Müesli, Mord und Matterhorn -  - E-Book

Müesli, Mord und Matterhorn E-Book

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Beschreibung

Die Schweiz soll eines der sichersten Länder der Welt sein? Nicht wenn es nach diesen 15 Autorinnen und Autoren geht! Das Verbrechen kennt keine Kantonsgrenzen. Ob im Aargau oder Wallis, in Solothurn, Bern, Basel oder Zürich - gemordet wird in allen Regionen. Sei es im apokalyptischen Basel, im Homeoffice in Bern, auf dem Aletschgletscher oder im Zug beim Hören eines True-Crime-Podcasts. Es kann jeden treffen, überall und zu jeder Zeit. Seien Sie auf der Hut!

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Paul Ott / Barbara Saladin

Müesli, Mord und Matterhorn

Kriminalroman

Zum Buch

Tödliche Schweiz Obwohl die Schweiz laut Friedensindex das zehntsicherste Land der Welt ist, steht fest: Verbrechen finden hier täglich statt – und es kann alle treffen. Zu jeder Zeit. Nehmen wir an, der eigene Ehemann träumt von der Copacabana und ist seiner Frau überdrüssig. Was beschließt er wohl? Er geht wandern. Denn in den Bergen kann immer etwas passieren. Oder was macht die platinblonde Vermieterin, wenn sie endlich ihre Mieter loswerden möchte? Dann beauftragt sie einen Privatdetektiv, der ihrem Wunsch etwas mehr Nachdruck verleihen soll. Aber es gibt sie auch noch, die zufälligen Verbrechen. Wenn ein Mann irrtümlich für einen Auftragsmörder gehalten wird. Was macht man dann? Spielt man erst mal mit, weil die Aussicht auf sehr viel Geld so verlockend ist? 15 Autorinnen und Autoren aus der deutschsprachigen Schweiz huldigen dem Verbrechen. Manchmal dem alltäglichen, manchmal dem zufälligen. Aber immer spannend und unterhaltsam.

Der Schweizer Autor Paul Ott schreibt unter dem Pseudonym Paul Lascaux. Er wurde 1955 geboren, ist Germanist und Kunsthistoriker. Am Bodensee aufgewachsen, lebt er heute in Bern. In den letzten 40 Jahren hat er vor allem Kriminalromane veröffentlicht. Als Herausgeber von Krimi-Anthologien und Initiator des Schweizer Krimifestivals »Mordstage« hat er sich einen Namen gemacht.

Barbara Saladin wurde an einem Freitag, den 13. geboren und lebt als freie Journalistin, Autorin und Texterin in einem kleinen Dorf im Oberbaselbiet. Sie schreibt Kriminalromane und Kurzgeschichten, Reiseführer und Theaterstücke, Sach- und Kinderbücher, Artikel und Reportagen. Sie textet, fotografiert, recherchiert, lektoriert, moderiert und organisiert. 2017 erhielt sie den Kantonalbankpreis Kultur.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Satz: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © serikbaib / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-3360-8

Schweizer Krimianthologien

Das Schreiben eines Kurzkrimis entwickelt einen besonderen Reiz, weil mit dem Genre experimentiert werden kann, wie es in der langen Form eines Romans selten machbar ist. Umso wichtiger sind deswegen Publikationsmöglichkeiten, wie sie unser Sammelband bietet. Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, einen Überblick über die bisher in der Schweiz publizierten Anthologien zu geben.

Vor genau dreißig Jahren erschien 1995 in der Reihe rororo-Thriller mit »Banken, Blut und Berge« die erste Sammlung mit »Kriminalgeschichten aus der Schweiz«, herausgegeben vom leider inzwischen verstorbenen Peter Zeindler. Ich durfte damals als noch relativ junger Autor unter meinem Pseudonym Paul Lascaux mit »Un-Zyt-Glogge« dabei sein, eine große Ehre. Es ist unschwer zu erkennen, dass wir den Titel für die vorliegende Anthologie »Müesli, Mord und Matterhorn« auch als Hommage an das Vorbild verstanden wissen wollen.

Kurze Zeit später bin ich auf das »Syndikat« aufmerksam gemacht worden, den »Verein für deutschsprachige Kriminalliteratur«, der die Kolleg/innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz repräsentiert. Ich bin beigetreten und habe am Jahrestreffen, der »Criminale«, teilgenommen, zu dem jeweils auch eine Anthologie erschien, die auf die Veranstaltungsregion zugeschnitten war.

Meine Begeisterung für diese Form des jährlichen Treffens veranlasste mich, auch in der Schweiz tätig zu werden. 2001 fanden die ersten »Mordstage« in Bern statt. Logisch, ich wohne ja vor Ort. Damals lag auch der Hauptsitz des Scherz-Verlages noch im Zentrum der Stadt, gleich um die Ecke beim Zytglogge-Turm. Dort wurde ich vorstellig und schlug die Publikation eines neuen Sammelbands mit Schweizer Kurzkrimis vor, was mit Begeisterung aufgenommen wurde, als ich aus dem Handgelenk heraus erklärte, dass die gesamte Krimiprominenz mitmachen würde. Worauf ich mich eingelassen hatte, erkannte ich erst, als ich einen Vertrag unterzeichnete, in dem etwas von vierhundert Seiten stand, die ich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt beizubringen hatte. Sei’s drum. »Im Morgenrot« war geboren und zum Startschuss für weitere Bücher geworden, die jeweils mit einem Krimifestival verknüpft waren und zuerst von mir allein verantwortet wurden.

