Mulele - Michael Birnbaum - E-Book

Mulele E-Book

Michael Birnbaum

0,0

Beschreibung

Kongo, 1996: Inmitten des Krieges stößt Journalist Michael Baumann auf ein verstörendes Gerücht – von einem Rebellenchef, der das Kind einer entführten Missionarin sein soll. Als Baumann zu Mulele vordringt, wird er vom Beobachter zum Komplizen. Doch als der Krieg endet, muss er eine tödliche Entscheidung treffen: zwischen der Wahrheit … und seinem eigenen Überleben. Ein Krieg. Ein Geheimnis. Eine unmögliche Entscheidung. Zur 2. Auflage: Der Roman hat nur geringfügig an Umfang gewonnen. Ich habe ein zuvor herausgelassenes Kapitel, »Blick zurück im Zorn«, wieder aufgenommen, das die Ereignisse um Kisangani in den 60er Jahren beschreibt, als Simba-Rebellen Weiße als Geiseln nahmen. Diese Geschehnisse sind für Mulele entscheidend. Sie zeigen auch, wie wir Europäer uns nur dann einmischen, wenn eigene Landsleute betroffen sind.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 379

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michael Birnbaum

MULELE

Ein Roman aus dem Herzen Afrikas

Baumann-Reihe, Band, Nr. 1

Michael Birnbaum

Über das Buch

Kongo, 1996: Inmitten des Krieges stößt Journalist Michael Baumann auf ein verstörendes Gerücht – von einem Rebellen-chef, der das Kind einer entführten Missionarin sein soll. Als Baumann zu Mulele vordringt, wird er vom Beobachter zum Komplizen. Doch als der Krieg endet, muss er eine tödliche Entscheidung treffen: zwischen der Wahrheit … und seinem eigenen Überleben.

Ein Krieg. Ein Geheimnis. Eine unmögliche Entscheidung.

Über den Autor

Michael Birnbaum war jahrelang Afrika-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung. Seine Erlebnisse und Erfahrungen in dieser Zeit inspirierten ihn zu seinen Afrika-Romanen der Baumann-Reihe – von denen er immer behaupten wird, sie seien ganz und gar erfunden. Heute lebt er in München.

2

MULELE – Ein Roman aus dem Herzen Afrikas

Michael Birnbaum

MULELE

Ein Roman aus dem Herzen Afrikas

2. Auflage

3

Michael Birnbaum

»Wenn zwei Elefanten sich streiten, leidet das Gras«

Afrikanisches Sprichwort

Für Petra

Impressum

Texte: © 2025 Copyright by Michael Birnbaum

Umschlag: © 2025 Copyright by Michael Birnbaum

Verantwortlich

für den Inhalt: Michael Birnbaum

Höslstr. 10

81927 München

[email protected]

Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

4

MULELE – Ein Roman aus dem Herzen Afrikas

Vorwort zur 2., ungekürzten Auflage

Keine Sorge, der ursprüngliche Roman »MULELE« ist nicht viel länger geworden. Nach langem Überlegen habe ich nur ein Kapitel wieder mit hineingenommen, das ich in der ersten Ausgabe herausgelassen habe – aus Angst, den Leser mit Afrika und seiner jüngsten Geschichte zu überfrachten. Dieses Kapitel »Blick zurück im Zorn« schildert romanhaft die Ereig-nisse um Kisangani Mitte der 60er Jahre, als die Simba-Rebel-len auch Weiße als Geiseln genommen hatten. In diesen Unru-hen wurde die weiße Missionarin entführt, geschwängert und ermordet, Geschehnisse, die für MULELE sinnstiftend sind.

Zudem »ordnen« die Ereignisse von damals den Blick von uns Europäern auf den Kontinent relativ gut ein: Sobald welche »von uns« betroffen sind, mischen wir uns ein – sonst eher nicht. Das Kapitel passte von Anfang an, nur ich war nicht mu-tig genug, diesen »Zeitsprung« zu wagen. Inzwischen bin ich mutiger geworden. So gut wie alle handelnden Personen sind damals wirklich dabei gewesen, aber mein Roman ist kein Sachbuch. Alle Zitate und Gedanken entspringen nur meiner Autorenfantasie. Nichts für ungut, möchte ich deshalb den his-torischen Personen zurufen.

Um eine zweite Auflage zu rechtfertigen, habe ich den gan-zen Text noch einmal lektoriert. MULELE ist schließlich mein erster Roman, und am Anfang macht einer wie ich eben jeden möglichen Fehler. Danke an die Leser, die mich in den vergan-

5

Michael Birnbaum

genen Jahren auf typografische oder Zeichensetzungsfehler aufmerksam gemacht haben.

Viele Fehlerteufelchen habe ich »fliegend« korrigiert. Das geht bei eBooks ganz einfach. Und da auch meine Taschenbü-cher »print on demand« hergestellt werden, ist das gedruckte Manuskript immer besser geworden. Aber es steckten viele Teufelchen in MULELE drin. Es brauchte einen größeren Waschgang. Ich hoffe, die meisten sprachlichen Ungenauigkei-ten nun ausgemerzt zu haben. Nach vier Romanen entwickelt sich doch so etwas wie Routine.

Aber das ist freilich keine Gewähr dafür, dass nicht doch noch der eine oder andere Flüchtigkeitsfehler überlebt hat. Hierfür bitte ich schon im Voraus um Nachsicht.

Michael Birnbaum, 2025

6

MULELE – Ein Roman aus dem Herzen Afrikas

UNBEKANNTES LEBEN

Der Überfall

Jacob Nkunda starb an einem Mittwoch, kurz vor Mitternacht, keine fünfzig Schritte von seinem Haus entfernt. In jenem Moment dachte er noch an Maria, die junge Frau, die er vor einer Woche als seine Geliebte hierher in den Wald gebracht hatte.

Jacob Nkunda liebte Frauen, besonders wenn sie so jung waren wie Maria. Er hatte sie nie nach ihrem Alter gefragt. Sein »Kollege« von der Lords Resistance Army hatte sie ihm bei einem Besuch überlassen – ein Geschenk. Älter als vier-zehn konnte sie nicht sein. Beim ersten Mal hatte sie diese Pil-len geschluckt, dann ihn plötzlich, wie von einem Rausch ge-packt, an der Hand genommen und ins hohe Gras neben den Hütten gezogen, irgendwo in diesem Niemandsland Nord-Ugandas.

An diese Erinnerung klammerte sich Nkunda, als er vor die Tür trat, um eine Zigarette zu rauchen. Doch während er den ersten Zug genoss, das Knistern des Tabaks, den bläulichen Rauch, der sich in der schwülen Luft verfing, atmete wenige Meter entfernt, verborgen unter Farnen, Bobby Brown langsam aus. Sein Atem bildete kleine Dunstwolken in der feuchten Hitze. Er sollte nicht hier sein. Selbst seine Anwesenheit, schien es, war ein unerwünschtes Eindringen in diese Welt.

Die Stille schrie in seinen Ohren.

7

Michael Birnbaum

Die drückende Schwüle presste ihn gegen den Boden.

Schweißperlen rannten unter seinem Tarncape hervor, eine davon tropfte auf seine Nase, kühl und salzig. Langsam kroch der Tropfen den Nasenrücken hinab, zögerte an der Spitze, bog dann abrupt nach rechts ab, kitzelte den Flügel, bevor er schließlich an der Oberlippe hängenblieb. Mit einem schnellen Zungenstreich war er verschwunden.

Bloß nicht niesen. Nicht jetzt. Nicht, wenn alles gleich ge-schehen würde. Hoffentlich. Er konnte nicht mehr warten. Schon Stunden lag er hier, auf diesem modrig riechenden Waldboden, der mit der Zeit lebendig geworden war – ein schleichendes Gewimmel unter ihm. Sein rechtes Bein war immer wieder eingeschlafen, trotz des rhythmischen Muskel-anspannens, das er dagegen einsetzte.

Einmal, vor Stunden, hatte er Geräusche aus der Hütte ge-hört. Ein Stöhnen, dann ein dumpfes Poltern. Doch niemand war herausgekommen.

