Mrs Dalloway - Virginia Woolf - E-Book

Mrs Dalloway E-Book

Virginia Woolf

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Eine der wenigen echten Innovationen in der Geschichte des Romans.« The New Yorker Ein Junitag im Jahre 1923. Ein einziger geschäftiger Tag im Leben von Clarissa Dalloway, unterbrochen nur von den Schlägen des Big Ben, und gleichzeitig die vielstimmige Erzählung eines ganzen bewegten Daseins, ein Panorama einer Gesellschaft und einer der bedeutendsten und aufregendsten literarischen Meilensteine der Moderne.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 340

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Virginia Woolf

Mrs Dalloway

Roman

 

Aus dem Englischen von Walter Boehlich

 

Über dieses Buch

 

 

Mit seinen kühnen Sprüngen in die Bewusstseinsströme der Figuren zählt »Mrs Dalloway« zu den Klassikern der Moderne. Ob erotische Phantasien beim Einkauf in der Stadt, ob Todesängste oder die Erinnerung an alte Träume – was den Roman so einzigartig macht, ist Virginia Woolfs wacher Sinn für die Brüchigkeit unserer Existenz.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.

Inhalt

Mrs Dalloway

Anhang

Nachbemerkung

Mrs Dalloway sagte, sie wolle die Blumen selber kaufen. Denn Lucy hatte genug zu bestellen. Die Türen würden aus den Angeln gehängt werden; Rumpelmayers Leute kämen. Und dann, dachte Clarissa Dalloway, was für ein Morgen – frisch, wie geschaffen für Kinder am Strand.

Was für ein Vergnügen! Was für ein Sprung! Denn so war es ihr immer vorgekommen, wenn sie, mit einem leichten Quietschen der Angeln, das sie jetzt hören konnte, die Fenstertür zum Garten aufgerissen hatte und in Bourton[1] ins Freie gesprungen war. Wie frisch, wie ruhig, stiller natürlich als jetzt, die Luft am frühen Morgen war; wie der Klaps einer Welle; der Kuss einer Welle; eiskalt und schneidend und doch (für ein Mädchen von achtzehn, das sie damals war) feierlich, mit dem Gefühl, das sie an der offenen Tür stehend hatte, etwas Bestürzendes werde sich gleich ereignen; auf die Blumen blickend, auf die Bäume mit dem entweichenden Dunst und die steigenden und sinkenden Krähen, stehend und blickend, bis Peter Walsh sagte »zum Grübeln ins Gemüse« – war es das? – »Menschen sind mir lieber als Blumenkohl« – war es das? Er musste es eines Morgens beim Frühstück gesagt haben, als sie auf die Terrasse getreten war – Peter Walsh. Er würde dieser Tage aus Indien zurückkehren, im Juni oder Juli, sie hatte vergessen, wann, denn seine Briefe waren schrecklich fade; seine Bemerkungen waren es, an die man sich erinnerte; seine Augen, sein Taschenmesser, sein Lächeln, seine Verdrossenheit und, wenn abertausend Dinge längst entschwunden waren – wie seltsam war das! –, ein paar Bemerkungen wie die über Kohlköpfe.

Sie stockte ein wenig am Kantstein, bis Durtnalls Lieferwagen vorbeigefahren war. Eine bezaubernde Frau, meinte Scrope Purvis von ihr (er kannte sie, wie man Leute kennt, die neben einem in Westminster wohnen); etwas von einem Vogel an ihr, einem Eichelhäher, blau-grün, leicht, lebhaft, obwohl sie über fünfzig und seit ihrer Krankheit sehr weiß geworden war. Da war sie, aufgebaumt, ganz ohne ihn zu sehen, aufs Hinübergehen wartend, sehr aufrecht.

Denn wenn man in Westminster gelebt hatte – wie viele Jahre jetzt? über zwanzig –, fühlt man selbst mitten im Verkehr oder beim nächtlichen Wachen, Clarissa war ganz sicher, eine besondere Stille oder Erhabenheit; eine unbeschreibliche Pause; eine Beschwernis (aber das konnte ihr Herz sein, das, hieß es, von der Grippe geschwächt war), bevor Big Ben schlägt. Da! Voll dröhnte er. Erst eine Warnung, melodisch; dann die Stunde, unwiderruflich. Die bleiernen Kreise lösten sich auf in der Luft. Was für Narren wir sind, dachte sie, Victoria Street überquerend. Denn der Himmel allein weiß, warum man es so liebt, wieso man es so sieht, es erdenkend, es um sich gründend, es umstürzend, es jeden Augenblick neu erschaffend; aber die reinsten Vogelscheuchen, die am meisten von Elend entmutigten auf den Türstufen Sitzenden (Trunksucht ihr Niedergang) tun das Gleiche; nichts dagegen zu machen, sie fühlte das sicher, durch Parlamentsbeschlüsse, aus genau diesem Grund: sie lieben das Leben. In den Augen der Leute, in dem Schwung, Schritt und Gang; in dem Brüllen und dem Tosen; den Kutschen, Automobilen, Omnibussen, Lieferwagen, den schlurfenden und schwankenden Sandwichmännern; den Blaskapellen; den Drehorgeln; in der Glorie und dem Klingeln und dem seltsamen hohen Singen eines Aeroplans da oben war, was sie liebte; Leben; London; dieser Juni-Augenblick.

Denn es war Mitte Juni. Der Krieg war zu Ende,[2] bloß nicht für jemand wie Mrs Foxcroft gestern Abend im Embassy, deren Herz sich verzehrte, weil der nette Junge gefallen war und der alte Herrensitz jetzt an einen Vetter fällt; oder Lady Bexborough, die, hieß es, einen Wohltätigkeitsbazar eröffnete, in der Hand das Telegramm, John, ihr Liebling, sei gefallen; aber er war zu Ende; gottseidank – zu Ende. Es war Juni. Der König und die Königin[3] waren im Schloss. Und überall, obgleich es noch so früh war, war ein Stampfen, ein Wirbeln galoppierender Ponys, Schlagen von Krickethölzern; Lords, Ascot, Ranelagh[4] und was es sonst noch gab; gehüllt in das weiche Gespinst der graublauen Morgenluft, die sie, wenn der Tag verstrich, abspulen und auf ihre Rasenplätze und Markierungen stellen würde, die stürmenden Ponys, deren Vorderbeine den Boden kaum berührten, und schon sprangen sie hoch, die herumwirbelnden jungen Männer und lachenden Mädchen in ihren durchscheinenden Musselinkleidern, die, eben jetzt, nach einer durchtanzten Nacht, ihre absurden wolligen Hunde ausführten; und eben jetzt, zu dieser Stunde, kamen diskrete alte Witwen von Stande in ihren Automobilen zu geheimnisvollen Besorgungen herausgeschossen; und die Ladeninhaber pusselten in ihren Schaufenstern mit ihren Kunststeinen und Diamanten, ihren himmlischen alten, seegrünen Broschen in Fassungen aus dem achtzehnten Jahrhundert, um Amerikanerinnen zu verführen (aber man muss sich einschränken, nicht unbesonnen etwas für Elizabeth kaufen), und auch sie, die das mit einer verdrehten und treulichen Leidenschaft liebte, da sie ein Teil davon war, denn ihre Vorfahren waren früher in den georgianischen Zeiten [5]bei Hofe gewesen, auch sie würde heute Abend anzünden und erleuchten; ihre Gesellschaft geben. Aber wie seltsam, beim Betreten des Parks,[6] die Stille; der Dunst; das Summen; die träg-schwimmenden glücklichen Enten; die aufgeplusterten watschelnden Vögel; und wer anders konnte da mit dem Rücken zu den Regierungsgebäuden, wie gerufen, daherkommen, eine Depeschentasche mit dem königlichen Wappen in der Hand. Wer anders als Hugh Whitbread; ihr alter Freund Hugh – der wunderbare Hugh!

»Einen Guten Morgen wünsche ich Ihnen, Clarissa!«, sagte Hugh, ziemlich übertrieben, denn sie kannten einander von Kindheit an. »Wohin führt Sie der Weg?«

»Ich gehe so gern in London spazieren«, sagte Mrs Dalloway. »Wirklich, das ist besser als auf dem Lande spazieren zu gehen.«

Sie seien gerade erst hereingekommen – dummerweise – um den Arzt aufzusuchen. Andere Leute kämen, um sich Museen anzusehen; um in die Oper zu gehen; um ihre Töchter auszuführen; die Whitbreads kämen, »um den Arzt aufzusuchen«. Zahllose Male hatte Clarissa Evelyn Whitbread im Sanatorium besucht. Sei Evelyn wieder krank? Evelyn sei gewissermaßen unpässlich, sagte Hugh und gab durch eine Art Vorwölben oder Anschwellen seines vortrefflich eingehüllten, männlichen, äußerst ansehnlichen, vollendet aufgepolsterten Körpers (er war immer fast zu gut angezogen, musste es aber, seines kleinen Postens bei Hofe wegen, vermutlich sein) zu verstehen, dass seine Frau ein inneres Leiden habe, nichts Ernstes, was Clarissa Dalloway, als eine alte Freundin, leicht verstehen würde, auch ohne ihn um Einzelheiten zu ersuchen. O ja, das tat sie selbstverständlich; wie verdrießlich; und empfand schwesterliches Mitgefühl und war sich gleichzeitig ihres Hutes merkwürdig bewusst. Nicht der richtige Hut für den frühen Morgen, war es das? – Denn Hugh gab ihr immer das Gefühl, wie er sich tummelte, seinen Hut ziemlich übertrieben lüftete und ihr versicherte, sie könnte ein Mädchen von achtzehn sein, und natürlich käme er heut abend zu ihrer Gesellschaft, Evelyn bestehe unbedingt darauf, es könnte nur ein bisschen später werden nach dem Empfang im Buckingham Palace, zu dem er einen von Jims Söhnen mitnehmen müsse – sie fühlte sich immer ein bisschen mickrig neben Hugh; schulmädchenhaft; aber anhänglich an ihn, teils weil sie ihn schon immer gekannt hatte, aber sie fand ihn, auf seine Weise, ganz in Ordnung, obgleich er Richard mehr oder minder rasend machte, und was Peter Walsh anging, der hatte ihr bis zum heutigen Tage nie verziehen, dass sie ihn mochte.

Sie konnte sich an eine Auseinandersetzung nach der andern in Bourton erinnern – Peter wütend; Hugh, selbstverständlich, ihm in keiner Weise gewachsen, aber doch nicht der ausgemachte Schwachkopf, als den Peter ihn hinstellte; kein bloßer Stockfisch. Wenn seine alte Mutter ihn bat, das Jagen zu lassen oder sie nach Bath zu bringen, tat er das, wortlos; er war wirklich uneigennützig, und was das Gerede, von Peter, anging, dass er kein Herz, kein Hirn, nichts habe als die Manieren und die Erziehung eines englischen Gentleman, so zeigte das nur ihren lieben Peter von seiner schlechtesten Seite; und er konnte unerträglich sein; er konnte unmöglich sein; aber anbetungswürdig, wenn man an einem Morgen wie diesem mit ihm spazieren ging.

(Der Juni hatte jedes einzelne Blatt an den Bäumen hervorgelockt. Die Mütter in Pimlico[7] säugten ihre Kleinen. Botschaften wurden zwischen der Flotte und der Admiralität[8] gewechselt. Arlington Street und Piccadilly schienen selbst die Luft im Park zu erhitzen und seine Blätter heiß und glänzend zu heben, auf Wellen dieser göttlichen Lebenslust, die Clarissa liebte. Tanzen, Reiten, das hatte sie hingerissen.)

Denn sie hätten seit Jahrhunderten getrennt sein können, sie und Peter; sie schrieb nie einen Brief, und seine waren knochentrocken; aber plötzlich konnte es sie überkommen, wenn er jetzt bei mir wäre, was würde er sagen? – manche Tage, manche Anblicke brachten ihn ihr zurück, ruhig, ohne die alte Bitterkeit; was vielleicht der Lohn dafür war, Leute gemocht zu haben; sie kamen mitten im St James’s Park an einem schönen Morgen zurück – wirklich taten sie das. Aber Peter – wie wunderbar der Tag auch sein mochte, und die Bäume und das Gras und das kleine Mädchen in Rosa – Peter sah nichts von all dem. Er würde seine Brille aufsetzen, wenn sie ihn dazu aufforderte; er würde hinsehen. Es war der Zustand der Welt, der ihn interessierte; Wagner, Popes Lyrik,[9] immer und immer die Charaktere der Leute und die Mängel ihrer eigenen Seele. Wie er sie auszankte! Wie sie stritten! Sie werde einen Premierminister heiraten und ganz oben auf der Treppe stehen; die vollkommene Gastgeberin nannte er sie (sie hatte in ihrem Schlafzimmer Tränen darüber vergossen), sie habe das Zeug zur vollkommenen Gastgeberin, sagte er.

Sie fand sich also immer noch mit sich selbst streitend in St James’s Park, immer noch befindend, dass sie recht gehabt hätte – und das hatte sie auch –, ihn nicht zu heiraten. Denn in der Ehe musste es einen kleinen Freiraum, eine kleine Unabhängigkeit geben zwischen Leuten, die tagein, tagaus im selben Haus lebten; die Richard ihr gab, und sie ihm. (Wo war er an diesem Morgen, zum Beispiel? Ein Komitee, sie fragte nie, was für eins.) Aber mit Peter musste alles geteilt werden; alles durchgesprochen werden. Und es war unerträglich, und als es zu dieser Szene in dem kleinen Garten bei dem Springbrunnen kam, musste sie mit ihm brechen, oder sie wären zerstört worden, beide zugrunde gerichtet, davon war sie überzeugt; obwohl sie jahrelang den Gram, die Pein, wie einen Pfeil, der in ihrem Herzen steckte, mit sich herumgetragen hatte; und dann das Entsetzen des Augenblicks, als jemand ihr bei einem Konzert erzählte, dass er eine Frau geheiratet habe, die er auf dem Schiff nach Indien kennengelernt habe! Niemals würde sie das alles vergessen. Kalt, herzlos, eine Spröde, nannte er sie. Niemals würde sie verstehen, wie sehr er liebe. Aber diese indischen Frauen taten es offenbar – alberne, hübsche, nichtige Dummerchen. Und sie verschwendete ihr Mitleid. Denn er sei ganz glücklich, versicherte er ihr – vollkommen glücklich, obgleich er nichts von alledem je getan habe, wovon sie gesprochen hätten; sein ganzes Leben war ein einziges Versagen. Es machte sie immer noch wütend.

Sie hatte jetzt das Parktor erreicht. Sie stand einen Augenblick da und schaute auf die Omnibusse in Piccadilly.

Sie würde von niemandem auf der Welt jetzt sagen, er sei dies oder er sei das. Sie fühlte sich sehr jung; gleichzeitig unaussprechlich betagt. Sie schnitt wie ein Messer durch alles; war gleichzeitig außerhalb und sah zu. Sie hatte eine nicht endende Empfindung, während sie die Droschken beobachtete, draußen zu sein, draußen, weit draußen auf See, und allein; sie hatte immer das Gefühl, es sei sehr, sehr gefährlich, auch nur einen Tag zu leben. Nicht dass sie sich selbst für gescheit oder weit jenseits des Normalen hielt. Wie sie sich durchs Leben gebracht hatte mit Hilfe der wenigen Brocken von Wissen, die Fräulein[10] Daniels ihnen gereicht hatte, konnte sie sich nicht vorstellen. Sie kann nichts; keine Sprache, keine Geschichte; sie las jetzt kaum einmal ein Buch, ausgenommen im Bett Memoiren; und doch nahm es sie vollkommen in Anspruch; all das; die vorbeifahrenden Droschken; und sie würde nicht von Peter, sie würde nicht von sich selbst sagen, ich bin dies, ich bin das.

Ihre einzige Begabung war es, dachte sie, beim Weitergehen, die Leute mehr oder minder instinktiv einzuschätzen. Wenn man sie mit jemand anderem in ein Zimmer steckte, würde sie einen Buckel machen wie eine Katze; oder schnurren. Devonshire House, Bath House,[11] das Haus mit dem chinesischen Kakadu, sie hatte sie alle irgendwann einmal erleuchtet gesehen; und erinnerte sich an Sylvia, Fred, Sally Seton – Leute haufenweis; und Tanzen die Nacht durch; und die Karren, die sich zum Markt hindurchmühten; und die Heimfahrt durch den Park. Sie erinnerte sich, wie sie einmal einen Shilling in den Serpentine [12] geworfen hatte. Aber jedermann erinnerte sich; was sie liebte, war dies, hier, jetzt, vor ihr; die dicke Dame in der Droschke. Spielte es dann eine Rolle, fragte sie sich, Richtung Bond Street gehend, spielte es eine Rolle, dass sie unvermeidlich ganz und gar aufhören würde zu sein; all das musste ohne sie weitergehen; bedauerte sie das; oder war es nicht tröstlich zu glauben, dass der Tod allem das absolute Ende setzte? aber dass sie irgendwie in den Straßen Londons, in der Ebbe und Flut der Dinge, hier, da, weiterlebte, Peter weiterlebte, einer im andern weiterlebte, da sie doch, und da war sie sicher, ein Teil der Bäume zu Hause war; des Hauses dort, hässlich, weitläufig sich windend in allen Ecken und Enden, wie es war; Teil der Leute, denen sie nie begegnet war; wie ein Nebel ausgestreckt zwischen den Leuten, die sie am besten kannte, die sie auf ihre Äste hoben, wie sie die Bäume den Nebel hatte heben sehen, aber es breitete sich ja so weit aus, ihr Leben, sie selbst. Aber wovon träumte sie, als sie in Hatchards[13] Schaufenster blickte? Was versuchte sie wiederzufinden? Welches Bild von weißer Morgendämmerung auf dem Lande, als sie in dem aufgeschlagenen Buch las:[14]

Fear no more the heat o’ the sun

Nor the furious winter’s rages.

Dieses jüngste Zeitalter des Weltgeschehens hatte in ihnen allen, allen Männern und Frauen, einen Brunnen von Tränen gezeugt. Tränen und Kümmernissen; Mut und Ausdauer; eine vollkommen aufrechte und stoische Haltung. Denk, zum Beispiel, an die Frau, die sie am meisten bewunderte, Lady Bexborough, wie sie den Bazar eröffnete.

Da waren Jorrocks’ Jaunts and Jollities; da war Soapy Sponge und Mrs Asquith’s Memoirs und Big Game Shooting in Nigeria, alle aufgeschlagen.[15] Noch so viele andere Bücher waren da; aber keins, das genau das Richtige schien, um es Evelyn Whitbread in ihr Sanatorium mitzubringen. Nichts, das dazu dienen könnte, sie aufzuheitern und diese unbeschreiblich eingetrocknete kleine Frau, wenn Clarissa hereinkäme, für einen einzigen Augenblick herzlich aussehen zu machen; bevor sie sich dem üblichen endlosen Gespräch über Frauenleiden hingaben. Wie sehr sie danach verlangte – dass die Leute angetan aussähen, wenn sie hereinkam, dachte Clarissa und machte kehrt und ging zurück Richtung Bond Street, verdrossen, weil es albern war, fremde Gründe für das eigene Tun zu haben. Viel lieber wäre sie einer von denen wie Richard gewesen, die die Dinge um ihretwillen taten, wogegen sie, dachte sie, während sie an der Kreuzung wartete, meistens die Dinge nicht einfach so, nicht um ihretwillen tat; sondern um die Leute dies oder das glauben zu machen; vollkommener Schwachsinn, wusste sie (und jetzt hob der Schutzmann seine Hand), denn nie hatte sich jemand auch nur eine Sekunde lang täuschen lassen. Oh, wenn sie ihr Leben nur noch einmal von vorn beginnen könnte! dachte sie, als sie die Straße betrat, wenigstens anders aussehen könnte!

Vor allem wäre sie dann dunkelhaarig wie Lady Bexborough gewesen, mit einer Haut von genarbtem Leder und schönen Augen. Sie wäre, wie Lady Bexborough, bedächtig und stattlich gewesen; eher üppig; an Politik interessiert wie ein Mann; mit einem Landhaus; sehr würdig, sehr gradheraus. Stattdessen hatte sie eine schmächtige Bohnenstangen-Figur; ein lächerliches kleines Gesicht, schnabelförmig wie das eines Vogels. Dass sie auf sich achtete, stimmte; und hübsche Hände und Füße hatte; und gut angezogen war, in Anbetracht der Tatsache, dass sie wenig ausgab. Aber oft erschien ihr jetzt dieser Körper, den sie herumtrug (sie blieb stehen, um sich ein niederländisches Bild anzusehen), als nichts – überhaupt nichts. Sie hatte die absonderlichste Empfindung, unsichtbar zu sein; ungesehen; ungekannt; kein Heiraten mehr, kein Kinderkriegen mehr jetzt, sondern nur noch dieses erstaunliche und beinahe feierliche Fortschreiten mit all den andern, Bond Street hinauf, dieses Mrs Dalloway-Sein; nicht einmal mehr Clarissa; dieses Mrs Richard Dalloway-Sein.

Bond Street faszinierte sie; Bond Street früh am Morgen in der Hochsaison; ihre wehenden Flaggen; ihre Läden; kein Aufsehen; kein Glitzer; ein Tweedballen in dem Laden, in dem ihr Vater fünfzig Jahre lang seine Anzüge gekauft hatte; ein paar Perlen; Lachs auf einem Eisblock.

»Das ist alles«, sagte sie, ins Fischgeschäft blickend. »Das ist alles«, wiederholte sie, für einen Augenblick vor dem Schaufenster eines Handschuhladens verweilend, in dem man, vor dem Krieg, beinahe vollkommene Handschuhe kaufen konnte. Und ihr alter Onkel Willi am pflegte zu sagen, eine Dame erkenne man an ihren Schuhen und ihren Handschuhen. Eines Morgens, mitten im Kriege, hatte er sich in seinem Bett umgedreht. Er hatte gesagt, »mir reichts«. Handschuhe und Schuhe; sie hatte eine Leidenschaft für Handschuhe; aber ihre eigene Tochter, ihre Elizabeth, gab keinen Pfifferling für beides.

Keinen Pfifferling, dachte sie und ging die Bond Street weiter zu einem Laden, in dem man ihr Blumen fertig machte, wenn sie eine Gesellschaft gab. Elizabeth machte sich am meisten aus ihrem Hund. Das ganze Haus roch an diesem Morgen nach Teer. Immer noch lieber der arme Grizzle als Miss Kilman; lieber Staupe und Teer und alles sonst, als mit einem Gebetbuch eingesperrt in einem muffigen Zimmer sitzend! Lieber alles andere, lag ihr auf der Zunge. Aber es konnte ja auch bloß ein Stadium sein, wie Richard sagte, durch das alle Mädchen hindurchmüssen. Es könnte Verliebtheit sein. Aber warum in Miss Kilman? die allerdings ein schlechtes Leben gehabt hatte; darauf musste man Rücksicht nehmen, und Richard sagte, sie sei sehr tüchtig, hätte wirklich Sinn für Geschichte. Auf jeden Fall waren sie unzertrennlich, und Elizabeth, ihre eigene Tochter, ging zum Abendmahl; und wie sie sich anzog, wie sie mit Leuten umging, die zum Lunch kamen, daran lag ihr nicht das Geringste, da ihre Erfahrung ihr sagte, dass religiöse Überspanntheit die Leute dickfellig machte (ebenso wie eine gute Sache); ihr Fühlen abstumpfte, denn Miss Kilman würde alles für die Russen tun, hungerte für die Österreicher, aber unter vier Augen unterwarf sie einen regelrechten Martern, so fühllos war sie, gehüllt in ihren grünen Regenmantel. Jahrein, jahraus trug sie diesen Mantel; sie schwitzte; sie war keine fünf Minuten in einem Zimmer, ohne einen ihre Überlegenheit, deine Unterlegenheit fühlen zu lassen; wie arm sie sei; wie reich du seist; wie sie in einem Slum lebe ohne ein Kissen oder ein Bett oder einen Teppich oder was es auch sein mochte, ihre ganze Seele zerfressen von dem Gram, der in ihr steckte, ihre Entlassung aus dem Schuldienst während des Krieges – arme, verbitterte, unglückliche Kreatur! Denn es war nicht sie, die man hasste, sondern die Vorstellung von ihr, die zweifellos allerhand in sich aufgenommen hatte, was nicht Miss Kilman war; zu einem dieser Gespenster geworden war, mit denen man in der Nacht kämpft; einem dieser Gespenster, die rittlings über uns hocken und einem das halbe Lebensblut aussaugen, Despoten und Tyrannen; denn zweifellos, bei einem anderen Wurf des Würfels wäre das Schwarze oben gewesen und nicht das Weiße, sie hätte Miss Kilman geliebt! Aber nicht in dieser Welt. Nein.

Es verwundete sie, gleichwohl, wie dieses rohe Ungeheuer sich in ihr regte! Zweige knacken zu hören und Hufe sich in die Tiefen dieses laublastigen Waldes, der Seele, eindrücken zu fühlen; nie ganz zufrieden zu sein, oder ganz sicher, denn das Scheusal könnte sich jeden Augenblick regen, dieser Hass, der, besonders seit ihrer Krankheit, die Macht besaß, dass sie sich geschunden fühlte, am Rückgrat versehrt; ihr physischen Schmerz bereitete und alle Lust an Schönheit, an Freundschaft, an Wohlbefinden, am Geliebtwerden und am Schmücken ihres Heims schwanken, beben und zusammenfallen machte, als wühlte da wirklich ein Ungeheuer an den Wurzeln, als wäre die volle Rüstung der Zufriedenheit nichts als Eigenliebe! dieser Hass!

Unsinn! Unsinn! rief sie sich zu, durch die Schwingtür von Mulberrys Blumenladen drängend.

Sie trat ein, leicht, groß, sehr aufrecht, um sogleich von der knopfgesichtigen Miss Pym begrüßt zu werden, deren Hände immer tiefrot waren, als hätten sie mit den Blumen in kaltem Wasser gestanden.

Da waren Blumen: Rittersporn, spanische Wicken, Fliedersträuße; und Nelken, Berge von Nelken. Da waren Rosen; da waren Schwertlilien. O ja – so atmete sie den gartenerdig süßen Duft ein, während sie da stand und mit Miss Pym sprach, die ihr Hilfe schuldig war und sie für gutherzig hielt, denn gutherzig war sie vor Jahren gewesen; sehr gutherzig, aber sie sah älter aus, dieses Jahr, wie sie ihren Kopf zwischen den Schwertlilien und Rosen und den nickenden Fliederdolden von einer Seite zur andern wandte, ihre Augen halb geschlossen, nach dem Straßengedröhn den köstlichen Duft, die auserlesene Kühle einschnüffelnd. Und dann, als sie ihre Augen öffnete, wie frisch, gleich gerüschtem Stoff, sauber aus der Wäscherei, auf Weidentabletts ausgebreitet, die Rosen aussahen; und dunkel und steif die roten Nelken, erhobenen Hauptes; und all die spanischen Wicken, weit gestreut in ihren Schalen, violett, schneeweiß, bleich getönt – als wäre es Abend und Mädchen in Musselinkleidern kämen heraus, um spanische Wicken und Rosen zu pflücken, nachdem der wunderbare Sommertag mit seinem nahezu blauschwarzen Himmel, seinem Rittersporn, seinen Nelken, seinen Callas zu Ende war; und es wäre der Augenblick zwischen sechs und sieben, wenn jede Blume – Rosen, Nelken, Schwertlilien, Flieder – aufglüht; weiß, violett, rot, tieforange; jede Blume scheint von allein zu brennen, sacht, rein, in den dunstigen Beeten; und wie sie die grauweißen Falter liebte, hin und her schwärmend über den Weidenröschen, über den Nachtkerzen!

Und als sie mit Miss Pym von Vase zu Vase zu gehen begann, aussuchend, sagte sie Unsinn, Unsinn, zu sich, mehr und mehr besänftigt, als ob diese Schönheit, dieser Duft, diese Farbe und Miss Pyms Zuneigung, ihr Zutrauen, eine Welle wäre, von der sie sich überspülen und diesen Hass, dieses Ungeheuer, all das überwältigen ließ; und es hob sie höher und höher, als – oh! ein Pistolenschuss draußen auf der Straße!

»Herrje, diese Automobile«, sagte Miss Pym und ging zum Fenster, um nachzusehen, und kam zurück, entschuldigend lächelnd, die Hände voller spanischer Wicken, als ob diese Automobile, diese Reifen der Automobile, alle ihre Schuld seien.

 

Die heftige Explosion, die Mrs Dalloway aufschrecken und Miss Pym zum Fenster gehen und sich entschuldigen ließ, kam von einem Automobil, das genau gegenüber von Mulberrys Schaufenster neben dem Bürgersteig gehalten hatte. Vorbeigehende, die, natürlich, stehenblieben und glotzten, konnten gerade eben ein Gesicht von allergrößter Bedeutung vor den taubengrauen Polstern wahrnehmen, bevor eine männliche Hand den Vorhang vorzog und nichts mehr zu sehen war als ein Viereck in Taubengrau.

Doch waren sofort Gerüchte in Umlauf, von der Mitte der Bond Street bis zur Oxford Street auf der einen Seite, zu Atkinsons Parfümerie auf der andern, verbreiteten sich unsichtbar, unhörbar, wie eine Wolke, flüchtig, schleierartig über Hügeln, fielen tatsächlich mit so etwas wie der plötzlichen Gelassenheit und Ruhe einer Wolke auf Gesichter, die eine Sekunde vorher völlig verwirrt gewesen waren. Aber jetzt hatte das Geheimnis sie mit seiner Schwinge gestreift; sie hatten die Stimme der Autorität gehört; der Geist der Religion war unterwegs, mit fest verbundenen Augen und weit aufgesperrtem Mund. Aber niemand wusste, wessen Gesicht man gesehen hatte. War es das des Prinzen von Wales, das der Königin, das des Premierministers?[16] Wessen Gesicht war es? Niemand wusste es.

Edgar J. Watkiss, mit seiner Bleirohrrolle um den Arm, sagte hörbar und, natürlich, witzig: »Dem Premierminister sein Wagen.«

Septimus Warren Smith, der keine Möglichkeit sah, vorbeizukommen, hörte ihn.

Septimus Warren Smith, etwa dreißigjährig, bleichgesichtig, hakennasig, in braunen Schuhen und einem schäbigen Überzieher, mit nussbraunen Augen, die diesen argwöhnischen Blick hatten, der vollkommen Fremde ebenso argwöhnisch macht. Die Welt hat ihre Peitsche erhoben; wo wird sie niedergehen?

Alles war zum Stillstand gekommen. Das Klopfen der Motoren klang wie der unregelmäßig durch einen ganzen Körper schlagende Puls. Die Sonne wärmte außerordentlich, weil das Automobil vor Mulberrys Schaufenster stehengeblieben war; alte Damen auf den Omnibusdecks spannten ihre schwarzen Sonnenschirme auf; hier öffnete sich mit einem leichten Plopp ein grüner, da ein roter Sonnenschirm. Mrs Dalloway, mit ihrem Arm voller spanischer Wicken ans Fenster tretend, schaute mit ihrem kleinen rosafarbenen, forschend zusammengekniffenen Gesicht hinaus. Alle Welt schaute auf das Automobil. Septimus schaute. Jungen auf Fahrrädern sprangen ab. Der Verkehr staute sich. Und da stand das Automobil, mit vorgezogenen Vorhängen, und auf ihnen ein merkwürdiges baumähnliches Muster, dachte Septimus, und dieses stufenweise Sichzusammenziehen von allem auf einen Mittelpunkt vor seinen Augen, als ob etwas Grauenhaftes annähernd an die Oberfläche gekommen und drauf und dran wäre, in Flammen aufzugehen, entsetzte ihn. Die Welt schwankte und bebte und drohte, in Flammen aufzugehen. Ich bin es, der den Weg versperrt, dachte er. War es nicht er, auf den sie blickten und auf den sie zeigten; war es nicht er, der aus einem bestimmten Grunde zentnerschwer in dem Bürgersteig verwurzelt war? Aber aus welchem Grunde?

»Lass uns weitergehen, Septimus«, sagte seine Frau, eine kleine Person mit großen Augen in einem gelblich spitzigen Gesicht; eine junge Italienerin.

Aber Lucrezia selbst konnte ihren Blick nicht von dem Automobil und dem Baummuster auf den Vorhängen wenden. War es die Königin da drinnen – die Königin, die Einkäufe machte?

Der Chauffeur, der etwas geöffnet, an etwas gedreht, etwas geschlossen hatte, stieg wieder auf seinen Sitz.

»Vorwärts«, sagte Lucrezia.

Aber ihr Mann, denn sie waren jetzt seit vier oder fünf Jahren verheiratet, fuhr zusammen, setzte zum Gehen an und sagte, »Klar!«, ärgerlich, als hätte sie ihn unterbrochen.

Die Leute mussten es merken: Die Leute mussten es sehen. Die Leute, dachte sie, während sie auf die Menge schaute, die auf das Automobil starrte; die Engländer, mit ihren Kindern und ihren Pferden und ihrer Kleidung, die sie eigentlich bewunderte; aber jetzt waren sie »Leute«, weil Septimus gesagt hatte, »ich werde mich umbringen«; entsetzlich, so etwas zu sagen. Angenommen, sie hätten ihn gehört? Sie schaute auf die Menge. Hilfe, Hilfe! hätte sie gern den Schlachterjungen und den Frauen zugerufen. Hilfe! Erst im vorigen Herbst hatten sie und Septimus am Embankment gestanden, in den selben Mantel gehüllt, und da Septimus eine Zeitung las, statt zu reden, hatte sie sie ihm weggerissen und dem alten Mann, der ihnen zusah, ins Gesicht gelacht! Aber Misserfolge verbirgt man. Sie musste ihn wegführen in einen Park.

»Jetzt gehn wir rüber«, sagte sie.

Sie hatte einen Anspruch auf seinen Arm, obgleich er fühllos war. Er würde ihr, die so einfach, so impulsiv, erst vierundzwanzig, ohne Freunde in England war, die Italien um seinetwillen verlassen hatte, nur ein Stück Knochen reichen.

Das Automobil mit seinen vorgezogenen Vorhängen und einer Aura unergründlicher Zurückhaltung bewegte sich weiter auf Piccadilly zu, immer noch begafft, immer noch die Gesichter auf beiden Seiten der Straße mit dem selben dunklen Hauch der Ehrerbietung kräuselnd, ob für die Königin, den Prinzen oder den Premierminister, das wusste niemand. Das Gesicht selbst war nur von drei Leuten für ein paar Augenblicke gesehen worden. Sogar über sein Geschlecht wurde jetzt gestritten. Aber es gab keinen Zweifel, dass Größe im Wagen saß; Größe fuhr, verborgen, die Bond Street hinunter, nur eine Handbreite entfernt von gewöhnlichen Leuten, die sich jetzt wohl, zum ersten und letzten Mal, in Sprechweite der Majestät von England befanden, des dauerhaften Symbols des Staates, das zur Kenntnis neugieriger Altertumsforscher gelangen wird, die die Trümmer der Zeit sichten werden, wenn London ein grasbewachsener Pfad ist und all die, die an diesem Mittwochmorgen den Bürgersteig entlangeilen, nur noch Knochen sind mit ein paar Eheringen, mit ihrem Staub vermischt, und den Goldplomben unzählbarer verfaulter Zähne. Dann wird das Gesicht im Automobil bekannt sein.

Es ist höchstwahrscheinlich die Königin, dachte Mrs Dalloway, als sie mit ihren Blumen aus Mulberrys Laden trat: die Königin. Und für einen Augenblick zeigte sie einen Ausdruck von außerordentlicher Würde, wie sie im Sonnenlicht vor dem Blumenladen stand, während der Wagen im Schritttempo vorbeifuhr, mit vorgezogenen Vorhängen. Die Königin, die ein Krankenhaus besuchen will; die Königin, die einen Bazar eröffnen will, dachte Clarissa.

Das Gedränge war fürchterlich für diese Tageszeit. Lords, Ascot, Hurlingham,[17] was war es? überlegte sie, denn die Straße war verstopft. Die britischen Mittelklassen, die quer auf den Omnibusdecks saßen, mit Päckchen und Schirmen, ja, sogar Pelzen an einem Tag wie diesem, waren, dachte sie, lächerlicher, allem, was es je gegeben hatte, unähnlicher, als man sich vorstellen konnte; und sogar die Königin aufgehalten; sogar die Königin außerstande vorwärts zu kommen. Clarissa wurde auf der einen Seite der Brook Street aufgehalten; Sir John Buckhurst, der alte Richter, auf der andern, der Wagen zwischen ihnen (Sir John hatte jahrelang das Recht ausgelegt und schätzte eine gut gekleidete Frau), als der Chauffeur sich ein ganz klein wenig hinauslehnte und dem Schutzmann etwas sagte oder zeigte, der grüßte und seinen Arm hob und seinen Kopf hochriss und den Omnibus zur Seite brachte, und der Wagen fuhr durch. Langsam und sehr geräuschlos nahm er seinen Weg.

Clarissa riet; Clarissa wusste natürlich Bescheid; sie hatte etwas Weißes, Magisches, Rundes in der Hand des Bediensteten gesehen, eine Plakette mit einem Namen – dem der Königin, dem des Prinzen von Wales, dem des Premierministers? –, die sich, kraft ihres eigenen Glanzes, ihren Weg hindurchbrannte (Clarissa sah den Wagen kleiner werden, verschwinden), um zwischen Kandelabern, glänzenden Ordenssternen, Brüsten steif von Eichenlaub, Hugh Whitbread und allen seinen Kollegen, Englands Gentlemen, heute Nacht im Buckingham Palace zu erstrahlen. Und Clarissa, auch sie, gab eine Gesellschaft. Sie versteifte sich ein wenig; so würde sie am Kopf ihrer Treppe stehen.

Der Wagen war fort, aber er hatte ein leichtes Wellenkräuseln hinterlassen, das durch die Handschuhläden und Hutläden und Schneiderläden an beiden Seiten der Bond Street flutete. Für dreißig Sekunden waren alle Köpfe in die selbe Richtung gewandt – zum Fenster. In der Wahl eines Paars Handschuhe – sollten sie bis zum Ellbogen oder höher gehen, zitronenfarben oder mattgrau? – hielten Damen inne; wenn der Satz beendet wäre, hätte sich etwas ereignet. Etwas so Geringfügiges in einzelnen Augenblicken, dass kein mathematisches Instrument, wenn auch in der Lage, Erdbebenstöße in China zu übermitteln, die Schwingung hätte registrieren können; jedoch in seiner Fülle eher bedeutend und in seiner allgemeinen Wirkung bewegend; denn in all den Hutläden und Schneiderläden blickten Fremde einander an und dachten an die Toten; an die Flagge; an das Empire. In einer Kneipe in einer Seitenstraße beleidigte ein Mann aus den Kolonien das Haus Windsor, was zu einem Wortwechsel, zerbrochenen Biergläsern und einem allgemeinen Aufruhr führte, der über die Straße hinweg ein befremdendes Echo in den Ohren junger Mädchen fand, die weiße, mit reinweißen Bändern durchwobene Unterkleider für ihre Hochzeiten kauften. Denn als der Oberflächenaufruhr des vorbeifahrenden Wagens sich legte, rührte er an etwas sehr Tiefes.

Der Wagen glitt über Piccadilly und bog in die St James’s Street ein. Hochgewachsene Männer, Männer von kräftigem Aussehen, gut gekleidete Männer in ihren Cutaways und ihren weißen Westen und ihrem zurückgekämmten Haar, die, aus schwer zu entscheidenden Gründen, im Erkerfenster von White’s[18] standen, die Hände hinter ihren Rockschößen, und hinausschauten, nahmen instinktiv wahr, dass Größe vorbeifuhr, und das blasse Licht der unsterblichen Gegenwart fiel auf sie, wie es auf Clarissa Dalloway gefallen war. Auf einmal standen sie noch aufrechter, nahmen ihre Hände an die Seite und schienen bereit, ihrem Souverän, wenn es sein sollte, bis vor die Mündungen der Kanonen Folge zu leisten, wie es ihre Ahnen vor ihnen getan hatten. Die weißen Büsten und die kleinen Tische im Hintergrund, bedeckt mit Exemplaren des Tatler[19] und Sodawasserflaschen, schienen einverstanden; schienen das wogende Korn und die Herrensitze Englands anzudeuten; und das schwache Brummen der Autoräder zurückzuwerfen, wie die Mauern einer Flüstergalerie eine einzelne Stimme zurückwerfen, entfaltet und volltönend durch die Macht einer ganzen Kathedrale. Die schalumhüllte Moll Pratt mit ihren Blumen auf dem Bürgersteig wünschte dem lieben Jungen alles Gute (es war unzweifelhaft der Prince of Wales) und hätte den Preis eines Kruges Bier – eines Straußes Rosen – auf die St James’s Street geworfen, aus reinem Übermut und Verachtung der Armut, wenn sie nicht das Auge des Konstablers auf sich hätte ruhen sehen, das die Ergebenheit einer alten Irin dämpfte. Die Wachen vor St James’s[20] salutierten; Königin Alexandras[21] Schutzmann war einverstanden.

Eine kleine Menschenmenge hatte sich, unterdessen, vor den Toren des Buckingham Palace gesammelt. Gleichgültig, aber zuversichtlich, arme Leute alle miteinander, warteten sie; blickten auf den Palast mit der wehenden Flagge; auf Victoria, schwellend auf ihrem Sockel, bewunderten ihre Brunnenschalen mit dem fließenden Wasser, ihre Geranien; sonderten von den Automobilen auf der Mall erst dieses aus, dann jenes; ließen, umsonst, Bürgerlichen, die spazieren fuhren, ein Gefühl zuteilwerden; riefen ihren Tribut zurück, um ihn ungeschmälert zu bewahren, während dieser Wagen vorbeifuhr und jener; und ließen die ganze Zeit Gerüchte sich in ihren Adern mehren und die Sehnen in ihren Schenkeln erschauern bei dem Gedanken an eine Hoheit, die auf sie blicke; die Königin, sich verneigend; der Prinz, salutierend; bei dem Gedanken an das himmlische, den Königen göttlich zuteilgewordene Leben; an die Stallmeister und tiefen Knickse; an der Königin altes Puppenhaus; an Prinzessin Mary,[22] verheiratet mit einem Engländer, und den Prinzen – ah! den Prinzen! der so wunderbar, sagten sie, nach dem alten König Edward schlug, aber doch sehr viel schlanker war. Der Prinz wohnte in St James’s; aber er könnte ja morgens vorbeikommen, um seine Mutter zu besuchen.

So sagte Sarah Bletchley mit ihrem Baby in den Armen, mit ihrem Fuß auf und ab wippend, als sei sie an ihrem Kaminvorsatz in Pimli co, aber die Augen auf die Mall gerichtet, während Emily Coates über die Fenster des Palastes streifte und an die Hausmädchen dachte, die unzählbaren Hausmädchen, die Schlafzimmer, die unzählbaren Schlafzimmer. Vermehrt um einen älteren Herrn mit einem Aberdeen-Terrier, um beschäftigungslose Männer, nahm die Menge zu. Der kleine Mr Bowley, der Zimmer im Albany hatte und über den tieferen Quellen des Lebens mit Wachs versiegelt war, aber plötzlich, unangebracht, empfindsam entsiegelt werden konnte, bei solcherart Dingen – armen Frauen, die darauf warteten, die Königin vorbeikommen zu sehen – armen Frauen, netten kleinen Kindern, Waisen, Witwen, dem Krieg – ach, ach – hatte wahrhaftig Tränen in den Augen. Eine Brise, die so sonderlich warm die Mall hinunter durch die dürren Bäume wehte, vorbei an den bronzenen Helden, blähte eine in Mr Bowleys britischer Brust wehende Flagge, und er zog seinen Hut, als der Wagen in die Mall einbog, und hielt ihn hoch, als der Wagen sich näherte, und ließ die armen Mütter von Pimlico sich dicht an ihn drängen, und stand sehr aufrecht. Der Wagen kam.

Plötzlich blickte Mrs Coates auf zum Himmel. Das Geräusch eines Aeroplans bohrte sich bedeutungsschwer in die Ohren der Menge. Da kam er über die Bäume, entließ hinten weißen Rauch, der sich ringelte und kringelte, tatsächlich etwas schrieb! Buchstaben an den Himmel schrieb![23] Jeder blickte auf.

Jäh hinabgleitend, schwang sich der Aeroplan steil hinauf, zog eine Schleife, beschleunigte, sank, stieg, und was immer er tat, wohin immer er flog, hinter ihm flatterte eine dicke, gekräuselte Stange aus weißem Rauch heraus, die sich am Himmel zu Buchstaben kringelte und wand. Aber welche Buchstaben? War es ein C? ein E, dann ein L? Nur für einen Augenblick hielten sie still; dann bewegten sie sich und schmolzen und waren oben am Himmel ausradiert, und der Aeroplan schoss weiter weg, und wieder, an einem neuen Stück Himmel, begann er ein K, und E, vielleicht ein Y? zu schreiben.

»Blaxo«, sagte Mrs Coates mit angestrengter, ehrfürchtiger Stimme, steil nach oben starrend, und ihr Baby, steif und weiß in ihren Armen liegend, starrte steil nach oben.

»Kreemo«, murmelte Mrs Bletchley wie eine Schlafwandlerin. Seinen Hut vollkommen reglos in der Hand erhoben, starrte Mr Bowley steil nach oben. Die ganze Mall entlang standen Leute und blickten auf zum Himmel. Während sie blickten, verfiel die ganze Welt in Schweigen, und ein Möwenschwarm kreuzte den Himmel, erst eine Leitmöwe, dann eine andere, und in diesem außerordentlichen Schweigen und diesem Frieden, in dieser Durchsichtigkeit, in dieser Reinheit, schlugen elfmal Glocken, deren Klang dort oben zwischen den Möwen dahinschwand.

Der Aeroplan wendete und beschleunigte und stieß herab, genau wo es ihm gefiel, geschwind, leicht, wie ein Schlittschuhläufer –

»Das ist ein E«, sagte Mrs Bletchley – oder ein Tänzer –

»Es heißt Toffee«, murmelte Mr Bowley – (und der Wagen fuhr durch das Tor, und niemand sah hin), und den Rauch abstellend, stürmte er dahin, dahin, und der Rauch schwand und gesellte sich den großen weißen Umrissen der Wolken.

Er war weg; er war hinter den Wolken. Da war kein Ton mehr. Die Wolken, an die sich die Buchstaben E, G oder L geheftet hatten, bewegten sich ihrerseits ganz frei, als seien sie bestimmt, von West nach Ost zu kreuzen, in einem Auftrag von größter Bedeutung,der nie enthüllt werden würde, und doch war es ganz gewiss so – ein Auftrag von größter Bedeutung. Dann plötzlich stürmte, wie ein Zug aus einem Tunnel herauskommt, der Aeroplan wieder aus den Wolken hervor, der Ton bohrte sich in die Ohren aller Leute auf der Mall, im Green Park, in Piccadilly, in Regent Street, in Regent’s Park, und die Rauchstange rundete sich hinten, und er glitt hinab, und er schwang sich auf und schrieb einen Buchstaben nach dem andern – aber welches Wort schrieb er?

Lucrezia Warren Smith, an der Seite ihres Mannes auf einer Bank am Broad Walk in Regent’s Park sitzend, blickte hinauf.

»Sieh doch, sieh doch, Septimus!«, rief sie. Denn Dr. Holmes hatte ihr gesagt, sie solle ihren Mann (dem überhaupt nichts Ernstliches fehle, der nur nicht ganz in Ordnung sei) für Dinge außerhalb seiner selbst interessieren.

So, dachte Septimus und blickte hinauf, sie signalisieren mir also. Nicht allerdings in wirklichen Wörtern; das heißt, er konnte die Sprache noch nicht entziffern; doch sie war deutlich genug, diese Schönheit, diese auserlesene Schönheit, und Tränen füllten seine Augen, als er den Rauchwörtern nachsah, wie sie am Himmel schwanden und schmolzen und ihm in ihrer unerschöpflichen Barmherzigkeit und lachenden Güte ein Bild von unvorstellbarer Schönheit nach dem andern zuteilwerden ließen und ihre Absicht signalisierten, ihn für nichts, für immer, für sein bloßes Hinsehen, mit Schönheit, immer mehr Schönheit zu versehen! Tränen rannen seine Wangen hinunter.

Es hieß Toffee; sie machten Reklame für Toffee, sagte ein Kindermädchen zu Rezia. Gemeinsam begannen sie zu buchstabieren t … o … f …

»K … R …«, sagte das Kindermädchen, und Septimus hörte sie sagen »Ka Err«, dicht an seinem Ohr, tief, lieblich, wie eine sanfte Orgel, aber mit einer Rauheit in ihrer Stimme wie der einer Heuschrecke, die köstlich an seinem Rückgrat rieb und Tonwellen in sein Hirn hinaufsandte, die sich, erschütternd, brachen. Eine wunderbare Entdeckung in der Tat – dass die menschliche Stimme unter bestimmten atmosphärischen Bedingungen (denn man musste wissenschaftlich sein, vor allem wissenschaftlich) Bäume zum Leben erwecken kann! Glücklicherweise legte Rezia ihre Hand mit einem ungeheuren Gewicht auf sein Knie, so dass er niedergepresst, festgenagelt war, oder die Erregung über das Steigen und Sinken, das Steigen und Sinken der Ulmen mit all ihren entflammten Blättern und der Farbe einer brechenden Woge, dünnend und dickend von Blau zu Grün, wie Federbüsche auf den Köpfen von Pferden, Federn auf denen von Damen, so stolz stiegen und senkten sie sich, so prachtvoll, hätte ihn irrsinnig gemacht. Aber er würde nicht irrsinnig werden. Er würde seine Augen schließen; er würde nichts mehr sehen.

Aber sie winkten; Blätter waren lebendig; Bäume waren lebendig. Und da die Blätter durch Millionen Fibern mit seinem eigenen Körper, da auf der Bank, zusammenhingen, fächelten sie ihn auf und ab; wenn der Zweig sich streckte, gab auch er diese Äußerung von sich. Die Sperlinge, in gezackten Fontänen flatternd, steigend und fallend, waren ein Teil des Musters; das Weiß und das Blau, vergittert von schwarzen Zweigen. Töne schufen mit Vorbedacht Harmonien; die Räume zwischen ihnen waren ebenso bedeutsam wie die Töne. Ein Kind schrie. Im rechten Augenblick ertönte weit weg eine Hupe. Alles zusammen bedeutete die Geburt einer neuen Religion –

»Septimus!«, sagte Rezia. Er schreckte heftig auf. Die Leute mussten es bemerken.

»Ich gehe bis zum Springbrunnen und wieder zurück«, sagte sie.

Denn sie konnte es nicht länger aushalten. Dr. Holmes mochte sagen, es fehle ihm nichts. Viel lieber wollte sie, er wäre tot! Sie konnte nicht neben ihm sitzen, wenn er so starrte und sie nicht sah und alles so schrecklich machte; Himmel und Baum, Kinder, spielend, Wägelchen ziehend, Pfeife blasend, hinfallend; alles war schrecklich. Und er würde sich nicht umbringen; und sie konnte es niemandem sagen. »Septimus hat zu schwer