Musik und Wirklichkeit - Harry Lehmann - E-Book

Musik und Wirklichkeit E-Book

Harry Lehmann

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Beschreibung

Im Windschatten der digitalen Revolution begann sich vor einem Jahrzehnt auch ein neuer Typus von Kunstmusik auszubilden: eine Musik, die primär am Computer entsteht und nicht nur mit Noten und Samples, sondern auch mit Bildern, Videos, Texten, Umweltgeräuschen, Worten und Konzepten kompo­niert wird. Während die absolute Musik im besten Fall ephemere Weltbezüge über Strukturanalogien herstellen konnte, vermag diese relationale Musik ganz konkret auf die Wirklichkeit zu verweisen. Musik und Wirklichkeit entwickelt Modellanalysen von exemplarischen Werken, die zeigen, wie die Kunstmusik heute diese neuen Möglichkeiten des welthaltigen Komponierens nutzt, um in so unterschiedlichen Feldern wie der Konzeptmusik, der musikalischen Postmoderne, dem Sprechtheater, der politischen Musik, der bildenden Kunst und der Oper ästhetische Gehalte zu artikulieren.

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edition neue zeitschrift für musik

Mit freundlicher Unterstützungder Universität Luxemburgund der Pro Musica Viva –Maria Strecker-Daelen Stiftung

Umschlagfoto: Videostill aus dem Film20:21 Rhythms of History von Johannes Kreidler

© 2023 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

SDP 184

ISBN 978-3-79-573015-4

Harry Lehmann

Musik und Wirklichkeit

Modelle der Musikphilosophie

In neuerer Zeit besonders ist die Musik in der Losgerissenheit von einem für sich schon klaren Gehalt so in ihr eigenes Element zurückgegangen, doch hat dafür auch desto mehr an Macht über das ganze Innere verloren, indem der Genuss, den sie bieten kann, sich nur der einen Seite der Kunst zuwendet, dem bloßen Interesse nämlich für das rein Musikalische der Komposition und deren Geschicklichkeit, eine Seite, welche nur Sache der Kenner ist und das allgemeinmenschliche Kunstinteresse weniger angeht.

G. W. F. Hegel

Inhalt

Vorwort

Musik und Wirklichkeit

I. Außermusikalisches Material

II. Experimente in relationaler Musik

III. Künstlerische Forschung

Konzeptmusik

I. Historische Konzeptmusik

II. Isomorphismus-Prinzip

III. Speichermedienproblem

IV. Theoriemodell der ästhetischen Moderne

V. Digitale Konzeptmusik

VI. Fazit

33 Thesen zur Konzeptmusik

Musikalische Postmoderne

I. Lyotards Missverständnis

II. Postmoderne Kunst

III. Muzak und Darmstadt Style

IV. Musikalische Ausdifferenzierung

Fremdmaterial im Klavierkonzert

I. Konzeptmusik-Präludium

II. Selbstspielklavier als Solist

III. Vorgeschichte im Videoformat

IV. Vernichtungsarie unterm Flügel

V. Desillusionierung als Konzept

VI. Utopia

Politische Musik

I. Protestbewegungen

II. Politische Kunstmusik

III. Politischer Konzeptualismus

Noten und Samples

I. Historisches Modell

II. ePlayer in der Kunstmusik

III. Digitale Musikkultur

Künstliche Intelligenz

I. Voyager-Ästhetik

II. Beethovens Schwestern

Musikpublikum

I. Kunstmusik am Biennale-Strand

II. Auf der Suche nach dem Publikum

Musik im Sprechtheater

I. Maschine und Form

II. Psyche und Existenz

III. Sprache und Musik

IV. Sinn und Dekonstruktion

Norwegische Opra

I. Ø und der Neuanfang

II. Art-brut-Ästhetik

III. Weltkarte

IV. DeDekonstruktion

Reflexive Kunstmusik

I. Der historische Musikbegriff

II. Der aufgelöste Musikbegriff

III. Der reflexive Musikbegriff

Endnoten

Playlist

Textnachweise

Bildnachweise

Zum Autor

Vorwort

Die Kunstmusik, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts als Neue Musik ausgebildet hat, durchlebt seit etwa einem Jahrzehnt eine Phase des Umbruchs. Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie (2012) hatte das Kräfteparallelogramm aus technologischen, ökonomischen, institutionellen und ästhetischen Momenten nachgezeichnet, das zu diesem Kulturwandel führt. Ein solches Buch war natürlich eine Wette auf die Zukunft, da die Veränderungen damals nur umrisshaft zu erkennen waren. Es fehlten zudem die prägnanten Beispiele, in deren Licht zentrale musikphilosophische Thesen evident werden, und es war unmöglich, unter diesen opaken Sichtverhältnissen alle Theoriesegmente mit letzter Stringenz auszuarbeiten.

Diese Leerstellen der Digitalen Revolution der Musik sollen im vorliegenden Band Musik und Wirklichkeit mit Beispielen und Modellen gefüllt werden. Die Quintessenz dieser vor einem Jahrzehnt publizierten Musikphilosophie lag darin, dass sich infolge der Digitalisierung ein neuer Typus von Kunstmusik entwickelt – eine Musik, die primär am Computer entsteht und nicht nur mit Noten und Samples, sondern auch mit Bildern, Videos, Texten, Umweltgeräuschen, Worten und Konzepten komponiert wird. Diese «relationale Musik» deutet nicht bloß abstrakte Weltbezüge an wie die absolute Musik, sondern kann ganz konkret auf die Wirklichkeit verweisen. Insofern übernimmt der vorliegende Band Musik und Wirklichkeit auch den Titel des ersten Aufsatzes, der über ein Artistic-Research-Projekt berichtet, in dem fünf Komponisten eben dieses Verhältnis von «Music with the Real» explorieren.

Die Kapitel über «Konzeptmusik», «Musikalische Postmoderne», «Politische Musik» und «Reflexive Kunstmusik» greifen allesamt theoretische Fragen auf, die sich im Kontext der Digitalen Revolution der Musik stellen, aber dort nur unzureichend beantwortet werden konnten. Obwohl es in diesem Buch ein Kapitel über «Musikkonzepte» gab, fehlte diesem noch die entscheidende Idee: das Isomorphismus-Prinzip. Im vorliegenden Kapitel «Konzeptmusik» bildet dieser Isomorphismus zwischen Konzept und Wahrnehmung, welcher der Konzeptkunst und der Konzeptmusik gleichermaßen zugrunde liegt, den Kristallisationspunkt einer Theorie der Konzeptmusik. Zudem lassen sich jetzt genügend Beispiele für das neu entstandene Genre der digitalen Konzeptmusik anführen, das damals gerade erst im Entstehen begriffen war.

Eine zentrale These in der Digitalen Revolution der Musik ist, dass sich in der Neuen Musik aufgrund ihrer starken Institutionalisierung nicht nur keine Konzeptmusik, sondern auch keine echte Postmoderne ausbilden konnte. Auch diese These war theoretisch nicht abgesichert, weil es keinen präzisen Begriff davon gab, wie eine derartige ‹postmoderne Neue Musik› beschaffen sein müsste. Musik und Wirklichkeit behebt dieses Theoriedefizit und entwickelt in dem gleichnamigen Kapitel eine Theorie der «Musikalischen Postmoderne». Möglich wurde dies nicht zuletzt dadurch, weil es mit Moritz Eggerts Orchesterstück Muzak (2016) hierfür ein Paradebeispiel gibt, anhand dessen sich die Idee der Postmoderne im Kontext der Kunstmusik auch konkretisieren und veranschaulichen lässt.

Die strittigste These der Digitalen Revolution der Musik bestand sicherlich darin, dass nicht nur in der Popmusik, sondern auch in der Kunstmusik das Medium der Samples zum primären Medium der Komposition wird und damit die Notenschrift als Kompositionsmedium überformt und partiell ersetzt. Gerade diese extrem weitreichende These ließ sich vor zehn Jahren kaum mit Beispielen belegen. Das Kapitel «Noten und Samples» ist ein Update solcher Samplekompositionen und stellt fünf unterschiedliche ePlayer-Stücke aus den Bereichen der Orchestermusik, der Oper, der Konzeptmusik und der Improvisation vor.

Die Digitale Revolution der Musik kulminierte in der These, dass es infolge einer alles erfassenden Digitalisierung schließlich zu einer Umstellung der normativen Leitidee in der Kunstmusik kommt und dass diese nicht länger dem tradierten Ideal der Materialästhetik, sondern der Innovationslogik einer Gehaltsästhetik folgen wird. Im Prinzip war diese Prognose erst einmal das Resultat eines Gedankenexperiments: Einerseits hatte sich die Idee des Materialfortschritts in der Neuen Musik erschöpft, andererseits entstand mit den zusätzlichen visuellen und textuellen Ebenen der relationalen Musik die Option, den Neuheitsanspruch der Kunstmusik über die Artikulation von ästhetischen Gehalten einzulösen. Trond Reinholdtsen hat diesen Paradigmenwechsel in einer kaum vorhersehbaren Weise in seinem Klavierkonzert (2016) und in der Ø-Trilogie (2018) vollzogen; die Kapitel «Fremdmaterial im Klavierkonzert» und «Norwegische Opra» sind philosophische Modellanalysen dieser beiden wegweisenden Werke.

Sobald sich eine gehaltsästhetische Wende in der Kunstmusik abzuzeichnen beginnt, kann es nicht ausbleiben, dass auch politische Gehalte zum Thema werden. Das Kapitel «Politische Musik» untersucht und bestimmt die Differenzen zwischen gehaltsästhetischer und politischer Musik.

Das Komponieren im Medium der Samples öffnet der Kunstmusik die Türen zu den anderen Künsten wie dem Sprechtheater, das mit einer fertig ausnotierten Partitur wenig anfangen kann. Nico van Wersch hat eine Möglichkeit gefunden, während der Theaterproben ad hoc musikalisch komplexe Samplekompositionen zu generieren, mit denen der Regisseur unmittelbar arbeiten kann, und die erst später für Live-Musiker transkribiert werden. Das Kapitel «Musik im Sprechtheater» enthält eine musikphilosophische Analyse von Ulrich Rasches brillanter Inszenierung des Sarah-Kane-Stücks 4.48 Psychose, wo diese Kompositionsmethode erstmals zur vollen Entfaltung kommt. Das Kapitel «Musikpublikum» beschreibt wiederum eine Performance auf der Kunstbiennale von Venedig, an der die neuen Schnittstellen der Kunstmusik zu den bildenden Künsten sichtbar werden.

Die spektakulären Fortschritte in der KI-Forschung werden ganz sicher auch starke Resonanzeffekte im Musiksystem erzeugen. Aus der Perspektive einer gehaltsästhetisch inspirierten Musikphilosophie stellt sich dann die Frage, ob die KI-getriebenen Kompositionsprogramme am Ende nicht doch wieder eine neue Phase des Materialfortschritts einleiten könnten. Mit einem Rückblich auf die Pionierleistungen von David Cope und George Lewis geht das Kapitel «Künstliche Intelligenz» genau dieser Frage nach.

All diese durch die Digitalisierung getriggerten Transformationsprozesse in der Kunstmusik führen nicht nur zu einem anderen Typus von relationaler Kunstmusik, die ihren Kunstanspruch gehaltsästhetisch legitimiert, sondern diese andere musikalische Praxis verändert auch den Begriff der Kunstmusik selbst. Im Kapitel «Reflexive Kunstmusik» wird gezeigt, dass unter den disruptiven Kräften der Digitalisierung sich der Begriff der Kunstmusik nicht einfach auflöst, sondern dass die Kunstmusik mit ihrer intrinsischen Präferenz für Schwierigkeit, Differenziertheit und Komplexität sich in Zukunft an einem Begriff der reflexiven Musik orientieren kann.

Die Digitale Revolution der Musik ist ein Buch, das sukzessive einen komplexen Argumentationszusammenhang entwickelt hat, in dem spätere Kapitel auf Ideen und Begriffe vorangegangener Kapitel aufbauen. In Musik und Wirklichkeit hingegen können die Kapitel auch separat gelesen werden, da sie auf eigenständigen Essays beruhen, die in den letzten Jahren in der Neuen Zeitschrift für Musik, in den MusikTexten, in der Opernwelt und in der neuen musikzeitung veröffentlicht wurden. Für den Autor handelt es sich bei der Digitalen Revolution der Musik und bei Musik und Wirklichkeit um zwei komplementäre Bände einer Musikphilosophie, die den Übergang von einer literalen zu einer digitalen Musikkultur beschreibt. Der erste Band hat die theoretischen Beobachtungsinstrumente konstruiert, mit deren Hilfe sich die Beispiele aus dem zweiten Band überhaupt erst als bemerkenswerte Arbeiten wahrnehmen lassen, wohingegen eben diese Beispiele aus Musik und Wirklichkeit ein Jahrzehnt später die Theoreme plausibilisieren, welche die Digitale Revolution der Musik entworfen hat.

Musik und Wirklichkeit

Music with the Real ist ein Artistic-Research-Projekt, das an der Norwegischen Musikakademie Oslo zwischen 2014 und 2017 von dem Perkussionisten Håkon Mørch Stene organisiert wurde. Der Projekttitel spricht die zentrale Frage unmittelbar an: den Bezug der Musik zu dem, was real, wirklich, tatsächlich und faktisch ist. Wenn es hier explizit um Musik ‹with the Real› geht, dann heißt dies implizit, dass man sich programmatisch von einer Musik ‹without the Real› abzusetzen versucht. In der Projektbeschreibung heißt es konkret: «Der Ausgangspunkt des Projekts ist, dass in den letzten zwanzig Jahren die Idee der Klangrecherche – also die Suche nach neuen musikalischen Klängen, wie sie in den letzten sechs Jahrzehnten stattfand – zu einer großen Ermüdung im Bereich der zeitgenössischen Musik geführt hat. Diese Ermüdung ist zum Teil auf eine übertriebene Aufmerksamkeit für das musikalische Material zurückzuführen; Tonhöhe, Rhythmus und Klangqualität.»1 Genaugenommen geht es aber nicht nur um ‹Klangforschung›, sondern das ganze Paradigma – sowohl der Klassischen als auch der Neuen Musik – steht hier zur Disposition: die Idee der absoluten Musik, der zufolge Musik, ihrem Wesen und ihrem Begriff nach, reiner Klang bzw. reine Instrumentalmusik sei. Texte, Programme, Handlungen oder Bilder gehören diesem Paradigma gemäß nicht zum Wesenskern der Musik und wurden entsprechend als etwas ‹Außermusikalisches› begriffen, das nur in den dafür vorgesehenen Musikgattungen wie der Oper oder dem Lied seinen Platz hat.

I. Außermusikalisches Material

Music with the Real reagiert auf zwei gegenläufige Erfahrungen in der Neuen Musik: einerseits auf jene Ermüdungserscheinungen, die darauf zurückzuführen sind, dass sich hier seit vielen Jahren keine substanziellen Materialfortschritte mehr erzielen lassen, wie dies bis in die 1970er Jahre mit der Ausbildung neuer Ismen der Fall war. Andererseits bekommen die Komponisten heute neue digitale ‹Instrumente› in die Hand, die es ihnen erlauben, dieses Innovationsdilemma konstruktiv zu überwinden. Der Computer wird zur Universalschnittstelle, an der sich Musik mit Sprache, Texten, Grafiken, Bildern, Filmszenen und Konzepten kombinieren lässt. Damit entsteht auch ein ganz anderer Typus von Kunstmusik, den man – so mein Vorschlag in Die digitale Revolution der Musik (2012) – «relationale Musik» nennen kann.2

Die Vorstellung, dass die reine Instrumentalmusik der Inbegriff von Musik sei, hatte sich im 19. Jahrhundert im Streit mit der Programmmusik etabliert und besaß normative Implikationen für die Musikkultur. Aus der Perspektive der absoluten Musik erscheinen explizite Weltbezüge als eine ‹Verunreinigung› von Musik. Die Programmmusik wurde so automatisch als minderwertig wahrgenommen, wenn sie Instrumentalmusik über Leitmotive und Satzbezeichnungen mit konkreten Themen wie den «Alpen» oder einem «Heldenleben» verknüpfte.

Die Idee der absoluten Musik wurde von der Neuen Musik im 20. Jahrhundert adoptiert, wofür es gute Gründe gab. Zum einen hatten sich durch die Emanzipation vom tonalen System der Klassischen Musik neue Innovationsspielräume für die reine Instrumentalmusik erschlossen; es konnten sich die spezifisch modernen Ismen mit ihren neuen Kompositions- und Spieltechniken entwickeln. Zum anderen wurde die Neue Musik so wie die Klassische Musik auf akustischen Instrumenten aufgeführt, was starke Musikinstitutionen erforderlich macht, welche die Voraussetzungen dafür schaffen, dass eine Partitur überhaupt im Konzertsaal erklingt. Diese klassischen Musikinstitutionen – die Orchester mit ihren Musikern und Dirigenten, die Konzerthäuser, Musikverlage, Verwertungsgesellschaften, Rundfunkanstalten und Musikhochschulen – entwickeln ein intrinsisches Interesse daran, dass die Instrumentalmusik diskursiv aufgewertet wird. Insofern entsteht ein Machtdispositiv zwischen den Musikinstitutionen, welche die Aufführung von klassischer Instrumentalmusik ermöglichen, und der Idee der absoluten Musik, welche diese Institutionen und ihre eingeschliffene Praxis legitimieren. Da die Neue Musik mit demselben Instrumentarium wie die Klassische Musik aufgeführt wurde, hat sie nicht nur ihre Institutionen, sondern auch ihre Leitidee übernommen und auch dann noch an ihr festgehalten, als ihre Innovationsspielräume am Ende des 20. Jahrhunderts längst erschöpft waren.

Der Begriff der relationalen Musik wurde, wie der Begriff der Programmmusik im 19. Jahrhundert, als Gegenbegriff zur Idee der absoluten Musik eingeführt – mit dem Unterschied aber, dass die relationale Musik heute über ganz andere technische Optionen verfügt, Fremdreferenzen in die musikalischen Werke zu integrieren. In diesem Sinne lässt sich relationale Musik als Musik auffassen, in der die Relationen zum sogenannten ‹außermusikalischen Material› in den Begriff der Kunstmusik eingeschlossen sind und nicht, wie das bei der absoluten Musik der Fall ist, a priori aus dem Musikbegriff ausgeschlossen werden. Auf Grundlage dieser Definition kann man dann in der Programmmusik eine frühe, wenn auch extrem limitierte Form von relationaler Musik sehen. Zudem lassen sich bei der relationalen Musik heute mindestens vier verschiedene Relationierungsstrategien beobachten: Strategien der Semantisierung, Theatralisierung, Visualisierung und Sonifizierung. Man kann also relationale Musik komponieren, indem man die komponierte Musik an Texte und Sprache, an Mimik und Gestik, an bewegte und unbewegte Bilder, an Programme und Konzepte sowie an eindeutig identifizierbare Umwelt- und Naturgeräusche koppelt.

Selbstverständlich lassen sich auch in der Musikgeschichte des vergangenen Jahrhunderts Beispiele für relationale Musik finden, aber relationale Musik war im 20. Jahrhundert nicht die dominante Idee in der Selbstbeschreibung der Neuen Musik. Als Luc Ferrari sein Tonbandstück Presque rien No 1 ou Le lever du jour au bord de la mer (1970) vorstellte, fielen die ersten Reaktionen äußerst negativ aus. In einem Interview sagt er: Das Werk «wurde von meinen Kollegen der GRM schlecht aufgenommen; sie sagten, es sei keine Musik! Ich erinnere mich noch an das Treffen, als ich ihnen das Stück im Studio vorspielte und sich ihre Gesichter versteinerten.»3 Der Titel «Fast nichts oder Tagesanbruch am Meer» umschreibt die Idee: Ferrari machte in der Bucht eines kroatischen Fischerdorfes zwischen 3 und 6 Uhr morgens Tonbandaufnahmen und schnitt diese zu einem 21-minütigen Stück zusammen. Man fragt sich natürlich, wieso es zu jener instinktiven Abwehrreaktion in der von Pierre Schaeffer gründeten Groupe de recherches musicales (GRM) überhaupt kommen konnte.

Dem ersten Höreindruck nach scheint Ferrari nichts anderes zu machen als seine Mitstreiter von der musique concrète: Er komponierte wie diese mit gefundenen Klängen ein Tonbandstück. Der Unterschied ist aber, dass er diese akustischen objets trouvés nicht im Kompositionsprozess von ihren Fremdreferenzen gereinigt hat, um sie wie die musique concrète in einen reinen Klang zu transformieren, sondern dass sie bei Ferrari ihre lebensweltliche Identität behalten. Man erkennt in den Geräuschen sofort die Geräuschquellen wieder – man hört das Fahrrad, den Hahn, den Esel und den Lastkraftwagen. Das Stück, das kleine musikalische Anekdoten erzählt, hat deshalb für so viel Verdruss gesorgt, weil es sich ganz offensichtlich nicht unter die Idee der absoluten Musik subsumieren ließ, was selbst noch bei Stücken wie 4’33’’ von John Cage oder I am sitting in a room von Alvin Lucier möglich gewesen war. Presque rien No 1 folgt schlichtweg einem anderen Musikbegriff, nämlich dem der relationalen Musik. Die Idee der absoluten Musik war zu jener Zeit jedoch noch so dominant, dass man Ferraris musique anecdotique, wie er sie selbst nannte, nicht einmal als extremen avantgardistischen Tabubruch wahrnehmen konnte, sondern höchstens als Preisgabe des musikalischen Kunstanspruchs, der zur Selbstexklusion aus der Neuen Musik führt.

II. Experimente in relationaler Musik

Bei den fünf Auftragskompositionen des Projekts Music with the Real handelt es sich zunächst einmal um Experimente in relationaler Musik. Ob und wieweit diese Kompositionen damit die ‹Realität› erfassen, also einen Weltbezug herstellen können, ist damit noch nicht entschieden und muss konkret, an jedem einzelnen Werk, untersucht werden.

Henrik Hellstenius’ Instrument of Speech (2016) für Klarinette, Cello, E-Gitarre, Percussion und Klavier ist ein Ensemblestück in vier Sätzen, in dem die möglichen Relationen von Musik und Sprache exemplarisch durchgespielt werden. Der experimentelle Charakter dieses Stücks wird allerdings erst auf der Kontrastfolie der absoluten Musik deutlich. Auch unter dieser Leitidee wurde mit Sprache gearbeitet, aber diese wurde selbst wieder musikalisiert, sodass sie in diesen Kompositionen ihre Mitteilungsfunktion verlor. Helmut Lachenmann hat zum Beispiel in Zwei Gefühle (1992) einen Text von Leonardo da Vinci in einzelne Silben und Wortfragmente zerlegt und die ansonsten beim Sprechen kaum hörbaren Mundgeräusche, wie etwa die Zischlaute, noch einmal verstärkt. Erst mit diesem semantisch entleerten Wortmaterial wurde komponiert.4Instrument of Speech hingegen überschreitet bewusst diese immanente Grenze der absoluten Musik, indem das Werk das Verhältnis von Musik und Sprache explizit thematisiert.

Im 1. Satz «Bennett Talks» hört man einen wiederholt vom Tonband eingespielten Satz des Philosophen und Mathematikers John G. Bennett: «Da wir gewohnt sind, mithilfe von Worten zu kommunizieren, gehen wir davon aus, dass die menschliche Kommunikation (intercourse) seit der Erschaffung des Menschen auf der verbalen Sprache beruht.» Die Sprache bleibt bei dieser Einspielung intakt und die Musik erfüllt hier wie beim Lied eine Begleitfunktion. Der gut verständliche Text formuliert das Musikkonzept des ganzen Ensemblestücks, nämlich den methodischen Zweifel, dass das menschliche Zusammenleben vielleicht nur dem Anschein nach auf verbaler Kommunikation beruht.

Håkon Mørch Stene, der Initiator von «Music with the Real», während der Aufführung des 2. Satzes «Books» aus Henrik Hellstenius’ «Instrument of Speech»

Der 2. Satz «Books» nimmt die Bennett-These beim Wort und führt vor, was von der menschlichen Kommunikation übrigbleibt, wenn man auf die «verbale Kommunikation» verzichtet, nämlich die akustische Dimension der Worte bzw. absolute Musik. Die Nebengeräusche des Schreibens mit einem Stift auf Papier und des Umblätterns von Buchseiten werden in diesem Satz zum musikalischen Material, das mit den Instrumentalklängen verschmilzt.

Im 3. Satz «Chomsky Lectures» hört man den Linguisten Noam Chomsky einige Fragmente seiner Sprachtheorie referieren, der zufolge dem Erlernen von Sprache ein angeborener Spracherwerbsmechanismus zugrunde liegt. Während man den 2. Satz als implizite oder performative Widerlegung von Bennetts These aus dem 1. Satz deuten kann, welche die grundsätzliche Bedeutung von Sprache für das menschliche Dasein relativiert, handelt es sich hier um eine explizite Antithese. Wenn die Sprache auf einer evolutionären Errungenschaft beruht und sich diese Fähigkeit in einem eigens darauf spezialisierten Sprachzentrum im Gehirn manifestiert, dann lassen sich die nonverbalen Interaktionsformen der Menschen nicht in der gleichen Weise aufwerten, wie Bennett das behauptet.

Der 4. Satz «Babel» ist eine Reminiszenz an die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel. In die musikalische Struktur des Satzes werden einzelne Worte und Satzfragmente aus einer Vielzahl verschiedener Sprachen verwoben, sodass ein akustisches Sinnbild jener sprichwörtlichen Sprachverwirrung entsteht.

Instrument of Speech ist einerseits ein sprachphilosophischer Diskurs im Medium der Musik und betrifft andererseits den Begriff der Kunstmusik selbst, die sich traditionell als eine ‹Sprache› verstanden hat. ‹Musik als Sprache› ist ein musikologischer Topos, der nicht zuletzt die Kommunikationsfähigkeit der reinen Instrumentalmusik begründen und entsprechend auch das Paradigma der absoluten Musik legitimieren soll. In dem Moment, in dem dieses Paradigma mithilfe der neuen, digitalen Kompositionswerkzeuge aufgebrochen wird und mehr und mehr relationale Musik entsteht, stellt sich die Frage nach dem Sprachcharakter von Musik noch einmal neu. Wenn Chomsky gegenüber Bennett Recht behält, spricht nicht die absolute Musik in ihrer eigenen Sprache zu uns, sondern nur das Gewirr der verschiedenen «verbalen» Sprachen.

Matthew Shlomowitz’ Popular Contexts, Volume 8 (2016) trägt den aufschlussreichen Untertitel «Fünf Klanglandschaften (soundscapes) für einen zeitgenössischen Perkussionisten. Für Midi-Pads und verschiedene akustische Instrumente». Der Komponist beschreibt seine Arbeit selbst als «Textbook Postmodernism», wobei das Stück nicht etwa Populärmusik zitiert, wie man das bei dieser Ankündigung erwarten würde, sondern mit Instrumentalsamples und mit Tonbandaufnahmen der akustischen Lebenswelt arbeitet: Man hört einen Hund bellen, ein Kind weinen, Klatschen, Hupen, Lachen, eine Bohrmaschine, eine Fahrradklingel und vieles mehr – und all diese ‹Fremdmaterialien› werden über einen Beat rhythmisiert. Der ironische Unterton im Untertitel besagt wohl, dass der Perkussionist von heute, der die Zeichen der Zeit erkannt hat, mit den Klängen der Welt spielt.

Diese Idee scheint auf den ersten Blick nicht neu zu sein, hatte sie doch schon vor über einem halben Jahrhundert die musique concrète inspiriert. Der Unterschied zwischen der Musik von Pierre Schaeffer, der mit konkreten Klängen komponierte, und Shlomowitz, der Musik mit realen Klängen schreibt, könnte aber größer nicht sein, denn sie folgen zwei vollkommen unterschiedlichen Ideen von Musik. Im ersten Fall wurden die Fremdmaterialsamples so stark durch den Kompositionsprozess transformiert, dass sie ihre ursprünglichen Lebensweltbezüge verloren. Es gehörte, wie gesagt, zum Konzept der musique concrète, die Fremdreferenzen in den verwendeten Samples so weit auszulöschen, bis man nur noch abstrakte Klangereignisse hört. Eine solche Musikalisierung des außermusikalischen Materials lässt sich bei Schaeffer in Bezug auf Umweltgeräusche beobachten, bei Lachenmann und Schnebel findet sie in Bezug auf Sprache statt, Kagel vollzieht sie bei theatralen Gesten.

Wie die Neue Musik im Allgemeinen, so folgte auch die musique concrète einer Idee der absoluten Musik. In den Popular Contexts hingegen – bei denen es sich eigentlich um Lebensweltkontexte handelt – behalten die Samples ihre Fremdreferenzen. Sie rufen nach wie vor eindeutige Assoziationen zu jenen Kontexten hervor, aus denen sie stammen; sie bewahren ihre Fremdartigkeit in der Musik und werden nicht bis zur Unkenntlichkeit musikalisiert. Entsprechend sind die Popular Contexts auch ein Beispiel für relationale Musik.

Die Differenz zwischen absoluter und relationaler Musik liegt also nicht einfach darin begründet, dass Fremdmaterial in der Komposition verwendet wurde, sondern in der Art und Weise, wie mit diesem Fremdmaterial komponiert wird. Ein trennscharfes Unterscheidungskriterium zwischen den beiden Kunstmusikparadigmen wäre das Kriterium der Alterität. Relationale Musik lässt sich nicht allein daran erkennen, dass sie Relationen zu etwas eingeht, was selbst keine Musik ist, sondern dass diese Musikrelate in der Komposition die Qualität der Andersheit behalten. Das mysteriöse ‹Reale› im Projekt Music with the Real manifestiert sich zunächst einmal in der Alterität des außermusikalischen Materials.

Kristine Tjøgersen (l.) und Tanja Orning (r.) vom Ensemble Asamisimasa lenken während der Aufführung von Carola Bauckholts «Oh, I see» (2016) mit Klebebandgeräuschen die Aufmerksamkeit des Augenpaares auf sich.

In Carola Bauckholts Oh, I see (2016) für Klarinette, Cello, Piano, zwei große Ballons und Video halten zwei Musiker jeweils einen großen Gummiball auf ihren Knien. Die Entwicklung des Ensemblestücks folgt keiner innermusikalischen Logik, sondern einer Metamorphose dieser Requisiten. Am Anfang des Stücks sieht man die Bälle nur auf dem Podium liegen; danach verwandeln sie sich in zwei Trommeln, auf denen die beiden hinter ihnen verborgenen Musiker den Takt schlagen. In einer dritten Verwandlung werden auf sie Augenbilder projiziert, sodass sich die Gummibälle in zwei große Augäpfel verwandeln. Wenn man nun aus dem Zuschauerraum auf die Bühne blickt, bekommt das Ensemble plötzlich ein Gesicht – daher der Titel Oh, I see. In einer Szene schaut das Augenpaar von einer Musikerin zur anderen, die jeweils geräuschvoll Klebebänder von Klebebandrollen abziehen und so auf sich aufmerksam machen. In einer anderen Szene hört das Ensemblegesicht mit offenen Augen zu, in manchen Momenten beginnt es zu blinzeln, und schließlich bewegen sich die Augen im Rhythmus der Musik.

Man hat es hier mit einem Beispiel von Neuer Musik zu tun, die aufgrund der implementieren Visualisierungsstrategie ihr angestammtes Paradigma der absoluten Musik verlässt. Die Alterität des ‹außermusikalischen Materials› bleibt erhalten, sobald das Ensemble die Augen öffnet. Oh, I see ist ein heiteres Stück mit hintersinnigem Humor, wenn man sich vorstellt, dass hier die Kunstmusik zwei Augen bekommt und sich selbst zu beobachten beginnt. Dann sieht sie eine Klarinettistin und eine Cellistin, die mit letzten Mitteln, sprich mit Klebebändern, nach Materialfortschritten suchen. Die Kunstmusik wird philosophisch und folgt Sokrates’ Leitspruch: Erkenne dich selbst!

Johannes Kreidler komponiert in «Fantasies of Downfall» einen visuellen Kontrapunkt.

Mit Schraubdichtung (1989/90) war Carola Bauckholt schon sehr früh aus dem Paradigma der invertierten absoluten Musik ausgebrochen. Ein Sänger zählt in diesem Stück verschiedene Werkzeuge wie Schleifstein, Kneifzange, Schraubenzieher und Axt auf und imitiert dabei zusammen mit Cello, Kontrafagott und Perkussion den Werkzeuggebrauch. Die Musik wird zur Mimesis eines Axthiebs oder einer Schleifbewegung in Bezug auf Klang, Dynamik und Dauer. Da hatte man mit großem Ernst die musique concrète instrumentale entwickelt, um in die existenziellen Erfahrungsdimensionen der menschlichen Wahrnehmung vorzustoßen, und dann werden die erweiterten Spiel- und Gesangstechniken dazu benutzt, profane Werkzeuggeräusche nachzuahmen – ein aberwitziges Stück, dessen Humor auf Kosten der absoluten Musik geht.

Johannes Kreidlers Fantasies of Downfall (2016) für Vibraphon, Audio- und Videoeinspielung kommen von ihrem Charakter her einem ‹Forschungsprojekt› am nächsten. Es handelt sich um eine Versuchsreihe, in der ausgetestet wird, wie sich Klänge und Video miteinander verknüpfen lassen, sodass das Hören sichtbar und das Sehen hörbar wird. In einer dieser Studien sieht man in einem Videoloop einen Frauenfuß eine Treppenstufe heruntersteigen. Diese Bewegung ‹in der Realität› wird von einer geometrischen Linie und einer Melodielinie überlagert, die bei jedem Loop variiert werden. Die visuellen Linien sind verschieden gekrümmt, das Vibraphon spielt einmal eine aufsteigende und einmal eine abfallende Melodie. Kreidler hatte sich die Frage gestellt, ob es möglich wäre, einen «visuellen Kontrapunkt» zu komponieren, und die Antwort auf dieses Experiment lautet dann wohl: eher nicht. Fantasies of Downfall sind Vorarbeiten zu einem größeren Filmprojekt, von dem inzwischen Film 2 beim Ultraschall-Festival 2018 in Berlin zur Uraufführung kam.

Bei Daily Transformations (2018) von Clemens Gadenstätter handelt es sich um eine Zusammenarbeit des Komponisten mit der Filmemacherin Anna Henckel-Donnersmarck und der Schriftstellerin Lisa Spalt. Das Ensemblestück knüpft ein dichtes Netz aus Worten, Bildern und Klängen, aber – und das ist entscheidend – im Medium der Musik. Die Bilder und Texte folgen nicht ihrer Eigenlogik, sondern werden als musikalisches Material behandelt, mit dem in einem erweiterten Sinne komponiert wird. In Daily Transformations kommt es nicht einfach zu einer freien Kombination von Literatur, Film und Musik, sondern das Ensemblestück verwebt Sprache, Bild und Musik zu einer rhizomatischen musikalischen Textur. Entsprechend wird der Realitätsgehalt, den die Worte und Videos normalerweise transportieren, im Kompositionsprozess wieder gelöscht. Das Stück stellt in jeder Sekunde so viele Assoziationen und Verweise zwischen den visuellen, akustischen und semantischen Elementen her, dass ihre Weltbezüge am Ende nur noch als ästhetische Selbstbezüge wahrnehmbar sind. Im Programmhefttext der Uraufführung bei Wien Modern 2017 beschreibt Clemens Gadenstätter recht genau diesen kompositorischen Impuls: «Laufen im Park, eine Achterbahnfahrt, kleine Gesten – drei Alltagsbeobachtungen werden zum Ausgangspunkt einer poetischen, dramatischen und utopischen Reise in das menschliche Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen. Drei Medienbereiche – Film, Text, Musik – blicken (bzw. hören) auf den jeweiligen Gegenstand und wirken aufeinander: Sprache verändert das Hören verändert das Sehen verändert das Verstehen von Sprache etc.»

Die heute hinzugewonnenen Freiheitsgrade der relationalen Musik – mit außermusikalischem Material komponieren zu können und dabei Bilder, Gesten, Sprache, Texte, Natur- und Alltagsgeräusche als Informationsträger zu benutzen – ermöglichen einen Zugriff auf Wirklichkeit, wie er unter dem Leitbild der absoluten Musik undenkbar war. Dem Projekt Musik with the Real geht es um die Exploration solcher Realitätsbezüge, die sich nun, computergestützt, in der Kunstmusik kreieren lassen. In der Projektbeschreibung heißt es programmatisch: «Die zeitgenössische Musik von heute zeigt ein neues Interesse am gewöhnlichen Alltagsleben, an der Realität und an den neuen Erscheinungsformen von Realität, die durch Technologie in die Welt gekommen sind. Dies ist eine neue Quelle für ein zugängliches musikalisches Material und, was noch wichtiger ist, eine neue Öffnung in ‹die reale Welt›.»5 Diese Öffnung kann jedoch äußerst unterschiedlich ausfallen, was sich in einer sehr instruktiven Weise an den fünf Werken zeigt, die ein ganzes Spektrum von Möglichkeiten abbilden.

Clemens Gadenstätters Daily Transformations wirkt wie eine Kontrastfolie in Music with the Real. Obwohl dieses Stück exzessiver als alle anderen Kompositionen mit ‹Fremdmaterial› in Form von Wort, Bild und Alltagsgeräuschen arbeitetet, ist es gerade kein Beispiel für relationale Musik. Vielmehr erweitert es die Idee der absoluten Musik auf multimediale Musikprojekte. Von einem Weltbezug kann man hier, wie bei der reinen Instrumentalmusik, nur noch in einem metaphorischen Sinn sprechen, denn was sich hier wahrnehmen lässt, ist höchstens noch eine Strukturanalogie, bei welcher die Textur der multimedialen Musik als Sinnbild der Welt erscheint. Johannes Kreidlers Fantasies of Downfall sind tatsächlich ein falsifizierbares Experiment. Matthew Shlomowitz’ Popular Contexts wäre das Beispiel, in dem sich die Idee der relationalen Musik in purifizierter Form manifestiert. In Carola Bauckholts Oh, I see bekommt die relationale Musik ein Gesicht und erkennt sich selbst. Henrik Hellstenius’ Instrument of Speech schöpft schließlich das Potenzial der relationalen Musik, im Medium der Musik einen ästhetischen Gehalt zu artikulieren, am stärksten aus.

Das Paradigma der Neuen Musik, wie es im 20. Jahrhundert vorherrschend war, beantwortet zwei zentrale Fragen der Kunstmusik zugleich. Die Antwort auf die deskriptive Frage «Was ist Musik?» wurde durch die Idee der absoluten Musik gegeben: Musik ist reine Instrumentalmusik. Die Antwort auf die normative Frage «Was ist gute Musik?» ließ sich am Materialfortschritt ablesen: Neue Musik fand ihr Qualitätskriterium darin, wie radikal sie in ihren Stücken eine neue Materialschicht erschloss und damit eine noch nie gehörte musikalische Wahrnehmung ermöglichte. Das Projekt Music with the Real reagiert auf die Krisenerfahrung der Neuen Musik, dass sich ihr genuiner Neuheitsanspruch nicht mehr unter der Leitidee der Materialästhetik einlösen lässt, und testet stattdessen die Innovationsspielräume der relationalen Musik aus.

III. Künstlerische Forschung

Die «Künstlerische Forschung» ist ein Oxymoron, das zwei Dinge vereint, die sich in der Moderne getrennt haben: die Wissenschaft und die Kunst. Weder sind Künstler bereit, sich wissenschaftlichen Standards und Methodenzwängen unterzuordnen, noch lässt sich wissenschaftliche Reputation dadurch erlangen, dass man in den Künsten erfolgreich ist. Die Disziplin der Künstlerischen Forschung ist letztendlich die Begleiterscheinung einer fortschreitenden Akademisierung künstlerischer Studiengänge, die vor allem durch die Einführung von PhD-Programmen befördert wird. Man hat natürlich schon bemerkt, dass diese Zwitterdisziplin ein Widerspruch in sich selbst ist: «Die Rede von der künstlerischen Forschung mündet […] in ein Paradox: Kunst soll Ähnlichkeiten zu wissenschaftlichen Disziplinen aufweisen und zugleich ihren eigenständigen Charakter behalten. Die Auflösung dieses Paradoxes könnte nur gelingen, indem die Rolle des Wissensbegriffs neu in den Fokus gerückt wird.»6 Ob sich die Künstlerische Forschung tatsächlich als eigenständige Wissensform begründen lässt, ist mehr als fraglich, weil sie mit dem Prinzip der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften in Konflikt gerät. Aber man könnte aus Music with the Real zumindest die Arbeitshypothese ableiten, dass die betreffenden Projekte dann ein spezifisches Wissen generieren können, wenn sie großformatige Paradigmenwechsel in den Künsten begleiten – wobei diese Wissensform am ehesten mit dem Orientierungswissen der Philosophie vergleichbar ist.

Konzeptmusik

Konzeptkunst gehört zu den einflussreichsten Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts; sie ist in allen großen Museumssammlungen vertreten, sie wurde von der Kunsttheorie kanonisiert und prägt nachhaltig die Strategien der zeitgenössischen Kunst. ‹Konzeptmusik› hingegen hat vor wenigen Jahren noch nicht einmal als Wort existiert. Als ich 2012 in Die digitale Revolution der Musik den Begriff ‹Konzeptmusik› als Arbeitsbegriff verwendete, gab es keinen einzigen Lexikoneintrag und keine musikwissenschaftlichen Publikationen zu dem Thema.1 Zur gleichen Zeit verbreitete sich auf YouTube ein neues Genre, das sich selbst als «Neuer Konzeptualismus», «musikalische Konzeptkunst» oder «konzeptuelle Musik» bezeichnete und nur aufgrund der neuen digitalen Werkzeuge und Medien entwickeln konnte.2 Diese digitale Konzeptmusik, wie man das neuartige Musikformat nennen könnte, hat zwei Jahre später die Neue Zeitschrift für Musik dazu veranlasst, ein eigenes Themenheft «Konzeptmusik» herauszugeben. Die MusikTexte reagierten darauf 2015 mit einer «Umfrage zum (Neuen) Konzeptualismus». Schließlich erschienen 2016 das Lexikon Neue Musik mit dem Eintrag «Konzeptuelle Musik» und die erste von Urs Peter Schneider herausgegebene Sammlung von Konzeptmusikstücken im deutschsprachigen Raum. Damit hatte sich die Konzeptmusik im Verlauf von knapp fünf Jahren nicht nur als eigenes Genre in der Neuen Musik durchgesetzt, sondern auch als musikologischer Terminus etabliert.3

Was bislang ein Desiderat blieb, ist eine Theorie der Konzeptmusik; noch 2016 wunderte sich Urs Peter Schneider im Vorspann seiner Anthologie Konzeptuelle Musik: «seltsam, dass ihre Produkte so zahlreich, Untersuchungen über sie praktisch nichtexistent sind.»4 Mit «Theorie» ist hier eine spezifische Textsorte gemeint, die das Phänomen ‹Konzeptmusik› nicht nur beschreibt, sondern Begriffe, Unterscheidungen, Theoreme und Modelle entwickelt, mit deren Hilfe sich der ganze dazugehörige Problemkomplex analysieren lässt. Hierzu gehören Grundsatzfragen wie: Was verbindet und trennt Konzeptmusik und Konzeptkunst? Was unterscheidet Konzeptmusik von Musik im herkömmlichen Sinne? Inwiefern ist es überhaupt noch sinnvoll, die Konzeptmusik als eine Form von Musik zu beschreiben? Weshalb kam es zu einer asynchronen Entwicklung von Konzeptkunst und Konzeptmusik im 20. Jahrhundert? Ist die Anti- oder Anästhetik ein notwendiges oder hinreichendes Kriterium für Konzeptmusik? All diese Fragen haben jeweils verschiedene Bezugskontexte, was für die Theoriebildung bedeutet, dass Konzeptmusik in allen drei wesentlichen Sinndimensionen analysiert werden muss: in der Zeitdimension, der Sachdimension und der Sozialdimension.

Der erste naheliegende Theorieschritt besteht darin, den Begriff der Konzeptmusik in Analogie zur Konzeptkunst zu bilden, was impliziert, dass es einen entsprechenden Vergleichsgesichtspunkt gibt. Anhand eines «Theoriemodells der ästhetischen Moderne» (Abb. 1, S. 35) lässt sich darstellen, dass sowohl die bildenden Künste als auch die Neue Musik einer gemeinsamen Modernisierungslogik folgen und die gleiche Ausdifferenzierungsgeschichte durchlaufen. Dieses Modell beschreibt die Zeitdimension des Konzeptualismus und zeigt, dass Konzeptkunst und Konzeptmusik an einen Nullpunkt entstehen, an dem sich ihre Werke jeweils auf die Präsentation einer Idee reduzieren.

Der Analogieschluss von der Konzeptkunst auf die Konzeptmusik gerät in der Sachdimension an seine Grenzen, und zwar dort, wo man klären muss, wie die spezifische Differenz von Konzeptmusik und Musik beschaffen ist. Auch in den jahrzehntelang geführten Theoriediskursen zur Konzeptkunst gibt es keine allgemein akzeptierte Konzeptkunst-Definition, sondern man tendierte zu der Auffassung, dass das hervorstechende Merkmal der Konzeptkunst ihre Nichtdefinierbarkeit ist. Ich möchte hier den Vorschlag unterbreiten, dass der Konzeptmusik und der Konzeptkunst ein Isomorphismus-Prinzip, d. h. eine eineindeutige Abbildrelation zwischen Idee und Werk, zugrunde liegt.5 Damit sich diese Strukturanalogie auch in der Sprache vermittelt, spreche ich spiegelbildlich von «Konzeptkunst» und «Konzeptmusik» und nicht von «konzeptueller Musik» oder von «musikalischer Konzeptkunst», obwohl damit zumeist dieselben Phänomene gemeint sind. Es bietet sich dann an, den Begriff des «Konzeptualismus» als einen Überbegriff für Konzeptkunst und Konzeptmusik zu benutzen, um Merkmale beschreiben zu können, die beide Kunstformen teilen.

Die Sozialdimension der Konzeptmusik kommt dort ins Spiel, wo es um historische Konzeptmusik geht. Es gibt eine ganze Reihe von Werken, die man aus heutiger Sicht zur Konzeptmusik zählen könnte, die in ihrer Entstehungszeit aber weder als Konzeptmusik geschaffen noch als Konzeptmusik rezipiert worden sind. George Brechts String Quartet (1962) hat man bislang als Fluxusstück wahrgenommen, Steve Reichs Pendulum Music (1968) wurde als «process music» beschrieben, Alvin Luciers I am sitting in a room (1969) galt als ein Beispiel für «minimal music», und Karlheinz Stockhausen hat seine Textpartituren Aus den sieben Tagen