Jetzt kämpfte Bobby nur noch gegen die Müdigkeit. Sein Blick verschwamm unter schweißnassen Lidern.

Dann – Bewegung. Die Tür der Hütte öffnete sich.

Jacob Nkunda hob die Zigarette an die Lippen. Der erste Zug war immer der beste. Der Rauch strömte tief in seine Lun-ge, vermischte sich mit der feuchten Regenwaldluft.

In diesem Moment schnappte der Gewehrbolzen metallisch.

Der Schuss traf Nkunda zwischen die Augen, noch ehe der Knall ihn erreichte. Sein Körper sackte langsamer zusammen, als seine Seele in die Hölle fuhr.

Bobby Brown schraubte gelassen den Schalldämpfer ab, faltete das Gewehr zusammen und verstaute es im Rucksack. Dann kroch er rückwärts, Meter um Meter, bis er sicher war.

Kein Aufschrei. Kein Schritt. Nur das langsame Wiederer-wachen des Waldes – Vogelgezwitscher, das Summen eines Insekts.

Er richtete sich auf, ging erst in die Hocke, dann aufrecht, und verschwand zwischen den Bäumen.

Auftrag erledigt. So einfach konnte es sein.

8

MULELE – Ein Roman aus dem Herzen Afrikas

Am Grenzfluss

Die Nacht senkte sich träge über die Landschaft. Das undurch-dringliche Grün der Wälder jenseits des Flusses verschluckte sich in tiefem Schwarz. Rusizi – so hieß das träge Gewässer. Es quoll aus dem Kivusee und wand sich wie ein schuppiger Rep-tilienleib gen Süden, durch die Hügel, bis es im Tanganjikasee verschwand. Hier hatten einst europäische Herren mit Tropen-helmen nach den Quellen des Nils gesucht.

Michael Baumann, der Zeitungsmann, rieb sich die Augen. Der Tag war fruchtlos verronnen. Wieder einmal ein Krieg am Ende der Welt, und keiner wusste genau, wer hier eigentlich gegen wen kämpfte. Baumann schüttelte den Kopf. Seine Be-gleiter, Paul Kuhn und Achim »das Auge« Stromberg, ein Re-porter- und Kamerateam des deutschen Fernsehens, schwiegen. Das Schweigen klebte wie Schweiß.

»Lass uns was trinken. Und essen«, riss Paul Kuhn mit sei-ner blechernen Stimme die Stille. Die Plastiktische hockten wie müde Esel im Hof – Billigware aus einem Abholmarkt.

»Hotel Kivu« stand in verwaschenen Lettern auf dem Schild über der Tür. Ein pompöser Name für diese Bruchbude. Die Wände waren schief verputzt und dann weiß getüncht worden, mit jenem blauen Streifen knapp über dem Boden, den sie seit dem Sieg der Tutsi-Rebellen überall in Ruanda aufge-tragen hatten. Ein Ritual, so sinnentleert wie das Kreuzzeichen in einer leeren Kirche.

Das Hotel klebte an der Grenzstation zwischen Ruanda und Kongo, direkt am trägen Rusizi. Ein Betonklotz mit vorgela-gerter Terrasse, die als Restaurant diente. Oben gab es viel-leicht Zimmer. Mehr nicht. Standard für Cyangugu, wie dieses Grenznest hieß. Aber wer würde hier freiwillig übernachten wollen?

»Zaire«, stöhnte Achim, das Auge. »Immer wieder dieser verdammte Kongo. Das letzte Mal stand ich hier, als sich Hu-tus und Tutsis gegenseitig abstachen. Wann war das?« Seine Stimme klang wie rostiges Eisen.

Paul Kuhn und Baumann wechselten einen Blick. Achim war müde geworden. Der Krieg hatte ihn ausgehöhlt wie einen

9

Michael Birnbaum

alten Baumstamm. Er prozessierte gegen seinen Sender um Frührente, drehte nur noch das Nötigste. Doch Ersatz war nicht in Sicht.

Der Kellner schlurfte heran. »Drei Primus. Und zwar eis-kalt«, bestellte Kuhn. Das Bier kam aus Bukavu, jenseits der Hügel – bittersüß und schwer wie die Luft vor dem Gewitter. »Belgisches Erbe«, murmelte Kuhn. »Kommt in Litergläser. Was esst ihr?«

Huhn mit Kartoffeln. Die Wahl war einfach, denn mehr gab es nicht. Baumann beobachtete, wie der Kellner unter dem flackernden Neonlicht drei braune Flaschen aus dem Kühl-schrank zog. Immer wieder ein kurzes Pling, wenn eine Mücke im Licht verglühte. Irgendwo plätscherte der Rusizi sein ewi-ges Lied.

Baumann fühlte die Nutzlosigkeit des Tages wie einen Stein im Schuh. Dieses schäbige Hotel, dieser Plastiktisch, diese sinnlose Recherche. Sie hatten nach Augenzeugen ge-sucht, nach Menschen von drüben. Gefunden hatten sie nur Schweigen.

»War wohl nichts«, sagte Kuhn.

Baumann trank einen großen Schluck. Das Bier schmeckte nach prallem Leben.

Dann zerfetzten Schüsse die Nacht. Maschinengewehrfeuer hämmerte gegen die Stille, und immer wieder dröhnte das dumpfe Grollen von Mörsergranaten durch das schwarze Di-ckicht jenseits des Flusses.

Alle warfen sich zu Boden. Nur Oberstleutnant Cesar Kay-zali von der ruandischen Armee blieb sitzen, als ginge ihn das Ganze nichts an. Er aß weiter, langsam, fast andächtig. Erst nach einer Weile seufzte er und funkte seinen Leuten: »Nicht zurückschießen.«

Und siehe da: Ohne Gegenfeuer erlahmte auch der Eifer der Kämpfer in Zaire. Die Nacht verschluckte den Lärm, nur der Rusizi flüsterte weiter.

Später, als der Mond über dem Kivusee stand und die Vi-runga-Vulkane wie aus Silber geschnitten wirkten, hallten nur noch vereinzelte Schüsse durch die Dunkelheit. Friede. Eine

10

MULELE – Ein Roman aus dem Herzen Afrikas

Farce. Die Welt redete von einem neuen Flüchtlingsdrama, von Hunderttausenden Hutus, die 1994 vor dem Genozid nach Zai-re geflohen waren und nun wieder fliehen mussten. Ein Kreis-lauf aus Blut und Staub.

Hotel Kigali

Ein zufriedenes Grinsen lag auf Bobbys Gesicht. Solche Tage lebte er in vollen Zügen – das warme Sonnenlicht, das sanft seine Haut streifte, das lebendige Summen der pulsierenden Stadt, das klimatisierte Hotelzimmer mit seiner gleichmäßigen Kühle.

So sollte es sein. Alles hatte bislang reibungslos funktio-niert, ein präzises Uhrwerk. Und heute war sein wohlverdienter Ruhetag. Nichts konnte mehr schiefgehen.

Kigali zeigte sich ihm zumindest von diesem Zimmer aus von seiner schönsten Seite: sanfte grüne Hügel, übersät mit niedrigen Häusern, die sich bis zum Horizont erstreckten. Die Luft war klar, der Lärm gedämpft, und überall, wohin er blick-te, entdeckte er Bananenstauden mit ihren fächerartigen Blät-tern. Nirgendwo ragte ein Gebäude höher als zwei, drei Stock-werke empor.

Die Art, wie sich Straßen und Häuser an die Konturen der Hügel schmiegten, verlieh der Stadt etwas Puppenstubenhaftes. Schade nur, dass er nicht die Gelegenheit haben würde, durch diese verwinkelten Gassen zu streifen, die Menschen zu beob-achten, in irgendeinem schattigen Winkel einen Kaffee oder ein kühles Bier zu trinken.

Noch lag morgendliche Frische in der Luft, doch man konnte bereits erahnen, wie die Hitze mittags über der Stadt lasten würde.

Dieser Moment war das Ergebnis langer Vorbereitung. Mit achtundzwanzig Jahren hatte Bobby Brown bereits einiges erreicht. Aufgewachsen in der Bronx, mit siebzehn zu den Ma-rines gegangen. Für einen jungen Schwarzen ungewöhnlich

11

Michael Birnbaum

groß gewachsen – ein Meter neunzig, muskulös, trainiert. Das Haar trug er kurz geschoren, den einst gepflegten Oberlippen-bart längst abrasiert. Doch für diese Mission hatte er nicht nur seinen Körper stählen müssen, sondern vor allem den Geist. Sechs Monate intensiven Studiums lagen hinter ihm.

Bobby begann, seinen kleinen Koffer auszupacken.

»Sie müssen verstehen, dass es hier um ein reiches kulturel-les Erbe geht«, hatte der alte Professor zu ihm gesagt. »Um eine jahrtausendealte Tradition. Und dieses Erbe liegt nun in Ihren Händen.« Der Professor – stets in großen historischen Bögen denkend. Bobby hatte ihn vom ersten Treffen an ge-mocht. Noch jetzt zauberte die Erinnerung an ihn ein Lächeln auf sein Gesicht.

Wochen hatten sie miteinander verbracht. Zuerst in einem Ausbildungszentrum bei Baltimore, dann, noch schöner, in dem herrlichen Anwesen des Professors in Florida. Ein beein-druckendes Haus, ein faszinierender Mann. Sein Wissen schien grenzenlos, und er verstand es, dieses Wissen weiterzugeben wie ein begnadeter Geschichtenerzähler.

Afrika, dachte Bobby. Dieser Kontinent ist meine Bestim-mung. Irgendwo hier gehöre ich hin. In seinen fast runden, braunen Augen spiegelte sich ein Hauch von Melancholie wi-der. Seit ich auf eigenen Beinen stehe, beschäftige ich mich mit nichts anderem. Ein Anflug von Stolz verdrängte die Wehmut. Durch das Fenster beobachtete er den dünnen Rauchfaden, der sich vom gegenüberliegenden Hügel gen Himmel schlängelte. Der Tag erwachte. Überall stiegen ähnliche Rauchsäulen auf. So sieht Freiheit aus, dachte Bobby.

»Sie gehören zu einer seltsamen Elite«, hatte der Professor beim Abendessen gesagt. »Kein Intellektueller, obwohl Sie überaus klug sind. Sie wissen mehr über Waffen und Technik als die meisten Ingenieure, sind aber kein Konstrukteur.«

Dann war das entscheidende Wort gefallen: »Sie sind die perfekte Tötungsmaschine – clever, hervorragend ausgebildet, körperlich fit und entschlossen, alles richtigzumachen.«

Ein weiterer Vorteil: Bobby kannte keinen Schmerz. Seine Hände glitten über den muskulösen Rücken, spürten die Narbe, die wie ein erhabener Streifen knapp über dem Steißbein ver-

12

MULELE – Ein Roman aus dem Herzen Afrikas

lief. Eine Granate hatte ihn dort gestreift, die Nervenbahnen durchtrennt. Nicht alle – sonst hätten ihn die Ärzte nicht wieder zusammensetzen können. Aber Somalia hatte seine Spuren hinterlassen, nicht nur auf seinem Rücken. Diesmal würde alles anders laufen.

Wie ein gefangener Tiger schritt Bobby unruhig vor dem Fenster auf und ab. Seine Ausbilder hatten ihn im Nahkampf geschult, Mann gegen Mann, mit Pistole und vor allem mit dem Messer. Und dann das stundenlange Studium der Karten. Er kannte jedes Fleckchen dieses Gebiets, jeden Pfad, jede Wasserstelle.

»Wasser ist der Schlüssel«, hatte Major Tom Atkinson, sein strategischer Ausbilder, immer betont. »Im Buschkrieg finden Sie Ihren Feind immer dort, wo das Wasser ist. Denn dorthin muss er kommen.« Wasser gab es überall, aber ohne sauberes Wasser konnte niemand überleben – auch keine marodierenden Milizen.

Bobby wandte sich vom Fenster ab und ging ins Badezim-mer. Er hatte Zeit. Der Einsatz begann erst in der kommenden Nacht. Und da niemand sagen konnte, wie lange er in der Wildnis unterwegs sein würde, beschloss er, die Annehmlich-keiten der Zivilisation noch auszukosten.

Er schüttelte die Flasche mit Rasierschaum und ließ eine Handvoll der weißen Masse in seine linke Hand spritzen. Der Wasserhahn mit der Aufschrift »chaud« war voll aufgedreht. Das Wasser wurde nicht wirklich heiß, aber immerhin lau-warm. Er stellte den Schaum ab, benetzte sein Gesicht und verteilte den Schaum genüsslich auf Wangen und Hals. Vor-sichtig begann er, sich mit dem Einwegrasierer zu rasieren.

Plötzlich durchschnitt das schrille Klingeln des Telefons die Stille.

Bobby wischte sich den Schaum von der Wange und griff zum Hörer. »Hallo?« »Hier ist Julie«, sagte eine Frauenstimme. »Alles in Ordnung?« »Julie, wer?«, fragte Bobby zurück. Eine Pause entstand. »Ich bin deine Kontaktperson bei den Verein-ten Nationen. Erinnerst du dich nicht?«

13

Michael Birnbaum

Bobbys Gedanken rasten. Julie? Wer zum Teufel war Julie? Und wie wusste jemand, dass er in diesem Hotelzimmer war? Diese UN-Geschichte – irgendetwas stimmte hier nicht.

Offiziell war Bobby als US-Militärbeobachter in Ruanda. Seine Papiere bescheinigten, dass er den UN-Blauhelmen bei ihrer Mission helfen sollte, Menschenrechtsverletzungen auf-zudecken. Immerhin tobte an den Großen Seen ein Krieg, und die UN wollten sich nicht wieder blamieren wie 1994 während des Völkermords. Also war Bobby offiziell als UN-Militärbe-obachter unterwegs.

Aber Julie? Wer war diese Frau?

Niemand außer dem Militärattaché der US-Botschaft wuss-te von Bobbys Anwesenheit in Kigali. Warte – beim Einreisen hatte er mit dem Fahrer des Botschaftswagens gesprochen. »Für die UN unterwegs, was?«, hatte der Mann gefragt. Kein Amerikaner, ein Einheimischer. Bobby hatte nur genickt. Mehr wäre nicht nur unhöflich, sondern verdächtig gewesen.

Seitdem hatte er mit niemandem gesprochen. So lauteten die Anweisungen: Einreise, Transfer ins Hotel, im Zimmer bleiben bis zur Dunkelheit, dann Kontakt aufnehmen und die Grenze überqueren.

Wer also war Julie?

»Tut mir leid, ich kenne Sie nicht«, sagte Bobby und legte auf.

Vermutlich eine falsche Verbindung. Das Hotel war sicher voll mit UN-Leuten und Journalisten. Die Rezeption hatte sich wohl in der Zimmernummer vertan.

Bobby betrachtete sich im Spiegel neben dem Schreibtisch. Kein Gramm Fett, er schnippte am Bund seiner Unterhose. Gut in Form – da konnten es auch zwei Eier zum Frühstück sein. Frühstück – genau das brauchte er jetzt.

Er wählte die Rezeption. Nach zweimal Klingeln meldete sich eine rauchige Stimme: »Rezeption Mille Colline, Ihr Wunsch?«

»Frühstück aufs Zimmer, bitte. Zimmer 248. Kaffee, zwei Spiegeleier, Orangensaft.«

»Eier mit Schinken oder Speck?«

14

MULELE – Ein Roman aus dem Herzen Afrikas

»Speck, gut durch. Und eine Flasche Wasser dazu. Danke.«

Das würde ein guter Tag werden, dachte Bobby. Ein ordent-liches Frühstück konnte Wunder wirken. Er würde auf den Balkon gehen, Kaffee trinken, Eier essen und die Akten noch einmal durchgehen.

Er holte seine Trainingshose aus dem Rucksack. Frühstü-cken in Unterhose – nicht sein Stil. Mein Henkersmahl, dachte er. Da sollte man sich wenigstens anständig anziehen.

Das Telefon klingelte erneut. »Ja?«

»Noch einmal, Julie! Sag nichts, ich komme hoch, dann erkennst du mich und wir können reden.« Sie legte auf, bevor er antworten konnte.

Verdammt. Etwas stimmte nicht. Er würde einfach nicht öffnen.

Bobby sprang wie eine aufgeschreckte Katze über das Bett zur Tür. Richtig – es gab einen Spion. Das würde helfen. Scha-de ums Frühstück. Wenn das jetzt käme, könnte er nicht öffnen. Aber das ließ sich nachholen.

Bobby spürte seinen Puls in den Schläfen. Durch den Spion sah er nur den orangefarbenen Teppich und die gegenüberlie-gende Zimmertür.

Alles nur falscher Alarm?

Doch dann Schritte im Flur. Verdammt – der Zimmerser-vice. Vielleicht würde es doch kein so guter Tag.

Ein schmaler Kellner mit breitem Gesicht balancierte das Tablett. Unter der silbernen Haube roch Bobby förmlich die Eier.

Klopfen. Der Kellner schaute direkt in den Spion und traf Bobbys Blick. Als keine Antwort kam, klopfte er nochmals: »Zimmerservice, Ihr Frühstück, Sir.«

Pech gehabt, kleiner Mann. Komm später wieder.

Der Kellner blieb hartnäckig. Noch ein Klopfen. »Zimmer-service, Frühstück, Sir!« Bobby starrte durch den Spion in die Augen des Mannes. »Verschwinde schon«, flüsterte er.

Als hätte er es gehört, legte der Kellner sein Ohr an die Tür. Nichts. Bobby regte sich nicht.

15

Michael Birnbaum

Schließlich stellte der Kellner das Tablett vor die Tür, klopfte noch einmal: »Frühstück vor der Tür, Sir. Guten Appe-tit.« Dann drehte er sich um und ging.

Bobby überlegte kurz, das Tablett schnell hereinzuholen. Doch kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, klopfte es erneut.

»Ich komme rein«, rief die Stimme vom Telefon. Sie war tatsächlich gekommen.

Bobby spähte durch den Spion. Hoppla – die Frau sah gut aus: groß, schlank, deutliche Taille, obenrum nicht zu knapp. Die scharfen Gesichtszüge unter der dunklen Haut ließen auf eine Tutsi schließen, die Ethnie, die seit Kriegsende das Sagen hatte.

Eine komplizierte Geschichte, dieses Hin und Her zwischen Hutu und Tutsi in der Region. Vereinfacht: Die Hutu waren die Kleinen, die Unterdrückten, die Bauern. Die groß gewachsenen Tutsi die Könige, die Viehzüchter, die Herrschenden.

Bis sich nach der Kolonialzeit alles umdrehte, die Hutu an die Macht kamen und die Tutsi um ihr Leben rennen mussten. Viele flohen. Die Daheimgebliebenen bekamen einen Stempel in den Pass und lebten in ständiger Angst.

Der Professor hatte Bobby die komplexe Geschichte ein ums andere Mal erklärt.

In den Nachbarländern hatten sich die Tutsi niedergelassen. In Uganda formierte sich eine Rebellenarmee, Exil-Tutsi aus Amerika schickten Geld. Als dann nach dem Abschuss der Prä-sidentenmaschine das Morden in Kigali begann, marschierten die Tutsi-Rebellen so schnell sie konnten über die Grenze, um ihre Leute zu retten.

Denn die Hutu waren organisiert mit Macheten losgezogen – gegen Tutsi, gegen Demokraten. Zehntausende starben in den ersten Tagen, am Ende des hunderttägigen Krieges wohl über eine Million.

Und jetzt stand eine Tutsi vor seiner Tür und fummelte am Schloss.

Bobby reagierte instinktiv. Er wich ins Badezimmer zurück, kramte im Waschbeutel nach dem Kampfmesser.

16

MULELE – Ein Roman aus dem Herzen Afrikas

Die Tür öffnete sich. »Niemand zu Hause?«

Die Frau, die sich Julie nannte, trug das Tablett ins Zimmer und schloss die Tür. »Ich stelle das Frühstück aufs Bett. Kannst fertig duschen.«

Bobby gab auf. »Okay, was soll das Theater?«

Er beschloss, den Unwissenden zu spielen. Vielleicht nur eine Nutte, die vom Hotelpersonal den Tipp bekommen hatte, dass ein einzelner Mann eingezogen war.

»Ich bin Julie«, sagte die attraktive Frau und streckte die Hand aus. »Der vereinbarte Kontakt.«

Bobby konnte nicht anders – er nahm die Hand, spürte die langen Finger, die warme Haut.

»Tut mir leid, Julie, aber ich suche keinen Kontakt, so at-traktiv Sie auch sind.«

Ein Zucken lief über die hohe Stirn der fast gleich großen Frau. Ihre Augen verengten sich, schienen ihn zu durchbohren. »Dann lass meine Hand los, GI. Zieh deine Uniform an, ich bringe dich zu deinem Posten.«

Bobby muss vollkommen verdattert ausgesehen haben, denn Julie – oder wie immer sie hieß – brach in schallendes Gelächter aus.

»Zieh das hier an, Cowboy, dann frühstücke. Die Pläne haben sich geändert. Wir müssen früher los. Und beinahe hätte ich's vergessen: Das Codewort lautet Hima Zwei. Klingelt's jetzt?«

Lief hier alles schief? Die atemberaubende Frau hatte das vereinbarte Codewort seines Kontakts ausgesprochen.

Bobby fühlte sich dumm. Das war keine gewöhnliche Frau – das war sein offizieller Kontakt zu den Rebellen! »Major Gitenga?«, fragte er unsicher.

»Ja, Sir. Jetzt zieh dich an, bevor ich auf dumme Gedanken komme. Sie haben verdammt gute Maße.«

Bobby zuckte mit den Schultern. »Dafür müsste ich an Ih-nen vorbei. Meine Uniform hängt im Zimmer. Und danke für das Kompliment.«

17

Michael Birnbaum

Jetzt hatte er sie erwischt. War da nicht ein Hauch von Röte auf ihren Wangen? Absichtlich strich er mit seinem nackten Oberkörper an ihr vorbei ins Zimmer.

»Wie geplant – die UN-Uniform?«, fragte Bobby und holte die Uniform aus dem Schrank. Die Frau stand in der Tür.

»Alles nach Plan. Ja, die UN-Uniform. Ich bringe Sie zur Grenze. Vergessen Sie Ihre Papiere nicht. Unterwegs gibt es Kontrollen. Solange Sie in Ruanda sind, sind Sie braver UN-Militärbeobachter. Was Sie im Kongo tun, geht mich nichts an. Mein Job endet an der Grenze. Dort werden Sie erwartet.«

Bobby zog das Hemd an, knöpfte es zu, bat Julie dann mit einem Blick, sich umzudrehen, damit er die Trainingshose ge-gen die Uniformhose tauschen konnte. Zwischendurch schnappte er sich ein Ei, trank einen Schluck Kaffee, ver-schlang vor dem zweiten Ei das Brötchen. Wer wusste, wann es wieder richtiges Essen geben würde?

»Madame, fertig angezogen, bereit zum Abmarsch. Hoffe, wir sehen uns wieder – unter ähnlichen Umständen.«

Sie war schnell. Und ihr Schlag saß. Die Ohrfeige brannte.

»Keine Frechheiten, mein Dienstgrad ist höher, und Sie sind Gast in meinem Land.« Julie drehte sich zur Tür um, Hand am Knauf.

Mit einem zweideutigen Lächeln sagte sie: »Lust hätte ich schon, aber die Zeit fehlt.« Sie öffnete die Tür, winkte ihm zu folgen.

Bobby warf seine Sachen in den Rucksack und folgte Julies schnellen Schritten. »Sie sind schon ausgecheckt«, sagte sie, bevor der Aufzug kam. Sie marschierten am Portier vorbei hin-aus ins Freie, ignorierten die Taxifahrer, gingen zu einem dun-kelgrünen Toyota Jeep mit weißem Dach – wie das ruandische Militär sie mochte.

Erst jetzt fiel Bobby auf, dass Julie Uniform trug.

18

MULELE – Ein Roman aus dem Herzen Afrikas

Unser Mann in Nairobi

Der Aktenordner in seiner Tasche wog schwer wie ein Ziegel-stein. Philipp Bender ging langsam über den Parkplatz, kämpf-te darum, mit der rechten Hand in die linke Hosentasche zu gelangen.

Diese verdammte Angewohnheit. Immer trug er alles in der linken Hand, stopfte alle wichtigen Kleinigkeiten in die linke Tasche. Jetzt, mit der schweren Aktentasche in ebendieser Hand, war der Griff zur Tasche ein ballettartiges Unterfangen. Autoschlüssel, Handy, Taschentuch – alles landete links. Wie ein physikalisches Gesetz.

Er war ein Gefangener seiner Routinen. Beständig, unflexi-bel, ein Karikaturbeamter. Deshalb scheiterten auch die Diäten, die Fitnessstudio-Mitgliedschaften. Das Leben, schien es, hatte ihn zum ewigen Zuschauer verdammt.

Endlich fischt er mit zwei Fingern das Taschentuch heraus. Der Schweiß auf seiner Stirn mischt sich mit dem allgegenwär-tigen Laterit-Staub zu einer bräunlichen Paste. Ganz Afrika bestand aus diesem Staub. Vielleicht war er einfach zu lange hier.

Dabei ging es ihm doch gut. Großes Haus in Muthaiga. Kinderzimmer mit eigenem Bad. Ehefrau mit eigenem Wagen. Koch, Gärtner, Pool. Und seit drei Monaten Wanjiku – schlank wie eine Akazie, mit einem straffen Körper, der ihm das Rück-grat schmelzen ließ. Alles, was er sich in Deutschland nie hätte leisten können.

Der Mitsubishi stand wenigstens im Schatten. Odingas morgendliche Waschaktion war bereits vom Staub überpudert. Die Tür quietschte protestierend. Tropenleben. Staub in jeder Ritze. Aber die ersten Wolken zeichneten sich schon ab. Bald würde der Regen kommen und die Aggression aus der Stadt, den Menschen, ihm selbst waschen. Dann, drei Wochen später, der Heimaturlaub. So war der Rhythmus.

Dieses Jahr wohl nicht. Die Akten in seiner Tasche deuteten auf einen arbeitsreichen Herbst hin. Was steckte wirklich da-hinter?

19

Michael Birnbaum

Markus Metzler, sein Chef, hatte ungewöhnlich viel Zeit investiert. »Lesen Sie«, hatte er gesagt und die Akten über den Schreibtisch geschoben, »in Ruhe. Dann sagen Sie mir Ihre ungeschminkte Meinung.«

Wenn es komplizierter wurde als Cocktailparty-Gespräche oder weingetränkte Mittagessen, landete der Fall bei Philipp. Eine Zwei-Mann-Show war der BND in Nairobi. Berichte nach Pullach schreiben. Zeitungen lesen. Diplomaten aushorchen. James Bond auf Deutsch – nur ohne Action.

Echte Kontakte zu kenianischen Politikern? Selten. Philipp traf sich höchstens mit deutschen Journalisten, ruandischen Exilanten, südsudanesischen Rebellen in Lavington. Theore-tisch, so Metzler bei Philipps Ankunft, sollten sie ganz Ostafri-ka abdecken.

Das Büro seines Chefs: Ein Tropenholzschreibtisch (»Ech-tes Teak!« – Augenzwinkern), ein speckiger Ledersessel, eine privat angeschaffte Klimaanlage. »Die Hauseigene bringt's nicht«, hatte Metzler gelacht. Kaum Akten, eine Landkarte, ein Holzrahmen mit dem Starnberger See. »Und reisen Sie nicht zu viel – zu teuer.«

Was Metzler den ganzen Tag machte? Philipp hatte keine Ahnung. Der Alte schien nur auf seine Pension zu warten, möglichst ohne Skandal. Dann ab an den Starnberger See. »Wir Bayern«, pflegte er zu grunzen und Philipp auf die Schulter zu klopfen – diese Bärenpranke.

Jetzt aber das. Ausgerechnet jetzt, wo Philipp seinen Hei-maturlaub plante. Diese Aktenflut. Nicht nur Botschaftsberich-te – Satellitenaufnahmen der Amis. »Wenn die die freiwillig rausrücken«, hatte Metzler geflüstert, »dann brennt der Wald schon lichterloh.«

Die Klimaanlage des Wagens begann endlich zu pusten. Philipp atmete tief durch. Es würde eine lange Nacht werden.

20

MULELE – Ein Roman aus dem Herzen Afrikas

Hunger als Waffe

Das war der Geruch von Menschen, zu vielen Menschen, die nur überleben wollten. Schon für das Auge war es ein Wirrwarr – Zeltplanen, Schutzwände aus frisch geschlagenen Ästen, blaue UN-Plastikbahnen als Behelfsdächer. Dazwischen: zer-beulte Eimer, Konservendosen als Kochgeschirr, und immer wieder diese Gesichter. Kinder. Frauen. Fast keine Männer. Das fiel auf.

Dann versuchte die Nase, ihm bei der Orientierung zu hel-fen. Doch was sie fand, war der Duft der Vorhölle. Menschen in Not, zu Hunderten, verströmten diesen säuerlichen Gestank, der in den Haaren klebte, in der Kleidung, an den Händen. Mi-chael Baumann wünschte, er könnte ihn nicht mehr riechen. Doch auf diesem Kontinent gehörten solche Camps zur Land-schaft. Selbst der beißende Rauch der Holzfeuer, gemischt aus Kohle und nassen Zweigen, erschien wie ein Gnadengeruch. Wie überlebte man hier? Es ging nicht um Wasser oder Essen. Es ging um Sicherheit vor denen, vor denen sie geflohen wa-ren.

Ortstermin im Vorhof der Hölle, wenige Kilometer südlich von Uvira, wo die MS Liemba lag. Hier fand Baumann, wo-nach er gesucht hatte. Die blinde Alphomine Mukandamage blickte ihn an – oder durch ihn hindurch. Ihr linkes Auge: eine milchige Masse. Das Rechte eingetrocknet, in der Höhle ver-schwunden. Wie hatte sie es hierher geschafft? Der Junge mit der triefenden Nase, ihr einziges Kind, führte sie durch den Matsch zwischen den Zelten. Sie gaben nicht auf.

»Woher kommen Sie?« Gut, dass Bryan von der UNO ihm Louisa als Dolmetscherin gegeben hatte. Die junge Banyamu-lenge sprach Kiruanda – Gold wert in diesem Camp, wo nie-mand Französisch verstand. Baumanns brockenhaftes Swahili wäre nutzlos gewesen.

»Ich bin Wa Gazeti«, stellte er sich vor. Die Blinde, eine Hutu, erzählte ungefragt von der Flucht aus Ruanda. Nun jag-ten »diese Tutsi« sie im Zaire. Sie hatten ihr Dorf niederge-brannt, die Männer erschossen.

21

Michael Birnbaum

»Aber wer sind diese Tutsi?« Baumann spürte, wie sich die alte Frage wiederholte. Marodierende Banden, ruandische Sol-daten dazwischen. Hatte der BND-Mann in Nairobi recht? Die Amis behaupteten, Ruanda säubere die Grenze. Doch auf die Frage nach den Hutu-Milizen erntete er nur Schweigen. Ein alter Mann behauptete, es gebe keine. Wahrscheinlich selbst einer.

Baumann beendete das Interview. Sie wateten zurück zu den Rotkreuz-Zelten. Die wartenden Flüchtlinge sahen ihm hoffnungsvoll nach. Diesen Blick kannte er. Seit Somalia 1992. Er, der mit Block und Kuli durchs Elend stapfte, ohne helfen zu können. Doch wenn niemand schriebe, gäbe es noch weni-ger Interesse – noch weniger schlechtes Gewissen in Deutsch-land.

Vor dem Ambulanzzelt traf er Douglas McFarland. Der Ire, Chef einer christlichen Hilfsorganisation, war ein seltsamer Freund – einer, der Journalisten eigentlich verabscheute. Sie hatten sich 1994 in Kigali kennengelernt, als McFarland mit einem Bunsenbrenner unter einer Cessna-Tragfläche Kaffee kochte. Seither trafen sie sich immer dort, wo es brannte.

»Wer sind diese Rebellen?« Baumann drängte. McFarland nippte an der Cola – dem einzig verlässlichen Getränk im Camp.

»Ruandesen helfen lokalen Milizen«, sagte der Ire. »Zwei meiner Stationen sind geplündert. Eine Schwester verletzt – nicht schwer.«

Baumann bot Mitfahrt an. Beim Marsch durch den Schlamm erklärte McFarland die Lage: »Eine Säuberung. Sie vertreiben die Flüchtlinge.« Er sprach von Banyamulenge, von ruandischen Soldaten. Und dann nannte er zwei Namen: den alten Rebell Laurent Kabila – und einen neuen, unbekannten Anführer im Norden.

»Komm mit nach Nairobi«, schlug McFarland vor. »Dann fliege ich nach Bunia. Vielleicht erfahren wir mehr.«

Baumann sagte zu.

22

MULELE – Ein Roman aus dem Herzen Afrikas

Geheimnisse Afrikas

Philipp Bender öffnete die Aktentasche. Drei sandfarbene Kladden, ordentlich aufgereiht. Das Gespräch mit Baumann am Wilson Airport summte noch in seinen Schläfen. Er stellte die Ledertasche unter den Schreibtisch – rechts wie immer –, zog den Sessel heran. Das Ritual des Berichtschreibens: Datum oben rechts, erste Zeile für interne Notizen. Doch die Gedan-ken kreisten unaufhörlich um dieselbe Frage.

»Ohne Ruanda versteht man nichts«, hatte Baumann be-harrlich wiederholt. Der Völkermord lag ein Jahr zurück. Bau-mann war mittendrin gewesen, während Bender aus dem Nai-robi-Büro die Puzzleteile zusammensetzte. Nach jeder Reise des Reporters in die Hölle Ruandas hatten sie gemeinsam ge-gessen, und Bender hatte seine Berichte mit Baumanns Ge-schichten gefüttert. Jetzt war der Deutsche wieder an der Gren-ze gewesen, beim Schusswechsel am Rusizi.

Vielleicht wäre Journalist sein besser? Bender lehnte sich zurück. Baumann reiste, traf Präsidenten, Rebellen, Bauern. Er kannte Aidid persönlich, war vor den Amerikanern in Somalia gewesen, im Sudan, in Nigeria. Und er fuhr einen Range Rover – Bender nur einen Mitsubishi.

Zurück zur Pflicht. Unruhen in Süd-Kivu. Flüchtlinge. Schießereien. Weder Burundi noch Ruanda wollten die Hutus zurück. Er blätterte im UNHCR-Bericht: »Über eine Million Flüchtlinge. Jeder fünfte Einwohner Zaires. Unter ihnen 100.000 Génocidaires.« Das Regime in Kigali hatte jedes In-teresse, den Konflikt jenseits der Grenze zu halten.

Doch wer trieb sie jetzt zurück? Baumanns Worte hallten nach: »Fragt man, wem es nützt – die Antwort ist immer die-selbe. Die Tutsi säubern die Grenze.«

Ein Donnerschlag. Die Tür flog gegen die Wand.

»Fertig?« Metzler, sein Chef, ließ sich auf den einzigen bequemen Stuhl fallen. Neun Jahre Harare hatten aus dem kon-servativen BND-Mann fast einen Linken gemacht. »Mugabe war ein toller Hecht«, pflegte er zu sagen. Jetzt war Mugabe ein Despot, und Metzler ein Zyniker, der die Welt durch De-mentis lesen wollte.

23

Michael Birnbaum

»Baumann hält alles für möglich«, warf Bender vorsichtig hin.

Metzler schnaubte. »Das heißt?«

»Keine interne Angelegenheit Zaires. Die Flüchtlinge sind Hutus. Baumann ist am Tanganjikasee. Ob Ruanda Truppen schickt, weiß er nicht. Aber am Rusizi sah er einen ruandischen Offizier ins Funkgerät sprechen – und der Beschuss stoppte sofort.«

Selbst Metzler zuckte. »Beweise?«

»Nein. Nur die amerikanischen Unterlagen.«

»Haben Sie ihm erzählt, dass die Amis Mobutu stürzen wollen?« Metzler liebte es, Gerüchte zu streuen. Dementis wa-ren für ihn Wahrheitsbarometer.

»Ja. Dass unsere Botschaft in Kinshasa protestiert, während der Mann in Kigali Kagame deckt. Das gefiel ihm.«

»Gut. Schreiben Sie es in die Stellungnahme für Pullach. Aber ich lese sie vorher.«

Die Tür knallte. Bender blieb zurück – mit seinen sandfar-benen Kladden und der Frage, ob die Wahrheit jemals mehr sein würde als das, was zwischen den Zeilen der Dementis lauerte.

Die Armee der Langen

Das also war der Kontinent, von dem er abstammte. Bobby Brown musste schmunzeln. Nur weil seine Haut schwarz war, musste er sich diesen Menschen, an denen der Militärjeep vor-beiratterte, nicht verbundener fühlen. Kigali wirkte lebendig, voller Autos – für afrikanische Verhältnisse, dachte Bobby. Die sollten mal die Bronx erleben, dann wüssten sie, was wirkli-cher Verkehr war, überfüllte Bürgersteige, stickige U-Bahnen.

Plötzlich bemerkte er, wie sich der Verkehr vor ihnen auf-teilte, wie Radfahrer und Autos dem Militärwagen Platz mach-ten, in dem er auf der Rückbank saß. Hier besaßen Uniformen

24

MULELE – Ein Roman aus dem Herzen Afrikas

noch Macht. Obwohl er selbst eine trug, befremdete ihn das. Hatte nicht jener alte Professor in Florida, bei dem er die anre-gendsten Stunden seines Lebens verbracht hatte, genau davor gewarnt? »Macht ist hier ein brutales Schwarz-Weiß-Schema«, hatte seine Stimme geklungen, »Sein oder Nichtsein, Essen oder Hunger, Leben oder Tod. Entweder du bist jemand – oder du bist nichts.«

In diesen letzten Tagen war der Mann mit dem schneewei-ßen Bart oft in seinen Gedanken aufgetaucht. »Demokratische Strukturen« – Bobby sah ihn noch durch das Wohnzimmer schreiten – »haben Wurzeln auch in Afrika. Doch alles wurde überlagert: Kolonialismus, Nepotismus, fremde Ideologien. Dieser Kontinent wird von Gegensätzen regiert. Überleben kann nur, wer den unbändigen Willen hat zu leben – Familie zu ernähren, Land zu bestellen, irgendwie Fuß zu fassen.«

Arm und reich – hier trugen diese Worte einen anderen Klang als in den Staaten. Arm sein hieß: ein Nichts sein. Reich sein hieß: ein König sein. Der Professor hatte es ihm einge-hämmert, moralisch wie politisch. »Bobby«, hatte er gesagt, »ich liebe diesen Kontinent. Warum? Weil die Menschen le-bendiger sind als wir satten Amerikaner. Auch du« – der Finger hatte sich ihm entgegengestreckt – »kleiner Junge aus der Bronx. Hunger kennst du nicht, hattest immer ein Dach, Essen, Schule. Und sieh dich an – du bist etwas geworden.«

Doch dann war die Stimme ernst geworden: »Aber Afrika ist auch der grausamste Kontinent. Stehst du auf der falschen Seite der Macht, geht es nur um eines: nicht zermalmt zu wer-den. Dann gilt nur noch ein Gesetz – das Überleben. Du wirst sehen.«

An jenem Nachmittag hatten sie über Bobbys Einwand diskutiert: »Aber ich bin schwarz. Meine Vorfahren stammen von hier.«

»Ach?« Der Professor hatte provoziert. »Weißt du, wer sie waren? Was sie taten? Nein. Aber du kennst deine Eltern, deine Straße, dein Viertel. Du bist in der Bronx geboren, Amerikaner. Hier kämpfst du – für dein Land, für das, woran wir glauben sollten.«

25

Michael Birnbaum

Der Toyota raste wieder zu schnell durch einen Kreisel, der Fahrer hupte, als ein Radfahrer ihn fast übersah. Bobby wurde gegen Major Julie Gitenga geschleudert. »Sorry«, murmelte er. Doch als ihr Duft ihn erreichte – mehr Fifth Avenue als Tro-penwald –, erwischte er sich bei einem unpassenden Gedanken. Runter mit dir, Bobby, du bist auf Mission. Und du bist Ameri-kaner.

Ja, das war er. So amerikanisch wie der alte Professor. Ste-ve Miller. Würde er je so viel wissen? Steve, wie er ihn nennen durfte, war längst emeritiert, hatte afrikanische Geschichte gelehrt, Bücher geschrieben. Mit fast siebzig beriet er nun US-AID, hauptsächlich in Westafrika. Für dieses Projekt hatte er sein neues Buch beiseitegelegt: Sondereinheiten vor Zentral-afrika-Einsätzen zu schulen – sein Spezialgebiet.

Bobby und vier andere hatten »Privattraining« erhalten. Fünf Tage. Die anderen gingen nach Angola, Sierra Leone. Nur er sollte nach Ruanda. Steve hatte sie vorbereitet – SEALS, die mit 29 ausmusterten, für »besondere Aufgaben«.

»Mein Wissen?« Der Professor hatte gelacht. »Braucht kein Mensch. Verkompliziert nur das Leben. Was du benötigst« – sein Blick war tief in Bobbys Augen gedrungen –, »ist ein sta-biles Koordinatensystem von Gut und Böse. Denn eines weiß ich: Du wirst allein sein. Und viel entscheiden müssen, Marine.«

Allein – genau das dachte Bobby, als das Tor mit dem Sta-cheldrahtkranz sich öffnete. Sie bretterten auf ein Gelände am Stadtrand. Das Hauptquartier, von dem Julie Gitenga gespro-chen hatte.

Man erwartete sie. Ein schlichtes weißes Gebäude mit blauer Sockelbemalung. Vor den drei Stufen zur Tür salutierten fünf Uniformierte. Bobby bemerkte sofort: alle schlank, groß. Tutsi, dachte er. Auch der Mann, der auf sie zukam.

»Oberstleutnant Cesar Kayzali.« Der Lange streckte die Hand aus. »Willkommen in Ruanda, Sir.«

Bobby blieb in der Rolle. »Oberstleutnant Bobby Brown, militärischer Beobachter der US-Streitkräfte.« Händedruck. Fest. Sympathisch, dieser Typ.

26

MULELE – Ein Roman aus dem Herzen Afrikas

Kayzali wies zur Tür. Drinnen führte Julie Gitengas Stim-me: »Rechts. Zweite Tür links.«

Der Raum fiel auf: bis unter die Decke Regale, Bücher, Kartons. Nur die Fenster zum Innenhof frei. Draußen machten Rekruten Liegestütze. »Falls Sie Bewegung brauchen« – Julies Ton spöttisch –, »Sie sind doch Navy-SEAL?«

Woher wusste sie das? Unheimlich, diese Frau.

Kayzali rettete ihn: »Herr Oberstleutnant, bitte hierher.« Am Tisch angelangt, schloss er die Tür. »Lassen wir das Vor-spiel. Ihr Attaché war offen. Wir freuen uns, Sie hier zu haben.« Er breitete eine Karte aus: Ostkongo, vom Tanganjika-see bis Uganda. Rote Kreise, zwei grüne. »Fizi und Uvira«, sagte Kayzali. »Rebellengebiet. Sie marschieren auf Bukavu zu, dann Goma, Butembo, Beni – alles Städte mit Landebah-nen.«

Bobby schwieg. Sollte Kayzali erst Karten aufdecken.

»Vize-Präsident Kagame hat mich persönlich beauftragt, die Rebellen zu unterstützen. Und Sie, so wurde mir versichert, werden uns dabei helfen.«

Das war direkt. Wusste Kayzali, was sein eigener Auftrag war?

»Wobei genau, Herr Oberstleutnant? Mit Truppen? Aufklä-rung? Und wer sind diese Rebellen – warum unterstützt Ruan-da sie?«

»Darf ich Bobby sagen?« Julie mischte sich ein. »An unse-rer Grenze wimmelt es von Interahamwe – Hutu-Mördern. Die Rebellen werden sie vertreiben. Mit oder ohne Sie.«

»Ich bin Cesar.« Kayzali wurde persönlich. »Die Rebellen waren meine Idee. Kagame hat dann Kabila als Aushängeschild genommen.«

Das Eis war gebrochen.

Zwei Stunden lang besprachen sie Militärisches. Nach Bu-kavus Fall würden ruandische Einheiten eingreifen, um den Vormarsch zu disziplinieren. Keine unnötigen Opfer – außer unter den verhassten Hutu-Milizen. Bei Goma lagerten Hun-derttausende, vielleicht eine Million Flüchtlinge, von diesen Milizen terrorisiert, wie Julie verächtlich anmerkte.

27

Michael Birnbaum

Bobby und Kayzali verstanden sich. Beide wussten: Ohne Eliteeinheiten würde es nicht gehen.

Schließlich sagte Bobby unmissverständlich: »Ich muss rüber. Mir ein eigenes Bild machen.«

Herr Botschafter lässt bitten

Manfred Groß machte sich bereit. Als Botschafter gehörte die Inspektion des Äußeren zum Ritual. Vor dem Einbauschrank im Büro richtete er die Krawatte, strich sich mit der Hand über die leicht angegrauten Schläfen – sie gaben ihm etwas Distin-guiertes, fand er. Ein Salatrest zwischen den Zähnen ließ sich mit dem gepflegten Nagel des kleinen Fingers schnell beseiti-gen. Jackett saß. Krawatte gerade. Fertig für die Schlacht. Die-se BND-Leute würden von sich aus nie mit der Sprache her-ausrücken.

»Herr Botschafter.« Philipp Bender sprang auf, als Groß den Sitzungssaal der Deutschen Botschaft in Nairobi betrat. »Bleiben Sie sitzen, Bender. Kaffee? Oder lieber Fachinger aus der Heimat?« Groß schenkte sich selbst schwarzen Kaffee ein. Wegen der Figur, Gesundheit. »Nur Wasser, bitte.«

Selten bat der Botschafter zum Einzelgespräch. Eine »Vor-ladung« in den großen Saal – noch nie erlebt. Aber Manfred Groß war erst seit Monaten hier. »Ein Afrika-Neuling auf sei-nem ersten Botschafterposten«, hatte Chef Metzler höhnisch bemerkt. Ausgerechnet heute war Metzler nach Deutschland geflogen. Pullach rief. Also musste Bender einweisen. »Erzäh-len Sie ihm alles – aber nicht zu detailliert«, hatte Metzler in-struiert. »Der gute Mann wird ohnehin gleich nach dem Ge-spräch nach Berlin berichten. Ich will unseren Leuten noch was Neues bieten.«

Typisch Metzler. »Nicht zu detailliert« hieß: Andeutungen statt klarer Worte. Das sind doch nur unsere Diplomaten. Wenn’s drauf ankommt, glaubt Berlin ohnehin uns mehr.

28

MULELE – Ein Roman aus dem Herzen Afrikas

»Nun, was treibt sich dieser Zaire eigentlich zusammen?« Groß lehnte sich im Ledersessel zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Bender trank erst einen Schluck Wasser. Das geht Sie doch gar nichts an, dachte er. Dann trat er an die Leinwand mit der projizierten Karte der Grenzregion. »Die Rebellion begann hier« – sein Zeigestock wanderte zum Nor-dende des Tanganjikasees – »und reicht inzwischen bis vor Bukavu. Wir rechnen mit der Einnahme von Bukavu und Goma.«

»Und – schaffen sie das?« Groß war vorgebeugt, die Ellbo-gen auf dem Tisch.

»Zweifellos. Für die ersten zweihundert Kilometer brauch-ten sie eine Woche. Der Vormarsch verlangsamt sich, aber die zairische Armee leistet kaum Widerstand.« Bender parierte die Standardfragen des Botschafters mit knappen Antworten.

Ohne sich festzulegen – das machte Bender auch ohne Metzlers Anweisung gern. Den Botschafter mochte keiner. Zu eingebildet. Dazu diese Frau, die sich als Kulturförderin mit dem Goethe-Institut messen wollte. »Bezahlte Nichtsnutze«, nannte Metzler die Diplomaten. Bender musste ihm recht ge-ben. Fette Gehälter, fünf Angestellte in der Residenz, sich von seinen Leuten und dem BND die Fakten vorkauen lassen – so konnte jeder brillante Berichte nach Berlin schicken.

»Kennen Sie den Kommentar?« Groß schob ein Fax über den Tisch. »Ihr Freund schreibt, die USA wollten Mobutu är-gern, im Zaire zündeln und Ruanda bei der Säuberung der Grenzregion von Hutu-Milizen unterstützen. Woher hat er das?«

Was wollte der Botschafter jetzt? Das Fax aus Berlin trug deutlich sichtbar den handschriftlichen Vermerk: »Zur Stel-lungnahme«. Groß mochte Baumann ebenso wenig wie er. Der Korrespondent aß mindestens monatlich mit Metzler, ihre Frauen trafen sich oft. Was sollte er sagen? Der Botschafter hatte recht. Metzler hatte gebeten, also hatte er Baumann mit US-Informationen gefüttert – und als Draufgabe die wider-sprüchlichen Berichte der Botschaften in Kinshasa und Kigali kopiert.

29

Michael Birnbaum

»Baumann liegt nicht ganz falsch. Ähnliche Informationen erreichten uns aus US-Quellen.« Benders Worte hallten im leeren Saal.

»Aber lesen Sie hier.« Groß' Ton wurde scharf. »Die deut-schen Diplomaten tappen im Dunkeln. Kinshasa behauptet, die USA seien der spiritus rector. Kigali schwört, Ruanda sei nicht beteiligt. Wieder einmal irrt unsere Außenpolitik durch Afrika.« Darunter das Kürzel: mb.

»Keine Ahnung, woher er das hat.« Die Lüge fiel Bender leicht. Die Diplomaten sollten sich doch selbst darum küm-mern. Die Fakten stimmten.

»Sie waren es also nicht.« Ein direkter Vorwurf.

»Herr Botschafter, Baumann ist derzeit nicht in Nairobi. Beim Schulvorstand hat er sich entschuldigen lassen – angeb-lich im Zaire. Ich kann ihn fragen, wenn er zurück ist.« Bender war zufrieden mit sich. »Außerdem ist er gut vernetzt. Spielt freitags Golf mit dem CIA-Residenten. Vielleicht …«

»Was wissen die Amerikaner schon über unsere Depe-schen?« Groß unterbrach ärgerlich. »Das muss aus diesem Haus kommen. Berlin ist sich sicher. Also – Sie waren es nicht?«

»Nein.« Bender packte seine Unterlagen zusammen. »Sonst noch Fragen?« Nur raus hier.

»Nein. Aber sagen Sie Baumann, er soll sich melden – falls Sie ihn sehen.« Schmallippig.

»Gewiss, Herr Botschafter.« Bender schaltete den Beamer aus und verließ den Raum.

Missionshaus nahe Bunia

Douglas McFarland kehrte zurück, stellte die blecherne Tasse mit frischem Wasser auf den grob gezimmerten Tisch. Dann ließ er sich auf die speckige Bettkante sinken und begann zu

30

MULELE – Ein Roman aus dem Herzen Afrikas

erzählen:

»1964 – mitten in der Simba-Rebellion. Meine Familie und ich gehörten zu den Missionaren, die sie in Stanleyville als Geiseln hielten.« Seine Stimme war trocken wie der Staub auf den Straßen jener Tage. »Die Simbas, dieser Haufen aus der Kwilu-Region, ein loser Verbund im Westen und hier entlang der Ost-grenze. Von den Chinesen unterstützt, versteht sich. Trainiert, bewaffnet, angeheizt, um den Kongo in Flammen zu setzen. Ihre Anführer? Gbenyi. Und vor allem Mulele. Mein Gott, die anderen Namen sind mir entfallen.«

Er machte eine Pause, als tastete er im Dunkel der Erinnerung nach Gesichtern. »Dieser Mulele … für die Jugend war er Halbgott, Zauberer, Kriegsherr. Wenn die Horden junger Re-bellen seinen Namen riefen, klang das wie Gebet und Be-schwörung in einem. Jeden Tag erhielten sie seine Wasserwei-he. ›Mayi ya Mulele, Mayi ya Mulele‹, immer und immer wie-der.« Douglas grinste in seinen Becher hinein, leerte den letz-ten Schluck. »Eigentlich müsste es ›Maji‹ heißen – das korrek-te Swahili für Wasser.«

Der Blechbecher klirrte auf dem Tisch. Er rückte einen der beiden Stühle zurecht, setzte sich rittlings darauf, die Hände auf der Lehne verschränkt. »Aber du kennst uns Kongolesen – wir haben unser eigenes Swahili.«

Seine wasserblauen Augen starrten minutenlang ins Nichts. Durch das Fliegengitter drang das Atmen der afrikanischen Nacht – ein stummer Zeuge. Douglas war gefangen in seiner eigenen Geschichte.

Wie alt mochte er damals gewesen sein? Sieben? Acht? Ein irischer Junge, geboren im Herzen des Kongo, zwischen Bibel-versen und der unerbittlichen Wildnis. Sein Vater ein Glau-bensstreiter, der Großvater schon Missionar in diesem Land der Gegensätze – so üppig wie grausam, so lebensfroh wie uner-gründlich. Diese Menschen konnten einen umarmen oder er-würgen, oft im selben Atemzug.

Michael Baumann kannte beide Seiten. Der Kongo war über die Jahre seine heimliche Liebe geworden. Er hatte den Zauber gekostet – und den Schrecken.

Plötzlich brach Douglas’ Stimme wieder durch die Stille, tief

31

Michael Birnbaum

und mit diesem merkwürdigen Gleichmut: »Eine enge Freun-din meiner Eltern, Winifred Davies aus Wales. Missionarin der WEC, dieses Worldwide Evangelisation Crusade-Gespenst. Sie und ihre Familie wurden 400 Kilometer nördlich von Stanley-ville festgehalten.« Ein kurzes, bitteres Lachen. »Als die Söld-ner kamen – alles Weiße, versteht sich – und unser Häufchen Elend in Stanleyville retteten, da erreichten sie die anderen nicht mehr rechtzeitig.«

Er beschrieb, wie über 300 der jungen Rebellen unter MG-Sal-ven zusammengebrochen waren, als die belgischen Fallschirm-jäger in Stanleyville landeten. »Die Simbas glaubten wirklich, Muleles tägliche Weihe mache sie kugelsicher.« Sein Kopf schüttelte sich fast unmerklich, als zweifle er noch heute an diesem Wahnsinn.

Seine eigene Familie sei nicht sofort befreit worden. »Wir leb-ten acht Kilometer außerhalb. Sie schossen auf uns, töteten einen. Dann kamen die Belgier.«

War da etwas in seinen Augen? Etwas, das nach all den Jahren noch brannte?

Douglas stand abrupt auf, drehte sich zum Fenster. Das schwarze Glas spiegelte nur einen Mann, der nicht weinen wollte. Wenn ihn die Vergangenheit einholte, dann sicher nicht vor Zeugen.

Baumann schwieg. Das Schweigen zwischen Männern war manchmal beredter als Worte.

Bis Douglas sich umwandte und mit einer Stimme, die plötz-lich alt klang, sagte: »Die Missionare im Norden, die anderen westlich von Stanleyville – alle tot, bevor die Belgier sie er-reichten.«