2005 organisierte ich die »Mordstage« dezentral in mittelgroßen Deutschschweizer Städten, die begleitende Anthologie hieß »TatortSchweiz« und erschien im Limmat Verlag, genauso wie der Nachfolgeband »TatortSchweiz 2« mit dem Untertitel »23 kriminelle Geschichten aus der viersprachigen Schweiz«, alle Texte auf Deutsch und im Anhang in der Originalsprache, die meines Wissens einzige viersprachige Anthologie, die 2007 mit einem Festival verknüpft war, das in allen vier Regionen jeweils mit mehrsprachigen Lesungen stattfand.

2009 verbanden wir uns zur länderübergreifenden Criminale Singen-Schaffhausen, die von einer zweibändigen Anthologie begleitet war. Die Schweizer Autor/innen schrieben für deutsche Gemeinden, die andern für die Anlässe in der Schweiz. »Gefährliche Nachbarn« hießen die beiden Titel. Seit damals ist der Gmeiner-Verlag unser Partner für alle Sammelbände.

2011 trafen wir uns in Zürich wiederum zu den »Mordstagen«, organisiert von der zu früh verstorbenen Jutta Motz, in Kombination mit dem Jahrestreffen der IACW (International Association of Crime Writers, die internationale Krimiautorenvereinigung). In der Konsequenz ergänzten wir die Schweizer Texte durch einige von unseren ausländischen Kolleg/innen. »Zürich, Ausfahrt Mord« war geboren.

2013 schließlich nahm Roger Strub das Heft in die Hand und war federführend bei der Criminale Bern-Solothurn-Burgdorf-Thun, zu der »Berner Blut« erschien, betreut von Sabina Altermatt und mir. Nach diesem Großanlass war allerdings ein bisschen die Luft draußen, die »Mordstage« wurden auf Eis gelegt.

Außerhalb von Festivals erschienen in immer kürzerem Rhythmus manchmal auch nur regional geprägte Anthologien. »Mord in Switzerland« (2013) und »Mord in Switzerland 2« (2016), herausgegeben von Mitra Devi und Petra Ivanov, umfassten noch die ganze deutschsprachige Schweiz. Die vier Bände von Verena Zürcher konzentrierten sich auf eine Region, mit »Mordsgeschichten aus dem Emmental« (2008) als Start, ergänzt durch »Neue …« (2009), »Noch mehr …« (2012) und »Kleine …« (2017). Dazu kamen »Berner Krimis« (2021), betreut vom Berner Schriftsteller/innenverein. Lutz Kreutzers »Schaurige Orte in der Schweiz« (2021) enthält Geschichten im Grenzbereich zwischen Krimi und Grusel, und Miriam Kunz’ »Mord im Chalet« (2022) und »Mehr …« (2023) erkunden das weihnachtliche sowie »Mord in der Badi« (2024) das sommerliche Tötungsverhalten. Die Stiftung Freulerpalast gab 2014 »Mord und andere Verbrechen. Kriminalgeschichten aus dem Glarnerland« heraus.

Erst mitten im Pandemiejahr 2020 nahmen wir unter der Führung von Christof Gasser mit Mike Brotschi als Vertreter der Stadt Grenchen einen neuen Anlauf, gründeten den »Verein Krimi Schweiz« und eröffneten im Herbst 2021 das »Schweizer Krimiarchiv« gleichzeitig mit dem neuen »Krimifestival« und der Anthologie »MordsSchweiz«, herausgegeben von Barbara Saladin und mir, genauso wie der Nachfolgeband »MordsSchweiz 2«, den wir mit acht Texten von Westschweizer Autor/innen, auf Deutsch übersetzt, erweiterten. Das vorliegende Buch ist nun das dritte der Serie und erscheint zum ebenfalls dritten Krimifestival, das am 18. Oktober 2025 in Bern stattfindet.

In den letzten dreißig Jahren waren die meisten Schweizer Krimiautor/innen an diesen aufwendigen, aber immer anregenden Aktivitäten beteiligt. Ich empfinde dies als eine gute und abwechslungsreiche Epoche. Der »Verein Krimi Schweiz« vertritt nun die gesamtschweizerische Szene, und sein Ziel ist es, das stetig gewachsene Interesse am einheimischen Krimi aufrechtzuerhalten oder gar zu steigern. Denn über eines müssen wir uns klar werden: Die Zukunft wird nicht einfach. Die Interessen der Menschen sind weiter gefächert als früher. Wir müssen uns also in einem schwierigeren Umfeld bewähren. Vielleicht verschieben sich die Publikationsmöglichkeiten ins Internet, vielleicht fasst das Lesen eines Buches als entschleunigte Tätigkeit wieder Fuß.

In »Müesli, Mord und Matterhorn« präsentieren wir mit fünfzehn Autor/innen wiederum verschiedene Formen und Inhalte. Sie decken eine breite Vielfalt des kriminalistischen Schreibens ab, von der klassischen Detektivgeschichte über den Täterblick und die Polizeiperspektive bis zu einem Blick in die Zukunft. Von der örtlichen Streuung her bewegen wir uns von Ost nach West durch das Mittelland, mit Ausflügen nach Basel, ins Berner Oberland und ins Wallis.

Nun mag man einwenden, mit »Müesli, Mord und Matterhorn« benutzten wir eine Klischeevorstellung der Schweiz (wie es »Banken, Blut und Berge« auch schon getan hat). Das ist richtig. Aber es geht nicht darum, die Klischees zu bedienen, sondern sie mit Blut oder Mord zu konterkarieren, die abgründige Tiefe hinter dem Idyll sichtbar zu machen. Im Müesli finden wir das Weiche, Elastische, im Matterhorn das harte Gestein, das es zu bezwingen gilt, und im Mord …

Lesen Sie selbst!

Paul Ott

Geheime Würzmischung

Christine Bonvin

»Du kannst dir nicht vorstellen, was ich heute erlebt habe«, rief Sofie schon an der Eingangstür. Nach ihrer täglichen Joggingrunde schmiss sie die Turnschuhe in eine Ecke der Garderobe. Auf dem Weg zur Küche schwatzte sie weiter. »Da steht doch unsere Nachbarin Carole … Hörst du mir überhaupt zu?«

Sie schaute sich nach ihrem Mann um.

»Wo hast du dich versteckt? Da habe ich mal etwas Brisantes zu berichten, und du bist nicht zu finden«, lamentierte sie. Sie hörte die Toilettenspülung und atmete auf. Nun würde sie die Neuigkeiten doch noch loswerden können. André betrat die Küche. Ohne Willkommensgruß befahl sie ihm: »Setzt dich und hör mir zu.«

»Was ist das für ein Tonfall?« Erstaunt betrachtete er seine Frau und schüttelte irritiert den Kopf.

»Stell dir vor, ich habe heute ein Menschenleben gerettet.« Sie hielt einen Moment inne und wartete auf den erhofften Applaus, der allerdings nicht erschallte. »Ich bin noch ganz aufgeregt und muss dir dringend berichten, was vorgefallen ist.«

»Dann hocken wir uns am besten hin und trinken einen Kamillentee. Du scheinst einen nötig zu haben.«

Während Sofie Wasser aufsetzte, sprach sie hastig weiter: »Carole, die Freundin unseres verstorbenen Nachbarn …« Sofie lief ein Schaudern über den Rücken. Sie schüttelte sich und fuhr aufgeregt fort: »Sie kommt anscheinend einfach nicht über den Selbstmord von Jean hinweg. Heute bin ich ihr bei der Dalabrückebegegnet. Sie stand ganz versunken am Geländer und starrte in die abgrundtiefe Schlucht. Ich fürchtete, dass sie demnächst runterspringen würde. Gefasst bin ich auf sie zugegangen, habe sie angesprochen und gefragt, ob wir zusammen zurück nach Salgesch gehen. Zuerst hat sie mich angeglotzt, als käme ich von einem anderen Planeten. Dann hat sie eingewilligt, und wir sind zusammen zurückgewandert. Dabei hat sie mir eröffnet, dass sie den Tod ihres Partners nicht verkraften könne. Sie hat Schuldgefühle, klagt aber auch seinen ehemaligen Arbeitgeber an, weil dieser ihren Freund wegen einer Bagatelle entlassen hatte.«

»Was war der Grund der Kündigung?«

»Der Chef hatte ihn erwischt, als er das Rezept der geheimen Würzmischung für das Trockenfleisch stehlen oder kopieren wollte.«

»Das empfinde ich allerdings nicht als Bagatelle. Im Wallis ist das so krass wie ein Pferdediebstahl in den USA zu Zeiten des Wilden Westens.«

Sofie verzog die Mundwinkel zu einem mühsamen Lächeln. Sie überlegte angespannt.

»Ich würde diesen Arbeitgeber gerne kennenlernen, ihn ein wenig aushorchen und seine Sicht hören. Ich habe da so eine Idee. Sind nicht wir an der Reihe, den nächsten Ausflug für unseren Chor zu organisieren? Wir könnten eine Führung durch die Fleischtrocknerei planen und diese zuerst selbst besichtigen. Vielleicht erfahren wir etwas.«

André nahm seine Frau ins Visier. »Was hast du vor? Du arbeitest nicht in einer Detektei. Die ganze Sache geht uns nichts an. Zudem haben wir abgemacht, dass wir uns nicht in die Angelegenheiten anderer Leute einmischen. Schon vergessen?«

»Es geht um das Leben von Carole. Sollte sie sich etwas antun, käme ich so richtig ins Schleudern. Ich würde mir Vorwürfe machen, dass ich ihr nicht beigestanden bin und etwas dagegen unternommen habe.«

»Hat sie dich darum gebeten?«

Sofie gab nicht sofort Antwort. Das anschließende Nein tönte lang gezogen. »Aber das spielt keine Rolle. Ich kann nicht untätig zuschauen. Punkt.«

Wie immer, wenn sich Sofie so resolut für etwas einsetzte, gab ihr Mann klein bei. Zudem hatte das Ausflugsziel zwei positive Aspekte: Seine Frau würde sich erst einmal beruhigen, und sie hatten einen Vorschlag für den Vereinsausflug.

Auf dem roten Hintergrund des Firmenschilds prangten die Konturen einer schwarzen Kuh mit Hörnern.

»Mächtiges Logo, mit dieser Eringerkuh. Findest du nicht auch, André?« Sofie blinzelte ihrem Mann zu.

»Auffällig und einprägsam«, antwortete er kurz und bündig, wie es seine Angewohnheit war.

Das Paar hatte schon am nächsten Tag einen Termin für die Betriebsbesichtigung bei der Fleischtrocknerei Mignon bekommen. Mit zufriedener Miene führte der Geschäftsführer Monsieur Bagne die Gäste durch die Firma. Mit den weißen Vliesmützen, den Schürzen und den Überzügen für die Schuhe sahen sie aus wie wandelnde Schneemänner. Zuerst besichtigten sie den Raum, in dem das frische Fleisch für die Würzung vorbereitet wurde. Vier Metzger beschäftigten sich mit der fachgerechten Zubereitung der Stücke. In der Vorratskammer für die Gewürze verweilten sie einen Moment länger. In fein säuberlich angeschriebenen Pappkartons lagerten Salz, Pfeffer, Bergkräuter und andere Ingredienzien in den Regalen. Auf einem Tisch standen eine Waage und ein Mischgerät.

»Hier liegt ein Teil des Erfolgs unserer Firma. Mein Großvater hat eine einzigartige Würzmischung kreiert. Niemand von der Konkurrenz konnte bis heute herausfinden, wie die Rezeptur unserer Gewürzmischung zusammengesetzt ist. Nur zwei Personen kennen das Geheimnis, und wir bewahren es sorgsam auf.«

Monsieur Bagne lächelte verschmitzt. Sofie schaute sich voller Entdeckerfreude um und erkannte viele Gewürze: Lorbeer, Knoblauch, Pfeffer, Salz, Basilikum, Liebstöckel, Salbei, Oregano, Majoran, Bohnenkraut, Thymian. Der Firmenchef zog ein kleines Notizheft aus der Brusttasche seines weißen Arbeitskittels.

»Hier drin ist die genaue Zusammensetzung vermerkt. Das gleiche Büchlein besitzt auch mein Chefmetzger. Jeden Abend schließen wir es in den Tresor ein. Wir fahren nie zur gleichen Zeit in die Ferien. Er und ich wachen getreu über diesen kostbaren Schatz.«

Sofie gelang es nicht, sich zurückhalten. »Hat noch nie jemand versucht, Ihnen das Rezept zu stehlen?«

Er fixierte sie. »Doch, natürlich. Das ist auch schon vorgekommen.«

Mehr sagte er dazu nicht. Und sie wagte nicht nachzubohren. Er drängte die Gruppe weiter zum benachbarten Raum.

»Nach der Zerlegung der Fleischstücke werden diese in Handarbeit mit der Salz- und Gewürzmischung überzogen, denn eine einheitliche und präzise Verteilung der Mischung auf der gesamten Oberfläche des Fleisches ist nur von Hand möglich. Das Fleisch wird zwei bis fünf Wochen in dieser Lake gelagert und regelmäßig gewendet, damit sich das Salz und die Gewürze harmonisch auf dem Fleisch verteilen. Nach dem Salzen und Würzen werden die Stücke in ein Netz gepackt und anschließend in Form gepresst. Das hat den Vorteil, dass es von außen nach innen gleichmäßig trocknet.«

Sie schauten dem Vorgang und den Arbeitenden mit großem Interesse zu. Sofie hatte das Gefühl, dass die Mitarbeitenden die Besucher ebenfalls musterten. Monsieur Bagne führte sie durch ein Gewirr von Gängen und Treppen. Als sie an einer Toilette vorbeikamen, nahm André die Gelegenheit wahr, um kurz auszutreten. Ein älterer Mann betrat bald nach ihm den Raum. Er hatte sie beide beim Rundgang auffällig fixiert. Vor dem Waschbecken sprach er ihn hastig an: »Sind Sie nicht aus demselben Dorf wie Jean?«

»Ja. Warum fragen Sie?«

»Haben Sie ihn gekannt, und würden Sie ihm wirklich einen Diebstahl zutrauen?«

»So wie ich Jean kannte, kann ich mir schlecht vorstellen, dass er es getan hat. Aber die Faktenlage scheint klar zu sein. Was denken Sie?« André stellte bewusst eine Gegenfrage und bekam auch umgehend Antwort.

»Ich habe zwanzig Jahre mit ihm zusammengearbeitet. Er war ein loyaler Kollege. Vermutlich hat ihn jemand reingelegt.«

»Wer ist jemand?«

»Ich will keine Gerüchte verbreiten, aber ich verdächtige …«

Bevor er den Satz beenden konnte, trat ein spindeldürrer Mann ein und schaute die beiden grimmig an.

»Wieder am Pause-Machen, Leon? Du solltest besser zurück an die Arbeit.«

Verschüchtert verschwand der Angesprochene, ohne sich zu verabschieden. André blieb verdutzt stehen.

»Herr Bagne wartet auf Sie.« Mit diesen Worten öffnete er die Tür und schob den Gast hinaus.

»Wir befinden uns jetzt in der ›Kathedrale‹. Hier sehen Sie, wie sich Geld in Luft auflösen kann.«

Monsieur Bagne hatte sie in einen der zwei Trocknungsräume geführt. Er lächelte augenzwinkernd.

»Nachdem die Fleischstücke in der Lake gereift sind, werden sie in diese Trockenkammer gebracht. In dieser Phase des Trocknens und der Reifung erhält das Fleisch seine charakteristischen Merkmale und entfaltet seine Persönlichkeit, wie wir den Prozess nennen. So entwickelt das Fleisch Tag für Tag sein so spezielles Aroma. Am Ende dieses Prozesses hat das Trockenfleisch fünfundvierzig bis fünfzig Prozent seines ursprünglichen Gewichts verloren und wiegt nur noch die Hälfte meines eingekauften Fleisches.«

Sofie sprach ihm grinsend ihr Bedauern aus. »Dafür verkaufen Sie es nachher dreimal so teuer. Natürlich habe ich heute gesehen, wie viel Arbeit und Zeit dahintersteckt. Es ist auf jeden Fall den Preis wert.«

Zuerst schaute Herr Bagne sie irritiert an, dann sah er den Schalk in ihren Augen. Er fuhr fort: »Die Fleischstücke ruhen je nach Größe bis zu vier Monaten in der ›Kathedrale‹. Gut Ding will Weile haben! Hier arbeitet die Zeit bei der Herstellung eines typisch traditionellen und geschmackvollen Produkts mit. Zeit ist ein wesentliches Element der Rezeptur. Sie erlaubt es der hauseigenen Gewürzmischung, bis ins Herz des Fleischstücks vorzudringen.«

Er schritt wieder durch ein Gewirr von Gängen und führte sie dann in einen holzgetäfelten Raum, das Carnotzet.

»Damit Sie ein ganzheitliches Erlebnis und schöne Erinnerungen nach Hause nehmen können«, schmunzelte er, »werden wir unsere Produkte und dazu ein Glas Wein genießen. Bitte setzen Sie sich.«

Auf einer roten Berkel Schwungradschneidemaschine schnitt er Rohschinken, Trockenfleisch, Trockenwurst und Speck. Geübt richtete er das Fleisch auf einem Holzbrett an. Der Duft von Alpwirtschaft erfüllte den Raum, als eine Mitarbeiterin verschiedene Sorten von geschnittenem Käse, Roggenbrot sowie eine kühle Flasche Fendant reinbrachte. Nach dem Zuprosten schaute Monsieur Bagne die beiden an und fragte geradeaus: »Sie wohnen doch im selben Dorf wie mein ehemaliger Mitarbeiter Jean. Und ich vermute, dass Sie nicht nur wegen der Betriebsbesichtigung gekommen sind? Stimmt das?«

André und Sofie warfen sich einen Blick zu.

»Wissen Sie, das Tal ist überschaubar. Die Leute kennen sich, und die Nachrichten verbreiten sich per Buschtrommel sehr schnell. Ich bin ein offener Mensch und erwarte das von meinen Mitmenschen ebenfalls.«

André fasste sich zuerst. »Ja, wir waren Nachbarn von Jean, aber wir wollten Sie in keiner Weise hintergehen. Wir planen wirklich einen Ausflug mit unserem Chor und wollten uns vorher selbst einmal umsehen.«

Sofie fügte hinzu: »Und bei dieser Gelegenheit möchten wir auch mehr über den Arbeitgeber von Jean erfahren. Carole, die Freundin von Jean, ist am Boden zerstört. Sie scheint von seiner Unschuld überzeugt. Wir möchten herausfinden, was passiert ist.«

»Dann hätten Sie mich direkt fragen können«, wendete Monsieur Bagne ein. Die Tonlage hatte an Schärfe zugenommen.

»Jetzt, wo wir Sie kennengelernt haben, wäre es sicher die bessere Lösung gewesen, von Anfang an alle Karten auf den Tisch zu legen. Entschuldigen Sie uns bitte. Würden Sie uns nun trotzdem etwas über den ehemaligen Mitarbeiter erzählen? Carole ist in einem Stimmungstief, und ich habe Angst, dass sie sich etwas antut. Mir geht es darum, weiteres Leid zu verhindern.«

»Wenn es der Sache dient, so bin ich nicht abgeneigt.«

Vorsichtig schob André nach: »Wir wollen uns selbst ein Bild machen. Im Moment kennen wir nur die Kurzfassung der Geschichte aus Sicht von Carole.«

Monsieur Bagne setzte ein ernstes Gesicht auf: »Ist ihr Zustand wirklich so besorgniserregend? Sie schien mir immer eine belastbare, starke Frau, die ihren Mann beinah dominierte.«

Sofie hielt es nicht mehr aus. »Ich bin ihr vor ein paar Tagen auf der Dalabrücke begegnet. Es sah aus, als wolle sie runterspringen. Ich habe mit ihr gesprochen. Wenn wir die Geschichte aus Ihrer Sicht hören, können wir allenfalls auf Carole einwirken.«

»So ist es«, bestätigte André. »Und wir wären wirklich froh, wenn wir mehr von Jean, seiner Arbeit und Ihrem Verhältnis zu ihm erfahren würden.«

Herr Bagne nahm die beiden scharf ins Visier und blieb einen Moment stumm. »Wie auch immer«, brummte er. »Ich habe nichts zu verbergen und wäre froh, wenn Carole zur Ruhe käme. Sie setzt Gerüchte in Umlauf, die unserem Betrieb schaden.«

»Sie wissen, dass sie Ihnen die Schuld für Jeans Tod gibt?«, hakte André nach.

»Tratsch wirkt in unserer Region. Ich muss dagegen angehen. Etwas verrate ich Ihnen: Ich war sehr betroffen, Jean mit meinem Geheimrezept zu erwischen. An jenem Tag hatte ich meinen Kittel achtlos an meinen Bürostuhl gehängt und war nach draußen gegangen, um einem Freund sein liegen gelassenes Mobiltelefon zu übergeben. Ich kam wohl schneller als erwartet in mein Büro zurück und habe Jean mit dem Heft in der Hand überrascht. Nie im Leben hätte ich ihm das zugetraut. Aber die Faktenlage war klar, und ich musste ihn auf der Stelle entlassen. Er beteuerte seine Unschuld. Aber wie es zu dieser Situation kam, wollte er nicht verraten. Er hat mir leidgetan, weil er seit mehr als zwanzig Jahren in unserem Betrieb war und ich ihn als loyalen Mitarbeiter eingestuft hatte.«

»Welche Arbeit hat er bei Ihnen ausgeführt?«

»Er hat das frische Fleisch zubereitet für die spätere Würzung.«

»Mit der Würzung selber hatte er nichts zu tun?«

»Nein, er war all die Jahre im gleichen Arbeitsfeld tätig.«

»Was war er für ein Mensch?«

»Ja, bis zum Tod seiner ersten Frau war er ein aufgestellter Mensch. Man kann fast sagen, ein lebensfroher Mann. In unserer Firma essen wir am Mittag zusammen in der Kantine. Bei dieser Gelegenheit lerne ich die Mitarbeiter auch ein wenig außerhalb des beruflichen Umfelds kennen. Er hat oft Späße gemacht, sich aber auch um andere Kollegen gekümmert, denen es nicht so gut ging. Als seine Frau erkrankte, wurde er immer stiller. Seine aufgeräumte Gesprächigkeit verstummte. Er erledigte die Arbeit zunehmend freudlos. Zudem schien er immer müde und unkonzentrierter zu sein. Mit viel Hingabe pflegte er seine Frau nach Arbeitsschluss. Nach ihrem Tod war er drei Wochen arbeitsunfähig. Als er wieder zur Arbeit erschien, sah er selbst aus – verzeihen Sie mir den Ausdruck – wie eine Leiche. Langsam, aber stetig erholte er sich wieder. Und dann vor ungefähr zwei Monaten nach seinem Urlaub im Vinschgau brachte er Carole mit. Er sah verliebt aus. Trotzdem wurde er nicht mehr der Alte. Dass er auf diese Weise aus dem Leben geschieden ist, tut mir von Herzen leid. Sicherlich steckt mehr als die Kündigung dahinter. Aber wir werden es wohl nie erfahren.«

Er hob das Weinglas und sprach einen Toast auf den Verstorbenen aus.

»Sollte Ihnen etwas zu Ohren kommen, geben Sie mir Bescheid.«

Dann stand er auf, bedankte sich für den Besuch und streckte Sofie die Hand entgegen. Das Paar verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und verabschiedete sich.

Auf dem Heimweg von der Besichtigung berichtete André von dem Intermezzo in der Toilette.

»Wir müssen rausfinden, wie dieser Leon mit Nachnamen heißt, wo er wohnt und was er mir anvertrauen wollte. Er hatte einen Riesenrespekt vor dem Spindeldürren und wagte nicht mehr weiterzusprechen.«

Sofie knüpfte sofort an: »Schau dich zu Hause doch einmal im Internet um. Vielleicht findest du etwas raus.«

André ließ sich nicht lange bitten. Kaum daheim, setzte er sich an den Computer. Leider existierten auf der Firmenwebsite von Mignon keine Bilder oder Namen von Mitarbeitenden. Er durchsuchte die Social-Media-Seiten. Die Trocknerei besaß weder einen Facebook- noch einen Instagram-Account. Das stachelte seinen Ehrgeiz erst recht an. Er gab auf Google verschiedene Wörter ein, und zwar in deutscher und französischer Sprache. Im zweisprachigen Wallis war es möglich, dass ein Artikel auf der einen Seite der Sprachgrenze erschien, auf der anderen aber nicht. Und siehe da: Nach langem Suchen wurde er fündig. Und zwar hatte er sich überlegt, welches Interesse Jean gehabt haben könnte, die Rezeptur der Würzmischung zu stehlen. Eine plausible Antwort wäre, dass ein Konkurrent seines Arbeitgebers ihm Geld versprochen oder ihn mit etwas erpresst hatte. Je länger er darüber nachdachte, umso mehr fesselte ihn der Fall. Er hatte den Suchbegriff »Trockenfleisch Wettbewerb International« eingegeben und war auf die Seite des multinationalen Fachwettbewerbs für Fleisch- und Wurstwaren gestoßen. Auf der Website selbst fand er keine sachdienlichen Hinweise. Jedoch gab es einen Link zu einer Facebook-Seite, und auf dieser wurde er fündig.

»Sofie!«, rief er. »Das glaubst du nicht!« Er sprang auf und rannte ins Wohnzimmer.

»Was ist passiert? Hast du im Lotto gewonnen?«

»Nein, viel besser. Komm schnell und schau dir das an.«

Er zog sie mit sich und deutete aufgeregt auf den Bildschirm.

»Siehst du, was ich sehe?«

»Was genau meinst du? Da sind Menschen, die miteinander lachen, anstoßen und feiern. Es scheint eine Preisverleihung zu sein. Ich erkenne niemanden.«

»Stimmt. Du hast ihn ja nicht gesehen. Schau mal.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf eine Person. »Dieser Mann ist der Spindeldürre, der auf der Toilette den potenziellen Informanten zurechtgewiesen hat. Er steht bei einer internationalen Preisverleihung für Fleisch- und Wurstwaren neben einem der größten Konkurrenten von Mignon. Das kann doch kein Zufall sein. Irgendetwas ist da faul.«

»André, du bist genial. Das sieht nach einer brisanten Entdeckung aus. Ich frage mich, ob Herr Bagne weiß, wen er angestellt hat. Wir sollten ihm vorsichtshalber das Bild mailen. Wahrscheinlich weiß er gar nicht, dass ein Spion bei ihm arbeitet. Er läuft Gefahr, dass ihm das Rezept wirklich gestohlen wird.«

André nickte. »Ich nehme an, dass es der Konkurrenz nicht gelungen ist, das Geheimrezept mit Jeans Hilfe an sich zu bringen, und nun haben sie einen Mann aus den eigenen Reihen dort eingeschleust. Das würde doch Sinn ergeben?«

»Und weil unser Nachbar erfolglos war und deshalb wahrscheinlich bedrängt wurde, hat er Selbstmord begangen …« Sofie legte eine Denkpause ein. »… oder er wurde aus dem Weg geschafft.«

»Jetzt gehst du aber zu weit mit deinen Fantasien, meine Liebe. Erstens ist noch nichts von unseren Hypothesen bestätigt, und zweitens hat die Polizei die Todesursache sicherlich abgeklärt.«

»Es könnte ja sein«, murrte sie. »Alle sagen, dass er kein Typ war, der sich selbst das Leben nehmen würde.«

»Zuerst senden wir jetzt Monsieur Bagne eine Mail mit dem Bild und fragen, ob er gewusst hat, dass sein Mitarbeiter mit der Konkurrenz in Kontakt ist. Danach und erst danach sprechen wir mit Carole. Bist du mit dieser Vorgehensweise einverstanden?«

»Es regiert wieder einmal der Verstand in unserem Haus. Aber du hast wie fast immer recht. Ich werde mich zurückhalten und unsere Nachbarin noch nicht einweihen, bis wir eine Rückmeldung des Patrons von Mignon haben.« Schnell fügte sie an: »Aber meine Geduld hält sich in Grenzen. Ich möchte ihr unbedingt bald Bescheid geben.«

André grinste.

Die Antwort auf die Mail kam am nächsten Nachmittag. Monsieur Bagne bedankte sich ausführlich und teilte mit, dass sich der »feine Herr« tatsächlich mit falschen Papieren eingeschlichen habe. Er habe sich auf die freie Stelle von Jean beworben und stamme ursprünglich aus Südtirol. Sie hätten ihn am Morgen auf frischer Tat ertappt. Sie hatten das Rezeptbüchlein offen rumliegen lassen. Er sei auf den Trick reingefallen, habe das Rezept fotografiert und weitergeschickt. Bis die Polizei vor Ort war, schlossen sie ihn in einen Kühlraum. Der Täter habe gestanden, ein Cousin des größten Konkurrenten zu sein. Ein Geschenkpaket mit Fleisch- und Wurstwaren werde heute zum Dank an die beiden Ermittler überbracht. Der Firmenchef verriet aber nicht, dass es sich beim liegen gelassenen Rezept um eine Anleitung handelte, in der eine Zutat bewirkte, dass das Trockenfleisch ungenießbar wurde.

»Ich rufe Carole an und lade sie zum Nachtessen ein. Wir teilen ihr mit, dass wir jetzt wissen, wie sich alles zugetragen hat.«

»Tun wir das?«

»Natürlich. Ist doch klar. Jean wurde von der Konkurrenz gezwungen, das Rezept zu stehlen. Er hat es nicht geschafft und sich aus Scham umgebracht, und dann haben sie einen Ersatz eingeschleust.«

André runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, dass es so einfach ist. Aber bitte Carole trotzdem her. Das wird ihr guttun.«

Carole nahm die telefonische Einladung zum Essen gerne an. Sofie hatte ihr den wahren Grund nicht verraten. Beim Apéro im Wohnzimmer ließ die Gastgeberin die Bombe platzen.

»André und ich haben alles rausgefunden. Wir wissen, wer Schuld hat am Tod deines Mannes.«

Carole wurde totenblass, ihre Augen weiteten sich. Sie ließ ihr Weinglas fallen und stieß einen Schrei aus. Die Hände zitterten. Irritiert fragte Sofie: »Ist dir nicht gut?«

Sie bekam keine Antwort. Der ganze Körper der Frau vibrierte, der Blick schaute ins Leere, die Haut war aschfahl.

»Unternimm was, André!«

Ihr Mann rannte in die Küche, holte ein nasses Tuch und ein Glas Wasser. Zwischenzeitlich hatte Sofie Carole auf das Sofa gelegt. Den Lappen legten sie der Nachbarin auf die Stirn. Es kam keine Reaktion.

»Müssen wir einen Krankenwagen rufen?«

Bei dieser Frage reagierte Carole abrupt. »Nein. Hört mir zu.«

André und Sofie sahen sich erstaunt an, schwiegen aber. Sie setzten sich in die Nähe des Sofas und hörten zu.

»Ich habe ihn umgebracht.«

Ein Weinkrampf schüttelte Carole, und es dauerte eine Weile, bis sie weiterfuhr. Sofie streichelte ihr sanft über den Rücken.

»Dich trifft keine Schuld«, flüsterte sie.

Unwirsch stieß Carole die Hand zur Seite. »Du hast null Ahnung. Ich bin eine Mörderin.«

Sie saß da wie das heulende Elend. Mühsam kamen die Worte über ihre Lippen.

»Ein Cousin aus Südtirol hatte mich erpresst und gedroht, meinen betagten Eltern etwas anzutun und sie zu informieren, dass ich im Bordell gearbeitet habe. Er hat mich explizit auf Jean angesetzt. Er wusste, wo dieser jeweils seine Ferien verbrachte: immer am selben Ort, an dem er schon mit seiner Frau jeweils schöne Tage verlebt hat. Dort trafen wir uns das erste Mal. Ich erfüllte meine Aufgabe mit Bravour. Jean verliebte sich in mich, und bald besuchte ich ihn regelmäßig im Wallis. Die Strippenzieher forderten von mir, dass ich Jean davon überzeugen solle, das Geheimrezept bei Mignon zu kopieren oder zu stehlen und an sie weiterzugeben. Ich kann heute noch nicht sagen, wie ich das geschafft habe. Leider ist ihm der Auftrag missglückt. Dass er sich darauf eingelassen hat und deshalb seine Stelle verlor, hat ihn wirklich tief getroffen. Zusätzlich zum Rauswurf erfuhr er von meinen Auftraggebern den wahren Grund unseres Zusammenseins. Er war am Boden zerstört und zwang mich, noch am selben Tag zu packen. Während ich meine Habseligkeiten zusammensuchte, saß er am Küchentisch und entwarf ein Geständnis für Monsieur Bagne. Er schrieb unter anderem, dass es ihm leidtue, er aber keinen anderen Ausweg gesehen habe. Diesen Teil des Briefes habe ich später genutzt, um der Polizei aufzuzeigen, dass er lebensmüde war und allem ein Ende setzen wollte. Im Flur stand sein Rucksack, den er für seine Wanderung bereitgestellt hatte. Er hatte das Bedürfnis nach frischer Luft und Bewegung. Wenn er zurückkomme, wolle er mich nicht mehr antreffen, sagte er. Aus Angst vor den Konsequenzen meiner Auftraggeber habe ich einen Augenblick seiner Unachtsamkeit genutzt. Ich habe eine Packung Schlafmittel in seine Thermoskanne geleert und zünftig geschüttelt.«

Der Sprung aus der Zeit

Wolfgang Bortlik

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Auf der Brücke über den Rhein, wo früher jahrzehntelang die Autos hin und her gerauscht oder in langen Staus gestanden waren, herrschte an diesem Freitagnachmittag im Jahre 2058 der tägliche Kleinverkehr. Der Belag der Straße war längst gebrochen und alles andere als gut befahrbar, aber das spielte keine Rolle. Unterwegs waren meist Fahrräder in allen Varianten, die den geborstenen Asphalt elegant umkurvten. Ein paar Lieferwagen steuerten vorsichtig über die Hindernisse, einige hatten auf Holzvergaser umgerüstet, auch wenn es immer noch ein bisschen Benzin gab. Nur auf die Verfügbarkeit von Elektrizität war seit Jahren kein Verlass mehr. Neben der Straße befanden sich die Geleise, auf denen einst die Intercity-Züge dahingeglitten waren. Dort wuchs das Unkraut hoch. Hier pfiff und keuchte höchstens eine Dampflokomotive mit ein paar Wagen dahin. Es ging gen Freiburg im Breisgau oder Straßburg zu. Und wieder zurück. Aber nur, wenn genügend Material zur Erzeugung von Dampfkraft vorhanden war. Basel war nicht mehr an die großen Verkehrsströme angehängt, Europa war nicht mehr so wichtig. Die Musik spielte anderswo.

Tim Fischer trat in die Pedale seines Fahrrads und kreuzte ein paar jugendliche Rollschuhfahrer, die große Rucksäcke trugen. Sie waren als Kuriere zwischen der Räterepublik Kleinbasel und den verschiedenen bürgerlichen Einheiten im Grossbasel unterwegs. So wurde der Warenverkehr aufrechterhalten. Der Tausch war mittlerweile normal, das war auch viel einfacher als unnützes Geld: gesundes Gemüse gegen schöne Sachen, Werkzeuge gegen Bücher, Unterhaltung gegen Muskelkraft, Kopf- gegen Handarbeit, frisches Brot gegen gute Geschichten, Musikkassetten gegen Romane, Kunst gegen Kitsch, Rezeptsammlungen gegen Wundermittel, Notenblätter gegen geheimes Wissen, Webstühle gegen bequeme Stühle. Manchmal wurde lange verhandelt, das gehörte zum sozialen Leben.

Links, am rechtsrheinischen Ufer Basels, ragten immer noch die imposanten Türme eines ausgewanderten Chemie-Giganten in den trüben Himmel. Direkt an der Brücke stand das ehemalige Tinguely-Museum, dessen Äußeres etwas charmant Ruinöses hatte. Dem Namensgeber dieses Gebäudes hätte diese abgewrackte Fassade sicher gut gefallen. Dorthin war Fischer unterwegs. Ivy, seine Nichte, lebte dort. Er wollte ihr ein paar Bücher aus der Bibliothek ihres Großvaters bringen und diese für ein ordentliches Essen eintauschen.