie vielleicht um die fünfzig. Das kam Marco und Julia damals sehr alt vor.

Aber auf sympathische Weise alt. Zwei, so der Eindruck, in Harmonie miteinander älter gewordene Leute. Obwohl sie sich, was die Statur betrifft, unterschieden (er hager und relativ groß, ein wenig gebeugt, sie mindestens einen Kopf kleiner, zu jener Zeit auch noch etwas runder), sahen sie einander ähnlich. Das war allerdings keine Ähnlichkeit der Züge, sondern eine Ähnlichkeit des Ausdrucks, und dieser Ausdruck war der einer etwas schüchternen Freundlichkeit.

Und schön war die merkbare Nähe zwischen den beiden. Manchmal standen sie Hand in Hand vor der Tür des Lokals unter dem grün und weiß gestreiften Sonnendach. Marco taufte sie spontan Philemon und Baucis. Zugegeben, Julia war nicht ganz so beschlagen in der griechischen Mythologie wie er, der anscheinend ein klassisches Gymnasium besucht hatte, aber eine vage Erinnerung an diese Namen hatte sie doch. Er half dieser Erinnerung auf die Sprünge.

Also Philemon und Baucis, sagte er. Das ist doch das alte Ehepaar, das keinen größeren Wunsch hat, als auch durch den Tod nicht geschieden zu werden. Und da kommen zufällig Zeus und Hermes vorbei und sind gerührt vom innigen Anblick der beiden, und außerdem sind sie angetan von ihrer Gastfreundschaft. Und aus Dankbarkeit verwandeln sie die zwei in ein Paar eng beisammen stehender Bäume, eine Eiche und eine Linde, wenn ich mich recht erinnere, die einander mit ihren Zweigen umarmen.

So erzählte das Marco und lächelte dazu. Unter dem Bart hatte er hübsche Lippen und schöne Zähne.

Aber im Ernst, sagte Julia. Glaubst du, dass es so etwas gibt? Ich meine, in Wirklichkeit. Eine so haltbare Liebe?

Sie hatte das unwillkürlich auf Deutsch gesagt.

Pardon?, sagte Marco.

Sie versuchte es also auf Französisch.

Eine so haltbare Liebe ... Un amour tellement durable? ... Oder vielleicht besser: Un amour tellement résistant.

Ja, dachte sie, das ist das richtige Wort. Dabei ging ihr zum ersten Mal auf, dass Liebe vielleicht etwas mit Widerstand zu tun hatte. Mit Widerstand gegen alle widrigen Umstände. Und letzten Endes mit Widerstand gegen die Zeit.

Doch was dachte sie da? Wieso kam sie auf solche Gedanken? Die Beziehung zu Marco war doch wahrscheinlich nichts als eine Sommerliebe. Gut, um sich Hans aus dem Kopf zu schlagen, und überhaupt gut. Rundum gut, um ehrlich zu sein. Aber so was hat sein Ablaufdatum.

Jetzt war es allerdings schön, und das wollte sie genießen. Sie saß mit diesem Marco, den sie erst seit kurzem kannte, aber lieber ansah, reden hörte, berührte, roch und schmeckte als Hans und die zwei, drei anderen, die sie länger gekannt hatte, im kleinen Hinterhofgarten des Caffè Italiano. Und sie hatten Cappuccino getrunken und Crostini gegessen, die damals noch frisch angeröstete, pikant bestrichene Brotscheibchen waren (keine, die schon seit Stunden oder gar Tagen in der Vitrine aufweichten). Und weil die so gut waren und weil es so angenehm hier war, bestellten sie gleich noch einige.

Und dieser Hinterhofgarten war natürlich kein so geheimnisvolles Gesamtkunstwerk wie der giardino, den sie zuvor entdeckt hatten. Aber in all seiner Schlichtheit war auch er eine Entdeckung. Fast alles, was sie da umgab, war ihnen auf Anhieb sympathisch. Der großblättrige Baum in der Mitte, ein so genannter Elefantenbaum, der sich weiß Gott wie hierher verirrt hatte, das Birra-Moretti-Reklameschild im Hintergrund, die bescheidenen Beete entlang der weiß getünchten Mauer und der Rosmarinstrauch vor dem kleinen, vergitterten Fenster zur Küche.

Dieser Rosmarinstrauch sogar ganz besonders. Gute zwei Meter hoch wuchs der – erstaunlich, wenn man sah, wie schmal der Streifen Erde war, der ihm zur Verfügung stand. Aber wer weiß, sagte Marco, wie tief hinab seine Wurzeln reichen. Er blühte und duftete würzig, und das Gesumm der Bienen und Hummeln, die ihn besuchten, hatte etwas sehr Anheimelndes.

Auch eine Katze gab es, die auf einem der mit bunten Plastikschnüren bespannten Sessel döste. Und einen Kanarienvogel, der zu zwitschern begann, wenn Pietro den Türflügel, an dem sein Käfig hing, so weit öffnete, dass ein Sonnenstrahl auf ihn fiel. Man konnte das alles beinah als Idylle sehen. Allerdings gab es da auch die Schildkröten.

Guarda, la tartaruga!, sagte Marco, aber es war nicht nur eine. Guarda un’altra! No, sono tre, sono quattro! E guarda, che cosa fanno!