Musikdramaturgie im Film - Robert Rabenalt - E-Book

Musikdramaturgie im Film E-Book

Robert Rabenalt

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Beschreibung

Die auditive Gestaltung im Kino lädt zum aufmerksamen Zuhören ein, um eine Geschichte interessant und unterhaltsam zu erzählen. Musik im Film ist ein dramaturgisches Mittel und beeinflusst dabei sowohl Form als auch Wirkung des Films. Der schillernde Begriff "Dramaturgie", der sich stets zwischen Theorie und Praxis behaupten muss, erfährt in diesem Buch eine für die Beschäftigung mit Filmmusik notwendige Konkretisierung. Mit zahlreichen Beispielen und auf unterschiedlichen Wegen der Filmmusikanalyse, die vom Allgemeinen zum filmmusikalischen Detail führen oder umgekehrt von einem Teilmoment ausgehen und auf dessen Bedeutung für das Ganze schließen lassen, werden Grundformen und Ausnahmen des filmischen Erzählens thematisiert und die Rolle, die der Filmmusik dabei zukommt, illustriert. Mit Blick auf das Verwenden und Komponieren von Musik sowie auf deren Wahrnehmung im Kontext einer Geschichte wird die oft benannte, aber bisher weder ausführlich noch systematisch untersuchte Bedeutung der Dramaturgie von Grund auf überdacht. Das dramaturgisch Verbindende der verschiedenen eingenommenen Perspektiven, die Querverbindungen zwischen Musiktheorie, filmischer Montage, Erzählformen und Filmrezeption führen schließlich zu einem neuen, auf die dramaturgische Wirkungsweise von Musik spezialisierten Modell der auditiven Ebenen im Film. In Verbindung mit einer Systematik von dramaturgisch wirksamen Musik-Bild-Kopplungen und dem Konzept vom Fabelzusammenhang der Filmmusik wird ein universelles und zeitgemäßes Analysemodell für Filmmusik offeriert, das sich auch über die besprochenen Genres und Formen hinaus anwenden lässt. Ein ausführliches Glossar schließt das Buch ab, das damit für Medienschaffende und Forschende gleichermaßen von Interesse sein wird.

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Seitenzahl: 707

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Musikdramaturgie im Film

Wie Filmmusik Erzählformen und Filmwirkung beeinflusst

Robert Rabenalt

Robert Rabenalt, geb. in Berlin, Studium der Musikwissenschaft und Musiktheorie in Berlin, Lehrtätigkeit im Bereich Musiktheorie an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig, daneben Tätigkeit als Komponist für Ensembles und Film, Lehrbeauftragter für Musik- und Tondramaturgie an der Filmuniversität Babelsberg und als Mitherausgeber der Onlinezeitschrift Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung. Weitere Tätigkeit als Mitherausgeber, Autor von Artikeln, Lexikonbeiträgen, Leiter und Organisator von Workshops, Fachtagungen im Bereich Musiktheorie, Filmmusik und zur Didaktik im Spannungsfeld künstlerisch-wissenschaftlicher Arbeit sowie Vorträge auf nationalen und internationalen Tagungen und im Rahmen von Erasmus+ (Lissabon). 2019 Promotion an der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Print ISBN 978-3-86916-785-5 E-ISBN 978-3-96707-102-3

Umschlagabbildung: LE VIOLON ROUGE (DIE ROTE VIOLINE, CAN/USA/I/GB/AT 1998, R. François Girard, M. John Corigliano). Screenshot DVD (125 Min.) Concorde, München, 1999

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020

Inhalt

Einleitung

Vorhaben, Prämissen und Methodik

Medientechnische Hinweise

Danksagung

Teil I Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

1. Dramaturgie und Musik

1.1 Dramaturgie

1.1.1 Begriffsbestimmung Dramaturgie

1.1.2 Filmdramaturgie

1.1.3 Explizite Dramaturgie

1.1.4 Implizite Dramaturgie

1.1.5 Narratologie, narration und Filmdramaturgie

1.1.6 Die »Fabel« (mythos, story)

1.1.7 Das Fabel-Sujet-Begriffspaar

1.2 Musikästhetische Perspektiven auf Musik und Erzählen

1.2.1 »Absolute« und autonome Musik als musikalische Poesie

1.2.2 Programmmusik oder Ideenkunstwerk?

1.2.3 Narrative Metaphern und Formmodelle für Musik

1.3 Zusammenfassung Kapitel 1

2. Ästhetik und Affekt

2.1 Filmästhetische Überlegungen zur Einheit von Klang und Bild

2.1.1 Die äußeren Bedingungen zur Wahrnehmung der auditiven Schicht

2.1.2 Prozessualität und Räumlichkeit von Bild und Musik

2.1.3 Filmische Montage

2.1.4 Rezeptionsästhetische Modellvorstellungen zu Musik im Film

2.2 Einfühlung und Distanz

2.2.1 Brechts Kritik der Einfühlung

2.2.2 Strategien der Subjektivierung

2.2.3 Ernste und komische Effekte der Verfremdung

2.3 Filmmusik und Emotion

2.3.1 Thesen zur emotiven Wirkung von Filmmusik

2.3.2 Musik, Affekt und musikalischer Gestus

2.3.3 »Psychische Erholung« durch fiktive Lösungen

2.3.4 Einfühlung und Kontemplation als doppelte Basis der Affekte

2.3.5 Mitaffekt und Eigenaffekt

2.4 Zusammenfassung Kapitel 2

3. Musikdramaturgie und Film

3.1 Praxisorientierte und theoretische Ansätze

3.2 Abgrenzung zur Musiktheater-Dramaturgie

3.3 Zusammenfassung konkreter Aspekte der Musikdramaturgie im Film

Teil II Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

4. Filmmusik und Analyse

4.1. Vorüberlegungen zum Themenbereich Filmmusik und Analyse

4.2 Kritik der Modelle und Kataloge filmmusikalischer Funktionen

4.3 Möglichkeiten und Grenzen der musikalischen Analyse von Filmmusik

4.3.1 Filmmusikalische Topologien

4.3.2 Musikalischer Ausdruck des Filmthemas und Einfluss auf narrative Strukturelemente

4.3.3 Grenzen der musikalischen Analyse

4.4 Fabelzusammenhang der Filmmusik

4.4.1 Definition Fabelzusammenhang der Filmmusik

4.4.2 Thesen zum Fabelzusammenhang der Filmmusik

4.4.3 Aristotelische Fabel und geschlossene Form

4.4.4 Heldenreise

4.4.5 Analytische Fabel

4.4.6 Episierende Fabel

4.4.7 Offene (dedramatisierte, sujetlose, episodische) Fabeltypen

4.5 Sujetbezug der Filmmusik

4.5.1 Thesen zum Sujetbezug der Filmmusik

4.5.2 Sujetbezug und narrative Funktionen

4.5.3 Das Zusammenwirken von Sujetbezug und Fabelzusammenhang

4.6 Die dramaturgische Dimension von Musik-Bild-Kopplungen

4.6.1 Klangperspektive

4.6.2 Extension

4.6.3 Synchrese

4.6.4 valeur ajoutée

4.6.5 Audiovisueller Kontrapunkt (»Kontrastierende Vertikalmontage« nach Eisenstein)

4.6.6 Sich bestätigende Beziehungen (Affirmation)

4.6.7 Sich ergänzende Beziehungen (»Dramaturgischer Kontrapunkt« nach Adorno / Eisler)

4.6.8 Filmmusikalisches Leitmotiv

4.6.9 Affirmation und Kontrapunkt als dramaturgisch vermittelte Beziehungen

4.7 Die auditiven Gestaltungs- und Wahrnehmungsebenen

4.7.1 Instrumentarium zur Analyse der auditiven Schicht

4.7.2 Erste und zweite auditive Ebene als kategoriales Gerüst

4.7.3 Mittelbarer auditiver Darstellungs- und Wahrnehmungsraum (mittelbare Ebene)

4.7.4 Modell der auditiven Ebenen

4.8 Zusammenfassung Kapitel 4

5. Zusammenfassung und Ausblick

6. Anhang

6.1 Verzeichnis der Filme

6.2 Verzeichnis der Abbildungen und Noten

6.3 Verzeichnis der Personen

6.4 Verzeichnis der Musikstücke und literarischen Werke

6.5 Internetquellen

6.6 Literaturverzeichnis

6.7 Glossar

Einleitung

Vorhaben, Prämissen und Methodik

Das Vorhandensein einer Musikdramaturgie im Film sollte zunächst begründet werden, weil Musik im Film nicht zwangsläufig vorhanden sein muss, um einen Film wirkungsvoll, inhaltlich und ästhetisch wertvoll zu gestalten. Musik ist nicht selten ein Auslöser und Anstoß von Filmen, Begleiter bei der Arbeit am Film oder gewohntes Beiwerk. Entgegen zahlloser Filmbeispiele, in denen nicht nur viel, sondern auch virtuos und kunstvoll Musik eingesetzt wird, ist es dennoch möglich, Filme ohne Musik – zumindest ohne hinzumontierte, nicht durch die gezeigte Szene begründete Musik – zu erschaffen. Doch schon hier beginnt eines der viel diskutierten Probleme der Musikdramaturgie im Film: Ist die gezeigte Musik lediglich in solchen Einstellungen zu hören, wo sie auch zu sehen ist? Wird Musik in der Szene nicht immer ein Kommentar, eine Vertiefung oder eine Interpretationshilfe sein wie externe Musik, z. B. wenn wir durch Montage gleichzeitig die Reaktionen auf das Erklingen der Musik sehen? Wenn uns diese Musik auch weiter in die folgende Szene begleitet, bedeutet sie dann nicht mehr, als nur die Ausstattung der Szene zu bereichern oder Übergänge fließend wirken zu lassen?

Die Musikdramaturgie im Film beschäftigt sich sowohl mit Musik, die in vielerlei Form Teil der Handlung sein kann, als auch mit der Zuordnung von Musik zu einem filmisch organisierten Handlungsablauf. Als analoger Begriff zur Musikdramaturgie des Musiktheaters taugt der Begriff aufgrund mediumspezifischer und ästhetischer Unterschiede zwischen Film und Oper nicht ohne Weiteres, vor allem aber, weil Film keine im eigentlichen Sinne musikalische Gattung ist. Gemeinsamkeiten zwischen den sich in der Zeit entfaltenden Kunstformen Musik und Film erlauben aber, filmische Anordnungen durchaus als »musikalisch« zu bezeichnen, z. B. in Fragen des Rhythmus und Timings oder der Komposition und Anordnung der Ebenen und Teile. Wenn Filmdramaturgie die für die Gattung des narrativen Films kaum zu überschätzende Bedeutung der Bilder und das darstellende Spiel der Figuren ordnet, dann wird sie diese Ordnungskraft auch auf die hinzugefügte Musik übertragen. Eine unmittelbar führende Rolle nimmt Musik dabei selten ein.

Dennoch scheint der Einfluss von Musik auf Dramaturgie und Filmwirkung enorm zu sein. In der vorliegenden Studie wird der Frage nachgegangen, wie vielfältig und wie konkret Musik als dramaturgisches Mittel zum Einsatz kommt und wie Musik die Filmform und die Filmwirkung beeinflusst. Unter Wirkung wird dabei nicht eine messbare physiologische oder psychologische Wirkung, sondern die Erlebnisqualität (Unterhaltung, Anregung) verstanden, die ein in Dramaturgie enthaltener Aspekt ist. Unter der Vorgabe, die bestmögliche Wirkung zu erreichen, organisiert Dramaturgie als Werkzeug der Konstruktion und Reflexion Struktur und Inhalt und setzt als zugleich praxisbezogene Disziplin Thema und filmische Präsentation einer Geschichte mit den zur Verfügung stehenden Mitteln und Aufführungsarten um.

Ziel dieser Untersuchung ist es, die oft benannte, aber selten ausführlich behandelte, zeitgemäße Bedeutung der Dramaturgie für die Gestaltung, den Einsatz und die Wirkung der Filmmusik konkret und systematisch darzustellen. Es soll untersucht werden, wie Musik eigene Wirkungsmechanismen und Merkmale zugunsten einer Geschichte und ihrer filmischen Präsentation einbringt und mit Hinblick auf die kognitive und emotionale Anteilnahme eines anvisierten, idealen Publikums eingesetzt wird. Es sollen neue Thesen für die genannten Bereiche entwickelt und Musikdramaturgie als essenzieller Bestandteil einer Filmmusiktheorie ausgebaut werden. Hierfür wird ein zum Teil neues terminologisches und kategoriales Modell zur Beschreibung und Analyse von Filmmusik zur Diskussion gestellt.

Als Prämissen für dieses Vorhaben, die in der Arbeit an geeigneter Stelle näher erläutert werden, gelten folgende Punkte:

– Es existiert eine Musikdramaturgie außerhalb des Musiktheaters.

– Dramaturgie ist zugleich Theorie und Praxis.

– Zur Filmspezifik gehören ästhetisch eigene Formen der Repräsentation und Präsentation mit den Mitteln der filmischen Montage sowie die Synthese von Wahrnehmung und Wirkungen unterschiedlicher, schon existierender Kunstformen.

– Filmmusik wird als poetisches Gestaltungsmittel verstanden, das einen Film unverwechselbar werden lässt.

– Film dient als Kunst und Unterhaltung zur Erfassung der Welt und ist vielfach ebenso bedeutsam wie die Welterfahrung selbst oder eine Vorstufe davon.

– Kunstwissenschaft muss nicht normativ sein, leitet Thesen und Instrumentarium aus den Werken selbst ab und respektiert dabei einen stets verbleibenden, nicht übersetzbaren Rest.

Aus den Zielen und Prämissen ergibt sich, dass Dramaturgie als Methode zum Einsatz kommt, d. h. als Instrument der Reflexion, Analyse und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und des kreativen Durchdenkens von Phänomenen des darstellenden Erzählens und der Filmmusik. In der Filmmusikforschung ist Dramaturgie noch nicht systematisch als Methode genutzt worden, obwohl sie – von bestimmten kommerziellen Erwägungen abgesehen – die wohl wichtigste Instanz darstellt, vor der sich alle zum Einsatz kommenden Mittel im Film, darunter die Filmmusik, direkt oder indirekt rechtfertigen können und meist auch müssen. Ziel dieser Studie ist es daher auch, Dramaturgie als wissenschaftliches Werkzeug zur Annäherung an künstlerische, sich in der Zeit entfaltende, multimediale Werke zu erschließen.

Konkrete Fragen, die die Untersuchung leiten, sind:

– Wie kann eine zeitgemäße Definition von Dramaturgie aussehen, die für tradierte Erzählformen im Film und für neuere Formen des filmischen Erzählens geeignet ist?

– Wie unterscheidet sich Musikdramaturgie im Film von Musikdramaturgie im Musiktheater?

– Wie lassen sich Filmformen, Stile oder Gattungen musikdramaturgisch differenzieren?

– Hat Musik bereits eigene narrative oder semantische Implikationen, und falls ja, wie werden sie in eine filmisch erzählte Geschichte integriert?

– Wie hält Musik das Interesse am Erzählten wach oder beeinflusst die Lesarten der erzählten Geschichte?

– Wie wirken sich die Verabredungen und Bedingungen zur Gestaltung und Wahrnehmung der auditiven Schicht im Film auf die dramaturgische Bedeutung von im Film eingesetzter Musik aus?

– Unter welchen Umständen gehört Musik zur Filmspezifik und trägt substanziell zur Filmsprache und Dramaturgie des Films bei, und wann und warum bleibt Musik entbehrlich oder lediglich akzidentielle Zutat?

– Wann sind die musikalisch-kompositorischen Mittel ausschlaggebend für die Wirkung von Filmmusik und wann vielmehr die Art, wie Musik im Film zum Einsatz kommt?

– Wie kann existierende Terminologie zur Beschreibung und Analyse von Filmmusik geschärft oder eine neue Terminologie gefunden werden, sodass in dem weiten Spannungsfeld von Ästhetik und Pragmatik (Filmpraxis, Filmtheorie, Medienwissenschaft, Filmkunst, Filmwahrnehmung und kommerzielle Massenverwertung) ein Vokabular und eine Methodik bereitstehen, die der Eigenheit und Wirkungsweise von Filmmusik so umfassend wie möglich gerecht werden?

Daraus ergibt sich, dass ein interdisziplinärer Ansatz notwendig ist, um die grundlegenden und breit gefächerten dramaturgischen Aspekte der Gestaltung und Wirkung von Filmmusik zu untersuchen. Die Gliederung des Buches und der Umfang der einzelnen Kapitel nimmt darauf Rücksicht. Vonseiten der beteiligten wissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen Theater, Literatur, Musik (Theorie und Komposition), Musikwissenschaft, Film und Filmtheorie existiert keine universell anerkannte Definition von Dramaturgie. Auffällig in den zahlreich vorliegenden Veröffentlichungen zu Filmmusik ist eine Diskrepanz zwischen dem durchaus vorhandenen Bewusstsein von der Bedeutung der Dramaturgie für die Filmmusik einerseits und andererseits dem nicht selten eingeengten oder ungenauen Blick darauf, was Dramaturgie genau sei. Die Begriffsbestimmung steht daher am Anfang der Betrachtungen und ersetzt eine noch häufig anzutreffende reduzierte Auffassung, nach der Dramaturgie lediglich den Handlungsaufbau oder einen nicht näher definierten Spannungsaufbau betrifft, manchmal nur Worthülse für die Ansammlung von Strukturmustern ist oder allein das In-Szene-Setzen meint und überdies implizite, nicht offensichtliche Dramaturgieanteile vernachlässigt.

Die Untersuchungen zur Musikästhetik, Filmästhetik, Kunst- und Emotionspsychologie werden auf jene Aspekte eingegrenzt, die für die dramaturgische Bedeutung von Filmmusik und ihre Rezeption wichtig erscheinen. Somit kann zwar keine als vollständig geltende Ästhetik der Filmmusik entwickelt werden, jedoch steht diese mehr als in anderen Veröffentlichungen zur Filmmusik am Anfang der Betrachtungen, und im Verlauf treten wesentliche Merkmale einer Ästhetik der Filmmusik hervor. Querverbindungen zwischen den Disziplinen und die für Filmmusik spezifisch geltenden Bedingungen bei der Filmherstellung und Aufführung führen die unterschiedlichen Perspektiven immer wieder zusammen, sodass auch hier die Frage nach der dramaturgischen Bedeutung von Filmmusik ins Zentrum gerückt werden kann. Die kritische Reflexion des Vokabulars und eine Aufstellung der konkreten Aspekte der Musikdramaturgie im Film bilden die Grundlage für das letzte Kapitel. Dort werden konkrete Thesen zur Theorie der dramaturgischen Einbindung von Musik sowie das Instrumentarium zur musikdramaturgischen Analyse präsentiert und mit zahlreichen Beispielen untermauert.

Wenn Begriffe und Zusammenhänge von Grund auf neu überdacht werden, ist meist auch eine Kritik an der Terminologie oder ihrem Gebrauch die Folge. Diese Kritik richtet sich aber nicht an Personen, die mit solcher Terminologie arbeiten. Erkenntnisse oder neue Begriffe sollen zum Weiterdenken anregen und stehen im besten Fall auch für hier nicht diskutierte Gegebenheiten, Gattungen und Formen zur Verfügung.

Der Korpus der Studie erwächst aus Filmen, die entweder durch ihr ästhetisches Konzept, ihre Dramaturgie und Erzählstruktur, ihre musikalischen Mittel und kommunikativen Codes oder aufgrund ihrer unterstellten Publikumswirksamkeit tief greifende Erkenntnisse zum Forschungsschwerpunkt erwarten lassen. Das gewählte Spektrum zeigt neben der dramaturgischen Dimension filmmusikalischer Arbeit auch, wie Musik für unterschiedliche Erzählformen eingesetzt wird bzw. wie sie diese beeinflusst, sowie die filmspezifischen Erscheinungsweisen von Musik im Film. Es handelt sich um exemplarisch gewählte Filme, die durch ihren Musikeinsatz prägend waren oder noch sind, unabhängig davon, ob die Filme zu ihrer Zeit oder heute massenwirksam geworden sind oder eher in Kreisen von Filmschaffenden, an Filmhochschulen, von der Filmkritik oder Filmwissenschaft diskutiert wurden. Manche Beispiele können für die Regel stehen, andere für die Ausnahme. Meistens zeigen die Beispiele die vielfältigen Möglichkeiten der musikdramaturgischen Arbeit im Film. Diese Methodik erlaubt es, anders als bei einer an Genres, einzelnen Personen, Epochen oder Markterfolg orientierten Studie, dem Anspruch nach einem umfassenden Spektrum musikdramaturgischer Konzepte und Wirkungsweisen der Filmmusik gerecht zu werden.

Medientechnische Hinweise

Die angegebenen Zeiten der Filmausschnitte von untersuchten Beispielen sind kein Timecode. Dazu fehlt nicht nur die letzte Angabe (frame), sondern auch eine einheitliche Grundlage für die unterschiedlichen zur Verfügung stehenden Videoformate. Die meisten Quellen haben keinen eingeschriebenen Timecode. Die meisten physischen und nativen Player geben nur berechnete Werte (gewissermaßen Schätzungen) zur Laufzeit bzw. Position an und keine absoluten, nicht zu löschenden Zuordnungen zu jedem einzelnen Frame wie bei einem Timecode. Die angegebenen Zeiten sind daher nur ungefähre Werte, erhalten in dieser Form bestehend aus Stunden: Minuten: Sekunden aber eine Übersichtlichkeit, z. B. 1:26:50 (h:mm:ss) im Gegensatz zum Timecode 01:26:50:24 (h:mm:ss:frame). Bei Abweichungen der in den Analysen angegebenen Zeiten von mehr als ein bis zwei Minuten (am Ende eines ca. zweistündigen Films sogar von bis zu zehn Minuten) liegt der Grund in den unterschiedlichen Standards von 24 oder 25 Bildern/Sekunde, d. h. der Unterschied zwischen schneller laufender DVD und Kinofilm bzw. Streamingdiensten. Dieser Unterschied kann sich auch bei höheren frame-Raten moderner Videoformate bemerkbar machen, die diese Standards rekonstruieren. Je nach Format, Gerät und Software müssen beim Abspielen der Filme Abweichungen in Kauf genommen werden, selbst bei einer identischen Quelle und besonders bei unterschiedlichen Editionen. Vor diesem Hintergrund wurde auf eine sekundengenaue Angabe verzichtet und zumeist in Fünf-Sekunden-Schritten »gerundet«.

Die durch unterschiedliche Bild- und Tonformate entstehenden Unterschiede der Tonhöhen ergeben das Problem, dass Filmmusik auf DVDs und vergleichbaren Formaten annähernd eine kleine Sekunde höher erklingt, als sie komponiert, notiert und aufgenommen wurde. Ein Musikstück in a-Moll erklingt dann in b-Moll, C-Dur klingt als Cis-Dur oder Des-Dur. Die hier vorliegenden Transkriptionen wurden durch den Autor vorgenommen und gleichen diese Differenz in der Regel aus. Mitunter ist aber nicht eindeutig zu bestimmten, in welcher Tonart eine im jeweiligen Videoformat klingende Musik steht oder komponiert wurde. Dieser Sachverhalt kann hier vernachlässigt werden, zumal im Arbeitsprozess musikalisch oder technisch nicht selten und für Außenstehende kaum nachzuprüfen transponiert wird und der Schwerpunkt hier nicht auf der Analyse von originalem Notenmaterial liegt.

Danksagung

Für ihre wertvolle Hilfe durch Gespräche, Anmerkungen, generelle und spezielle Hinweise oder sonstige Unterstützung danke ich den folgenden Personen (in alphabetischer Reihenfolge) sehr: Prof. Jens Becker, Ornella Calvano, Franziska Döhler, Prof. Dr. Hartmut Fladt, Stephanie Hörnes, Dr.in Anna Igielska, Prof. Dr. Georg Maas, Dr. Dieter Merlin, Prof. Peter Rabenalt, Pascal Rudolph, Prof. Dr.in Monika Suckfüll, Prof. Dr.in Kristin Wardetzky, Prof. Dr. Peter Wuss, Rita Ziller.

Besonderer Dank gilt dem Team der Hochschulbibliothek und Mediathek der Filmuniversität »Konrad Wolf« Potsdam-Babelsberg, darunter ganz besonders für ihre engagierte Hilfe: Uwe Figge, Kirsten Otto und Susanne Reiser.

Unschätzbar wertvoll war und ist der Austausch mit den Studierenden der Filmuniversität »Konrad Wolf« Potsdam-Babelsberg, insbesondere aus den Studiengängen »Sound«, »Sound for picture«, »Drehbuch/Dramaturgie« und »Filmmusik«. Dieses Buch habe ich auch (wie es sinngemäß Arnold Schönberg einmal ausdrückte) von ihnen gelernt.

Teil I Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Im Film kann Musik als ein wesentliches Element der Dramaturgie einen faszinierenden Anteil an der Wirkung haben. Doch wie kann dieser analysiert, beschrieben und erklärt werden? In der Musik selbst stecken bereits Anteile dramaturgischer Gesetzmäßigkeiten, z. B. eine kalkulierte Verlaufswirkung, der Zusammenhalt der musikalischen Mittel untereinander oder das Einbeziehen von Publikumswissen. Beim Zusammentreffen verschiedener Kunstsysteme, die ihre eigenen Gesetze zu Sprache, Musik und Bild einbringen, prägt der Film eigene Spezifika aus.

Die Kapitel des I. Teils sollen die Grundlage bilden, um diesen Dingen nachzugehen und eine Bestimmung des Begriffs »Musikdramaturgie im Film« zu ermöglichen. Kapitel 1–3 bewegen sich im interdisziplinären Umfeld der Filmmusik, beginnend mit der Frage, was unter Dramaturgie, Filmdramaturgie und filmischer Narration verstanden werden kann. Der changierende Begriff »Dramaturgie« wird hinterfragt, die wesentlichsten Aspekte zur Filmdramaturgie werden erläutert. Danach richtet sich der Blick auf musikgeschichtlich gewachsene Konnotationen zwischen Musik und außermusikalischen Inhalten, narrative Analogien in der Musik, psychologische Anteile der Filmwahrnehmung und Grundlagen der emotionalen Teilnahme am Film. Die Beschäftigung mit den filmästhetischen Bedingungen, unter denen Musik im Film wirkt, folgt der Ansicht, dass Dramaturgie auch eine ästhetische Theorie beinhaltet, die Inhalt, Struktur und Wirkung zueinander in Beziehung setzt.

Die verschiedenen Blickwinkel in den ersten drei Kapiteln sind durch Querverweise und Rückfragen miteinander verbunden, auch um nach geeigneter Terminologie für ein Konzept der Musikdramaturgie im Film und die musikdramaturgische Analyse von Musik im Film zu suchen.

1. Dramaturgie und Musik

1.1 Dramaturgie

1.1.1 Begriffsbestimmung Dramaturgie

Eine Begriffsbestimmung für den Terminus »Dramaturgie« vorzunehmen, die alle mit Dramaturgie praktisch oder theoretisch in Berührung kommenden Bereiche, Kunstformen, Wissenschaftsdisziplinen usw. gleichermaßen berücksichtigt (und die Ansichten der Vertreterinnen und Verfechter ausreichend berücksichtigt), ist nach eingehender Untersuchung der Materie kaum möglich. Es stellt sich sogar die Frage, ob Dramaturgie überhaupt als Begriff taugt. Ähnlich verhält es sich bei der Diskussion, wie weit der Begriff »Filmmusik« zu fassen sei, wodurch einige Schwierigkeiten für eine wissenschaftliche Betrachtung von Musikdramaturgie im Film entstehen.

In diesem Kapitel wie auch in der gesamten Untersuchung finden sich Gedanken, Definitionen und Tendenzen wieder, die einen Dramaturgiebegriff untermauern, der praktische, analytische und theoriebildende Aspekte berücksichtigt. Die Gewichtung dieser Anteile kann je nach Kontext, in dem das Wort Dramaturgie gebraucht wird, sehr unterschiedlich ausfallen. Zusammengehalten werden die genannten Aspekte durch die Ästhetik des darstellenden Erzählens, zu dem auch die Kunstform Film gezählt werden kann. Der hier dargelegte Dramaturgiebegriff greift Grundlagen der Theaterdramaturgie auf, schließt dabei antike, klassische und zeitgenössische Prägungen ein und öffnet sich auch den Erkenntnissen und Kategorien der Narratologie, die für die Filmwissenschaft und Filmmusikforschung immer bedeutsamer geworden sind.

Ein aus der Belletristik stammendes Zitat zeigt anschaulich und kompakt die vielen Anteile, die Dramaturgie als Theorie und Praxis der Erzählkunst hat, und rückt einen noch nicht genannten Aspekt in den Mittelpunkt: dass der/die Erzählende um das Wissen des Publikums weiß und die eigene Sichtweise auf Thema und Geschichte zwar nicht vollständig offenlegt, aber dennoch durchblicken lässt:

»Ich selbst genoss meinen Bericht so, als würde er von einem ganz anderen erzählt, und ich steigerte mich von Wort zu Wort und gab dem Ganzen, von meiner Leidenschaft für das Berichtete selbst angefeuert, eine Reihe von Akzenten, die entweder den ganzen Bericht würzende Übertreibungen oder sogar zusätzliche Erfindungen waren, um nicht sagen zu müssen: Lügen. Ich hatte auf dem Schemel neben dem Fenster sitzend, den Schorschi auf seinem Bett gegenüber, einen durch und durch dramatischen Bericht gegeben, von dem ich überzeugt war, dass man ihn als ein wohlgelungenes Kunstwerk auffassen musste, obwohl kein Zweifel darüber bestehen konnte, dass es sich um wahre Begebenheiten und Tatsachen handelte. Wo es mir günstig erschien, hielt ich mich länger auf, verstärkte das eine, schwächte das andere ab, immer darauf bedacht, dem Höhepunkt der ganzen Geschichte zuzustreben, keine Pointe vorwegzunehmen und im Übrigen mich als den Mittelpunkt meines dramatischen Gedichts niemals außer acht zu lassen. Ich wusste, was dem Schorschi imponierte und was nicht, dieses Wissen war die Grundlage meines Berichts.«

Thomas Bernhard, Ein Kind (Bernhard 1982/2012, S. 35 f.)

Dramaturgie ist ein Bereich der Praxis (Erfindung und Umsetzung) und zugleich der Theorie (Analyse und Reflexion der Regeln). Um eine Brücke zwischen theoretischen und praktischen Anteilen von Dramaturgie zu schlagen, kann man grundsätzlich sagen, dass Dramaturgie als eine Form des kreativen Durchdenkens einer Sache mit den Mitteln der poetischen Gestaltung zeitbasierter Künste verstanden werden kann. Daraus ergibt sich, dass Dramaturgie kein geschlossenes oder homogenes System darstellt – in diesem Sinne sollten die zitierten Definitionen oder Anmerkungen verstanden werden. Unterschiedliche Auffassungen zu und Anforderungen an Aufbau, Umsetzung und Rezeption einer Geschichte lassen Dramaturgie als vielfältiges und keineswegs normatives Gefüge begreifbar werden. Dieses Gefüge besteht aus in der Praxis gewonnenen und erprobten Strukturen und Wirkungsstrategien, die sich nicht selten zu erzählerischen Modellen und rezeptionsästhetischen Modellvorstellungen zu Wahrnehmung und Aufschlüsselung von narrativen Werken verfestigt haben. Hierauf aufbauend entwickelte und entwickelt sich Dramaturgie als künstlerische und – wenn auch noch vereinzelt – zunehmend wissenschaftliche Disziplin, die unterschiedliche theoriebildende Ansätze und Forschungstraditionen bedient oder nutzt.

Der im Folgenden ausgebreitete Dramaturgiebegriff berücksichtigt, dass Dramaturgie Strukturen und Wirkungen hervorbringt, aber mit ihrer Hilfe dieselben zugleich auch analysiert werden können.1 Ein solcher Dramaturgiebegriff lässt Strategien und Wirkungen als (bewusst oder unreflektiert) auf einer in Werken und Theorien überlieferten Basis sich entfaltend begreifbar werden. Aber auch nicht vollständig benennbare und dennoch praktizierte Strategien und funktionierende Wirkungsmechanismen sind Teil von Dramaturgie. Der Dramaturg und Drehbuchautor Jean-Claude Carrière spricht sogar von einem »Geheimnis«, das dem Erzählen innewohnt, und verortet damit Dramaturgie indirekt in einem Bereich, wo nicht alle Gestaltungselemente und Wirkungsweisen entschlüsselbar sind, aber dennoch in der Praxis existieren.2

Der Terminus »Dramaturgie« zielt insgesamt auf drei wesentliche Aspekte des darstellenden Erzählens ab:

1. die Tätigkeit der Fertigung und Aufführung von Dramen (in der Philosophie »Poiesis« genannt, altgriechisch: für zweckgebundenes Handeln),

2. die Lehre von den Regeln und Prinzipien für die Umsetzung im Rahmen der dem Medium entsprechenden Kriterien (»Poetik«)

3. eine Theorie, die Rechtfertigungen und Analysemethoden für die postulierten Regeln liefert und systematisiert.3

Aus der Perspektive, Dramaturgie als Werkzeug der Umsetzung wie auch Analyse zu betrachten, hat, als Beispiel, Gotthold Ephraim Lessing auf zeitgenössische Dramenaufführungen geblickt. Seine »Hamburgische Dramaturgie«4 enthält neben den Analysen implizit auch eine Theorie der Theaterdramaturgie. Er greift dabei unter anderem auf den von Aristoteles mit »Mythos« titulierten, in der Folge aber mit »Fabel« übersetzten Terminus (Schmitt 2008, S. 222) für die Organisation der Einheit der Handlung zurück und führt den Begriff »Intrige« ein (Lessing 1767/69, S. 163 f.). »Intrige« steht in manchen Dramentheorien für das Prinzip der »Fabel«, in anderen für den Teil der Geschichte, der durch meist entgegengesetzte Interessen und daraus resultierende Konflikte eine Handlung vorantreibt. Lessing knüpft an das aristotelische Paradigma an, dass die Handlung aus Notwendigkeit und nach Wahrscheinlichkeit voranschreiten solle (Aristoteles 2008, S. 13; Kap. 9, 1451a35), und führt es mit den Ideen der Aufklärung zusammen. Die Katharsis, meist als Reinigung von den Affekten Furcht, Schaudern und Mitleid bzw. als Ausgleich dieser Affekte verstanden,5 transferiert Lessing demnach zu einer Verwandlung hin zu einem tugendhaften und aufgeklärten Geist.

Von Brecht wurden die inhärenten Grundlagen der aristotelischen Dramaturgie und des bürgerlichen Theaters des 19. Jahrhunderts, wie z. B. die Einfühlung in Protagonisten und Konflikte sowie die schicksalhafte Unabänderlichkeit der Umstände, in denen eine Geschichte angesiedelt ist, scharf kritisiert. Doch auch er verwendet den Begriff »Fabel« und sieht ihn als einen zentralen dramaturgischen Terminus an. Zu Brechts Verständnis eines reformierten Fabel-Begriffs gehört die Idee, dass das Wesen des Menschen sich durch sein gesellschaftliches Handeln zeige.6 Dramaturgie ist aus dieser Sicht nicht nur die Lehre vom Drama (in allen seinen Formen und Medien), sondern immer auch eine Form der Lehre vom Menschen.7

»Fabel« bzw. »Intrige«, »Figur« und »Konflikt« sind zentrale Kategorien der traditionellen Dramaturgie. Normative Dramaturgien überlieferten zudem für den Dramenaufbau Vorgaben, so z. B. die überschaubare Einheit von Handlung, Zeit und Raum. Es existiert darüber hinaus eine Vielzahl an Begriffen für Handlungskomposition, Figurenrede und die sinnlich erfahrbare Darbietung. Auch hier findet sich die theoretische Basis schon bei Aristoteles, der sechs Ebenen eines Dramas benennt: Einheit der Begebenheiten als Handlungskomposition (mýthos), Charaktere (ēthos), sprachliche Gestaltung (lexis), Denkweise (diánoia), die Aufführung (ópsis) und Lieddichtung (melopiía)8 (Aristoteles 2008, S. 10; Kap. 6, 1450a10). Das, was heute als Handlung bezeichnet wird, entsteht aus der Verflechtung dieser Ebenen. Aristoteles unterschied dafür Handlungen (pragmata) und das Geflecht aus Handlungen (praxeis). Der Begriff »Drama«, aus dem das Wort Dramaturgie seinen Ursprung hat, bezeichnet dagegen die Bühnenaktion bzw. Umsetzung durch Darstellende.

Die Handlungskomposition wird in vielen Übersetzungen »fabula« oder »Fabel« genannt. Der Handlungsaufbau enthält gegebenenfalls normierte Stationen bzw. Momente für den Anstoß oder die Fortsetzung der Handlung, z. B.: »Kollision«, »Umkehr« bzw. »Peripetie« (auch: Handlungs- oder Glücksumschlag), »Erkennung« (anagnṓrisis) sowie »erregendes« und »retardierendes Moment« oder »steigende« und »fallende« Handlung (Freytag 1863) als Pendant zu Aristoteles’ »Schürzung des Knotens« und »Lösung des Knotens«. In Schmitts Übersetzung der Poetik von Aristoteles: »Verwicklung« und »Lösung« (Schmitt 2008).

Gustav Freytag, wie auch Otto Ludwig in seinen von Nationalismus getragenen »Shakespeare-Studien« (Ludwig 1874/1901), beharrte auf einem Fünf-Akt-Schema, das nur auf einen eingeschränkten Korpus angewendet werden kann9 und welches das aristotelische Ideal erweitert. Damit einhergehend konnten gelockerte Regeln für eine Tragödie erfasst werden, z. B. für die Anzahl der handelnden Figuren oder für Handlungsorte. Auch Nebenhandlungen und Neben- oder Begleiterfiguren konnten im fünfaktigen Drama ausführlicher in Erscheinung treten. Einer Geschichte können so zusätzliche Bedeutungsebenen verliehen werden. Die bisher genannten Basisbegriffe sind – wie sich in den Untersuchungen zeigen wird – auf den narrativen Film produktiv anwendbar.10

Zu den Bereichen des darstellenden Erzählens, die mithilfe der Dramaturgie erfasst werden können, gehören nicht nur die Strukturen und Wirkungen, sondern auch die Figuren und ihr äußeres Erscheinen sowie ihr innerer Charakter und »sozialer Gestus« (Becker 2012, S. 4). Hier hinein fließen auch soziologische und psychologische Aspekte. Figuren lassen sich dann in »Charaktere« und »Typen« unterscheiden, deren physische Erscheinung sichtbar, deren geistige Eigenschaften dagegen unsichtbar sind (Becker 2012, S. 3 f.) – nicht zuletzt für die Filmmusik und Musikdramaturgie ein möglicher Ansatzpunkt. »Charaktere« sind individuell angelegt, komplexer gezeichnet und können Veränderungen durchlaufen. Im Handeln der »Charaktere« zeigen sich immer auch der überdauernde Teil der Figur und ihre ethischen Grundsätze. Davon kann das Pathos eines »Charakters« abgegrenzt werden, der den augenblicklichen Gemütszustand oder Affektausbruch zeigt. »Typen« sind Figuren, die sich im Verlauf der Handlung nicht ändern, die exemplarisch für überpersönliche Eigenschaften oder Verhaltensweisen stehen und meist in Zusammenhang mit feststehenden Sujets, Genres und Situationen auftreten. Nicht selten sind Nebenfiguren als »Typen« zu bezeichnen.

Dramaturgie berührt auch die Inszenierung eines Werkes. Auf den Film übertragen bedeutetet dies allerdings, dass eine Inszenierung während vieler Phasen der Filmherstellung stattfindet: während des Drehs in der Arbeit mit Schauspielerinnen und bei der sogenannten »Auflösung« einer Szene (Position der Kamera, Kamerafahrten, Position der Schauspieler im Setting u. a.), bei der Montage und Bildbearbeitung sowie bei der abschließenden Filmmischung. Die Filmmischung ist nicht die Vervollständigung der Tonspur, sondern dient der Entscheidung und Festlegung dazu, wie Musik und Ton »inszeniert« werden. Erst im Zusammenwirken entfaltet alles seinen dramaturgischen Sinn. Hier mögen die Auffassungen darüber, wie weit Dramaturgie reicht, auseinandergehen. Die Musikdramaturgie im Film wird vom abschließenden Arbeitsschritt, der Filmmischung, entscheidend mitgeprägt. Hier werden alle auditiven Gestaltungselemente zueinander in Beziehung gesetzt, es wird ihre »sensorische Qualität«11 bestimmt und alles Klingende in endgültiger Form in Beziehung zur Geschichte gesetzt.

Bei der Suche nach einer Definition von Dramaturgie finden sich einerseits solche, die die Breite der Thematik und Anwendungsbereiche abzudecken versuchen, dabei naturgemäß sehr allgemein bleiben, zum anderen Definitionen, die z. B. nur auf das Theater beschränkt sind, einen in anderer Weise eingeschränkten Dramaturgiebegriff fortschreiben oder bestimmte Teilaspekte in den Vordergrund rücken. Einige seien an dieser Stelle zitiert, gerade weil keine Definition allein für diese Arbeit tragfähig erscheint.

»Dramaturgie ist angewandte Poetik […], die sich der Beziehung zwischen dem zugrunde liegenden Text, den konzeptuellen Überlegungen, die einer Aufführung oder der Vorführung vor Publikum vorangehen und deren Realisierung widmet. […] Dramaturgie ist als eine Teildisziplin der Ästhetik eine tradierte praxisbezogene wie praxisbasierte Wissenschaft, die sich dem Geheimnis des Erzählens widmet und gleichermaßen analysiert wie darstellt, was ein das Publikum unterhaltendes wie anregendes narrativ-performatives Werk ausmacht. Als Methode kann man Dramaturgie im übertragenen Sinne auch als Dialektik des darstellenden Erzählens verstehen. Die Begriffe und Kategorien der Dramaturgie werden in der dramaturgischen Tätigkeit – sei es die Analyse oder das ›Ins-Werksetzen‹ – mit dem konfrontiert, was mit ihnen ausgedrückt wird, und so stets in der Praxis überprüft.« (Stutterheim und Kaiser 2009/2011, S. 15)

Zur Ergänzung zitieren die Autorinnen aus Standardwerken, z. B. aus dem »Metzler-Lexikon Theatertheorie«, um weitere Anteile der Definition von Dramaturgie zu nennen, die in der Regel im Vordergrund stehen: Dramaturgie umfasst demnach auch

»[…] das Wissen um und die Kenntnis der semantischen Dimension wie auch der strukturellen Gesetzmäßigkeit und Regelhaftigkeit von Texten, die dazu geschaffen sind, in eine Bühnenhandlung transformiert zu werden.« (Weiler 2005, S. 80).

Dass Dramaturgie nicht nur Strukturmodelle für die Schaffung eines Werkes benennt, sondern zugleich auf ein Publikum ausgerichtete Strategien einschließt, wird im selben Artikel weiter ausgeführt:

»Darüber hinaus umfasst Dramaturgie die Reflexion auf ein zu erwartendes bzw. vorwegzunehmendes Wahrnehmungs- und Rezeptionsgeschehen auf der Seite der Zuschauer. Diese Reflexion kann sich durch den Reflexionsprozess in allen theatralen Elementen visuell oder lautlich manifestieren. So gesehen ist Dramaturgie durchaus als Strategie zu bezeichnen.« (Weiler 2005, S. 80)

Die hierin bereits angesprochene Fähigkeit des Publikums, eigene Prognosen zu Verlauf oder Inhalt bei der Filmwahrnehmung zu bilden und operativ weiter zu verwenden, wird nicht unerheblich von Musik bzw. Einsatzformen von Musik im Film beeinflusst – ein Gedanke, der die Argumentation in den folgenden Kapiteln stets begleitet.12

Eine Sicht, die verschiedene Dramaturgieanteile zur Gesamtdramaturgie eines Werkes des darstellenden Erzählens vereint sieht, vertritt unter anderen Eugenio Barba.13 Er ist Theatermacher und Theoretiker, der die Interaktionen der unterschiedlichen Gestaltungsebenen als Teil der Dramaturgie reflektiert:

»In a performance, actions (that is, all that which has to do with the dramaturgy) are not only what is said and done, but also the sounds, the lights and the changes in space. At a higher level of organization, actions are the episodes of the story or the different facets of the performance, between two changes in the space – or even the evolution of musical score, the light changes, and the variations of rhythm and intensity which a performer develops […].« (Barba und Savarese 1991, S. 68)

So unscharf und teilweise vage (wie auch hier bei Barba) die Terminologie zur Dramaturgie aufgrund ihrer Position zwischen Praxis und Theorie ist und im Falle des Films in besonderem Maße auch im Spannungsfeld der ökonomischen Kräfte steht, führen doch wichtige Begriffe immer wieder zu Aristoteles. Dessen Poetik (entstanden nach 335 v. d. Z., zuletzt von Arbogast Schmitt 2008 neu übersetzt und sehr ausführlich kommentiert) gibt für viele Basisbegriffe der Formtypen, Fabelkonstruktion, Figuren- und Konfliktkonstellationen, Wirkungsmuster und Affektdispositionen die Grundlage ab. Mit dem Wort »action« benutzt Barba vermutlich ganz bewusst ein Wort, das auf Aristoteles’ Gebrauch des Begriffs »Drama« rekurriert.14

Aristoteles ist als Quelle auch deshalb von Bedeutung, weil er in seiner Poetik immer wieder die von Homer und anderen antiken Autoren in eine Form gebrachten antiken Erzählungen einer ursprünglich oralen Tradition würdigt. Gerade dann, wenn Kino als zeitgemäßer Ort des Erzählens aufgefasst wird, ist der zu den oralen Erzähltraditionen zurückschauende Blick von Interesse. Aristoteles verweist auf die Kunstfertigkeit, die diese nunmehr fixierten Erzählformen in sich tragen. Sie besteht, wie die Erzählforschung belegt,15 außer in den gewählten Versformen, die auch dem Memorieren dienten, noch grundlegender auch im Arrangement der Episoden, der Verschachtelung vieler auch separat existierender Geschichten innerhalb einer Haupt- oder Rahmenhandlung, dem Einweben von thematisch bestimmenden Grundmotiven über Episoden hinweg, moralischen Akzentuierungen als Kommentar zur aktuellen Lebenswelt der Adressaten,16 gegebenenfalls im Aufschub des weiteren Geschehens zur Spannungssteigerung (Retardierung) und Ähnlichem mehr. Es ließe sich demnach selbst dann von Dramaturgie sprechen, wenn es sich nicht um Dramen handelt, sondern zugehört oder gelesen wird, weil Strategien hierzu (Strukturierung, Spannungsaufbau, das Wissen um das Wissen des zuhörenden oder lesenden Publikums) die Grundlage bilden, bei Leserinnen oder Zuhörern Interesse und Unterhaltung hervorzurufen.

Die bereits oben genannten Klassiker der Dramaturgie können aufgrund ihrer analytischen Fähigkeiten und ihres Beitrags zur Theoriebildung immer wieder konsultiert werden, insbesondere um die dramaturgische Basis des darstellenden Erzählens zu untersuchen. Die historischen und gesellschaftlichen Umstände, unter denen diese Theorien entstanden, haben sich zwar geändert, doch bleiben universelle Gesetzmäßigkeiten, Ergebnis unzähliger praktischer Erfahrungen, erhalten. Dazu gehört, wenngleich Gewichtung und Vokabeln dafür unterschiedlich sein können,

– dass eine Handlung begrenzt wird durch einen Ursprung, Anstoß und ein darauf bezogenes Endigen,

– dass Figuren sich durch ein sie charakterisierendes Handeln zeigen, das deutlich macht, was sie vorziehen zu tun oder was sie vermeiden wollen,

– dass Handlungen eine innere Notwendigkeit (in Übereinstimmung mit dem Charakter der Figur) und eine größtmögliche äußere Wahrscheinlichkeit haben, d. h. immer auf einen Figurenkonflikt oder einen anderen Ursprung der Handlung bezogen sind, der zu seinem logischen Ende geführt wird,

– die Beachtung einer allgemeinen Ökonomie der Mittel (Verwendung der geeignetsten, prägnantesten Motive und Konzentration auf Zusammenhänge, die der gesamten Handlung dienen),

– dass eine Handlungskomposition die eindrücklichste Anordnung dieser Handlungen darstellt

– dass das Publikum die positiven oder negativen Sachverhalte, die eine Figur betreffen, mitempfindet und ggf. wegen der Konsequenzen bangt,

– dass Umkehrpunkte in der Handlungskomposition (Wendungen in der Handlung, die unumkehrbar sind), Kulminationspunkte, beschleunigende oder retardierte Mittel den Verlauf strategisch gliedern,

– dass tragische, komische und tragikomische Gattungen eigene Gesetze für Fabel, Figuren und Lösung der Konflikte haben,

– dass Referenzen zu Alltag, Publikumswissen, Zeitgeist oder anderen künstlerischen Werken der Entstehungszeit oder aktuellen Zeit eine Entfaltung oder Aufschlüsselung des Werkes beeinflussen.

Im Begriff Dramaturgie steckt neben der strukturellen auch eine wirkungsästhetische Dimension, denen sich diese Kriterien beugen müssen. Dabei spielen wahrnehmungspsychologische Phänomene eine wesentliche Rolle, die eng mit den Wesensmerkmalen der Verlaufskünste zusammenhängen:

»In allen prozessualen Künsten (Musik, Tanz, Theater, Film) beziehen sich die in langer Geschichte entstandenen künstlerischen Formen neben ihrem subjektiven individuellen Ausdruck eines bestimmten sozial und historisch gebundenen Zeitgeistes auch auf die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Wahrnehmung von zeitlich ablaufenden Ereignissen. Elementare physiologische und psychologische Konditionen wie Erregung und Entspannung, Aufmerksamkeit und Ermüdung, Erwartung und Enttäuschung, Bestätigung und Überraschung werden in der Strukturierung der gestalteten Abläufe berücksichtigt.« (Rabenalt 2011, S. 32)

Zum empirisch-praktischen und wissenschaftlich-theoretischen Wesen von Dramaturgie gehören demnach nicht nur tradierte, funktionierende Grundmuster des Formaufbaus eines Dramas, nicht nur Modelle für die Konstruktion und Entfaltung der Fabel, die Strukturierungen der gestalteten Abläufe in unterschiedlichsten Formen, sondern auch die wirkungsästhetische Frage, wie dies alles in der Wahrnehmung des Publikums unter den gegebenen Bedingungen der Rezeption funktionieren kann und zum Nachvollziehen der Geschichte einlädt.

Die hieraus erwachsende Frage, was Spannung in der Dramaturgie bedeutet, ist aber noch nicht beantwortet. Carl Dahlhaus schrieb mit Blick auf das Musiktheater:

»Den trivialen Begriff von dramatischer Spannung zu berücksichtigen, der sich in der Vorstellung von raschem Tempo, dichter Ereignisfolge und einer Häufung von unaufhaltsam einer tragischen oder komischen Katastrophe entgegen treibenden Vorgängen erschöpft, dürfte überflüssig sein.«

Entscheidend sei vielmehr

»die Konfiguration der Personen und Affekte: eine Struktur, deren innere Spannung in jedem Augenblick fühlbar und nicht geringer als die Spannung einer Verkettung von Vorgängen ist, bei denen das Moment der Prozessualität in den Vordergrund tritt.« (Dahlhaus 2001a/GS2, S. 552)

Spannung entsteht demnach, wenn Affektdarstellungen sich ergänzend kontrastieren und einander durchkreuzen. Dies kann – dem Alltagsgebrauch des Wortes »dramatisch« für ereignisreiche, spannende oder ergreifende Phasen des Erlebens ganz klar widersprechend – sowohl mit dramatischen, epischen als auch lyrischen Mitteln geschehen. Dahlhaus fügt hinzu:

»Eine dramatisch besonders wirksame Form der Spannung ist der Gegensatz zwischen manifesten und latenten Vorgängen, wie er aus Ibsens und Tschechows Schauspielen als Kontrast zwischen einer scheinbar harmlosen Konversation und den tragischen Ahnungen, die gleichsam in den Rissen des Dialogs einen Augenblick lang sichtbar werden, bekannt ist.« (Dahlhaus 2001a/GS2, S. 552)

Dramaturgie dient dem Wechselspiel aus Spannungsverlauf und Aufmerksamkeitslenkung mit visuellen, sprachlichen und auditiven Mitteln. Dabei darf Spannung aber nicht als allein prozessorientierte Verdichtung oder affektiv aufgeladener Vorgang missverstanden werden. Die durch dramatische, lyrische oder epische Mittel erzeugten Bezüge zwischen »äußerer« Handlung (suspense bzw. Verkettungen von Vorgängen handelnder Figuren) und »innerer« Handlung (tension bzw. sich durchkreuzende Affektdispositionen) lassen wirksame Formen der Spannung entstehen.

1.1.2 Filmdramaturgie

Die Auffassung, Filmdramaturgie auf klassischer Dramentheorie aufbauend herzuleiten, wird hauptsächlich vom Personal an Bildungseinrichtungen zum Film bzw. Theater vertreten, deren Schriften teilweise im vorangegangenen Kapitel bereits zitiert wurden. Zur Filmdramaturgie gehören handwerklich-gestalterische Anteile genauso wie das analytisch-beschreibende Wesen von Dramaturgie. Konzeption, Umsetzung, Wirkung, aber auch die analytische Reflexion des filmischen Erzählens werden – wie generell bei Dramaturgie – auch in der Filmdramaturgie maßgeblich von Auffassungen zur Ästhetik beeinflusst. Dazu kommen aber die bei dieser Kunstform zu berücksichtigenden komplexen ökonomischen Rahmenbedingungen der Produktions-, Aufführungs- und Vermarktungsabfolge, in denen Film als Produkt normalerweise auf eine bestimmte, unterschiedlich definierte Weise erfolgreich sein muss. Filmdramaturgie zeigt sich sowohl in der Anwendung von sehr weit zurückreichenden Gesetzmäßigkeiten, als auch in ganz neuen Formen der audiovisuellen Erzählkunst.

Poetische Ideen müssen sich im Falle des Films im Rahmen wirtschaftlicher und organisatorischer Bedingungen und meistenteils industrialisierter Produktionsmethoden verwirklichen lassen. Poesie und Ökonomie stehen sich dabei manchmal behindernd, manchmal anregend gegenüber. Auch hierauf beziehen sich Auffassungen zur Filmdramaturgie, die Film als Kunst und zugleich als Ware in der Lebenswelt der Kunstschaffenden und Kunstrezipierenden positionieren. Gattungsbegriffe wie Autorenfilm, Mainstreamfilm, Arthouse und ähnliche zeigen diese unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Positionen, die in die Normen der Dramaturgie eines Films hineinwirken, bereits an.

Dramaturgie und die industriellen und technologischen Aspekte der Filmkunst sind mit dem Phänomen der technischen Reproduzierbarkeit des Kunst- und Industrieprodukts Film verknüpft.17 Besonders in Zeiten der annähernd vollständigen Digitalisierung der Medienwelt sind die Reproduzierbarkeit und Formen der Präsenz eines Films neben den langen Erzähltraditionen in Literatur und Drama ein wesentlicher Aspekt der Filmdramaturgie. So gilt Film als einflussreiches wie stark beeinflusstes Massenmedium und hebt sich in diesem Ausmaß z. B. von der Theaterdramaturgie ab.

Filmdramaturgie rückt ein besonders heterogenes Publikum ins Zentrum dramaturgischer Strategien. Der ideale Zuschauer im Kino muss anders angesprochen werden als der ideale Leser eines Buches oder ein Theaterpublikum: Die unterschiedlichen Medien, Rezeptionsorte, Formen der Performativität18 und »Rezeptionsmodalitäten«19 beeinflussen generelle und spezielle Entscheidungen zur Filmdramaturgie, die hier allerdings nicht alle im Einzelnen dargelegt werden können.

Gegenstand der Filmdramaturgie ist auch die dramaturgische Bedeutung der Montage, d. h. das Zueinander-in-Beziehung-Setzen der visuellen, verbalen und auditiven Gestaltungsmittel im Film, die somit Teil der Spezifik der Filmkunst sind. Hierzu gehört auch die besondere Beziehung zur »realen« Zeit, wie Tarkovskij schreibt:

»[…] hier war ein neues Prinzip entstanden. Dieses Prinzip bestand darin, dass der Mensch zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst und Kultur die Möglichkeit gefunden hatte, die Zeit unmittelbar festzuhalten und sich diese zugleich so oft reproduzieren zu können, also zu ihr zurückzukehren, wie ihm das in den Sinn kommt. Der Mensch erhielt damit eine Matrix der realen Zeit. […] Der Film entspringt der unmittelbaren Lebensbeobachtung. […] das filmische Bild ist seinem Wesen nach die Beobachtung eines in der Zeit angesiedelten Phänomens.« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 98 f.)

Filmdramaturgie beruht auf dem Erzählen mit eigenen bildgestalterischen und auditiven Elementen, zugleich aber auch auf Konzepten und Strukturen des Dramas und auf Mitteln des literarischen Erzählens. Zur Vergleichbarkeit des Films mit dem Drama schreibt Esslin:

»Daß das Theater (live, Drama auf der Bühne) sui generis ist und sich in vielen seiner Methoden vom Film (und von den filmischen Formen des Fernsehens) unterscheidet, daran besteht natürlich kein Zweifel. Dennoch erscheint mir ebensowenig Zweifel daran zu bestehen, daß beiden gemeinsam eine Basis zugrunde liegt, die des Dramas.« (Esslin 1989, S. 31)

Zu dieser gemeinsamen Basis gehören zunächst die in besonderer Weise an den zeitlichen Verlauf der Aufführung oder Vorführung vor Publikum gebundene Art des Erzählens sowie die meisten Formen des Handlungsaufbaus, der Figurendispositionen und -rede, Notwendigkeiten der Lokalisierung der Handlung, Gestaltung von Kontinuität und Diskontinuität und Perspektivierung. Film hat aber mit dem literarischen Erzählen gemeinsam, dass im Gegensatz zur Theaterbühne differenziertere bzw. indifferente Erzählinstanzen etabliert werden können. Mit den Möglichkeiten der filmischen Montage sind gegenüber Literatur und Theater vielfältigere Formen der Perspektivierung und zur Kreation und Imagination der erzählten Welt möglich.

Bernhard Asmuth sieht den Tonfilm als mediendramatische Form und damit als eine Art der Darbietung eines Dramas mit elektronischen Medien an.20 Mit dieser »szenisch-theatralischen Darbietungsform« sind »vier Produktionsbereiche bzw. die ihnen zugeordneten wissenschaftlichen Disziplinen beschäftigt« (Asmuth 2004, S. 22), nämlich Theater, Literatur, elektronische Medien und Musik.

Die Ausführungen von Aristoteles, die zwischen Epos und Tragödie unterscheiden, können auch für Filmdramaturgie berücksichtigt werden. Im Film finden sich beide Arten des nachahmenden bzw. nachschöpfenden Handelns, die auch als dramatisches und als episches Prinzip bezeichnet werden können. Diese Vergleichbarkeit von Film und Drama lässt weitere Überlegungen zu, die auch den Einsatz und die Analyse von Filmmusik betreffen, z. B. dass auch lyrische Prinzipien Anteil an der Filmerzählung haben. Daher hier eine Zusammenfassung der drei Prinzipien:

1. Dramatisches Prinzip (mimesis, Zeigehandlung): Das Erzählen durch zeigendes, direkt nachschöpfendes Handeln mithilfe von Figuren in wirklichkeitsnaher Präsenz und meist konflikthaften Situationen ist konstituierend für eine Bühnenhandlung. Die Erzählinstanz »verschwindet« hinter den Figuren. Eine Handlung ergibt sich traditionell in logischer, kausal-temporal übersichtlicher Abfolge von Ereignissen und Handlungen, die von den Eigenschaften, Motiven und Konflikten der Figuren und daraus folgenden Verdichtungen angetrieben werden (»und weil … und weil …«21). Formal sind Handlungen in Szenen und Szenen in Akten gebündelt.

Im dramatischen Prinzip ist Nachahmung besonders anschaulich, kann aber nicht auf das Theater beschränkt werden. Bei Aristoteles ist zu lesen, wie Modi der Nachahmung zu unterscheiden sind:

»Bei der Nachahmung gibt es ja diese drei Unterschiede, wie wir zu Beginn festgestellt haben: die Medien, die Gegenstände und den Modus der Nachahmung. Daher ist Sophokles im Sinn der einen Unterscheidung in der gleichen Weise ein nachahmender Dichter wie Homer, beide nämlich ahmen gute Charaktere nach, im Sinn der anderen Unterscheidung aber wie Aristophanes, denn beide [Sophokles und Aristophanes] verwenden einen Modus der Nachahmung, in dem Personen ihre Handlungen selbst ausführen. Daher kommt auch, wie einige meinen, der Name ›Drama‹ {(Bühnen-)Aktion} für ihre Dichtungen, weil sie ihre Charaktere selbst agieren lassen.« (Aristoteles 2008, S. 5; Kap. 3, 1448a25)

»Charaktere nachahmen« bedeutet in Bezug auf das Erzählen, die charakterisierenden Handlungen von darstellungswürdigen Figuren im darstellenden Spiel zu zeigen oder aber von solchen Handlungen der Charaktere mündlich oder schriftlich zu berichten.22 Nachahmung muss von der antiken rhetorischen Kategorie der imitatio unterschieden und kann besser als »Nachschöpfen« bezeichnet und verstanden werden. Dies hebt den Lernaspekt und das kreative Aneignen der Welt in den Vordergrund.23

2. Episches Prinzip (diegesis, Schilderung/Erzählung/Bericht): Das indirekt nachschöpfende Erzählen, bei dem Handlungen in Formen des Berichts (auktorial oder figural) geschildert werden (»und dann … und dann …«24), ist konstituierend für Epen, Romane, Erzählungen oder Novellen. Das Wesen der Figuren und ihrer Konflikte zeigt sich nicht im dargestellten Handeln und Sprechen, sondern durch die Beschreibung der Figuren und Vorgänge, d. h. mit den durch eine Erzählinstanz übermittelten Taten und zugewiesenen Worten. In diesem Modus ist die formal ordnende Hand einer auktorialen oder figuralen Erzählinstanz erkennbar. Die Erzählinstanz verknüpft alle Handlungsteile, Orte und Zeitebenen bzw. -abschnitte, weswegen dies nicht zwingend logisch, sondern gegebenenfalls thematisch, assoziativ oder Figurzentriert, aus wechselnder Perspektive usw. geschehen kann. Formal typisch sind die weitschweifige Anlage, gliedernde Kapitel und Rahmungen.

In einem Drama bleibt die Erzählinstanz hinter ihren Figuren und szenischen Einfällen verborgen: Die Figuren zeigen uns durch direkte Nachahmung (zeigendes Darstellen), worum es geht. Im berichtenden Modus mit indirekter Nachahmung (erzählendes Darstellen) tritt eine Erzählinstanz vermittelnd zwischen Geschichte und Publikum und berichtet von den Handlungen der Charaktere, d. h. erzählt auf indirekt nachahmende und nachschöpfende Art und Weise. Daraus ergeben sich andere Möglichkeiten zur Anordnung der Handlung im Drama oder im Epos. Das Grundprinzip des Nachschöpfens mit zum Aufführungsort gehörenden oder das Medium kennzeichnenden Mitteln gilt aber für beide Modi.

Das Dramatische und Epische des Films betreffend schlussfolgerten schon Adorno und Eisler in ihrem Filmmusik-Buch:

»Zur Einsicht in solche Möglichkeiten [zur Erzeugung von Spannung] hilft die Besinnung auf die dramaturgische Form des Films als solche. Film ist eine Mischform von Drama und Roman. Gleich dem Drama stellt er Personen und Vorgänge unmittelbar, leibhaft vor Augen, ohne das Moment des ›Berichts‹ zwischen den Vorgang und den Zuschauer zu schieben. Daher die Forderung nach der ›Intensität‹ des Films, wie sie als Spannung, Emotion, Konflikt sich kundgibt. Auf der anderen Seite aber hat der Film prinzipiell selber ein berichtendes Element. Jeder Spielfilm mahnt an Bildreportage. Der Film gliedert sich nach Kapiteln eher als nach Akten. Er baut sich aus Episoden auf. Dass zu Filmstoffen Romane und Novellen eher sich hergeben als Dramen, ist nicht zufällig, sondern hängt […] auch mit der extensiven epischen Form des Films zusammen. Ein Drama muss, um filmgerecht zu werden, gleichsam erst mit romanhaften Zügen versetzt werden. Zwischen den dramatischen und epischen Momenten aber besteht im Film ein Bruch: der eindimensionale Zeitverlauf des Films, seine epische Kontinuität erschwert die intensive Konzentration, die von der dramatischen Gegenwart der Filmvorgänge gefordert wird.« (Adorno und Eisler 1944/2006, S. 33 f.)

Adorno und Eisler benennen hier die womöglich grundlegendste dramaturgische Rechtfertigung von externer Musik im Tonfilm, sofern Filmmusik nicht nur aus Gewohnheit enthalten sein soll: Sie ist durch ihre eigene musikalische Kontinuität und ihren ergänzenden Wirkungsbereich in der Lage, die Brüche zwischen den sich abwechselnden Erzählmodi, welche den Erzählfluss fragmentieren und die »intensive Konzentration« behindern könnten, zu schließen.

Die beiden Modi entsprechen dem dramatischen bzw. epischen Prinzip, die in Hegels Ästhetik – ergänzt um die lyrischen Mittel – systematisiert werden.25 Hegel schreibt dem Epischen eine geistige, »einheitsvolle Totalität« zu, die den »allgemeinen Welthintergrund« und die »individuelle Begebenheit« miteinander verbindet (Hegel 1818–29/1984, S. 438 ff., Bd. 2). Er benennt die Eigenheiten des epischen Erzählens, die »einheitsvolle Totalität« und die Entfaltung ausufernder epischer Erzählformen, die sich dennoch in eine Gesamtform fügen müssen, in folgender Weise:

»[…] erstens nämlich die Totalität der Objekte, welche um des Zusammenhangs der besonderen (individuellen) Handlung mit ihrem substanziellen Boden (dem allgemeinen Welthintergrund-)Willen zur Darstellung gelangen dürfen; zweitens den von der Lyrik und dramatischen Poesie verschiedenen Charakter der epischen Entfaltungsweise; drittens die konkrete Einheit, zu welcher sich das epische Werk seiner breiten Auseinanderlegung ungeachtet in sich abzurunden hat.« (Hegel 1818–29/1984, S. 438, Bd. 2)

Im Kino gehen das dramatische und epische Prinzip abwechselnd ineinander über oder überlagern sich sogar, z. B. wenn die Figuren noch agieren (dramatische Aktion) und die Filmmusik bereits auf die epische Totalität anspielt und die Situation in einen größeren Kontext stellt. Für das Publikum kann durch die unterschiedlichen Modi eine jeweils andere Rezeptionshaltung entstehen. Rezeptionshaltungen sind entscheidend für die Plausibilität und Aufschlüsselung der Handlung. Diese Beobachtungen sind grundlegend, betreffen auch die Wahl der Terminologie zur Analyse von Filmmusik und rechtfertigen eine noch etwas weitergehende Erläuterung der Erzählmodi.

Im Film wechseln sich nicht nur beide Modi miteinander ab, sondern sind noch zusammen mit lyrischen Erzählmitteln wirksam. Jedoch können die drei Modi im Film weniger klar voneinander abgegrenzt werden als in Theater und Literatur. Dies zeichnet die Dramaturgie des Films auf grundlegender Ebene aus. Wesensmerkmal filmischer Erzählinstanzen ist demnach ihre Ambivalenz, die sich im flexiblen Umgang mit den Erzählmodi dramatisch, episch und lyrisch zeigt. Filmmusik gibt nicht selten Anhaltspunkte dafür, wie ein Bild oder eine Aktion verstanden werden soll, welche narrative Bedeutung ein Vorgang, ein Bild oder Dialogsatz haben kann, speziell dann, wenn dass Dargestellte etwas anderes meint, als es zeigt, d. h. als Metapher verstanden werden sollte, wie im lyrischen Prinzip des Erzählens.

3. Lyrisches Prinzip: Das Konstitutive des lyrischen Prinzips sind die inneren Anschauungen, Emotionen und Assoziationen aus subjektiver Sicht eines Autors bzw. einer Autorin. Es werden mehr die Zustände und Empfindungen präsentiert als Vorgänge geschildert. Das Erzählte bzw. Gezeigte ist allegorisch oder metaphorisch gemeint, d. h. als bildhafter Vergleich, der lange Umschreibungen unnötig macht oder Bedeutungslücken schließt. Die Mittel des Lyrischen sind keiner raumzeitlichen Ordnung verhaftet, sondern durch Zeitlosigkeit, Rhythmus (z. B. Versmaß), Symmetrien usw. gekennzeichnet und strukturiert.

Im Lyrischen Erzählen wird der Anspruch auf Objektivität und Allwissenheit, der gerade in der Totalität des Epischen steckt, oder auf Authentizität sowie das Naturalistische, das der Zeigehandlung im dramatischen Modus anhaftet, aufgegeben. Charakteristisch sind auch die gefühlte Zeitlosigkeit – ganz im Gegensatz zum prozessorientierten dramatischen Modus oder dem raffenden oder weitschweifigen Gestus des epischen Erzählmodus. Bei Platon ist schon zu lesen, dass im lyrischen Modus (dithyrambos) der Dichter selbst zu hören sei, im Drama der Dichter hinter seinen Figuren verschwinde und im Epos die Rede des Dichters mit den handelnden Figuren kombiniert werde (Platon, S. 394 a–c, 3. Buch).

Lyrische Mittel im Film sind durch Auswahl und Anordnung von Bildern, Sprache, Musik und Ton erkennbar, die nicht auf Figuren oder Handlungen, sondern mehr auf die Filmautoren und ihre Ansichten oder Assoziationen verweisen. Logik und Prozessualität werden ersetzt durch sinnbildhafte Assoziation und Dehnung eines Moments, um Bedeutung und Tiefe von Gefühlen oder Auffassungen auszuloten. Tarkovskijs Auffassung von filmischer Poesie scheint zu einem großen Teil vom lyrischen Prinzip geprägt zu sein, auch wenn er selbst gegenüber den Mitteln des Lyrischen Vorbehalte formuliert hat:

»Der poetische Film bringt in der Regel Symbole, Allegorien und ähnliche rhetorische Figuren dieser Art hervor. Und ebendiese haben nun nichts mit jener Bildlichkeit gemeinsam, die die Natur des Films ausmacht.« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 98)

Seine Werke zeigen eine »poetische Logik«, die im hier verwendeten System der Unterscheidungen der Poesie als zum großen Teil »lyrisch« bezeichnet werden müsste. Poesie versteht Tarkovskij nicht als Gattungsbegriff, sondern als »eine Weltsicht, eine besondere Form des Verhältnisses zur Wirklichkeit« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 35), die der »Banalisierung der komplexen Lebensrealität«, die nach seiner Meinung durch die Logik der klassischen Dramaturgie entsteht, am ehesten entgegenwirken könne.26

Schon allein die fotografische Objektivität der filmischen Abbildung birgt in sich die Gefahr der Banalisierung. Formalisierungen der Dramaturgie vergrößern aber zweifellos diese Gefahr auf einer weiteren Ebene. Die »poetische Logik« stellt hierzu eine Alternative dar:

»Doch es gibt auch andere Möglichkeiten zur Synthese filmischer Materialien, bei der das Wichtigste die Darstellung der Logik des menschlichen Denkens ist. Und in diesem Fall wird dann sie die Abfolge der Ereignisse und ihre Montage, die alles zu einem Ganzen zusammenfügt, bestimmen. […] Meiner Meinung nach steht die poetische Logik den Gesetzmäßigkeiten der Gedankenentwicklung wie dem Leben überhaupt erheblich näher als die Logik der klassischen Dramaturgie.« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 33)

Die Unterscheidung zwischen dramatischen, epischen und lyrischen Modi des Erzählens findet sich prinzipiell schon in der Antike. In Hegels Vorlesungen zur Ästhetik begegnet uns diese Unterscheidung ebenfalls.27 Das Konzept der Erzählmodi kann auch auf den Film angewandt werden, der erzähltheoretisch sowohl aus dem Drama als auch aus dem Roman, außerdem aus anderen literarischen Gattungen seine Mittel nimmt. Hegels Ausführungen sind nicht nur auf die Dichtkunst beschränkt, sondern betreffen die Grundprinzipien aller Künste. Sie eignen sich aus dieser Sicht auch für die Übertragung auf Filmdramaturgie, da es zum Wesen des Films gehört, die Mittel verschiedener Kunstformen in besonderer Weise integrieren zu können.28 So werden dramatische Darstellung, epischer Bericht und lyrische Prinzipien mit den visuellen und auditiven Mitteln des Films kreiert und in Kombination, sich gegenseitig ergänzend, für Strukturen und Wirkung des filmischen Erzählens bedeutsam.

Auf die Filmdramaturgie haben nicht nur die Dramentheorien und Modelle von Aristoteles und weiteren klassischen Autoren, von Lessing, Freytag und anderen Einfluss genommen, sondern auch das aus der Mythenforschung des 20. Jahrhunderts kommende Modell der Heldenreise.29 Campbell und Frye (Campbell und Frye 1949) bilden mit dem Modell der Heldenreise etwas ab, das Filmschaffende in vielfältigen Varianten bewusst oder intuitiv nutzen, und lieferten zugleich Analyse- wie Strukturvorgaben, die für moderne Varianten der Filmdramaturgie anwendbar sind. Ihr Modell ist aus der tiefenpsychologischen Sicht auf die Bauform von Märchen30 und mythologischen Geschichten entstanden und verbindet Struktur und Psychologie in der für Dramaturgie bedeutsamen Weise, die das Publikum als Zentrum der Erzählstrategien sieht: Die Rezipierenden können nachvollziehen, wie eine Figur stellvertretend die Stationen der Heldenreise durchlebt und mit ihnen essenzielle, immanente und transzendente Erfahrungen simuliert werden.31

In der Filmdramaturgie sind pragmatisch ausgerichtete Strukturmodelle wie das 3-Akt- bzw. 5-Akt-Modell geläufig, aber auch ein sogenanntes 8-Sequenzen-Modell.32 Niedergeschlagen hat sich dies inzwischen in etlichen Fachbüchern zum Verfassen von Drehbüchern, z. B. von Syd Field (Field 1979) und anderen.33 Christopher Voglers Buch (Vogler 1998) zeigt prominent, wie die epischen Anteile der Heldenreise und die dramatischen Anteile der 3-Akt-Struktur nach aristotelischem Vorbild für den Film miteinander kombiniert werden können.

Die Autorinnen und Autoren von DramaQueen34, die einen pragmatischen, auf das Schreiben für Film fokussierten Zugang zur Thematik haben, formulieren folgende Definitionen von Dramaturgie. Sie bauen erkennbar auf historisch überlieferten Prämissen auf:

»Dramaturgie ist die Lehre der Auswahl und Anordnung erzählerischer Mittel zur Darstellung einer Geschichte. Als Technik des Geschichtenerzählens basiert sie auf Analysen von Erzählungen. Seit der Antike begannen sich die Erkenntnisse über Elemente und Bauformen von Mythen, Sagen, Märchen und Dramen zu Maximen zu verdichten. Auf diese Weise kristallisierten sich überkulturelle, mit dem menschlichen Bewusstsein korrespondierende Erzählmuster heraus. Aristoteles stellte erstmals einen Zusammenhang her zwischen der Art, wie eine Geschichte erzählt wird, und dem Empfinden sowie der Lebenserfahrung des Zuschauers. Er machte damit den Rezipienten zum Bezugspunkt der Dramaturgie. […]

Filmdramaturgie liefert die Prinzipien für eine möglichst ›effektvolle‹ Komposition einer Geschichte. In einem Film stehen die Narrationskanäle Bild und Ton zu Verfügung, wobei sich die tonale Ebene wiederum in Sprache, Geräusche und Musik unterteilt. Daraus ergeben sich vielfältige erzählerische Möglichkeiten, die das Medium Film von allen räumlichen und zeitlichen Grenzen befreien. Dieser prinzipiellen Schrankenlosigkeit setzt Dramaturgie die Forderung nach Selektion und Effektivität entgegen.«35

Wenngleich sich die Terminologie der verschiedenen Modelle der klassischen Dramaturgie und die unterschiedlichen Ansätze zur Drehbuchliteratur voneinander unterscheiden, finden sich auffallend viele Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Strukturmodellen, egal ob sie in Akten, Stationen oder Sequenzen organisiert sind. Vergleicht man die Modelle miteinander, zeigt sich, dass vergleichbare Ereignismomente mit prinzipiell gleicher dramaturgischer Qualität in ihrer zeitlichen Organisation bezeichnet und angeordnet werden, wie Becker (Becker 2014) bereits feststellte.36 (s. Abb. 1)

Berücksichtigt man die vielen Formen »offener« Dramaturgien im Kino, müssen die Schematisierungen verschiedener Drehbuchratgeber trotz teils erhellender Kategorien fast zwangsläufig als eine Reduktion der filmischen Vielfalt erscheinen. Auch entgegen vieler Modelle für die geschlossene Form sind z. B. plot points (Dreh- oder Wendepunkte der Handlung, die unumkehrbar sind und die nachfolgende Handlung richtungsgebend beeinflussen) nicht nur in bestimmten Akten oder Phasen eines Sequenzmodells anzutreffen, sondern können an vielen Stellen auftreten.

Abb. 1: Vergleichbarkeit der dramaturgischen Strukturmodelle (nach Campbell, Aristoteles, Freytag, Field und Vogler)

Robert McKee versucht neben konventionellen Strategien (»archeplot«) auch offene (»miniplot«) bzw. nichtlineare Dramaturgien (»antiplot«) zu erfassen (McKee 1997). Das von Peter Hanson und Paul Herman 2010 veröffentlichte Buch Tales from the Script (Hanson und Herman 2010) lässt 50 Drehbuchautorinnen und -autoren selbst zu Wort kommen. Die Herausgeber belegen so Vielfalt, Komplexität und gegenseitige Beeinflussungen unterschiedlicher Kino- bzw. Erzähltraditionen und widerlegen zugleich die vermutlich aus kommerziellen Gründen erwachsene Idee vom erfolgreichen Drehbuch, das lediglich auf schematisierten Mustern beruhen würde, und die von den meisten Drehbuchratgebern aufrechterhalten wird.37

Daneben finden sich deutschsprachige Veröffentlichungen zur Filmdramaturgie in der neueren medienwissenschaftlichen Literatur, die einen starken Einfluss der nordamerikanischen Drehbuchratgeber zeigen oder eine daran orientierte Filmanalyse betreiben (Eder 1999/2007, Krützen 2004, Beil, Kühnel und Neuhaus 2012), selten mit ausgeprägter praktischer Erfahrung im Hintergrund (Wagner 2015). Stutterheim und Kaiser (Stutterheim und Kaiser 2009/2011) sowie Lang und Dreher (Lang und Dreher 2013) wenden erstmals das bereits in der Musikwissenschaft (Dahlhaus 1992) und in der Theaterwissenschaft (Rohmer 2000) angewandte Konzept zur Differenzierung zwischen expliziten und impliziten Dramaturgieanteilen auf Filmdramaturgie an.38 Einen meist nur am Rande betrachteten Teil von Filmdramaturgie, die Erschaffung und Entwicklung von Figuren, rückt Jens Becker (Becker 2012) ins Zentrum.

Für den englischsprachigen Raum ist Bordwells (Bordwell 1985) und Thompsons (Bordwell und Thompson 1979) Theorie zum Film als viel zitierter Ansatz zur Filmdramaturgie zu nennen. Bordwell und Thompson kommen allerdings ohne den Terminus »Dramaturgie« (dramaturgy) aus und verwenden den Begriff narration für die in weiten Teilen vergleichbaren Sachverhalte. Sie akzentuieren durch die Bezeichnung narration die im Werk angelegte strategische Informationsdistribution und kognitive Arbeit während der Rezeption.39

Bei der Frage nach der Unterscheidung zwischen der Dramaturgie fiktionaler und dokumentarischer Filme muss festgestellt werden, dass im Gegensatz zur Spielfilmdramaturgie kaum Literatur zur Dramaturgie des Dokumentarfilms vorliegt.40 Bei genauerer Betrachtung weisen beide Gattungen grundsätzlich gesehen viele Gemeinsamkeiten auf:

»Ein Autor/eine Autorin will aus einem spezifischen Anliegen heraus über einen von ihm oder ihr gewählten Ausschnitt der Wirklichkeit erzählen – mit wirklichen Menschen und mit Materialien, die vor Ort aufgenommen werden. Und: Erzählen ist – im Unterschied zur Mitteilung und der Rede – eine künstlerische Tätigkeit. Von der Regie und Kameraperson werden für einen solchen Film zunächst Motive ausgewählt, die genau dieses Anliegen auf die treffendste und bildhafteste Weise vermitteln. Ein Dokumentarfilm ist kein spiegelndes Dokument der Wirklichkeit – auch nicht der des Direct Cinema, das oft als vermeintliche Folie dafür angeführt wird.« (Stutterheim 2011, S. 2)

Auch die Analyse von Filmmusik im Dokumentarfilm bestätigt, dass grundlegende Gemeinsamkeiten in der Dramaturgie fiktionaler und dokumentarischer Filme bestehen.41 Wichtige Unterschiede sind z. B. darin zu finden, wie konkret ein Drehbuch verfasst ist, welche Intentionen die Filmschaffenden haben und dass im Dokumentarfilm eine Verantwortung gegenüber den Protagonisten besteht, deren Leben nicht nur der Vorwand für eine Geschichte ist. Interessant wäre die Frage, wie Aristoteles den Dokumentarfilm bewertet hätte. Vermutlich würde er seine Unterscheidung von Geschichtsschreibung und Poesie heranziehen: Die Mittel sind ganz ähnlich, aber der eine ahmt die Welt nach, wie sie ist, die Poesie ahmt die Welt nach, wie sie aus Sicht der Dichtenden sein sollte.

Exkurs 1: Geschlossene und offene Form

Die in Fachkreisen gebräuchlichen Bezeichnungen »geschlossene« oder »offene Dramaturgien« gehen zurück auf die Typologie von Dramen in geschlossener oder offener Form von Volker Klotz (Klotz 1960/1999). Sein Modell, das überhistorische Stiltendenzen aufzeigen soll, kann prinzipielle Unterschiede auf den verschiedenen Ebenen Handlung, Zeit, Ort, Figuren, Komposition und Sprache verdeutlichen. Für die Filmdramaturgie wurde das Konzept von offener und geschlossener Form von Kerstin Stutterheim adaptiert (Stutterheim und Kaiser 2009/2011, Stutterheim 2015). Dass das Modell von Klotz kritisch gesehen und bzw. angewendet werden müsse, bemerkt und begründet B. Asmuth (Asmuth 2004, S. 48–50). Eine Übertragung auf die Filmdramaturgie gelingt nur mit Berücksichtigung filmästhetischer Prämissen, zu denen auch die Klangschicht mit der Filmmusik gehört.

Als geschlossene Form werden von Klotz Aufbau und Ausformung von Dramen bezeichnet, die eine in Struktur und Deutung vollständige Erzählung ausformen. Die Erzählweise orientiert sich hierbei meist auf eine Hauptfigur und einen Kontrahenten und bezieht gegebenenfalls Begleiterfiguren ein. Nebenhandlungen sind der Haupthandlung klar untergeordnet. Die geschlossene Form organisiert die Handlung so, dass sie exemplarisch oder als Ausschnitt für das Thema steht und die aristotelischen Ideale von Überschaubarkeit von Handlung, Zeit und Ort, die Unversetzbarkeit der Teile und die logische Aufeinanderfolge von Anfang, Mitte und Schluss größtenteils realisiert. Eine Szene hat ihre Bedeutung immer im Hinblick auf das Ganze.

Die offene Form erzählt vom Thema dagegen in lückenhafter Weise. Eine Szene steht für sich selbst und kann in der Reihung als Variante oder als Kontrast zu anderen Szenen gesehen werden. Das eigentliche Thema muss hinter der Handlung erst abgeleitet werden. Die Handlung kann unvermittelt beginnen, sie kann statt logisch z. B. assoziativ angeordnet oder gereiht werden und muss nicht zwingend in sich abgerundet sein.

»Das Ganze in Ausschnitten: Die äußere Handlung drängt über die Grenzen, die durch Anfang und Ende des Dramas gegeben sind, hinweg. Das Geschehen setzt unvermittelt ein, und es bricht unvermittelt ab. Innerhalb dieser Scheingrenzen verläuft es nicht kontinuierlich schlüssig, sondern punktuell interruptiv, nicht einer Entwicklung folgend, sondern Gleichwertiges reihend.« (Klotz 1960/1999, S. 217)

Außer Handlungskomposition, Zeit und Raum der Geschichte systematisiert Klotz auch typische Figurenkonstellationen als zur geschlossenen oder offenen Form gehörend: Figuren in geringer vs. großer Zahl, Ständeklausel vs. keine soziale Beschränkungen, eindeutige Bedürfnisse vs. komplexes Zusammenspiel von Innen- und Außenwelt. Die Konflikte der Figuren werden in der offenen Form ausgestellt und nicht wie in der geschlossenen Form als spannungssteigerndes Element einer Kausalkette genutzt. (s. Abb. 2)

Abb. 2: Zentrale Aspekte im Modell der geschlossenen und offenen Form im Drama nach Klotz (nach: Jochen Vogt, Einladung zur Literaturwissenschaft [W. Fink Paderborn 2008]).

Offene Formen und Dramaturgien lassen sich weniger gut systematisieren, haben aber gemeinsame Merkmale: Beginn und Ende sind voraussetzungslos bzw. nicht abgeschlossen. Lose verknüpfte Episoden werden durch Assoziationen oder Zufälle zusammengehalten und gehören mehr oder weniger zu einem übergeordneten Thema. Das Publikum muss selbst aktiv werden und Sinn stiftend das Geschehen deuten oder es einer übergeordneten Idee zuordnen.

Dieser Teilaspekt des Modells zeigt Gemeinsamkeiten mit dem Konzept des »offenen Kunstwerks« von Umberto Eco, mit dem die »offene Form« aber nicht gleichgesetzt oder verwechselt werden darf. Hinter der Offenheit des Kunstwerkes stehen für Eco die besonderen Möglichkeiten der Teilhabe: