Mr. Fake - Sophia Chase - E-Book

Mr. Fake E-Book

Sophia Chase

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Beschreibung

Ein Verhältnis mit dem besten Freund – für Kristina ein absolutes No-Go! Doch ausgerechnet dieser bittet sie, sein schlechtes Image mit einer Fake-Beziehung aufzupolieren. Nur für kurze Zeit und ganz ohne Schwierigkeiten. Kristina willigt ein, schließlich ist Chad ihr bester Freund – und was soll schon Schlimmes passieren? Chad hat einen fixen Plan: Täusche eine Beziehung mit der ehrwürdigsten, erfolgreichsten und vertrauensvollsten Frau vor, die du kennst, und werde Nachfolger deines Dads. Vielleicht war das, angesichts der Reize, die Kristina nun auf ihn ausübt, aber ein schlechter Plan. Dabei sollte nicht wichtig sein, wann er sie das nächste Mal küssen muss, um ihre vermeintliche Beziehung vor anderen real erscheinen zu lassen, sondern die Frage, wie viel Schaden ihre Freundschaft davon erhält …

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINDUNDREISSIG

ZWEIUNDDREISSIG

DREIUNDDREISSIG

EPILOG

Impressum

MR. FAKE

Sophia Chase

Originalausgabe 2018 C by Sophia Chase

Cover: Rauschgold

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Lektorat: Dr. Antonia Barboric

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form.

Es gibt nichts Schöneres als geliebt zu werden. Geliebt um seiner selbst willen oder vielmehr trotz seiner selbst. (Victor Hugo)

Prolog

Kristina (11 Jahre)

Ich mag das Knirschen des Kieses unter meinen Schuhen. Dieses stete, monotone Geräusch, das, während ich den dicht bewachsenen Park hinter dem Haus verlasse und über die lange Straße in Richtung Terrasse gehe, immer lauter wird. Ich presche an den drei Männern vorbei, die mit schwarzen Eimern bewaffnet dem Unkraut an den Kragen gehen. Sie knien auf grauen Matten auf dem Kies und blicken grinsend zu mir hoch, als ich sie passiere.

Einer von ihnen, Mr Benz, fragt mich, wohin ich gehe, doch ich antworte ihm nicht und bleibe nicht einmal stehen, sondern ich sprinte plötzlich die Steintreppe hoch. Doch bremse ich ab, als ich an Mums riesigen Tonvasen vorbeikomme. Siebzehn sind es; Chad und ich haben sie gestern gezählt, um zu eruieren, wem das letzte Stück Torte gebührte. Ich behielt Recht – mir! Ich bekam also das Stück, entschloss mich aber, Chad die Hälfte davon abzugeben. Er tat mir einfach so leid, und das war schon die ganzen letzten Tage so. Obwohl vorgestern sein Geburtstag war, fiel mir auf, wie krampfhaft sein Lächeln wirkte. Ich kann ihn ja verstehen, er wünscht sich einfach, dass seine Mum hier bei ihm wäre. Ich verstehe nicht, wieso eine Mutter so mir nichts, dir nichts weggehen und ihre Kinder zurücklassen kann. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was ich machen würde, wenn meine Mum plötzlich weg wäre. Wie es sich anfühlen würde, wenn ich wach würde und sie nicht mehr da wäre.

Schnaufend bleibe ich kurz stehen und sehe nach hinten, von wo ich gerade hergekommen bin. Mein Shirt klebt an meinem Rücken, und mein Zopf droht sich jeden Augenblick in ein dunkelbraunes Haargewirr zu verwandeln. Während ich noch ein paar Mal tief durchatme, richte ich meine Haare und binde sie wieder ordentlich zusammen.

Ich weiß, dass ich eigentlich meine Sachen packen sollte. Damit liegt mir meine Mum schon seit heute Morgen in den Ohren. Doch irgendwie will und kann ich mich einfach nicht von hier trennen. Das Packen meines Koffers bedeutet nämlich, dass die Ferien nun endgültig beendet sind. Dann geht es für mich zurück nach Brighton ins Internat, und der langweilige Schulalltag kehrt in mein Leben zurück. Doch wenn ich mich einmal im Internat eingelebt habe, fühle ich mich auch schnell wieder ganz wohl. Ich freue mich, meine Freundinnen wiederzusehen, und, ich gestehe es, ein bisschen sogar auf den Unterricht.

Von der Terrasse führt eine Allee gerahmt durch Hainbuchen zum Lavendelgarten, wie der Garten von allen genannt wird. Er ist das Herzstück des Hauses, wie meine Mum immer betont. Ich frage mich zwar, wie ein Haus ein Herz haben kann, doch befasse ich mich nicht länger mit diesem Gedanken, als ich Chad und die beiden Jungs, William und Roger, aus der Nachbarschaft von meinem Versteck aus entdecke. Sie sitzen am Rand des Brunnens in der Mitte des Lavendelfelds, während ich sie leise beobachte. William hat mir vor einer Woche geholfen, als ich mit dem Fahrrad gestürzt bin. Ich weiß zwar nicht wieso, aber jedes Mal, wenn ich ihn nun sehe, wird mir ganz warm ums Herz, und ich habe das Gefühl, vor ihm keinen ordentlichen Satz herauszubringen. Noch schlimmer wird es, wenn er mich anlächelt oder mir etwas erzählt. Ich weiß nicht, was diese Veränderung zu bedeuten hat, doch seltsamerweise gefällt sie mir.

Seufzend verlasse ich den Tunnel, in dem es kühler ist als in der prallen Sonne, und steuere den Brunnen an. Ein großer Nachteil eines Kiesweges ist es, dass man sich nicht anschleichen kann. Die drei Jungs bemerken mich natürlich, noch ehe ich das letzte Lavendelbeet erreicht habe.

Ich lächele schüchtern, vermeide es jedoch, William in die Augen zu blicken, weil ich Angst habe, plötzlich auf die Nase zu fallen. Roger flüstert den anderen etwas zu, und alle drei beginnen laut zu lachen. Das verunsichert mich, doch da ich kein Baby mehr bin und mir keine Blöße geben will, darf ich nicht weinend weglaufen. Ich meine, immerhin ist Chad dabei. Er ist wie ein Bruder für mich. Er beschützt mich seit jeher, er war immer für mich da.

Unsere beiden Dads kennen sich seit ihrer Kindheit. Sie haben gemeinsam studiert und dann miteinander ein Geschäft aufgebaut. So wurden wir alle unweigerlich zu einer Familie. Als Chads Mum die Familie verließ, schweißte uns das nur noch mehr zusammen. Meine Mutter hatte Mitleid mit Chad und seiner Schwester Theresa, daher wurde es zur Gewohnheit, dass sie gemeinsam mit uns die Ferien auf Ham House verbrachten. Von Jahr zu Jahr verband Chad, Theresa, meine Schwester Hailey und mich ein engeres Band. Während nun Hailey und Theresa längst zu studieren begonnen haben, sind Chad und ich dieses Jahr zum ersten Mal ganz alleine hier. Doch es wird wohl auch Chads letzter Sommer auf Ham House sein, da er schon sechzehn ist.

„Was macht ihr hier?“, frage ich, als ich das Plateau erreicht habe.

„Nichts“, antwortet Roger, und wieder fangen alle drei zu lachen an.

Roger ist ein hagerer Kerl, mit Pickel auf der Nase und fettigen braunen Haaren. Sein Bruder, der zwei Jahre älter ist als er, hat deutlich schönere Haut und trägt eine moderne Frisur. Außerdem kann er so bezaubernd lachen, dass mir die Knie weich werden. Und Chad – tja, er ist eben etwas ganz Besonderes. Mir ist aufgefallen, dass sich nicht nur in mir etwas regt, wenn ich ihn sehe, auch die Mädchen in seiner Nähe verhalten sich auf einmal seltsam. Besonders in letzter Zeit scheint auch er an älteren Mädchen interessiert zu sein. Er ist groß, seine Stimme ist tiefer geworden, und er sieht auch viel stärker aus als noch vor einem Jahr. Obwohl mir sein Äußeres zunehmend etwas fremder wird, weiß ich, dass er tief in seinem Inneren immer noch der alte Chad ist, der mir erlaubt, bei einem Gewitter in seinem Bett zu schlafen.

„Kann ich mit euch mitmachen?“, will ich wissen und blicke fragend von einem zum anderen.

„Was möchtest du denn machen?“, erkundigt sich William unschuldig grinsend, und prompt beginnen meine Wangen zu glühen.

Wie kann ich nur so etwas Dummes fragen? Mein Gott.

Die Jungs bemerken meine überflüssige Frage natürlich auch und fangen wieder zu lachen an.

Es ist Roger, der nun zu mir kommt und den Arm um meine Schulter legt. „Bist du verknallt? Natürlich bist du das. Kristina ist in William verknallt – wie niedlich! Da hast du jetzt ja einen Klotz am Bein, Will.“

Roger lässt mich los, und während alle drei wieder herzhaft lachen, spüre ich Tränen in meine Augen steigen. Ich fühle mich total dämlich und fehl am Platz. Dann recke ich das Kinn und blicke zu Chad, um ihn stumm um Hilfe zu bitten. Dieser aber scheint vor seinen Freunden besonders cool wirken zu wollen und weicht meinem Blick aus.

„Hört auf“, brülle ich deshalb verzweifelt und stampfe mit dem Fuß auf. „Das stimmt ja gar nicht. Redet nicht so einen Blödsinn!“

Meine verbale Gegenwehr verstärkt das Lachen der drei aber nur noch mehr, und während ich dastehe und mich so dumm wie noch nie zuvor fühle, ist es nicht William, vor dem ich mich schäme, sondern Chad. Sein Verhalten stimmt mich traurig. Bisher hat er immer zu mir gehalten, aber plötzlich behandelt er mich wie Luft und macht sich mit den anderen über mich lustig. Dabei sollte er mich doch verteidigen!

Irgendwann halte ich es nicht mehr aus. Gegen die Tränen ankämpfend, mache ich kehrt und laufe in Richtung Haus zurück. Schluchzend eile ich die Treppe hinauf in mein Zimmer, schmeiße mich aufs Bett und ziehe die Decke bis über meine Nasenspitze. Ich lasse die Tränen raus, bis mir fast schlecht wird und ich die Decke zurückschlagen muss, um wieder normal atmen zu können.

Aus Angst, den Jungs noch einmal über den Weg zu laufen, verbringe ich den restlichen Nachmittag in meinem Zimmer. Ich packe meine Sachen zusammen und notiere das Geschehen in aller Seelenruhe in meinem Tagebuch, um Chads Verhalten für immer und ewig auf Papier zu bannen. Danach begebe ich mich missmutig ins Esszimmer. Obwohl es draußen warm ist, hat mein Dad Feuer im Kamin vor dem Esstisch gemacht. Er sagt immer, dass er die Atmosphäre, die dank eines offenen Feuers entsteht, liebt. Doch selbst das angenehmste Feuer kann die Wut in meinem Bauch nicht vertreiben. Als ich Chad auf seinem Stuhl sitzen sehe, straffe ich die Schultern und beschließe, ihn für sein Verhalten büßen zu lassen.

Stumm nehme ich akkurat neben ihm Platz, während meine Mum und mein Dad unsere Gläser und Teller auffüllen.

„Hattet ihr einen schönen Nachmittag?“, erkundigt sich meine Mum und lächelt so, wie ich es an ihr mag.

Ich werfe einen bösen Seitenblick auf Chad, der so tut, als wäre alles in Ordnung. Blödmann!

Ich überlege sogar, ob ich ihn verpetzen soll, entscheide mich aber dagegen. Schließlich erwidere ich auf die Frage trotzig: „Ich hatte einen schönen Nachmittag, danke der Nachfrage.“

Meine Eltern eilen daraufhin in die Küche, weshalb Chad und ich nun alleine sind. Ich sehe ihn bewusst an und hoffe, dass er irgendetwas sagt. „Du warst heute echt doof“, sage ich geradeheraus und bringe ihn damit dazu, den Kopf in meine Richtung zu drehen. „Du hättest mir helfen sollen. Doch du hast dich nur über mich lustig gemacht.“

Er verzieht das Gesicht. „Tut mir leid. Du hast aber echt so rot wie eine Tomate ausgesehen.“

Ich schnaube und muss mich zusammenreißen, ihm nicht eine reinzuhauen. Ich nehme das Buttermesser und drehe es in der Hand. „Hab ich nicht!“

„Und wie. Bist du wirklich in William verknallt?“, will er neugierig wissen.

„So ein Blödsinn! Frag so etwas nie wieder“, fauche ich und stemme meine Ellenbogen auf den Tisch. Dann strecke ich die Hand aus, um die Spitze des glänzenden Messers über die Kerzenflamme zu halten.

Zuerst passiert gar nichts, doch irgendwann färbt sich der Rand schwarz.

„Roger ist ein Idiot“, sagt er schließlich wieder ganz freundlich.

„Du auch“, murmele ich vor mich hin. „Außerdem sagt man Idiot nicht.“

„Klugscheißer“, zieht er mich auf. „Das nächste Mal solltest du Roger gegenüber auch etwas Böses sagen, anstatt wie ein Kind zu heulen und davonzurennen.“

Als er das sagt, packt mich eine enorme Wut. Ich ziehe, noch bevor ich überlegen kann, das Messer von der Flamme zurück und drücke es gegen Chads Daumen. Er schreit auf und lässt das Glas in seiner Hand fallen, sodass das weiße Tischtuch nun völlig nass und braun von seiner Cola ist.

„Bist du völlig übergeschnappt?!“, brüllt er und steckt sich den Daumen zum Kühlen in den Mund.

„Tut … tut mir echt leid“, stammele ich und fange wieder zu weinen an. „Das wollte ich nicht. Aber das hat mich jetzt so geärgert.“

„Was für ein Freak du bist“, tobt er, steht auf und verlässt das Esszimmer.

Schluchzend bleibe ich alleine zurück und wünsche mir nichts sehnlicher, als den alten Chad zurückzuhaben, der mich nicht als Freak oder Klugscheißer bezeichnet, sondern mein bester Freund und für mich da ist.

EINS

Chad

Vierzehn Jahre später

Für sämtliche Menschen, die ich kenne, sind das Meer und der Strand der Inbegriff von Erholung. Doch da mein Leben selten etwas mit dem anderer gemein hat und ich außerdem seit einer Stunde gegen meinen Kater ankämpfe – was unter Umständen sehr oft der Fall ist und inzwischen leider schon zu einer Art täglicher Routine bei mir zählt –, löst weder der herrliche Blick über den Strand von Porto Istana noch das kühle Bier in meiner Hand Urlaubsgefühle in mir aus. Ich fühle mich ganz einfach grausig wie ein Steak in der Pfanne: fettig, ölig und mehr als durch.

Tief ausatmend bringe ich mich in eine senkrechte Position, was meinem Zustand sehr bekommt. Während ich meinen Magen mit einem Schluck Bier zu beruhigen versuche, frage ich mich, was ich hier eigentlich suche. Klar, mein Freund Glenn feiert dieses Wochenende seinen Junggesellenabschied, doch das ist kein Grund für Euphorie. Vermutlich aber ist meine Laune deshalb so weit unten im Keller, weil ich weiß, was zu Hause in London auf mich wartet. Es kommt mir vor, als wäre mein Leben, das gerade noch so einigermaßen akzeptabel und befriedend war, in seinen Grundfesten erschüttert. Und das alles nur wegen eines einzigen Satzes, den mir mein Vater letzte Woche ins Gesicht geschleudert hat.

Ich muss gestehen, dass er viel mehr Geduld und Toleranz bewiesen hat, als ich jemals in der Lage wäre, für irgendjemanden aufzubringen. Doch vermutlich liegt das daran, dass mein Dad mit meinem Verhalten und all meinen liederlichen Entgleisungen schon sehr vertraut ist. Und bis jetzt waren ihm diese auch meist egal, solange sie ihn nicht direkt betrafen. Er konnte also gewissermaßen davon ausgehen, dass sein Sohn irgendwann einmal in einer Entzugsklinik, einem Gefängnis oder sogar in beidem landen würde. Ich bin jedoch kein Dummkopf; in dieser Hinsicht habe ich vollends vom Genpool meiner Eltern profitiert. Ich sehe gut aus, habe meinen Abschluss summa cum laude geschafft und mich schnell im Business meines Dads – Maschinen zur Herstellung sämtlicher Verarbeitungsformen von Kunststoff, womit es mein Dad sogar zum Millionär gebracht hat – etabliert.

Seit meiner Kindheit hat er mir mehr oder minder ans Herz gelegt, mich in Richtung des Familienunternehmens zu orientieren. Es gab Zeiten, da war es mir ein Graus, mit meinem Dad zu arbeiten. Doch nach dem Studium und meinem einjährigen Auslandspraktikum war mir klar, dass ich doch irgendwann den Platz meines Dads einnehmen möchte. Obwohl es mein Vater niemals zugeben würde, fiel ihm, als ich ihm meine Entscheidung mitteilte, wohl ein riesiger Stein von Herzen. Diese Erleichterung sollte in den vier Jahren, die seit meiner Entscheidungsverkündung vergangen sind, gravierend geschmälert werden. Denn heute meint mein Vater gar, dass er nicht wisse, ob ich für den Posten denn überhaupt geeignet sei. Und das kann ich ihm, wenn man mein Leben und all seine Skandale überdenkt, nicht einmal vorwerfen.

Ich meine, es ist wohl, wenn ich an die Macht komme, nur eine Frage der Zeit, bis das Geschäft, für das sich mein Dad den Arsch aufgerissen hat, vor die Hunde geht.

Wäre es da nicht sinnvoller, eine verantwortungsvolle Person wie Francis Armstrong mit dem Posten zu besetzen?

Ja, wenn Francis Armstrong nicht solch ein aufgeblasener, lächerlicher Schwanzlutscher wäre, der neben mir wie eine Hyäne vor der nächsten Karrierestufe wartet. Mich würde es nicht wundern, wenn er eines Tages die Bremsleitungen meines Autos durchschneiden oder mir irgendein Gift in mein Getränk mischen würde.

Es gibt nur eine Möglichkeit, Armstrongs mögliche Beförderung zu verhindern: Ich muss Dads Wunsch nachgeben und ihm mein Pflichtbewusstsein beweisen.

Das ist allerdings leichter gesagt als getan, weil es bedeutet, mein gesamtes Leben und alles, was mir als Ausgleich zu meinem stressigen Berufsalltag dient, aufzugeben. Es bedeutet, mich mit Situationen herumzuschlagen, die bei mir allerhöchstens Brechreiz auslösen, anstatt, wie mein Dad sich erhofft hat, mich zu erfüllen.

Ich stelle mein Bier auf den dunkelbraunen Rattantisch und bette meinen Kopf auf das weiche Kissen hinter mir. Das Istana Resort ist die beste Adresse weit und breit. Hier wird einem eine Menge Luxus geboten, doch für mich ist das uninteressant. Ginge es nach mir, würde ich mich auch mit einem weniger feudalen Ambiente ebenso zufriedengeben. Ich bin keine Luxusbitch – was man von Glenn allerdings nicht behaupten kann. Dieser gönnt sich zu meiner Belustigung tatsächlich gerade eine Massage unter freiem Himmel. Ich werfe einen Blick in Richtung Shane, der neben mir liegt und die Nase in eine Zeitung gesteckt hat.

„Denkt er, wir bezahlen diese Massage?“, frage ich mit einer Spur Hohn in der Stimme.

Shane blickt auf, runzelt die Stirn und schüttelt den Kopf. „Er schläft ohnehin. Ich würde die Kleine aber bezahlen, wenn sie ihm einen Schwanz in seine Brusthaare rasiert.“

„Oh, ja. Da bin ich dabei“, erwidere ich und lache gedämpft.

Zu viert sind wir gestern Mittag aus London hergeflogen, um Glenn das Wochenende seines Lebens zu ermöglichen, ehe ihn die grausamen Krallen seiner Frau auf immer und ewig in die Fänge bekommen. Wir haben alle gemeinsam studiert, und seitdem sind wir ein eingeschweißtes Team. Wir können uns aufeinander verlassen. Die Jungs sind alle drei wie ich; ein Grund, weshalb mein Dad findet, dass sie allesamt jämmerliche Maden im Speck sind, die bisher noch absolut nichts im Leben erreicht haben. Gut, in Shanes Fall würde diese Definition durchaus zutreffen, da er bereits zum dritten Mal geschieden ist, zwei Kinder, aber keinen Job hat. Er hat sich nun eine reiche Frau geangelt, die für seinen Lebensunterhalt aufkommen wird. Schlampe ist das Wort, mit dem wir ihn daher oft aufziehen. Er verkauft seinen Körper, um seinen gewohnten Lebensstandard behalten zu können, anstatt sich einen Job zu suchen und seine Karriere anzukurbeln. Glenn stammt aus einer reichen Familie, er fing gemeinsam mit uns an, Management und Betriebswirtschaft zu studieren, um seiner Familie zu beweisen, wie viel er draufhat. Nach einem Jahr und einer ziemlich miesen Quote brach er ab und sattelte um. Jetzt arbeitet er in einer Anwaltskanzlei in London, doch sein Dad ist dennoch enttäuscht von ihm. Glenn gibt es zwar nicht zu, doch diese Enttäuschung macht auch ihm zu schaffen. Das ist sogar der Grund, wieso er sich weigert, ihn zu seiner Hochzeit einzuladen, was wohl einen endgültigen Bruch zwischen den beiden bedeutet.

Roy, der Vierte im Bunde, ist ein Überflieger. Er hat sein Leben als Einziger von uns total im Griff. Er ist zwar Single, doch bei ihm sucht man vergeblich nach skandalösen Ausrutschern – die mir dagegen andauernd passieren. Er trinkt nicht, raucht nicht und betreibt übermäßig viel Sport. Obwohl wir ihn immer verspotten, er würde seine Muskeln benutzen, um die Frauen von seinem kleinen Schwanz abzulenken, weiß ich genau, dass er auf sein Äußeres sehr viel weniger Wert legt, als es für Außenstehende wirken mag. Er ist loyal, verlässlich und sehr viel disziplinierter als wir anderen drei zusammen.

Auch jetzt rackert er sich lieber im Fitnessbereich des Hotels ab, als sich faul am Strand von der Sonne braten zu lassen. Immerhin hat er ja auch keinen Kater, der ihn wie uns nur noch dahinsiechen lässt.

„Wie geht es dir, Mann?“, erkundigt sich Shane.

Ich rümpfe die Nase und puste die Luft aus. „Ich bin tot. Dir?“

„Dito. Jedes Mal nehme ich mir vor, endlich die Finger vom Wodka zu lassen, aber immer wieder vergesse ich meinen Vorsatz, sobald ich in einer Bar stehe.“

Wir haben den Anfang unseres Kurztrips gestern Abend gebührend gefeiert. Obwohl wir eine Suite gemietet haben, wachten lediglich Roy und Glenn darin auf. Ich erwachte heute früh mit einer Hand an einen Bettpfosten gefesselt zwischen zwei Frauen, die es ganz offensichtlich auf meinen Schwanz abgesehen hatten. Ich erinnere mich zwar nicht an ihre Namen und kann mir nur ausmalen, wie besoffen ich sein musste, um mich an ein Bett fesseln zu lassen, doch der Sex heute Morgen entschädigte mich dafür vollends. Einer der vielen Vorzüge von Dreiern ist, wie ich meinen Freunden gegenüber schon beim Frühstück betont habe, dass die Frauen in eine Art Konkurrenzkrampf ausbrechen und alles geben, um es mir besser als die andere zu besorgen. Was uneingeschränktes Vergnügen und einen Megaorgasmus für mich bedeutet.

„Wo hast du überhaupt geschlafen?“, frage ich Shane, der daraufhin eine unschuldige Miene aufsetzt.

„Ich bin in einer Wohnung aufgewacht, die ungefähr so groß war wie mein Klo; außerdem hat es dort auch gestunken wie in einem. Es grenzt tatsächlich an ein Wunder, dass ich noch lebe; über alles andere will ich nicht sprechen.“

Shane scheint auf Mitleid aus zu sein, doch das bekommt er von mir nicht. Ich erinnere mich vage, ihm gestern Abend noch abgeraten zu haben, mit der Italienerin nach Hause zu gehen. Doch er hat nicht auf mich gehört, und es scheint, dass seine Nacht nicht mal annähernd so befriedigend war wie meine.

„Heute wird alles anders“, verspricht Shane bedeutungsvoll und widmet sich wieder seiner Zeitung.

Selbst wenn ich nun felsenfest behaupten würde, es heute ruhiger angehen zu lassen, weiß ich, wie der Tag letztlich wieder verlaufen wird. Spätestens um zehn am Abend werde ich stockbesoffen und, wenn es gut läuft, zugedröhnt sein. Um eins werde ich vielleicht das Glück haben, in irgendeinem Bett, sei es meines oder das einer Frau, zu liegen, um Letztere bis zur Besinnungslosigkeit zu vögeln. Alles in allem gleicht dieser Trip meinen Wochenenden in London, nur dass es hier wärmer ist und mir der Schädel am nächsten Tag deshalb noch höllischer dröhnt.

Ich rede mir ein, dass mir zu Hause dann noch immer genug Zeit bleiben wird, um mir Gedanken darüber zu machen, wie ich Dads Ultimatum erfüllen kann, ohne mein Leben dafür völlig umkrempeln zu müssen.

Das mädchenhafte Kichern meines Kumpels reißt mich aus meinen Gedanken rund um Dads Forderungen. Shane blickt kopfschüttelnd in die Zeitung, steht dann auf und baut sich neben meiner Liege auf.

„Was?“, frage ich gereizt, weil mir sein Grinsen auf die Nerven geht.

Er hebt die Zeitung, räuspert sich theatralisch und liest schließlich laut vor: „‚Die Urlaubszeit ist angebrochen. Für die meisten bedeutet das: Erholung, Freizeit und Sonne am Meer. Für Chad Pelton ergibt sich dadurch nur eine weitere Möglichkeit, sein Territorium auszuweiten. Wenn uns nicht alles täuscht, müssten das hier Nummer 33 und 34 sein. Das Wochenende hat jedoch erst begonnen.‘“

Mir dreht sich der Magen um, was nicht nur mit dem Scheißtext, den Shane gerade vorgetragen hat, zusammenhängt, sondern auch damit, dass ich mich ruckartig aufgesetzt habe und die Zeitung an mich reiße.

Eine gesamte Seite nimmt der Artikel ein, der mich sowohl auf dem Flughafen in London als auch gestern Abend in dem Club, in dem wir waren, zeigt. Die Bilder sind unscharf, doch sie geben die für die Betrachter wichtigsten Fakten in ausreichender Menge preis. Ein drittes Bild, etwas kleiner als die anderen beiden, hält den Moment fest, als ich mit den beiden Mädels verschwinde.

Fuck, ich bin am Arsch!

„Nummer 33 und 34? Die zählen doch nicht wirklich mit. Aber viel wichtiger ist doch die Frage: Stimmt das?“, will Shane indessen wissen und scheint von meiner irrsinnigen Pein nichts mitzubekommen.

Angewidert werfe ich die Zeitung auf den Tisch zu meiner Rechten und nehme einen ordentlichen Schluck Bier. „Keine Ahnung“, murmele ich, während ich mir Schaum von der Oberlippe lecke. „Ist mir auch egal.“

Shane runzelt die Stirn. „Warum machst du so ein Gesicht? Warst nicht du immer derjenige, dem die Geschichten, die die Presse verfasst, egal waren?“

Ich seufze und hebe die Beine von der Liege, um mich endgültig richtig hinzusetzen. „Ja, aber wenn mein Dad das sieht, zeigt es ihm, wie wenig ich seine Bitte beherzige. Es wird ihn in seiner Meinung über mich wohl nur noch mehr bestärken, und dieser Lackaffe Armstrong wird sich ins Fäustchen lachen.“

Bestimmt sitzt er gerade bei seinem Low-Carb-Brötchen mit fettfreier Salami und grinst dieses ätzende Arschlochgrinsen, während er den Artikel amüsiert und in aller Seelenruhe liest.

„Dein Dad kennt dich, Chad. Du warst schon immer so. Zwei Weiber mehr oder weniger werden an seiner Meinung auch nichts mehr ändern“, versichert mir Shane, aber er täuscht sich.

Noch vor einem Jahr wäre es meinem Dad bestimmt egal gewesen, was ich hier auf Sardinien mache. Doch seit Armstrong ins Spiel kam und mein Vater praktisch das Musterstück eines hörigen, braven Söhnchens und zukünftigen Chefs zu Gesicht bekam, wurde ihm klar, was für ein misslungener Loser ich bin.

„Doch, das werden sie. Verstehst du nicht, Shane, er ist der Meinung, dass so, wie mein Leben im Augenblick aussieht, ich nicht die geeignete Person bin, um seinen Posten als Geschäftsführer von P&L Industries zu besetzen. Ich habe lange gebraucht, aber ich bin nun zu dem Schluss gekommen, dass er verdammt noch einmal recht hat.“

Meine Freunde und ich mögen ab und zu einen draufmachen, doch genauso wie ich mich bei jeder Party auf Shanes Anwesenheit verlassen kann, kann ich auf seine Ratschläge zählen.

„Wie sieht mein Leben im Moment aus?“, frage ich fern jeglicher Rhetorik.

Shane runzelt zwar kurz die Stirn, meint dann aber: „Es besteht aus Arbeiten, Saufen, Kiffen und Ficken. Klingt für mich nach einem Fulltimejob.“

Ich schnippe mit den Fingern und strecke meinen Zeigefinger in seine Richtung. „Bingo. Bis auf das Erste sind all die anderen Dinge keine Attribute, mit denen man einen erfolgreichen und verlässlichen Geschäftsführer in Verbindung bringt. Ich meine, manchmal bin ich am Montagmorgen noch so voll, dass ich zu Mittag nicht mal mehr weiß, was ich zum Frühstück gegessen habe.“

Tja, das ist tatsächlich die Wahrheit. Ich bin zwar kein Alkoholiker, bloß habe ich inzwischen bemerkt, dass ich nur auf eine Art abschalten kann: indem ich saufe, kiffe und ficke.

„Oder wen du zum Frühstück hattest“, fügt Shane noch hinterlistig hinzu.

„Das ist der Punkt“, erkläre ich. „Mein Dad hat kein Problem, wenn ich meine wenigen verbliebenen Gehirnzellen kille. Er hat aber sehr wohl ein verdammtes Problem damit, wenn dank mir die Firma, die er und Clay mit Herzblut aufgebaut haben, flöten geht.“

Sein Freund Clay Livingston ist so etwas wie ein zweiter Vater für mich. Seine Frau wie die Mutter, die mir mein halbes Leben fehlt. Dad und Clay kennen sich seit ihrer Kindheit. Beide stammen aus gutbürgerlichen Verhältnissen und haben während ihres Studiums die Nächte durchgearbeitet, um ihren Familien nicht auf der Tasche zu liegen. Sie hatten eine Idee, die sie verfolgten und die sie irgendwann in die Tat umsetzten. Aus dem kleinen Zwei-Mann-Betrieb wurde innerhalb kurzer Zeit ein riesiges Unternehmen mit unzähligen Mitarbeitern und einem Marktwert, der sich sehen lassen kann. Clay hat zwei Töchter, Kristina und Hailey, die beide andere berufliche Wege gewählt haben. Kristina ist Ärztin und Hailey Lehrerin. Da meine Schwester vor einigen Jahren bei einem Autounfall starb – was ich als Auslöser für mein Absacken sehe –, bin ich der einzige leibliche Erbe von P&L Industries, der sich im Geschäft auskennt, sollte Dad und Clay etwas passieren.

Daher lastet nun dieser enorme Druck auf meinen Schultern. Ich werde derjenige sein, der die nächste Generation anführt, und das wird schon sehr bald passieren, denn Dad und Clay planen bereits ihre Rente. Sie haben lange und viel gearbeitet und wollen nun endlich etwas Abstand gewinnen und ihren wohlverdienten Ruhestand genießen. Doch solange ich mein Leben nicht auf die Reihe bekomme, werden sie mir wohl beide kaum zutrauen, einen Millionenkonzern zu leiten.

„Alles, was er fordert, ist, dass ich Beständigkeit in mein Leben bringe. Meinem Vater würde es schon reichen, wenn ich einen Monat lang nüchtern bin. Doch wir wissen alle, dass das kaum machbar ist. Es gibt nichts, was mich an einem langweiligen Leben ohne Alkohol und Frauen reizen würde.“

„Dann wirst du diesem Armstrong also den Vortritt lassen?“

„Was? Nein! Niemals“, schnauze ich Shane an. „Es ist doch so: In jedem Vertrag gibt es ein Schlupfloch, eine Form der Ausdehnung des Erlaubten. Ich weiß, dass ich den Laden irgendwie schmeißen werde. Auch wenn es nicht so aussieht, ich fühle mich P&L Industries sehr verbunden. Ich würde niemals zulassen, dass der Laden vor die Hunde geht. Nur lässt sich meine Überzeugung wohl nicht mit der meines Dads in Einklang bringen.“

Shane betrachtet mich prüfend und kratzt sich schließlich auf dem Kopf. „Du planst doch etwas Hässliches; das sehe ich dir an. Wie damals, als du dachtest, diese Asiatin sei von dir schwanger, und du daher alles getan hast, damit sie mit dieser Information nicht direkt zur Presse läuft.“

Ein übles Kapitel, auf das ich nicht gerne zurückblicke. Zum Glück stellte sich heraus, dass das Baby nicht von mir war – Gentest sei Dank. Doch die Zeit ihrer Schwangerschaft war wie ein Gang über Glasscherben. Ich habe dieser Tussi eine Menge Kohle gezahlt, um sie am Reden zu hindern.

„Ich überlege noch“, erwidere ich, ohne weiter auf das Thema dieser möglichen Vaterschaft einzugehen.

„Was schwebt dir denn vor?“, fragt Shane.

Ich hebe meine rechte Hand und strecke den Daumen hoch. „Also, da wäre mal die Möglichkeit, tatsächlich runterzukommen, nicht mehr wegzugehen und mich besser auf Meetings und Kongresse vorzubereiten.“

Shane wackelt mit dem Kopf, was ich als Infragestellung oder gar Verneinung meines Vorschlags deute.

Er hat recht: Ehrlichkeit war noch nie mein Spezialgebiet.

„Mein Dad plant seinen Pensionsantritt für nächstes Jahr. Bis dahin gehört noch eine Menge geregelt: Verträge müssen aufgesetzt, Rechte übergeben oder neu verteilt werden. Wenn das durch ist und ich mich bis dahin bemüht und ausgezeichnet habe, dann hat er ohnehin keinen Einfluss mehr auf mich und mein Handeln. Natürlich bleibt er Teil der Firma, doch er kann mich nicht mehr von seinem Stuhl schmeißen.“

Es ist das erste Mal, dass ich diese Idee, die mir seit einer Woche im Kopf herumgeistert, laut ausspreche.

Doch da Shane nicht so wirkt, als verstünde er, was ich meine, hole ich Luft und setze zu einer weiteren Erklärung an. „Verstehst du nicht, Mann: Um Armstrong zu verdrängen, bleibt mir Pi mal Daumen ein Jahr Zeit. Ich habe nicht vor, mich wirklich zu bessern, ich muss nur meinem Dad eine vermeintliche Verbesserung in meinem Leben präsentieren, die all meine üblen Aktionen, die zweifelsohne noch folgen werden, wettmacht.“

„Und das wäre …?“, will Shane wissen, und ich spüre, dass er der Sache deutlich skeptisch gegenübersteht. Er ist eben ein ehrlicher Typ.

„Ich … ich weiß, dass meine Mum einen riesengroßen Schaden in mir ausgelöst hat, als sie damals verschwunden ist“, beginne ich und versuche die Enttäuschung, die Wut und den Schmerz, die mich beim Gedanken an die Frau überkommen, die mich zur Welt brachte, zu verdrängen.

Eigentlich denke ich so gut wie nie mehr an sie. Seit sie mich, meine Schwester und meinen Dad vor über 22 Jahren verlassen hat, reden wir kaum noch über sie. Ich war damals sieben, und ich erinnere mich noch, wie mir mein Dad erklärte, dass meine Mutter mit ihrem neuen Freund nach Schweden gezogen ist. Ich habe diesen Freund nie zu Gesicht bekommen, habe nicht verstanden, wieso meine Mum einen anderen Mann braucht, wenn sie doch meinen Dad hat. In den ersten Wochen dachte ich noch, sie würde zu uns zurückkommen. Doch die Monate vergingen, und am Tag meines achten Geburtstags, als ich wartend auf der Treppe im Flur saß, zerbrach etwas in mir, als sie auch da nicht zu uns kam. Sie rief nicht an, schickte keinen Brief, keine Geschenke. Kein einziges Mal habe ich sie mehr gesehen oder mit ihr gesprochen. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt.

Mit den Jahren verlor sie mehr und mehr an Bedeutung, was wohl lediglich Selbstschutz war. Vielleicht war ich auch noch zu klein und fand mich daher leichter mit ihrem Verschwinden ab. Meine Schwester hingegen, die um drei Jahre älter ist als ich, zerbrach gänzlich am Verlust unserer Mum. Sie schaffte es noch gut zehn Jahre weiterzumachen, rutschte dann aber endgültig ab. Dad tat alles, um sie zu retten. Er investierte in teure Psychotherapien und verbrachte Nächte neben ihrem Bett, um für sie da zu sein, wenn es ihr schlecht ging. Doch nur eine Woche, nachdem sie die psychiatrische Klinik verlassen hatte, fuhr sie mit dem Auto mit voller Geschwindigkeit gegen einen Brückenpfeiler. Sie hinterließ einen Abschiedsbrief, den ich seit ihrem Tod wohl schon tausendmal gelesen habe. Theresa hat darin unserer Mutter verziehen – ich kann das aber nicht.

Ich machte meine Mum für Theresas Tod verantwortlich. Als sie nicht einmal zur Beerdigung kam, habe ich jegliches Vertrauen in die Menschen verloren. Ich wusste zwar, dass ich stärker sein musste, als ich mich fühlte, doch mir war mein Leben auf einmal völlig egal. Und das scheint bis heute so geblieben zu sein. Ich habe mir angewöhnt, auf Zwischenmenschliches, Vertrauen, Liebe und positiven Rückhalt zu verzichten. Ich habe mich selbst von anderen isoliert, und mein Leben ist voller Ablenkungen, um meinen Schmerz, der in mir drin steckt, zu übertünchen.

Ich weiß genauso gut wie mein Dad, dass ich geradewegs dabei bin, mich zu vernichten. Irgendetwas wird mich irgendwann umbringen, und das eher früher als später. Seien es die Drogen, die ich ab und an konsumiere, um mal so richtig abschalten zu können, oder der Alkohol, der Hauptbestandteil meines Blutes, übernimmt die Rolle des Henkers.

Mein Dad war zwar immer ein guter Vater, doch er hatte stets viel zu wenig Zeit für mich und meine Schwester. So übernahmen die Aufgaben der Eltern unsere Nannys und Lehrer. Sie lehrten uns alles, was wir fürs Leben brauchten, nur fehlte eben dieser eine Baustein, den andere Kinder natürlicherweise erfahren: Liebe. Lediglich in den Ferien, die ich bei Helen Livingston auf Ham House verbrachte, fühlte ich mich geborgen. Sie ist bis heute wie eine Mutter für mich, und mit ihren beiden Töchtern, allen voran Kristina, verbindet mich so etwas wie Geschwisterliebe. Doch nach Theresas Tod konnte ich auch auf Ham House nicht mehr abschalten. Einfach alles erinnerte mich an meine große Schwester, die nicht mehr da war.

„Mein Dad wünscht sich, dass ich eine Person habe, die für mich da ist, wenn er es nicht mehr ist. Er weiß, dass ich dabei bin, mich selbst zu ruinieren“, höre ich mich sagen und bemerke, wie sich meine gerade noch so lockere Stimmung in eine bedrückte verwandelt hat. „Aber ich kann nicht. Du kennst mich, Shane, ich kann niemanden so weit an mich heranlassen; schon gar nicht eine Frau. Doch das ist Dads Wunsch. Er denkt, dass mich die Frau, die ich vielleicht liebe, von all meinen Exzessen abbringen wird; was auch stimmen mag. Aber eine Beziehung ist einfach nicht das, was ich möchte. Wenn ich das jemals möchte“, komme ich zu einem Ende und reibe mir mit der Handfläche über mein Gesicht.

„Verstehe, ja“, erwidert Shane und mustert mich. „Du hast vorhin gesagt, dass du die Legalität der Regeln so weit ausweiten möchtest, dass sie noch im grünen Bereich liegen. Wie willst du das machen?“

Das ist die Frage.

Eine Millionen-Pfund-Frage, die ich mir unentwegt stelle.

„Ich habe keinen blassen Schimmer“, antworte ich missmutig und leere mein Glas.

Während Shane und ich einander stumm gegenübersitzen, betrachte ich die Narbe an meinem Daumen, die Kristina vor zig Jahren mit einem heißen Buttermesser verursacht hat.

„Ich spring mal in den Pool“, verkündet Shane und steht auf. „Kommst du mit?“

Noch immer blicke ich auf meinen Daumen und schüttele instinktiv den Kopf. Ich bin zu sehr mit meinen Gedanken beschäftigt und versuche die gedanklichen Fäden, die vor mir baumeln, miteinander zu verknüpfen. Die Idee, die mir gerade gekommen ist, ist zum Haareraufen und so lächerlich, dass ich bezweifele, schon nüchtern zu sein.

Kristina und ich waren als Kinder wie Pech und Schwefel. Uns verband etwas, das sich nur schwer beschreiben lässt. Es war eine stumme Zusammengehörigkeit. Sie war meine beste Freundin und ist es wohl bis heute, wie ich schmunzelnd feststelle. Sie ist wie eine kleine Schwester für mich. Bei ihr fühle ich mich nach wie vor geborgen.

Es stellt sich gar nicht erst die Frage, ob Kristina eine Idee hat, wie ich meinen Dad von meinen guten Absichten überzeugen kann, sondern vielmehr lautet die Frage, ob nicht sogar sie die Lösung des Problems ist. Es wäre jedoch nicht das erste Mal, dass sie mir aus einer Klemme hilft und dabei ihren Hals riskiert.

Doch kann ich sie um so etwas bitten, wie es mir nun vorschwebt?

Sie hat selbst gerade eine Scheidung hinter sich gebracht. Hat ihre Wohnung aufgegeben, ist zu ihren Eltern nach Ham House gezogen, um sich von dem üblen Scheidungskrieg zu erholen. Ich habe ja nie viel von ihrer Ehe mit diesem arroganten Arsch gehalten, dessen Untreue man zehn Meilen gegen Wind riechen konnte. Ich habe ihr meine Meinung auch kurz vor der Hochzeit mitgeteilt, was in einem bösen Wortgefecht und ihrer Anschuldigung gegen mich, ich sei ein eifersüchtiger Idiot, endete. Sie blieb stur, heiratete den Mistkerl – und nach nur einem Jahr Ehe reichte sie die Scheidung ein.

Ich erinnere mich noch genau, wie sie mich ansah, als sie vor meiner Tür stand. Ihre Augen waren geschwollen und rot, ihre Haare zerzaust und nass. Sie war am Ende. Wir saßen auf meiner Couch und redeten fast die ganze Nacht. Wir bestellten uns Pizza, tranken viel zu viel Wein, doch ich glaube, dass ich Kristina vor dem Loch, in das sie zu fallen drohte, bewahrt habe. Einfach nur, indem ich da war und ihr zuhörte.

Als Gegenleistung holte sie mich einige Zeit später mitten in der Nacht aus Chelsea ab. Ich hatte bis auf meine Shorts nichts mehr am Leib und drohte zu erfrieren, weil mich der Freund meiner damaligen Außerwählten aus der Wohnung gejagt hatte, nachdem er überraschend nach Hause gekommen war. Ich lief ins nächste Pub, wählte Kristinas Nummer und wartete reumütig in einer Ecke auf sie. Auf der Fahrt zu meiner Wohnung wusch sie mir den Kopf, wie nur sie es kann. Ich sagte nichts, ließ ihren Redeschwall über mich ergehen – und trotzdem lächelte sie, als sie mich bei mir daheim aussteigen ließ und mir ihren Zweitschlüssel zu meiner Wohnung in die Hand drückte.

„Du bist ein Idiot, Chad“, sagte sie zum Abschied nur und schüttelte den Kopf.

Ich grinste, bedankte mich ziemlich wortkarg und stieg aus. Ich wusste, dass sie mich nicht wirklich für einen Idioten hielt, sondern bloß sauer war, weil ich sie aus dem Bett geholt hatte.

Aber ich wusste auch, dass sie mich aus jeder Scheiße retten würde; egal, was es koste.

Ob es ihr wohl auch ganz egal war, was ich von ihr verlange?

Sie ist die einzige Frau, die ich an mich heranlasse und die den wahren Chad kennt. Ich muss jedoch erst herausfinden, ob ich unsere Freundschaft auf eine solch harte Probe stellen darf.

ZWEI

Kristina

Zum Geburtstag meines Dads drehen alle in der Familie Livingston durch. Das ist so sicher wie das Amen im Gebet, der Abend nach dem Tag, die Flut nach der Ebbe oder der Beginn meiner Menstruation um genau 12:30 Uhr. Würde es in unserer Familie so etwas wie ein Grundgesetzbuch geben, stünde darin, dass man an Dads Geburtstag völlig den Verstand verlieren und sich wie wild in Vorbereitungen für seine Party stürzen muss.

Mein Dad liebt große Partys; vor allem, wenn er im Mittelpunkt der Feierlichkeiten steht und ein Geschenk nach dem anderen bekommt. Doch wohl am meisten geht es ihm darum, seine Familie und Freunde gemeinsam an einem Ort zu versammeln. Früher verstand ich nie so richtig, wieso er darauf solch großen Wert legte, doch als Theresa starb, begriff ich, was meinen Dad Jahr für Jahr zu dieser Tradition bewegte.

Ich nehme mir die Zeit und setze mich auf die oberste Stufe der Terrasse mit herrlichem Blick über den weitläufigen Garten. Es ist Blütezeit. Der Lavendel duftet, die Rosen strahlen in einem tiefen Rot, und die Hortensien in den Blumentrögen prahlen mit ihrem saftigen Zartblau. Ich atme tief durch und klemme mir den Korb mit ein paar Blumen, die ich abgeschnitten habe, unter beide Arme. Ich muss zugeben, dass mein Leben, seit ich wieder auf Ham House wohne, merklich entschleunigt wurde. Es ist ruhiger geworden, ohne Michaels gesellschaftliche Pflichten ständig erfüllen zu müssen, ohne seinen Hang zu notorischer Perfektion und den unzähligen Überstunden, die er immer gemacht hat.

Letztes Jahr zu Dads Geburtstag waren wir gerade frisch verheiratet. Ich dachte, dass Michael der Mann meines Lebens sei. Ich meine, wir haben den gleichen Job, was bedeutete, dass wir wussten, was der andere leistet und wie erledigt man nach einer Nachtschicht in der Notaufnahme ist. Doch Michael war nicht der Mittelpunkt meines Lebens. Vielleicht hatte er recht, als er meinte, ich wollte ihn zu jemandem formen, der er nicht ist und auch nicht sein kann. Als wir meiner Familie von der Verlobung erzählten, meinte meine Mutter, dass ich viel zu jung sei, um zu heiraten. Ich solle mein Leben erst einmal allein richtig genießen. Doch ich glaubte ihr nicht. Genauso wenig wie allen anderen; allen voran Chad, der Michael stets heimlich mit einem abwertenden Blick bedachte.

Doch heute muss ich ihm recht geben: Michael war ein Arschloch, der einfach nur eine Ablenkung suchte und sie in mir fand. Er ist dreizehn Jahre älter als ich, hat bereits zwei Kinder – und mir war die Rolle als Ersatzmutter einfach zu viel. Ich meine, ich bin 25, da habe ich weder Lust noch die Erfahrung, mich mit den Launen eines Teenagers auseinanderzusetzen, der in mir lediglich die böse Stiefmutter sieht.

Unsere Ehe mag von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen sein, doch sie hat mich gelehrt, ab sofort besser auf mein Bauchgefühl zu vertrauen.

Obwohl ich nun wieder bei meinen Eltern wohne, ist diese Nähe das Einzige, was ich im Augenblick brauche und haben will. Meine Eltern geben mir Halt und lassen mich diese Enttäuschung von Tag zu Tag etwas mehr vergessen. Trotzdem birgt das Leben im Haus meiner Eltern auch einige Nachteile. Vom langen Arbeitsweg mal abgesehen, hat meine Mum nun die Möglichkeit, sich in all meine Angelegenheiten einzumischen. Ich habe das Gefühl, plötzlich wieder ein Kind zu sein.

Fest steht: Ich muss mich von Ham House lösen – wieder einmal – und mir eine Wohnung in London suchen. Ich muss neu anfangen und die Vergangenheit ruhen lassen.

„Ah, hier bist du!“, ertönt da die aufgebrachte Stimme meiner Mum hinter mir.

Ich drehe mich, Böses ahnend, um.

Meine Mum schreitet wie eine Offizierin über die Terrasse und bleibt mit verschränkten Armen hinter mir stehen. „Ich habe dich schon überall gesucht.“

Ich spare mir ein tiefes Seufzen, auch wenn es mir praktisch schon im Halse steckt. „Tut mir leid, Mum. Ich war nur schnell ein paar Blumen pflücken.“

„Wofür?“, fragt sie stutzig.

Ach ja, das Diktat meiner Mum fordert die strenge Einhaltung ihrer Pläne, was die Dekoration, das Essen und die passende Musik anbelangt. Und wer, bitte sehr, gibt sich schon mit einem Strauß Wiesenblumen zufrieden?!

„Für Dad“, antworte ich. „Ich bin daran vorbeigegangen und dachte, sie würden ihm gefallen.“

„Gut“, sagt sie und beäugt argwöhnisch den Inhalt meines Korbs. „Aber du stellst sie nicht auf den Tisch im Hof.“

„Nein, das würde ich mich doch niemals trauen.“

Ein kleines Lächeln ziert die Mundwinkel meiner Mum, als sie sich seufzend neben mich setzt. „Ich freue mich auf heute Abend“, verkündet sie aufgeregt.

„Ich mich auch“, erwidere ich und zeichne das geflochtene Muster des Korbes mit meinem Daumen nach.

„Ich kann verstehen, dass du in den letzten Wochen nach deinem Umzug hierher mit dir selbst zu tun hattest. Du hast dich vollends in deine Arbeit gestürzt, Kristina – aber heute Abend sollst du mal wieder richtig Spaß haben und unter Leute kommen. Das ist mir sehr wichtig“, meint meine Mum und legt ihren Arm um mich.

Doch da werden all meine Antennen sofort ausgefahren. Seit ich geschieden bin, glaubt meine Mum, wieder den Hauptgrund für ihre Existenz gefunden zu haben. Es scheint ihr die allergrößte Freude zu bereiten, mich ledigen, jungen Männern vorzustellen. Und ich meine dabei nicht eine vorsichtige Art des Vorstellens, wie es normalerweise der Fall ist oder zumindest sein sollte. Nein, sie schiebt mich einfach zwischen sich und ihren für mich Auserkorenen und stellt mich stolz als ihre Tochter Kristina, die eine unglückliche Ehe mit soeben erfolgter Scheidung hinter sich hat und Ärztin ist, vor. Bis heute hatte sie damit weder Erfolg, noch scheint sie zu ahnen, dass Singlemänner in meinem Alter spätestens bei der Erwähnung meines Berufs das Weite suchen – zu Recht, wie ich finde.

Bei Michael und mir hat es am Anfang auch nur deshalb funktioniert, weil wir uns in der Arbeit öfter sehen konnten. Denn mein Arbeitstag ist üblicherweise lang, und ich habe danach meist keine Lust mehr, ins Kino oder essen zu gehen.

Nun denkt meine Mum – und das nehme ich ihr nicht einmal übel –, dass ich mental und moralisch aufgebaut und wieder in die Gesellschaft eingegliedert gehöre. Doch im Augenblick will ich das einfach nicht. Ich will nur meine Freiheit genießen – wie ich es vor einem Jahr ihrer Meinung nach sogar schon hätte tun sollen. Ich weiß aber auch, dass ich das nur kann, wenn ich zurück in die Stadt ziehe.

„Du erinnerst dich doch an den Sohn meiner Freundin Amy?“, meldet sie sich wieder zu Wort.

Ich verdrehe innerlich die Augen und kann nur hoffen, dass ihr bald wieder einfällt, wie dringend sie doch bestimmt bei den Vorbereitungen zur Party gebraucht wird.

„Ich erinnere mich grob an ihn, ja.“

„Er ist Staatsanwalt, weißt du?“

„Hab ich gehört“, murmele ich und ziehe die Stängel der Blumen gerade. „Was willst du mir mit diesen Informationen sagen, Mum?“

Sie spielt die Ertappte, presst ihre Handfläche gegen ihren Brustkorb und zieht ihre Augenbrauen erstaunt hoch. „Ich will dir doch nur sagen, dass er ein attraktiver, erfolgreicher und eleganter Mann ist.“

Ich grinse und fühle mich bestätigt. „Und lass mich raten: Er wird heute Abend kommen – und gaaanz zufällig sitzen wir nebeneinander?“

Meine Mum sagt nichts, was ich erneut als Bestätigung auffasse.

„Ich brauche keine Kupplerin, Mum. Ich brauche nicht einmal einen Mann, um glücklich zu sein; diese Illusion muss ich dir leider nehmen.“

Sie seufzt, setzt aber zu einem weiteren Überredungsversuch an. „Ich finde nur, dass du jemanden brauchst, der dich von Michael ablenkt; den Schmerz lindert. Verstehst du, Kristina?“

„Ich muss meine Scheidung alleine verarbeiten“, halte ich dagegen. „Es ist lieb von dir, dass du dir Sorgen machst, aber ich bin kein kleines Kind mehr, Mum.“ Mit diesen Worten erhebe ich mich, strecke meine linke Hand nach meiner Mum aus und ziehe sie ebenfalls hoch.

Sie lächelt sanft und deutet mit dem Kinn zurück zum Haus. „Ich glaube dir das jetzt einfach einmal, möchte aber, dass du noch mal genau in dich hineinhörst und dann das machst, was wirklich gut für dich ist.“

Mit diesem Auftrag lässt sie mich stehen, und ich frage mich, ob ich seit meiner Scheidung tatsächlich jemals in mich reingehört habe. Denn am Anfang war es mir nur darum gegangen, so schnell wie möglich weg von Michael zu kommen. Er war mir nicht nur fremd geworden, sondern hat mir schlichtweg das Herz gebrochen. Mir wurde klar, dass ich in der Beziehung zu ihm zu viel gegeben hatte. Ich wollte einfach nur, dass wir ein perfektes Paar abgeben. Glücklich sind. Ich wollte Michaels Achtung, seinen Respekt und nicht zuletzt seine ungeteilte Liebe haben.

Ich habe mir jetzt ganz fest vorgenommen, mir genügend Zeit zu gönnen, um wieder neu anzufangen. Ich möchte unbedingt mein gebrochenes Herz heilen lassen, bevor ich mich in eine neue Beziehung oder ein sonstiges Abenteuer stürze. Nie habe ich gedacht, dass ich so etwas jemals sagen würde, aber: Vorerst habe ich die Schnauze von der Männerwelt voll.

Nach den nervenaufreibenden Vorbereitungen für die Party entwickelt diese sich jedoch prächtig. Das Essen ist weder kalt noch versalzen. Die Getränke sind gekühlt und in ausreichenden Mengen vorhanden. Nachdem Dads Geburtstagskuchen mit den obligatorischen zehn Kerzen darauf angeschnitten und verteilt wurde und es nun draußen langsam dunkel wird, beginnt sich meine Mum zu entspannen. Das bedeutet, sie steht nicht mehr dauernd auf, um in die Küche zu hasten oder den Getränkevorrat zu prüfen. Sie sitzt ruhig neben meinem Dad, während ich sie grinsend von meinem Platz aus beobachte.

Wie jedes Jahr wurde ein großes weißes Zelt in unserem Garten aufgebaut, runde Tische mit weißen Tischdecken und mit auf Hochglanz polierten Gläsern darauf wurden nach einem harmonischen Konzept verteilt. Der Blumenschmuck ist wie jedes Jahr einfach nur schön, das Licht warm und heimelig, und ich freue mich schon jetzt auf die Band, die in Kürze ihren Auftritt haben wird. An unserem Tisch sind meine Schwester mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern sowie meine Eltern, Jerry, Chad und ich versammelt. Ich kann nur froh sein, dass meine Mum von ihrem Plan, mich diesem Staatsanwalt vorzustellen, bis jetzt abgesehen hat und ich zwischen Chad und meinem Schwager Tom sitzen darf. Obwohl sich die beiden seit einer gefühlten Stunde über öden Fußball unterhalten, ist mir dieses Thema immer noch lieber als irgendwelche noch öderen Komplimente eines mir vollkommen fremden Mannes, der mich so oder so nur ins Bett kriegen will.

Danke, kein Interesse.

Und vermutlich ist es Chads Gegenwart, die mir heute besonders guttut. Denn wirklich alles, was er von sich gibt, ist irgendwie komisch, unterhaltsam und einfach nicht allzu ernst zu nehmen. Er verstand es immer schon, mich zum Lachen zu bringen. Ich rechne es ihm außerdem hoch an, dass er nach meiner Scheidung nur ein einziges Mal über Michael gesprochen hat. Er meinte, Michael sei eine armselige Arschgeige, der mich nicht verdient habe, und ich solle froh sein, ihn nicht mehr länger aushalten zu müssen. Ich wusste, dass Chad nie allzu positiv auf Michael zu sprechen gewesen war, doch im Grunde hatte er recht. Danach aber hat er kein Wort mehr über ihn verloren. Vermutlich weiß er, wie schwer es mir fällt, mich heute zum ersten Mal der Öffentlichkeit zu stellen, nachdem ich die Scheidung nun endlich hinter mich gebracht habe. Das Getuschel der Leute ist nicht zu überhören, und ich bekomme natürlich mit, wie sie auf einen dramatischen Zusammenbruch von mir warten. Ihre Blicke und ihr Getratsche sind mir leider nicht egal. Sie hinterlassen innerliche Spuren und verunsichern mich. Daher muss ich einen Weg finden, damit fertigzuwerden.

„Hast du schon eine Wohnung in Aussicht, oder willst du dich gleich gar nicht erst vom Rundumservice deiner Mum verabschieden?“, fragt mich Chad, nachdem Tom von meiner Schwester zum Klodienst mit ihrer kleinen Tochter beordert wurde.

Der Service meiner Mum ist tatsächlich lückenlos. Sie macht mir Frühstück, kümmert sich um meine Wäsche, meine Einkäufe und achtet auf meine Ernährung. Doch in Wahrheit bin ich viel zu alt für diese Behandlung – so angenehm sie auch ist, zumindest eine Zeit lang. „Ich muss mich erst mit dem Gedanken anfreunden, in Bälde in einer Bruchbude hausen zu müssen, denn die Mietpreise haben mich einfach umgehauen. Und da ich einen Fulltime-Job habe, fehlt mir die Zeit, um mich nebenbei als Callgirl zu verdingen.“

Grinsend schiebt er sich das letzte Stück Torte in den Mund und kaut dann andächtig. „Du verdienst doch bestimmt nicht schlecht, vielleicht solltest du dich daher einfach mit einer normalen Wohnung zufriedengeben.“

„Das tue ich ja auch.“

„Aber …?“, fragt er.

„Nichts aber. Ich will nur nicht allein für meine Wohnung arbeiten gehen. Ich muss mich wohl erst noch ein wenig umsehen, um was Passendes zu finden.“

Erneut grinst er und lehnt sich zurück. „Gib’s zu, dass doch der Service schuld ist. Mir kannst du keinen Bären aufbinden.“

„Dummkopf“, murmele ich und streiche über meinen Bauch. Ich habe eindeutig zu viel gegessen. „Kommst du kurz mit hinaus? Ich habe das Gefühl, mich ein wenig bewegen zu müssen, bevor ich vor lauter Torte und Steak explodiere.“

Chad betrachtet mich kurz auf eine Art, die ich nicht deuten kann. Er zögert, doch gerade, als ich alleine gehen will, nickt er und steht auf.

„Klar, lass uns etwas rausgehen.“

„Du musst nicht, wenn du lieber hierbleiben möchtest“, versichere ich ihm, doch er schüttelt den Kopf und steuert bereits auf den Ausgang des Zeltes zu. Ich folge ihm und erwidere noch kurz das Lächeln meiner Mum.

Draußen ist es kühler geworden, doch ich bin froh darüber und sauge die Luft tief in meine Lungen. Ohne ein Wort der Verständigung schlendern Chad und ich in Richtung Lavendelgarten, der mit seinen spiralförmig angelegten Beeten und der Bank am anderen Ende schon immer einen besonderen Reiz auf mich ausübte. Eine Weile gehen wir schweigend nebeneinander her, jeder Schritt ist eine Wohltat für meinen Körper. Aber es ist auch Chads Nähe, die ich genieße. Als Kinder haben wir so viel Zeit miteinander verbracht, dass er mir gefühlsmäßig oft näher war als meine Schwester. Wir hatten Geheimnisse miteinander und unsere Abenteuer, die uns bis heute verbinden und über die wir nach wie vor liebend gerne reden. Später, als wir älter wurden, gingen wir unterschiedliche Wege. Chad stieg in die Firma unserer Väter ein, während ich mich entschloss, Medizin zu studieren. Aber immer wieder zog es mich zu ihm. Ich verbrachte lieber einen Abend mit ihm vor dem Fernseher, anstatt mit Kollegen um die Häuser zu ziehen. Er bedeutet mir so viel mehr, als andere Menschen es wohl je schaffen könnten, und das war auch der Grund, warum ich ihm als Erstem vom Ende meiner Beziehung mit Michael erzählt habe.

In den letzten Jahren habe ich mir aber Sorgen um Chad gemacht. Seit dem Tod seiner Schwester hat er sich vollends ins Partyleben gestürzt. Er glänzt nicht mehr länger mit beruflichen Erfolgen, sondern rühmt sich nur noch mit Weiber- und Saufgeschichten. Die Dinge, die ich nun aus der Zeitung über ihn erfahren muss, kann ich überhaupt nicht in Einklang mit dem Mann bringen, den ich früher kannte. Ich weiß, dass Theresas Tod einen Teil von ihm zerstört hat, und diesen Umstand versucht er nun wohl mit regelmäßigen Abstürzen zu überdecken. Er weigert sich jedoch, meine Ratschläge anzunehmen. Ich muss auch zugeben, dass ich überrascht bin, wie lange sich sein Dad dieses Theater schon ansieht, ohne dass Chad Konsequenzen daraus tragen muss. Für mich wird er wohl immer mein bester Freund bleiben. Gleichzeitig versuche ich die Bilder, die letzte Woche von ihm auf Sardinien gemacht wurden, mit dem Mann, der gerade neben mir geht, zu vergleichen.

„Glenn hat also seinen Junggesellenabschied gefeiert?“, frage ich vorsichtig, um ein heikles Thema anzuschneiden.

---ENDE DER LESEPROBE---