Mut für zwei - Julia Malchow - E-Book

Mut für zwei E-Book

Julia Malchow

0,0
10,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

15 000 Kilometer allein mit Baby von München durch Sibirien und die Mongolei bis nach Peking auf der Suche nach einem individuellen zeitgemäßen Verständnis des Mutterseins – auf diese Reise begibt sich Julia Malchow mit ihrem 9 Monate alten Sohn Levi. Denn: Reisen ist für sie mehr als Unterwegssein: der Schlüssel zu neuen Ideen und zum Einssein mit sich selbst. Und genau danach sucht sie nach der Geburt von Levi, der erst mal alles in Julia Leben auf den Kopf stellt. Aber funktioniert Reisen in abgelegene Winkel der Welt auch mit Kind? Ein großes Abenteuer, das mit gängigen Familienvorstellungen aufräumt und den Kopf frei macht für die Welt - und für zu Hause.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.malik.de

Mit 32 farbigen Fotos und einer Karte

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen und erweiterten Taschenbuchausgabe Februar 2015

ISBN 978-3-492-96208-7

© Piper Verlag GmbH, München 2013 Covergestaltung: Teresa Gessert Covermotiv und Fotos: Julia Malchow Karte: Cartomedia, Karlsruhe Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

VORSPIEL: DIE LETZTEN RUHIGEN TAGE?!?

Ostgrönland, auf dem Inlandeis, im Juli Vier Monate vor Levis Geburt

Ich halte das Satellitentelefon mit beiden Händen fest umschlungen. Markus wirft das Gewehr über seine rechte Schulter.

Als wir nach fünf sonnigen Tagen und taghellen Nächten im zivilisationslosen Ikertivag am Rande des grönländischen Inlandeises um 16.30Uhr an der verabredeten Stelle unser letztes aufgewärmtes Trockenessen verspeisen und noch keine Motorengeräusche hören, bleiben wir zunächst entspannt. Als um 17.15Uhr immer noch kein Ben in Sicht ist, werden wir unsicher. Als sich um 17.30Uhr der Himmel schwarz färbt und über dem Meer Regen und Sturmwolken aufziehen, zücke ich das Satellitentelefon und wähle Roberts Nummer. Keine Antwort. Meine Unsicherheit wächst. Vielleicht ist er gerade auf der Toilette? Ich wähle erneut. In Tasiilaq, einem 1800-Seelen-Bilderbuchdorf an der Küste Ostgrönlands – rote, blaue und grüne Holzhäuser auf braunen Felsen vor grün-blauem Fjord – antwortet niemand. Mann! Ich wähle erneut. Endlich höre ich Roberts Stimme.

Robert Peroni hatte mit seiner Durchquerung des grönländischen Inlandeises ohne Hilfsmittel an der breitesten Stelle 1983 Berühmtheit erlangt und weltweit weitere fünfzig Expeditionen geleitet. Nach der Trennung von seiner Frau war er von Südtirol nach Tasiilaq gezogen. Seitdem steht er den wenigen Touristen, die sich in die gewaltige ostgrönländische Stille aus Eis, Fels und Meer verirren, bei der Planung und Durchführung ihres persönlichen – mal kleineren, mal größeren – Expeditionstraums zur Seite. So auch meinem Mann Markus und mir. Dachte ich zumindest.

»Habt ihr uns vergessen?«, lache ich erleichtert in das Telefon.

»Scheiße, scheiße, scheiße«, dröhnt es mir entgegen. »Warum seid ihr nicht mit der Gruppe, die heute Morgen zum Kajaken da war, zurückgekommen?«

Ich muss mich hinsetzen. »Welche Gruppe? Wir waren auf dem Inlandeis unterwegs, weil wir 16Uhr mit Ben ausgemacht hatten!«, brülle ich zurück. Ich bin stinksauer.

»Scheiße, scheiße, scheiße«, höre ich wieder.

»Überleg dir was, ich rufe in zwei Minuten wieder an«, sage ich und lege auf.

Markus schaut mich halb erwartungsvoll und halb verunsichert an.

»Die haben uns vergessen«, sage ich ungläubig. Die schwarzen Wolken sind mittlerweile am Eingang unseres Fjordarms angekommen. Ein kalter starker Wind weht um unsere nun weißen Nasen.

Kurz vor unserem Aufbruch vor fünf Tagen hatte Robert Neuigkeiten von dem vor der Küste kreuzenden Forschungsschiff, der Alfred Wegener, zu berichten gehabt. Die Besatzung hatte Eisbären auf einer Eisscholle gesichtet, die wenige Kilometer von Tasiilaq entfernt in unsere Richtung driftete. Kommentarlos hatte Robert Markus und mich daraufhin in das Schießen mit einer oldshatterhandigen Blechbüchse eingewiesen und uns erklärt, dass Eisbären die Angewohnheit pflegen, ihre Beute mehrere Tage lang zu umkreisen. Uns würde also genügend Zeit bleiben, um per Satellitentelefon das Boot für einen unblutigen Rückzug zu bestellen.

Nach einem erfolglosen Test des Satellitentelefons hatte Robert gemeint, dass es auch ohne ginge, da Eisbären in der Regel den Kontakt zu Menschen mieden. Entgegen meiner sonstigen Gelassenheit auf Reisen hatte ich auf einem Ersatzgerät bestanden, das beim Wählen der Büronummer auch tatsächlich das Telefon auf Roberts Schreibtisch zum Klingeln gebracht hatte.

Eingemummelt in Skiunterwäsche, wärmendes Fleece und wind- und wasserabweisende Apexhosen und -jacken, hatte uns Ben wenig später in einem Speedboot in weit geschwungenen Kurven vorbei an Eisbergformationen chauffiert, die an riesige Mäuse, senkrecht aus dem Wasser herausspringende Wale oder in Schräglage geratene Hochhäuser erinnerten. Manchmal war das Blau des Meeres komplett verdeckt von riesigen weißen Eispuzzleteilen. Immer wieder hatten wir keine 50Meter von unserem Boot entfernt Wale ausmachen können. Dann hatte Ben den ruppigen Flug des Bootes über das Eismeer für einige wunderbare stille Momente mit den Riesensäugern unterbrochen. Einmal bildete ich mir ein, dass einer der Wale meinen Blick erwiderte. Bestimmt ein gutes Zeichen, dachte ich, und eine warme Welle wogte durch meinen trotz mehrerer Kleidungsschichten frierenden Körper.

Nach zwei Stunden waren wir in Ikertivag gelandet, am Rand des grönländischen Inlandeises. Sorgfältig hatten wir unter Bens wachsamen Augen unsere von Robert zusammengestellte Ausrüstung für die bevorstehenden Tage zum wiederholten Mal kontrolliert: Zelt, Schlafsäcke, Isomatten, wetterfester Seesack mit unseren Klamotten, meine Kamera, Lebensmittelkiste mit Gaskocher und Campinggeschirr, zwei Kajaks, zwei Eispickel, Satellitentelefon, Ersatzbatterien, Gewehr, sechs Patronen.

Ben hatte uns geraten, Trinkwasser von den Eisblöcken, die am Ufer anlandeten, zu gewinnen, und sich mit dem Versprechen verabschiedet, uns in fünf Tagen an derselben Stelle um 16Uhr wieder einzusammeln. Dann hatte er sich umgedreht, war in sein motorisiertes Hightechboot gesprungen und davongebraust.

Und dann war alles still gewesen.

Zwei Tage lang hatten wir uns durch das weiße Gebirge treiben und von ihm berauschen lassen. Wir hatten Urzeitfelsen erklommen, das wellen- und eisschollendurchzogene Meer bestaunt, waren mit unseren Kajaks viel zu nah an die Gletscherabbruchkante herangepaddelt und einmal nur knapp den herunterkrachenden Eismassen entkommen. Einen ganzen Tag hatten wir vor unserem Zelt verbracht, die Schönheit dieser unwirklichen und lebensfreien Landschaft bestaunend. Eine karge, schroffe Form der Schönheit, die mit einer großen Selbstverständlichkeit einhergeht.

Vor fünf Tagen hat uns die Stille vor dieser Kulisse beflügelt. Jetzt wirkt die Landschaft gleichgültig und unheimlich: vor uns das weiße Meer des Inlandeises, hinter uns urzeitlich anmutende steil ansteigende Felsen in allen erdenklichen Braun-, Grau- und Orangetönen. Rechts schiebt sich ein Gletscher zwischen die Eismassen und das türkisblaue Fjordwasser. Geräuschvoll brechen im Zehnminutentakt haushohe Eiswände von der Gletscherkante in den Fjord und zaubern kleine Tsunamis auf den danach wieder entspannt dahindösenden Fjordarm. Sonst nichts. Keine Vögel, keine Tiere. Keine Pflanzen. Kein Boot. Kein Ben. Nichts. Einzig schwarzlila Wolken, ein zunehmend unangenehm kalt wehender Wind und näher rückender Regen. Meine Beine zittern. Nicht aus Angst vor den Eisbären, die irgendwo da draußen unterwegs sind. Und auch nicht wegen der Tatsache, dass wir bis auf zwei Müsliriegel unsere Vorräte komplett aufgegessen haben. Es ist auch nicht die Angst vor dem aufziehenden Sturm oder die Ungewissheit, wann durch Zufall jemand im Kajak vorbeikommt. Es sitzt tiefer.

»Wie würden wir uns wohl fühlen, wenn wir nicht auf dem Satellitentelefon bestanden hätte?«, frage ich Markus und versuche ein Lächeln.

»Das haben wir nur wegen Levi mitgenommen«, antwortet der.

120Minuten später steigen wir in peitschendem Regen in Bens Zodiak, 95Minuten und einige gebrochene Geschwindigkeitsrekorde sowie spektakuläre Eisbergausweichmanöver und Sprünge über meterhohe Wellen danach sehen wir die bunten Holzhäuser Tasiilaqs am Horizont auftauchen.

Bens Gesicht entspannt sich, und ich brülle Markus gegen den Sturm und das aus allen Richtungen auf uns herabprasselnde Meeres- und Regenwasser ins Ohr: »Ob wir jemals wieder so reisen werden?«

Eine halbe Stunde später sitze ich mit einer Tasse Tee in der Hand und den Füßen auf der glühenden Heizung unseres Zimmers im Hotel Angmagssalik und beobachte, wie Blitze den gewitterverhangenen Himmel durchzucken.

»In vier Monaten sind wir zu dritt«, sage ich in die Dunkelheit und streichle über meinen runder werdenden Bauch.

1

DAS PROJEKT: TRANSSIBIRISCHE EISENBAHN MIT BABY – IM ZWEIFEL FÜR DIE GRÖSSERE VERÄNDERUNG

Die Reisevorbereitungen: Am besten vergessen Sie das wieder!

»Vergessen Sie das!«, riet der erste deutsche Reiseveranstalter für die Transsibirische Eisenbahn und erklärte mir, dass selbst für das kommende Jahr die Plätze im Zug bereits knapp seien. »Allein für das Besorgen der Visa für Russland, die Mongolei und China benötigen Sie mindestens sechs Wochen«, wollte mich der zweite deutsche Spezialist für Transsibreisen entmutigen.

»Wir besorgen Ihnen nur die Zugtickets, wenn Sie die komplette Reise von uns organisieren lassen und dabei aus unseren vorgefertigten Bausteinen auswählen. Wir haben da für die Mongolei zum Beispiel drei tolle Gruppenbausteine mit deutschsprachiger Reiseleiterin«, versuchte mich der dritte deutsche Transsibanbieter zu erpressen. Keine individuelle Reiseplanung möglich? Zwangskauf? Nicht mit mir!

Irgendwie scheinen Reiseveranstalter, die in stark planwirtschaftlich geprägten Ländern arbeiten, den Gedanken an Kundenorientierung und individuelle Reiseverläufe nur allzu gerne an den Nagel zu hängen. Je höher der Standardisierungsgrad, desto größer die Marge für den Veranstalter. Und desto weniger nervige Kundenextrawünsche. Und desto schneller und einfacher der Reiseverkauf. Desto weniger qualifizierte und somit billigere Mitarbeiter sind notwendig.

Aber ich wollte meine Wünsche nicht möglichst leicht und billig abwickeln lassen. Ich suchte eine Reise nach meinem Geschmack. Aber hatte ich wirklich eine Wahl? Es war Anfang August. Ich wollte mindestens zwei Monate unterwegs sein. Allerspätestens Anfang Oktober, mit weniger Glück schon Mitte September, fallen die Temperaturen in der Mongolei auf 20 bis 40Grad minus. Planmäßig würden wir in unserer fünften Reisewoche in der Mongolei ankommen. Drei Wochen wollte ich in der Mongolei verbringen – je eine Woche für die meines Wissens beeindruckendsten mongolischen Landschaften: Grassteppe, Sandsteppe und Wüste. Spätestens um den 20.September herum sollten wir in der Mongolei ankommen, um hoffentlich einen verspäteten Wintereinbruch und somit nachts erträgliche Temperaturen zu erleben. Was wiederum hieß, dass wir spätestens um den 18.August unsere Reise antreten sollten: Mir blieben demnach knapp zwei Wochen für die Vorbereitung unserer Reise. Und das auch nur für den Fall, dass ich bis morgen jemanden finden würde, der willens war, diese Herausforderung anzunehmen.

Laut Expertenschätzung benötigte man also allein für die Besorgung der Visa für Russland, die Mongolei und China sechs Wochen. Na toll.

Außerdem wollte ich trotz Zeitnot nicht bei touristischen Massenanbietern buchen. Diese drücken ihre Reisen von der Stange oft viel zu billig in den Markt, um die Auslastung der eigenen Kapazitäten zu gewährleisten. Kleine und mittelständische Unternehmen aus den jeweiligen Regionen, die liebevolle und authentische Leistungen anbieten und wirklich ihr Land zeigen wollen, haben dagegen kaum eine Chance. Auslastung vor Kundenorientierung. Zumindest bei den Reisenden, die zuerst auf den Preis schauen und in fremden Ländern die scheinbare Sicherheit einer größeren Marke genießen wollen. Und das in einem Käufermarkt, in dem die Macht eigentlich bei den Kunden liegt. Unglaublich. Die Reisenden könnten viel intensivere, weil individuellere Erlebnisse haben. Mehr vom Leben. Und selbst die großen Tourismusunternehmen fahren mit dieser Strategie vielfach Verluste ein und gefährden mittelfristig Arbeitsplätze. Für mich ist diese Form der doppelten Wertvernichtung unverständlich. Das wollte ich auf keinen Fall unterstützen.

Nun holte sie mich ein, die Realität der deutschen Tourismusindustrie. Nie hatte ich mit einem Reiseveranstalter verreisen wollen – außer vielleicht mit meinem eigenen, den ich ursprünglich aus reiner Notwehr gegründet hatte. Doch nun, da ich kurzfristig mit meinem Sohn in die Transsib hüpfen wollte, schien ich keine Wahl zu haben.

Dabei wollte ich mich nicht ärgern, meinen Job mal vergessen. Und überhaupt: Mein Anliegen, in zwei Wochen mit meinem zehn Monate alten Sohn aufzubrechen und mit der Transsibirischen Eisenbahn auf der transmongolischen Route in zwei Monaten bis nach Peking zu reisen, hatte ich bei jedem Gespräch sehr freundlich vorgetragen.

Ich brauchte einen Experten, um die Hürden der russischen Bürokratie sicher und schnell zu umschiffen. Ich hatte keine Zeit, mich um die auf den ersten Blick kompliziert wirkende Buchung der Zugticketteilstrecken, Unterkünfte, Einladungen und Transfers selbst zu kümmern. Geschweige denn, bei den Botschaften der drei Länder persönlich vorstellig zu werden. Außerdem wollte ich nicht auf Standardrouten reisen – umso mehr brauchte ich einen Reiseplanungspartner, der mich verstand und der, wie ich für die Regionen Himalaja, Südamerika und Afrika, ein besonderes Reiseerlebnis vor den einfach und schnell gemachten Profit stellt.

Eigentlich störte mich schon die Tatsache, dass ich nicht einfach zum Bahnhof gehen und in den Zug einsteigen konnte, aussteigen, wo es mir mein Bauchgefühl riet, so lange bleiben, wie es Levi und mir taugte. Einfach schauen, was passierte. Meine Kurzrecherche im Internet und in diversen Transsibreiseführern hatte ergeben, dass ich für Russland eine festgelegte und durchgebuchte Reiseroute sowie Einladungen von den jeweiligen Hotels vorweisen musste, um ein- und herumreisen zu dürfen. Für die Mongolei war diese feste Reiseroute zwar nicht gesetzlich vorgeschrieben, wurde aber stark empfohlen, wenn man vor Ort nicht viel Zeit mit Organisieren verlieren wolle. Denn: Demokratie und freie Marktwirtschaft waren in der Mongolei noch jung und unerfahren. Touristische Unternehmen, die seit Jahrzehnten stark planwirtschaftlich agierten, so hieß es, täten sich schwer, ihr Verhalten plötzlich um 180Grad zu verändern und auf den Kunden auszurichten. Außerdem sei die touristische Saison im September so gut wie vorbei. Die Gefahr, vor Ort niemanden mehr anzutreffen, der mich unterstützen wolle, sei nicht zu unterschätzen. Da es in der Mongolei kaum Straßen gebe, sei man auf fremde Hilfe beim Entdecken der Vielfalt des Landes angewiesen. