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Beschreibung

Suizidalität ist ein verbreitetes Sujet unzähliger Lieder, Opernarien und Instrumentalstücke – so etwa im berühmt-berüchtigten Suicide Song »Gloomy Sunday«. Aktuell wird in fachlichen und populärwissenschaftlichen Debatten diskutiert, inwieweit Musik Einfluss auf reale Suizidhandlungen zeitigt, sei es als Risiko- oder als protektiver Faktor. Die Beiträge des Bands, die auf dem Symposium »Musik und Suizidalität« an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien 2022 der Öffentlichkeit vorgestellt wurden, greifen diese Debatten auf. Der Band bringt erstmals kulturhistorische, empirische, medizinische und therapeutische Perspektiven zusammen, um den Diskurs über das noch immer tabubehaftete Thema weiter zu etablieren und mit Sichtweisen aus der Praxis zu erweitern.

Mit Beiträgen von Andy R. Brown, Julia Heimerdinger, Susanne Korn, Thomas Macho, Paul Plener, Claudius Stein, Benedikt Till & Thomas Niederkrotenthaler, Harm Willms sowie Studierenden der Musiktherapie und der Instrumental- und Gesangspädagogik.

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Seitenzahl: 347

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Julia Heimerdinger (Dr. phil.), Senior Scientist am Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.

Hannah Riedl (Mag. art.), Musiktherapeutin, Senior Scientist am WZMF – Wiener Zentrum für Musiktherapie-Forschung, Abteilung des Instituts für Musiktherapie an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien am Institut für Musiktherapie.

Thomas Stegemann (Univ.-Prof. Dr. med. Dr. sc. mus.), Musiktherapeut und Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Leiter des Instituts für Musiktherapie an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.

Julia Heimerdinger, Hannah Riedl, Thomas Stegemann (Hg.)

Musik und Suizidalität

Interdisziplinäre Perspektiven

Veröffentlicht mit Unterstützung aus den Mitteln der Open-Access-Förderung der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dnb.de/ abruf bar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz (BY-NC-ND). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de

Um Genehmigungen für Adaptionen, Übersetzungen, Derivate oder Wiederverwendung zu kommerziellen Zwecken einzuholen, wenden Sie sich bitte an [email protected]

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z. B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2025 bei mdwPress, Wien und Bielefeld

transcript Verlag |Hermannstraße 26 | D-33602 Bielefeld |[email protected]

Umschlaggestaltung: bueronardin/mdwPress

Umschlagabbildung: Ernst Stückelberg: Sappho (1897). Kunsthaus Zürich, Vermächtnis August Weidmann, 1929. Sammlung Online. Lizenz: gemeinfrei.

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

https://doi.org/10.14361/9783839474280

Print-ISBN: 978-3-8376-7428-6

PDF-ISBN: 978-3-8394-7428-0

ePUB-ISBN: 978-3-7328-7428-6

Inhalt

 

Grußwort

EinleitungJulia Heimerdinger, Hannah Riedl und Thomas Stegemann

IKulturwissenschaft & Musikwissenschaft

Ansteckende Fragen Zur Kulturgeschichte der SuizidepidemienThomas Macho

Von hohen Felsen, trocknen Blumen und traurigen Sonntagen Schlaglichter auf Musik und Suizidalität aus musikhistorischer Perspektive Julia Heimerdinger

Songs in the Key of Depression, Suicide and Death Or How Metal Musicians Sustained a Dialogue of Community with Their Fans in a Period of Moral Panic about Heavy Metal Music Andy R. Brown

IIMedizin & Musiktherapie

Hält Beziehung am Leben? »Halt ein, o Papageno! und sei klug. Man lebt nur einmal, dies sei dir genug« Claudius Stein

Suizidalität und Suizid in der Musiktherapie Beispiele aus der klinischen PraxisSusanne Korn

Über die Rolle der Musik bei Suizidhandlungen Harm Willms

IIISuizidforschung, Jugendpsychiatrie & Medienpsychologie

Der Zusammenhang zwischen Suizidrisikofaktoren und individuellen MusikpräferenzenBenedikt Till und Thomas Niederkrotenthaler

»Doch sie liebte die Klinge«Musik, Selbstverletzung und Suizidalität bei JugendlichenPaul Plener

Zur Rolle der Musik in der Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nichtMarkus Storf, Rita Becker, Réka Bégány, Giovanni Luca Campagna, Nina Fried, Teresa Heugl, Boglárka Horváth, Jelena Petener und Tanja Wimmeder

Anhang

Gloomy Saturday-Konzert

Autor:innen

Über mdwPress

Grußwort

Beim Symposium »Musik und Suizidalität« ist es gelungen, eine schwierige, herausfordernde und wichtige Thematik in ihrer Komplexität umfassend zu beleuchten. Ich freue mich, dass die Veranstaltung — als Kooperation zwischen dem Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung und dem Institut für Musiktherapie — nach pandemiebedingten Verschiebungen zahlreiche Forschende aus dem In- und Ausland an der mdw — Universität für Musik und darstellende Kunst Wien zusammenführen konnte.

Die Covid-19-Pandemie hat die Brisanz des Themas noch einmal deutlicher werden lassen: Wir wissen, dass die Lockdowns und Einschränkungen der sozialen Kontakte das Aufkommen psychischer Erkrankungen massiv verstärkt haben, ganz besonders bei jungen Menschen. Dass im Rahmen dieses interdisziplinären und internationalen Symposiums musik- und kulturwissenschaftliche, musiktherapeutische wie auch medizinische Perspektiven zusammengebracht werden konnten, entspricht dem gesellschaftlichen Auftrag, dem sich die mdw als Universität verpflichtet fühlt. Das Zusammenwirken von Kunst und Wissenschaft, von interdisziplinärem Forschen und Studieren ist vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Krisen von besonderer Relevanz. Nicht zuletzt kamen auch Aspekte der Suizidprophylaxe zur Sprache. Dies kann mit Blick auf die Studierenden einen wichtigen Beitrag zur Enttabuisierung und Entstigmatisierung psychischer Krisen und Erkrankungen an unserer Universität leisten.

Ich danke allen Mitwirkenden des Symposiums und insbesondere allen Beitragenden zum nun vorliegenden Tagungsband für die Einblicke, die sie in ihre Arbeit geben, und ich danke den Kolleginnen und Kollegen, die an der Erstellung des Programms sowie der Edition mitgewirkt haben — allen voran Julia Heimerdinger (Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung), Hannah Riedl und Thomas Stegemann (Institut für Musiktherapie).

Ulrike SychRektorin

Einleitung

Julia Heimerdinger, Hannah Riedl und Thomas Stegemann

Dieser Band präsentiert die verschriftlichten Beiträge des Symposiums »Musik und Suizidalität«, das am 6. und 7. Mai 2022 an der mdw— Universität für Musik und darstellende Kunst Wien in Kooperation des Instituts für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung und des Instituts für Musiktherapie stattgefunden hat. Dem Symposium ging ein intensiver fachlicher Austausch voraus, der— wie es der Zufall wollte— zustande kam, da wir drei Herausgeber:innen gemeinsam in einer Big Band musizieren. In Gesprächen nach Probenschluss stellte sich heraus, dass wir uns in unseren jeweiligen Disziplinen—Musikwissenschaft (Julia Heimerdinger), Musiktherapie (Hannah Riedl) sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie und Musiktherapie (Thomas Stegemann)— schon mit dem Thema Musik und Suizidalität beschäftigt haben (z. B. Stegemann et al. 2010; Heimerdinger 2020). Im Zuge der Diskussionen über bekannte und unbekanntere ›Suicide Songs‹, über Bücher, Fachliteratur, empirische Studien, klinische Praxiserfahrung, Filme und Fernsehserien erschien uns eine Zusammenarbeit naheliegend. Zum einen entstand schnell die Idee, ein studienfächerübergreifendes Seminar zur Rolle der Musik in der breit rezipierten und wegen der Befürchtung von Nachahmungssuiziden umstrittenen Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nicht (13 Reasons Why, USA 2017) anzubieten, zum anderen, ein interdisziplinäres Symposium zum Thema Musik und Suizidalität zu veranstalten, bei dem auch die Ergebnisse der Arbeit im Seminar vorgestellt werden sollten. Für das Symposium war es uns ein besonderes Anliegen, Vertreter:innen aus den Bereichen Kulturwissenschaft, Musikwissenschaft, Medizin, Musiktherapie, Psychotherapie und Suizidforschung zusammenzubringen, um verschiedene Perspektiven auf den Themenkomplex aufzugreifen und zu diskutieren. Verschiedene Perspektiven heißt in diesem Fall nicht nur unterschiedliche Blickwinkel der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen und Forschungsmethoden, sondern auch unterschiedliche Diskurse aus (kulturhistorischer und empirischer) Wissenschaft und (medizinischer/therapeutischer) Praxis.

Bei der Zusammenstellung der Beiträge gingen wir von der Beobachtung aus, dass einerseits Suizidalität in ihren verschiedensten Facetten seit Jahrhunderten ein Thema von Musik ist und dass andererseits Musik im Kontext von — und im (therapeutischen) Umgang mit — Suizidalität eine Rolle spielen kann. Hieran knüpft sich eine Reihe von Fragen bezüglich musikalischer Darstellung, musikalischen Ausdrucks und musikalischer Wirkung: Wie wurde und wird der suizidale Zustand musikalisch und musikdramatisch dargestellt? In welchen Gattungen und Genres der Musikgeschichte und der Gegenwart wird das Thema aufgegriffen und was bedeutet dies — nicht zuletzt gesellschaftlich? Welche Facetten von Suizidalität kommen in Musik zum Ausdruck? Können individuelle Musikpräferenzen etwas über das Suizidrisiko aussagen? Kann Musik ein Trigger für suizidale Handlungen sein? Was weiß man über die Wechselwirkungen von Musik und selbstverletzendem Verhalten bei Jugendlichen? Welchen Einfluss können Musik oder das Sprechen über musikalisches Erleben auf suizidale Menschen haben? Kann Musik in suizidalen Krisen oder nach einem Suizidversuch hilfreich sein — und wenn ja, wie?

Suizidalität ist nachweislich seit der Antike ein — zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichem Maß — präsentes Sujet unzähliger Lieder, Opernarien und sogar einiger Instrumentalmusik.1 Unerfüllte Liebe, Verlust, Bewahrung der Ehre, Selbstopfer, Selbstzerstörung oder die Flucht vor der Bestrafung durch Mächtigere gehören zu den Motiven musikalischer bzw. musikdramatischer Darstellungen, von Theokrits Hirtengesängen über zahlreiche ›Abbandonata‹-Arien (wie Arianna oder Dido), Balladen und Moritaten bis hin zum Depressive Suicidal Black Metal.

Während manche Musikstücke Merkmale des von Erwin Ringel beschriebenen präsuizidalen Syndroms (Ringel 1953) wie eine starke Einengung auch auf der musikalischen Ebene aufweisen (siehe z. B. den nur einen Ton wiederholenden Beginn von Otellos Arie »Dio! Mi potevi scagliar«), zielen andere eher auf Abschreckung (z. B. »Verstoßen oder Der Tod auf den Schienen«). Viele jüngere Songs bewegen sich musikalisch unspezifisch im Rahmen von Genrekonventionen, wobei sich manche Genres offenbar mehr als andere des tabubehafteten Themas annehmen.

Gleichzeitig wurde Musik immer wieder auch ein Einfluss auf suizidales Empfinden nachgesagt. Beispielsweise berichtete der französische Psychiater Jean-Pierre Falret in seiner Abhandlung Der Selbstmord (1824; frz. Originalausgabe: De l’hypochondrie et du suicide 1822) von einer jungen Frau, die bei Arien aus der Oper Nina, o sia La pazza per amore (Giovanni Paisiello 1789; dt.: Nina oder Die Wahnsinnige aus Liebe) Suizidneigungen empfunden habe. Der wegen der angeblichen Auslösung einer Suizidwelle als ›Hungarian Suicide Song‹ berühmt gewordene Song »Gloomy Sunday« (original: »Szomorú vasárnap«, 1933) wurde von der BBC angeblich bis ins Jahr 2002 nicht gespielt, und in den USA kam es in den 1980er-Jahren wiederholt zu Klagen von Eltern gegen Heavy-Metal-Musiker, deren Songs ihre Kinder angeblich zum Suizid angestiftet hätten. Obwohl diese Klagen sämtlich erfolglos waren, steht Heavy Metal als sogenannte ›Problem Music‹ noch immer an erster Stelle der ›üblichen verdächtigen‹ Genres und fehlt auch heute in kaum einer Studie zum Verhältnis von psychischer Gesundheit bzw. von Suizidraten und Musikpräferenzen von Jugendlichen. Gruppen wie die 1982 gegründete kalifornische Band Suicidal Tendencies reagierten mit der Wahl ihres Namens und ihren Songs nicht zuletzt auf gesellschaftliche Symptome einer damals virulenten ›Moral Panic‹, die sich beispielsweise in der Gründung des Parents Music Resource Center durch die sogenannten ›Washington Wives‹ Tipper Gore und Susan Baker ausdrückte. Unter anderem beschuldigte Gore die Musikindustrie und Musiker:innen, »inmitten einer nationalen [Suizid-]Epidemie den Selbstmord von Teenagern zu fördern« (Gore 1987, 107), ohne dabei mögliche andere Zusammenhänge kritisch zu reflektieren.

Durch Medienberichterstattung und fiktionale Darstellungen von Suiziden angeblich angestoßene Nachahmungseffekte wurden nach Goethes bekannter Romanfigur »Werther-Effekt« benannt, und die Frage, ob im Rahmen von Literatur, Film oder Musik dargestellte Suizide tatsächlich Imitationssuizide oder gar Suizidepidemien auslösen können, wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Beispielsweise hat die erste Staffel der Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nicht eine entsprechende Debatte ausgelöst, in der u. a. der Vorwurf artikuliert wurde, sie romantisiere den Suizid der Hauptfigur Hannah Baker — ein Vorwurf, der vermutlich deshalb so laut ist, weil die Serie als Zielgruppe ein jugendliches und damit spezifisch vulnerables Publikum adressiert. Dem Streamingdienst Netflix wurde außerdem vorgeworfen, dass in der Serie keinerlei Hinweise darauf gegeben werden, dass Krisen bewältigbar sind; im Gegenteil werden die Helfersysteme als nicht verfügbar oder sogar ineffizient dargestellt.

Als Pendant zum »Werther-Effekt« wurde durch Niederkrotenthaler et al. (2010) der Begriff »Papageno-Effekt« geprägt. Dieser ist von der Figur Papageno aus Mozarts Oper DieZauberflöte abgeleitet: Papageno will sich aus Liebeskummer erhängen, wird im letzten Moment jedoch von den drei Knaben davon abgehalten, die ihn davon überzeugen, dass es einen Ausweg aus dieser Situation gibt — wie bereits zuvor Pamina, die sich von Tamino verlassen fühlt (Arie »Ach ich fühl’s, es ist verschwunden«). Der Begriff Papageno-Effekt beschreibt präventive Effekte, die durch die Darstellung der Bewältigung realer oder fiktionaler suizidaler Krisen bewirkt werden können.

Einige der hier angerissenen Themen, Begriffe, musikalischen Genres und Songs ziehen sich wie rote Fäden durch die Beiträge: so der berüchtigte Suicide Song »Gloomy Sunday«, unter dessen Motto auch das Konzert stand, das zum Abschluss des Symposiums stattfand. Auf diesen Song war eine der Herausgeber:innen, Julia Heimerdinger, bei der Lektüre eines Beitrags des deutschen Psychiaters Harm Willms gestoßen, der bereits 1975 in der Zeitschrift Musik + Medizin veröffentlicht worden war. Willms berichtete darin über einen Vortrag des Psychiaters und Gründers des Wiener Kriseninterventionszentrums, Erwin Ringel, in dem dieser darstellte, wie Merkmale des präsuizidalen Syndroms in Musik ausgedrückt sind; eines seiner Beispiele war »Gloomy Sunday« bzw. eine deutschsprachige Fassung des Lieds mit dem Titel »Einsamer Sonntag«. Eben dieses Lied bzw. die Legenden, die sich um dessen Wirkung ranken, sei, so Willms in seinem Beitrag im vorliegenden Band, Anlass für seine Untersuchung zur Rolle der Musik bei Suizidhandlungen gewesen, die er Mitte der 1970er-Jahre durchgeführt, deren Ergebnisse er jedoch nie veröffentlicht hatte. Wir, die Herausgeber:innen, haben uns sehr über seine Bereitschaft gefreut, die Untersuchung knapp 50Jahre nach ihrer Durchführung auf unserem Symposium noch einmal vorzustellen und uns seinen Beitrag zur Veröffentlichung zu überlassen. Harm Willms ist am 7. Februar 2023 verstorben. Wir sind dankbar, ihn als Vortragenden und als inspirierenden und kritisch denkenden Gesprächspartner bei unserem Symposium zu Gast gehabt zu haben.

Neben dem Song »Gloomy Sunday« (siehe die Beiträge von Heimerdinger, Willms, Till und Niederkrotenthaler sowie Storf et al.) lassen sich weitere wiederkehrende Themen und Motive erkennen wie der Werther-Effekt (Macho, Willms, Plener, Storf et al.) und der Papageno-Effekt (Stein, Till und Niederkrotenthaler, Plener, Storf et al.), das Heavy-Metal-Genre (Brown, Stein, Till und Niederkrotenthaler) und das Motiv des Verstummens (Heimerdinger, Korn). Ein Motto steht jedoch über allen Beiträgen: »Let’s talk about it!« Dieses Motto stellte Thomas Macho, der damit auf den Titel einer Ausstellung des Kasseler Museums für Sepulkralkultur im Jahr 2021 (Pörschmann et al. 2021) anspielte, seinem Vortrag voran — und ergänzte es am Ende seines Beitrags um ein Zitat Émile Durkheims: »Was wirklich der Entwicklung des Selbstmordes oder des Mordes Vorschub leistet, ist nicht, daß man davon spricht, sondern wie man davon spricht« (Durkheim 1983, 148; Hervorhebung durch die Herausgeber:innen). Wie wichtig es ist, über dieses schwierige und häufig tabuisierte Thema zu sprechen und damit u. a. der weit verbreiteten »gefährliche[n] Fehleinschätzung [entgegenzutreten], dass das Ansprechen einer Person auf ihre Suizidgedanken diese erst auf die Idee kommen ließe, sich umzubringen« (Stein im vorliegenden Band, S. 109), ist eine zentrale Botschaft, die dieser Band vermitteln will.

Da wir davon überzeugt sind, dass das Thema von gesamtgesellschaftlichem Interesse ist, richtet sich der vorliegende Tagungsband ausdrücklich nicht nur an ein Fachpublikum, sondern an eine breite Leser:innenschaft. Dennoch ließ es sich selbstverständlich nicht vermeiden, Fachbegriffe zu benutzen und auf fachspezifische Konzepte zu rekurrieren; diese werden erläutert, wo es uns notwendig erschien. Einige Konzepte, insbesondere der bereits erwähnte Werther-Effekt, spielen in verschiedenen Beiträgen eine Rolle und werden aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben. Da dieser Band parallel zur gedruckten Fassung im Open Access-Format erscheint und die Beiträge auch einzeln heruntergeladen werden können, haben wir uns dazu entschieden, mögliche Redundanzen im Gesamtband zu akzeptieren.

Die Beiträge sind in drei thematische Abschnitte gegliedert: (I) Kulturwissenschaft & Musikwissenschaft, (II) Medizin & Musiktherapie sowie (III) Suizidforschung, Jugendpsychiatrie & Medienpsychologie.

IKulturwissenschaft & Musikwissenschaft

Mit dem Beitrag »Ansteckende Fragen. Zur Kulturgeschichte der Suizidepidemien« greift der Kulturwissenschaftler Thomas Macho das Thema eines Kapitels aus seinem 2017 im Suhrkamp Verlag erschienenen Buch Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne auf, das einen der erwähnten roten Fäden bildet: »Werther-Effekte«. Die Umwertung des Suizids in der Moderne hin zu einer Entmoralisierung und Entkriminalisierung war durch den Aufstieg der Medizin und damit um den Preis der Pathologisierung des Suizids möglich geworden, die wiederum dazu führte, dass man — neben der Pest und der Cholera — auch begann, Suizide als ansteckend zu betrachten. Spätestens seit zeitgenössischen Berichten über das »Werther-Fieber« nach Erscheinen des Romans Die Leiden des jungen Werthers von Johann Wolfgang Goethe 1774 wurde auch das Lesen von Büchern und Zeitungsnachrichten als potenziell lebensgefährlich angesehen. Im Zuge der Reflexion historischer Diskurse über die Frage medieninduzierter Nachahmungssuizide kommen auch jüngere »Selbsttechniken« wie der Abschiedsbrief zur Sprache.

Julia Heimerdinger diskutiert in ihrem Beitrag »Von hohen Felsen, trocknen Blumen und traurigen Sonntagen. Schlaglichter auf Musik und Suizidalität aus musikhistorischer Perspektive« Lieder und Songs, Opernarien, Instrumentalmusik und Klangcollagen von antiker Lyrik bis zur Industrial Music der 1970er-Jahre. Neben Fragen nach der musikalischen Darstellung und Reflexion des suizidalen Zustands und den jeweiligen künstlerischen und gesellschaftlichen Kontexten und Intentionen werden auch Diskurse über die Wirkung von Musik angerissen, die mitunter im Rahmen von Liedtexten und vor allem in Texten über Musik als Gegenstand ästhetischer und existenzieller Erfahrung geführt wurden und werden.

Ganz auf Heavy Metal konzentriert sich der englischsprachige Text »Songs in the Key of Depression, Suicide and Death« von Andy R. Brown. Wie bereits angedeutet, wurde dieses Genre (inklusive zahlreicher Subgenres) seit seiner Entstehung in den 1970er-Jahren als ›Problem Music‹ markiert. Die Stigmatisierung von Metal Fans, die ihren Höhepunkt in den 1980er-Jahren in den USA erlebte, führte u. a. zu solch fragwürdigen Maßnahmen wie »Demetaling«-Programmen für Jugendliche. Brown beleuchtet in seinem Beitrag zum einen das Phänomen sogenannter Moral Panics, zum anderen zeigt er anhand ausgewählter Songs — insbesondere der Thrash Metal Ballade — und am Beispiel von Musikvideos auf, wie Bands die Themen Suizidalität und Stigmatisierung aufgreifen, um auf diese Weise mit ihren Fans in eine Art Dialog zu treten.

II Medizin & Musiktherapie

Der zweite Abschnitt wird mit einer Einführung in das Thema Suizidprävention eröffnet. Mit seinem Beitrag »Hält Beziehung am Leben?« rückt Claudius Stein, langjähriger ärztlicher Leiter des Kriseninterventionszentrums Wien, ein Thema in den Fokus, das in der Krisenintervention von zentraler Bedeutung ist: das Beziehungsangebot von Helfenden. Anschließend an eine Übersicht zu soziodemografischen Daten geht Stein auf einige gängige Vorurteile zum Thema Suizid ein. Ausgehend vom Beispiel der Rettung des suizidalen Papageno durch die drei Knaben in der Zauberflöte werden die Möglichkeiten suizidpräventiver Maßnahmen aufgezeigt.

Die Musiktherapeutin Susanne Korn (Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel) beschäftigt sich in ihrem Beitrag »Suizidalität und Suizid in der Musiktherapie« mit dem Phänomenbereich im klinischen Alltag und erörtert Herausforderungen und Chancen sowie mögliche Interventionen bei akuter, chronischer oder abklingender Suizidalität. Daneben wird auf Indikationen und Kontraindikationen der Musiktherapie und insbesondere auf die Notwendigkeit von Selbstschutz und Selbstfürsorge von professionellen Helfer:innen eingegangen, die mit Suizidalität und Suiziden von Patient:innen konfrontiert sind.

Harm Willms berichtet in seinem Beitrag »Über die Rolle der Musik bei Suizidhandlungen« über eine Untersuchung, die er Mitte der 1970er-Jahre im Rahmen seiner Tätigkeit als Psychiater an einer Berliner Klinik durchgeführt hat. In fünf Fallvignetten wird das musikalische Erleben im Zusammenhang mit Suizidversuchen beschrieben und analysiert.

IIISuizidforschung, Jugendpsychiatrie & Medienpsychologie

Benedikt Till und Thomas Niederkrotenthaler widmen sich dem »Zusammenhang zwischen Suizidrisikofaktoren und individuellen Musikpräferenzen« und gehen im Zuge dessen auf den Werther- und den Papageno-Effekt ein. Die Autoren diskutieren zunächst frühere Studien mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen, wie Untersuchungen zu Genrepräferenzen oder Präferenzen für Musik mit suizidalem Inhalt, und stellen zwei eigene Studien vor, die das Verhältnis von Musikpräferenzen und Suizidgedanken sowie den positiven Effekt von Songs untersuchen, die Hilfsangebote für die Bewältigung von Krisen zum Inhalt machen.

Im Beitrag »›Doch sie liebte die Klinge‹« des Kinder- und Jugendpsychiaters Paul Plener werden nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten von Jugendlichen und negative wie positive Wechselwirkungen mit dem Hören von Musik erörtert. Anhand von zwei Pilotprojekten, in denen musiktherapeutische Ansätze mit Elementen aus der Dialektisch-Behavioralen Therapie kombiniert wurden, verdeutlicht Plener das Potenzial des Mediums Musik in der Behandlung von Jugendlichen mit psychischen Problemen.

Der Beitrag von Studierenden der Musiktherapie und der Instrumental(Gesangs)pädagogik, die sich im Rahmen des oben erwähnten Seminars mit der Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nicht auseinandergesetzt haben, fasst verschiedene Perspektiven auf die in der Serie verwendete Musik zusammen. Bei der Untersuchung der Musik und der Art ihres Einsatzes stehen sowohl die original komponierten Tracks von Eskmo als auch die ca. 70 für die Serie ausgewählten Songs im Fokus. Vor dem Hintergrund medienpsychologischer Forschung werden die Rezeption der Serie und die damit verbundene Kritik hinsichtlich Nachahmungseffekten bei Jugendlichen diskutiert.

Die Zusammenstellung der Beiträge bzw. die Auswahl der Themenbereiche in diesem Band erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es ist uns bewusst, dass wichtige Disziplinen und wesentliche Themenstellungen in Bezug auf Musik und Suizidalität hier nicht vertreten sind, wie etwa eine dezidiert soziologische Perspektive, das Thema des assistierten Suizids, Suizide von Musiker:innen oder Suizidalität bei älteren Menschen — der am stärksten betroffenen Altersgruppe.

In den Diskussionen während des Symposiums wurden konträre Positionen evident, welche Musikgenres als problematisch markiert werden. Wie z. B. bei der Gegenüberstellung der Beiträge von Brown und Till und Niederkrotenthaler sichtbar wird, braucht die Auseinandersetzung mit diesem Thema die Konfrontation und den Austausch — nicht zuletzt, um Vorurteile gegenüber bestimmten Musikgenres zu relativieren, indem sie auch kultur- und mediengeschichtlich betrachtet werden. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass Musik nicht nur auf eine bestimmte Art wirkt und sich das individuelle Erleben derselben Musik innerhalb kürzester Zeit verändern kann. Weiters wurden in den Diskussionen immer wieder auch grundsätzliche Fragen philosophisch-existenzieller Natur aufgeworfen (freie Entscheidung versus Pathologisierung des Suizids) und Fragen der Haltung bezüglich einer Entscheidung zum Suizid thematisiert (aus der Sicht professioneller Helfer:innen und persönlich Betroffener), was einmal mehr deutlich machte, wie groß der Gesprächsbedarf zum Thema Suizidalität ist.

Das Gloomy Saturday-Konzert zum Nachhören

Das zweitägige Symposium wurde am Samstag, den 7. Mai 2022, mit einem Konzert abgeschlossen, dessen Titel Gloomy Saturday an den Song »Gloomy Sunday« angelehnt ist. Das Programm, das thematisch passende Stücke — Arien, Lieder und ein Werk für Klavier solo — vom Ende des 17. Jahrhunderts bis in die Gegenwart umfasste, wurde von Tanya Aspelmeier (Professorin für Gesang am Antonio Salieri Institut für Gesang und Stimmforschung in der Musikpädagogik) und Julia Heimerdinger zusammengestellt und von Studierenden und Kolleg:innen der mdw ausgeführt. Zu Dokumentationszwecken wurde das Konzert mit einfacher Video- und Tontechnik aufgezeichnet. Da der Abend auf sehr positive Resonanz stieß, haben wir uns mit Zustimmung der beteiligten Musiker:innen dazu entschlossen, die Aufzeichnung gemeinsam mit diesem Band zugänglich zu machen. Im Anhang findet sich eine Liste mit allen Musikstücken des Konzerts, die per QR-Code als Videoclips aufgerufen werden können. In den einzelnen Kapiteln verweisen zudem Lautsprechericons auf die verfügbaren Titel.

Danksagungen

Abschließend möchten wir all jenen Personen und Institutionen herzlich danken, die an der Realisation dieses Tagungsbands beteiligt waren: an erster Stelle den Vortragenden des Symposiums und den Teilnehmer:innen des Seminars »Zur Rolle der Musik in der Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nicht« fürdie Verschriftlichung ihrer Referate, sowie den Mitwirkenden des Abschlusskonzerts für ihre musikalischen Beiträge. Herzlich danken wir auch Tanya Aspelmeier für die wunderbare Zusammenarbeit bei der Gestaltung des musikalischen Programms, Robert Hofmann und Arik Kofranek vom Audio-Video-Zentrum für die professionelle technische Betreuung des Symposiums, Robert Hofmann zudem für die Bearbeitung des Konzertmitschnitts für die Online-Veröffentlichung.

Besonderer Dank gebührt mdwPress für die Aufnahme des Bands in das Verlagsprogramm, namentlich den Verlagsleiter:innen Therese Kaufmann und Michael Staudinger, sowie Max Bergmann für die umsichtige Betreuung. Dem mdwPress-Kuratorium und den zwei anonymen Gutachter:innen danken wir für ihre hilfreichen Anmerkungen. Ohne die Offenheit der mdw — Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, dieser Thematik einen Denk- und Diskussionsraum zu geben, und ohne die finanzielle Unterstützung durch das Institut für Musiktherapie, das Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung sowie den Open Access-Publikationsfond der Stabstelle Forschungsförderung wäre die Umsetzung des Symposiums und des daraus hervorgegangenen Buchs nicht möglich gewesen. Vielen herzlichen Dank dafür!

Für ihre Mitwirkung bei der Einrichtung des Manuskripts sind wir einer Reihe von Personen dankbar: insbesondere Johannes Fiebich (Wissenschaftsorganisation am Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung), daneben Maximilian Böhm, Jil Paul, Sofie Himmelbauer und Elsa Campbell, sowie Jason Heilman für das Korrekturlesen des englischsprachigen Texts und der Abstracts.

Julia Heimerdinger möchte darüber hinaus Simon Obert herzlichst für seine unschätzbaren Hinweise und Unterstützung bei der Entstehung des Buchs danken. Nicht zuletzt dankt Julia Heimerdinger Martin Heinze, Chefarzt des Zentrums für seelische Gesundheit der Immanuel Klinik Rüdersdorf, der vor Jahren in Gesprächen und gemeinsamen Vorträgen zur Beschäftigung mit diesem besonderen Thema und zur interdisziplinären Arbeit angeregt hat.

Literaturverzeichnis

Durkheim, Émile. 1983. Der Selbstmord. Übers. von Sebastian und Hanne Herkommer. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Falret, Jean-Pierre. 1824. Der Selbstmord: Eine Abhandlung über die physischen und psychologischen Ursachen desselben, und über die Mittel, seine Fortschritte zu hemmen. Übers. von Gottlob Wendt. Sulzbach: Seidel.

Gore, Tipper. 1987. Raising PG Kids in an X-Rated Society. Nashville: Abingdon Press.

Heimerdinger, Julia. 2020. »›Einsame Sonntage hab ich zu viel verbracht, heut’ mach ich mich auf den Weg in die lange Nacht‹. Ein Lied von Liebe und Tod — Gloomy Sunday (1999)«. In Lebensmüde, todestrunken: Suizid, Freitod und Selbstmord in Film und Serie, hg. von Martin Poltrum, Bernd Rieken und Otto Teischel, 127—41. Berlin: Springer.

Heimerdinger, Julia und Thomas Stegemann. 2022. »Musik und Suizidalität«. mdw-Magazin Nr. 1 (März/April): 39—41. Zugriff am 18. Dezember 2023. https://www.mdw.ac.at/magazin/index.php/2022/02/28/musik-und-suizidalitaet/.

Macho, Thomas. 2017. Das Leben nehmen: Zum Suizid in der Moderne. Berlin: Suhrkamp.

Niederkrotenthaler, Thomas, Martin Voracek, Arno Herberth, Benedikt Till, Markus Strauss, Elmar Etzersdorfer, Brigitte Eisenwort und Gernot Sonneck. 2010. »Role of Media Reports in Completed and Prevented Suicide: Werther v. Papageno Effects«. British Journal of Psychiatry 197: 234—43.

Pörschmann, Dirk, Tatjana Ahle und Reinhard Lindner. 2021. Suizid: Let’s talk about it! Bielefeld: Kerber.

Ringel, Erwin. (1953) 1997. Der Selbstmord: Abschluss einer krankhaften psychischen Entwicklung; Eine Untersuchung an 745 geretteten Selbstmördern. 6. Aufl. Eschborn: Klotz.

Stegemann, Thomas, Annika Brüggemann-Etchart, Anna Badorrek-Hinkelmann und Georg Romer. 2010. »Die Funktion von Musik im Zusammenhang mit selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität bei Jugendlichen«. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 59, Nr. 10: 810—30. https://doi.org/10.13109/prkk.2010.59.10.810.

Willms, Harm. 1975. »Die Bedeutung der Musik für den Suicid und die Suicidprophylaxe«. Musik + Medizin 1, Nr. 6: 39—41.

1Dieser und die folgenden drei Absätze basieren auf dem Beitrag von Heimerdinger und Stegemann 2022.

IKulturwissenschaft & Musikwissenschaft

Ansteckende FragenZur Kulturgeschichte der Suizidepidemien

Thomas Macho

Abstract: Die Moderne ist eine Epoche der Umwertung des Suizids, der zunehmend nicht mehr verfolgt, verteufelt, bestraft oder tabuisiert wird. Ermöglicht wurden die Prozesse allmählicher Entheroisierung, Entmoralisierung und Entkriminalisierung der Suizide durch deren umfassende Pathologisierung, beispielsweise als »Werther-Fieber« oder »Ophelia-Komplex«, als Suizidepidemie oder Serie medieninduzierter Nachahmungssuizide. In seinem Buch zu Vizi e virtù del suicidio (2020) bemerkt der italienische Kinderarzt Franco Foschi: »Der Suizid ist eine infektiöse, keine genetische Krankheit. Das heißt, sie ist ansteckend, aber nicht vererbbar.« Die Rede von Suizidepidemien stellt indes nicht nur die Frage nach den Einflüssen kultureller Artefakte auf die Entscheidung für einen Suizid in den Mittelpunkt, sondern auch die Frage, ob und wie die historischen und aktuellen Erfahrungen einer Pandemie unsere kulturelle Wahrnehmung des Suizids geprägt haben und prägen.

1.

Die historische Reihe respektierter Suizide — der heroisch-ehrenvolle Suizid, das Martyrium und Selbstopfer, der Notsuizid aufgrund von unheilbarer Krankheit, quälenden Schmerzen oder Alter — referierte auf verschiedene Instanzen: Staat und Familie, religiöse Autoritäten, zuletzt die Medizin.1 Relevant für die Umwertung des Suizids in der Moderne war zweifellos der Aufstieg der Medizin, Psychiatrie und Psychologie, die zunehmend zur Rechtfertigung des Suizids beitrugen, freilich um den Preis seiner Pathologisierung. An die Stelle der Sünde trat die Krankheit. In mancher Hinsicht kann die europäische Mentalitäts- und Ideengeschichte ohnehin als eine Art von Konkurrenzkampf zwischen Religion und Medizin dargestellt werden: Heil und Heilung konnten divergieren; die Erlösung von Leid und Schmerzen war zweitrangig gegenüber der Erlösung von Sünden. Die Krankenpflege galt zwar als christliche Pflicht, der sich manche Orden, etwa die Antoniter und Franziskaner, mit großem Engagement widmeten, nicht aber die fachkundige Ausbildung der Ärzte und Chirurgen. Vermutlich inspirierte erst die Verbreitung neuer Instrumente, Techniken und Übersetzungen griechischer oder arabischer Abhandlungen zur Medizin, die ab dem 13. Jahrhundert nicht nur in Spanien, sondern auch in Westeuropa zu zirkulieren begannen, den Aufstieg der ärztlichen Künste, ebenso wie der Beginn der Frührenaissance und des Humanismus; vor allem aber erzwangen die Schreckenserfahrungen des Schwarzen Todes eine neue Orientierung.

Die Pest bildete die zentrale Bruchstelle zwischen Mittelalter und Neuzeit. Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts wurden zahlreiche Städte und Länder Europas heimgesucht; nach realistischen Schätzungen starben damals rund 25Millionen Menschen, fast ein Drittel der gesamten Bevölkerung des Kontinents. Immer wieder flackerte die Seuche auf. Die mentalen Effekte dieser beschleunigten Entvölkerung können kaum überschätzt werden; sie entluden sich in den Pogromen gegen Juden und später in den Hexenverfolgungen, aber auch in regelrechten Suizidwellen, die bereits Boccaccio beklagt hatte. Die apokalyptischen Schrecken der Pest prägten die folgenden Jahrhunderte; und während die Kirche ihre »Pestblätter« verteilte, in denen die Seuche als Strafe Gottes dargestellt wurde, verkündeten die gemalten Totentänze, die zahlreiche Friedhofsmauern — von Paris bis Basel oder Lübeck — zu schmücken begannen, den Triumph des Todes, der alle Stände und Zünfte traf, Frauen und Männer, Kinder und Alte, Mächtige und Schwache, Ärzte und Patienten. »Der Tod erwürget alle gleich, wie er sie findet, arm und reich«, kommentierte ein deutsches Sprichwort. Ein mörderischer Egalitarismus der Ansteckung! Gezeigt wurden keine Allegorien des Todes, wie manchmal missverständlich behauptet wurde, sondern zumeist konkrete, individuelle Leichen in allen möglichen Übergangsstadien der Verwesung, häufig eine Art von Doppelgänger der Lebenden. »Tu fui, ego eris«, steht auf manchen Grabsteinen: »Ich war (wie) du, du wirst sein (wie) ich«. Ist nicht der Tote, welcher Papst und Kaiser, Bischof und Kaufmann, Soldat, Jungfrau und Bauer abholt, deren künftige Gestalt? Ein Vorgänger als Wiedergänger, der die unvermeidliche Richtung anzeigt? Ein solcher Wegweiser wurde nicht zuletzt für die Ärzte errichtet, die ihre Hilflosigkeit bekennen mussten. In der Pariser Danse macabre (von 1425) heißt es: »Arzt, bei all Eurem Urin, seht Ihr denn, wie hier zu helfen ist? Einst wußtet Ihr von der Medizin genug und konntet wohl befehlen. Nun kommt der Tod und ruft Euch. Wie jeder andere müßt Ihr sterben. Dagegen gibt es keinen Einspruch.« Und der Arzt resigniert: »Gegen den Tod gibt es kein Kraut« (zit. nach Kaiser 1983, 97). Im Basler Totentanz von 1440 verhöhnt der Tote sogar sein Opfer: »Herr Doktor, beschaut an mir die Anatomie, ob sie auch richtig sei. Denn Du hast manchen hingerichtet, der aussieht jetzt wie ich.« Kläglich erwidert darauf der Arzt: »Ich habe mit meinem Urinbeschauen Männern und Frauen geholfen. Doch wer beschaut mein Wasser jetzt? Ich muß mit dem Tod dahin« (ebd., 229).

Um die rätselhaften Wege der Ansteckung kreisten die Debatten; beschuldigt wurden die Juden als »Brunnenvergifter«, die Hexen, die Aussätzigen, denen nachgesagt wurde, dass sie die Krankheit durch Sexualkontakte übertrugen (vgl. Die Chronik 1892, 173—74), aber auch die Ärzte selbst, die angeblich durch mörderische Salben die Seuche verbreiteten.

Im Jahre 1530 wurde in Genf eine Verschwörung aufgedeckt, die von »Salbern« angezettelt worden war und der, wie man glaubte, der Leiter des Seuchenspitals, dessen Frau, der Wundarzt und sogar der Armenpfleger der Anstalt angehörten. Als man sie der Folter unterwarf, gestanden die Verschwörer, sich dem Teufel verschrieben zu haben, der ihnen im Austausch dafür verraten hatte, wie die tödliche Mixtur herzustellen sei: Sie wurden alle zum Tode verurteilt. (Delumeau 1989, 189)

Zuletzt wurde gar den Pestkranken selbst vorgeworfen, die Gesunden absichtlich anstecken zu wollen. Daniel Defoe zog freilich den Schluss, der Vorwurf sollte bloß die Verweigerung von Hilfeleistungen rechtfertigen, angesichts einer Bedrohung, in der Panik unmittelbar zur Flucht führte und jedes Mitgefühl auslöschte: »Selbsterhaltung schien in der Tat das einzige Gesetz zu sein. Denn Kinder liefen von ihren Eltern fort, wenn die in äußersten Qualen dahinsiechten. Und manchmal, wenn auch nicht so häufig wie umgekehrt, taten Eltern das gleiche ihren Kindern an« (Defoe 1987, 156).

Kaum hatte sich die Pest — mit einer letzten Epidemie, die 1771 in Moskau aufflammte — aus Europa zurückgezogen, trat die Cholera ihr Erbe an. Vermutlich war es der wachsende Kolonial- und Orienthandel, der die viele Jahre lang vorrangig in Südasien auftretende Infektionskrankheit in mehreren Wellen nach Europa einschleppte. Besonders dramatisch verlief die zweite Pandemie zwischen 1826 und 1841, in deren Verlauf die europäischen Metropolen heimgesucht wurden: Berlin, London, Paris. Vom Wüten der Cholera in Paris, die zunächst unterschätzt worden war, berichtete Heinrich Heine unter dem Datum vom 19. April 1832:

Nur ein Tor konnte sich darin gefallen, der Cholera zu trotzen. Es war eine Schreckenszeit, weit schauerlicher als die frühere, da die Hinrichtungen so rasch und so geheimnisvoll stattfanden. Es war ein verlarvter Henker, der mit einer unsichtbaren Guillotine ambulante durch Paris zog. (Heine 1996, 168)

Erneut begann die Suche nach Schuldigen: Erst wurden die Reichen verdächtigt, denn die Seuche traf in erster Linie die Armen; bald danach wurden auch die Ärzte angegriffen.

Man belagerte Ambulanzen, Krankenhäuser und Behelfslazarette, plünderte Apotheken, malträtierte Ärzte in aller Öffentlichkeit […]. In Rußland und Polen […] wurden Krankenhäuser demoliert und Krankenschwestern und Ärzte ermordet; in Frankreich kam das Pflegepersonal wenigstens nur durch die Cholera um. (Ruffié und Sournia 1987, 71—72)

2.

Die Belastbarkeit der Zahlen über die Häufigkeit von Suiziden oder ihre mögliche Zunahme in Zeiten der Pest und Cholera ist wohl nicht hoch. Die beschleunigte Häufung der Sterbefälle überforderte die Behörden und Kirchenämter, sofern ihre Vertreter überhaupt am Leben blieben. Immerhin erinnerte sich Montaigne an die Pest im Gebiet seines Schlosses und Weinguts im Périgord, wo von der Bevölkerung nicht einmal »der hundertste Teil« überlebte. Mit kaum verhohlener Bewunderung erzählte er:

Manche schaufelten sich schon bei voller Gesundheit ihr Grab, andre legten sich in das ihre sogar lebendigen Leibes hinein; und einer meiner Tagelöhner scharrte im Sterben mit Händen und Füßen die Erde über sich. Heißt das nicht sich wahrlich tief einhüllen, um gelöster zu entschlafen? (Montaigne 1998, 529)

Einige Jahrzehnte später berichtete Defoe, es sei vorgekommen, dass »Menschen, die krank lagen und schon im Fieberwahn und dem Ende nahe waren, zu den Gruben liefen, in Decken oder Bettücher gehüllt, und sich hinunterstürzten, um, wie sie sagten, sich selbst zu begraben.« Und er beobachtete, dass »Menschen, die in der Hitze des Fiebers oder in der Pein ihrer Geschwülste, die in der Tat unerträglich war, außer sich gerieten, rasend und wahnsinnig wurden und oft gewaltsam Hand an sich legten, sich zum Fenster hinausstürzten, sich erschossen« (Defoe 1987, 83—84 und 111—12). Jean Delumeau zitiert den Bericht eines Arztes aus Malaga, in dem es heißt: »Eine Frau begrub sich lebendig, um nicht den Tieren als Fraß zu dienen. Ein Mann zimmerte sich seinen eignen Sarg, nachdem er seine Tochter begraben hatte, und starb neben ihr« (Delumeau 1989, 171).2 Gewiss kann die Aussagekraft dieser spärlichen Zeugnisse und Quellen relativiert werden; dennoch wäre schwer vorstellbar, dass Katastrophen wie die geschilderten Epidemien keinen realen Einfluss auf die Suizidzahlen ausübten (vgl. Lind 1999, 242—43).

Die Frage nach exakten Suizidzahlen — und deren Zunahme etwa in England zwischen 1580 und 1620 (vgl. Minois 1996, 132—74) oder während des gesamten 19. Jahrhunderts (vgl. Barbagli 2015, 19) — steht im Zentrum moderner Suiziddiskurse. Denn diese Diskurse sind Diskurse der Ansteckung, und zwar bis heute; und sie waren eminent geprägt von den epochalen Erfahrungen mit Pest und Cholera. Üblich wurde die Diagnose von »Selbstmordepidemien«; doch als Quellen dieser »Epidemien« figurierten nicht mehr faulige Luft, vergiftetes Brunnenwasser oder mysteriöse Bakterien, sondern Zeitungsnachrichten und Bücher. Als lebensgefährlich erschien nicht mehr das Atmen, Trinken oder Berühren von Seuchentoten, sondern das Lesen, das sich im Zuge der Aufklärung und Einführung allgemeiner Schulpflicht gleichsam »epidemisch« verbreitet hatte. Nicht umsonst war es ja auch ein literarischer Text, dem zuerst nachgesagt wurde, er verführe zum Suizid: Johann Wolfgang Goethes 1774 anonym veröffentlichter Briefroman Die Leiden des jungen Werther. Das Ende des Romans berichtet detailliert vom Freitod des jungen, unglücklich verliebten Titelhelden:

Über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben. […] Er lag gegen das Fenster entkräftet auf dem Rücken, war in völliger Kleidung, gestiefelt, im blauen Frack mit gelber Weste. […] Von dem Weine hatte er nur ein Glas getrunken. »Emilia Galotti« lag auf dem Pulte aufgeschlagen. (Goethe 1996, 124)

Schon Werther starb nicht nur an einem Pistolenschuss, sondern auch an gefährlicher Lektüre.

Die genaue Beschreibung der Szene schien geradezu zur Nachahmung einzuladen: die ›Werther-Tracht‹ (der blaue Frack mit gelber Weste), der Schreibtisch, das aufgeschlagene Buch — wobei Lessings Trauerspiel von 1772, in dem zum Schluss der Vater die verzweifelte Tochter ersticht, um ihre Ehre zu wahren (und ihren Suizid zu verhindern), natürlich ersetzt wurde durch Goethes Roman. Zwar wurde der Begriff »Werther-Effekt« erst rund zweihundert Jahre später, in soziologischen Untersuchungen über kausale Korrelationen zwischen Suizidraten und der Ausstrahlung von Filmen geprägt (vgl. Phillips 1974); doch in der Sache selbst wurde bereits zu Goethes Zeit über das »Werther-Fieber« diskutiert.

Quellenmäßig belegt ist in jedem Fall eine zweistellige Zahl von Suiziden in verschiedenen europäischen Ländern, die in direkter Verbindung mit Goethes Buchpublikation stehen. Das Phänomen der Nachahmung des literarischen Vorbildes war bei diesen Fällen insofern evident, als sich die Suizidenten genau wie die tragische Romanfigur mit blauer Jacke und gelber Weste kleideten oder das Buch direkt beim Suizid bei sich führten, wie im Fall eines jungen Mannes namens Karstens, der sich bei aufgeschlagenem Buch erschoss, oder Christine von Lassberg, die sich mit dem Buch in der Tasche ertränkte. (Ziegler und Hegerl 2002, 41)

Kurzfristig wurden Die Leiden des jungen Werther — wegen verhängnisvoller Verführung zum Suizid — sogar verboten; schon im Januar 1775, wenige Monate nach der Veröffentlichung des Romans, schrieb der Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, Johann August Ernesti, an die sächsische Zensurbehörde, das Buch sei eine gefährliche »Apologie und Empfehlung des Selbst-Mordes«; er zitierte einige »gelehrte und sonst gesetzte Männer«, die »sich nicht getrauet hätten das Buch durchzulesen, sondern es etliche Male weggelegt hätten« (zit. nach Flaschka 1987, 281).3 Ein Jahr später wurden Werthers Leiden auch in Mailand und Kopenhagen verboten, und Goethe ließ die zweite Auflage mit Versmottos vor dem ersten und zweiten Buch erscheinen; das zweite Motto endete bekanntlich mit der Empfehlung: »Sey ein Mann, und folge mir nicht nach«. Implizit reagierte der Roman auf eine wirkliche Tat, den Suizid des Wetzlarer Gesandtschaftssekretärs Carl Wilhelm Jerusalem (in der Nacht vom 29. zum 30. Oktober 1772). Bevor Werther zur Ansteckungsquelle eines kollektiven »Fiebers«, einer Art von »Selbstmordepidemie«, avancieren konnte, war er selbst schon gleichsam »infiziert« (vgl. Neumeyer 2009, 151—64 und Lessing 1776, [3—14]), und zwar von der Erzählung über einen leidenschaftlichen Leser, wie August Kestner in seinem Bericht vom Suizid Jerusalems betonte: »Er las viel Romane, und hat selbst gesagt, daß kaum ein Roman seyn würde, den er nicht gelesen hätte. Die fürchterlichsten Trauerspiele waren ihm die liebsten« (Kestner 1854, 87—88). Goethe hat übrigens den medizinisch detailreichen Bericht Kestners (vom November 1772) fast wörtlich übernommen; schon auf dem Pult Jerusalems sei eine aufgeschlagene Ausgabe der Emilia Galotti gelegen (ebd., 98—99).

3.

Während der Suizid im 18. Jahrhundert entweder als religiös oder politisch inkriminierbare Handlung betrachtet wurde, als Zerstörung fremden Eigentums, das Gott und König gehört, oder als Ausdruck einer fragwürdig freien Selbstbeziehung, vergleichbar mit der Onanie (vgl. Neumeyer 2009, 86—105), wurde er im 19. Jahrhundert zunehmend als Tat imaginiert, die zur Nachahmung verführt. Im 18. Jahrhundert diskutierten Gegner des Suizids wie Immanuel Kant, der sogar die Verpflanzung eines Zahns als »partialen Selbstmord« (vgl. Kant 1978, 555) verurteilte, oder Befürworter des Freitods wie David Hume über die Frage der Pflichten gegen Gott und Gesellschaft; ihr Streit wurde jedoch bald im Kontext einer Kritik an Werthers Leiden rezipiert, wie sie der lutherische Theologe, Schlossprediger und Schulleiter Gottfried Less im Jahr 1776 — dem Todesjahr Humes — ausgedrückt hatte:

Dichter! Romanenschreiber! Wizige Köpfe! Wohin füren alle die Vernisse die ihr dem Selbstmorde anstreicht? Alle die glänzenden Larven, womit ihr ihn bekleidet? Jene melancholischen Gemälde der Vereitelung einer ehelichen Liebe, oder gar einer viehischen Lust; jene Lobpreisungen der Selbstmörder, vom Cato an bis zum Werther herab! Wohin füret dies alles? — Allen Lastern die Thore zu eröfnen; alle Verbrechen zu begünstigen; und das menschliche Geschlecht durch sie zu Grunde zu richten! Wer Selbstmord predigt, oder beschöniget, der ist — der größte Feind des menschlichen Geschlechts! (Less 1776, 44—45)

Das »Verbrechen, unser Leben zu endigen« setzt also Lektüre, Studium und Wissen voraus.

Michel Foucault oder Pierre Hadot haben die Entwicklung einer neuen »Sorge um sich selbst« in der stoischen und frühchristlichen Antike als Verbreitung von »Selbsttechniken« untersucht (vgl. Foucault 1993, 24—62; vgl. auch ders. 2004 und Hadot 1991); dabei zeigten sie auch, dass diese Selbsttechniken nicht nur als Techniken der Meditation, des Gebets, der Askese oder Körperpflege, sondern vor allem im Schreiben, Lesen und Diktieren praktiziert wurden, als »ethopoetische« Strategien. In diesem Sinne bedeutete der Titel der Aufzeichnungen Marc Aurels — ta eis heauton — in wörtlicher Übersetzung weder »Selbstbetrachtungen« noch »Selbstermahnungen«, sondern schlicht und einfach eine Art von Adressierung, gleichsam Briefe an sich selbst (vgl. Hadot 1996, 45—61). Selbsttechniken ermöglichten und vertieften eine Aufspaltung des Subjekts: Der Lesende spaltet sich auf in ein sprechendes und ein hörendes Selbst; der Schreibende spaltet sich auf in Autor und Adressat seiner Texte, gleichgültig ob er Dialoge mit sich selbst, Tagebucheintragungen oder Briefe verfasst. Von solchen strategischen Verdoppelungs- und Spaltungstechniken erzählen bereits die platonischen Dialoge, etwa wenn sie Auskunft geben über die Beziehung zwischen Sokrates und seinem daimon, dem Begleiter, der die Seelen nach dem Tode in die Unterwelt führt (vgl. Platon 1958, 57 [107 d]), aber auch Senecas 25. Brief an Lucilius, der dem Freund empfiehlt, sich probehalber einen prominenten Zeugen vorzustellen, der seine Handlungen beaufsichtigt (Seneca 2014, 90—91 [25,5—7]). Und noch Paul Valéry betonte, es sei unmöglich, »die ›Wahrheit‹ von sich selber zu empfangen. Wenn man sie Gestalt annehmen fühlt (das ist ein Eindruck), formt man gleichzeitig ein anderes ungewohntes Selbst … auf das man stolz ist — auf das man eifersüchtig ist …« (Valéry 1997, 51; vgl. auch Macho 2000, 27—44). Mit diesem »ungewohnten Selbst« befasste sich Valéry während seines gesamten intellektuellen Lebens: Er nannte es den »Herrn Zeugen«, Monsieur Teste.

Können wir also von einer longue durée der Selbsttechniken— von Platon bis Montaigne, von Seneca bis Paul Valéry— sprechen? An einem entscheidenden Punkt täuscht diese Perspektive. Sie blendet nämlich aus, dass Selbsttechniken seit der Antike— trotz christlicher Mission, der Einübung von Gebeten, Passionsmeditationen und Praktiken der Gewissenserforschung— jahrhundertelang bloß zum Verhaltensrepertoire einer zahlenmäßig kleinen Elite zählten. Nur eine Minderheit im Römischen Reich— und danach im christlichen Mittelalter— hat Platons Dialoge, Marc Aurels Aufzeichnungen, Senecas Briefe oder die Bekenntnisse des Augustinus gelesen. Unter diesem Aspekt kann erst die Geschichte der Modernisierung als ein Prozess der Popularisierung von Selbsttechniken beschrieben werden, der zunächst mit der Erfindung des Buchdrucks begann, einen ersten Gipfel durch die Einführung allgemeiner Schulpflicht und die nachfolgende Massenalphabetisierung erreichte, und heute— seit Anbruch des digitalen Zeitalters, mit Internet und millionenfacher, weltweiter Nutzung sozialer Medienplattformen — eine neue, historisch bisher unvorstellbare Gestalt angenommen hat. Die Umrisse einer Welt, in der nicht mehr nur einzelne Stoiker, Heilige oder Genies ihre jeweiligen Selbsttechniken praktizieren, sondern ungezählte Gruppen und Individuen aus den verschiedensten sprachlichen und kulturellen Kontexten, können gegenwärtig allenfalls erahnt werden. Salopp gesagt: Das Internet ist die technische Form einer Art von »Ansteckung« durch Selbsttechniken, ein Medium vielfältiger Praktiken des Sprechens, Schreibens, Lesens und Abbildens, aber auch ein Medium der Subjektspaltung und Suizidreflexion, etwa im Sinne des vielzitierten Satzes von Théodore Jouffroy: »Suizid ist ein schlecht gewähltes Wort; wer tötet, ist niemals identisch mit dem, der getötet wird« (Jouffroy 1842, 245; übers. von T. M.).

Die Popularisierung und Verbreitung von Selbsttechniken ab dem 18. Jahrhundert generierte nicht nur eine Vielzahl von Ansteckungsdiskursen, die um Fieber, Epidemie und eine gefürchtete Verführung zum Suizid kreisten, sondern auch ein neues Genre: den Abschiedsbrief. Zwar war es seit der Antike üblich, die letzten Worte eines Sterbenden aufzuzeichnen; und natürlich wurden Testamente verfasst, aber eben keine Abschiedsbriefe. Im ersten Kapitel seiner Sammlung von Suicide Notes spricht Marc Etkind von der »Geburt« des Abschiedsbriefs im 18. Jahrhundert; er bemerkt: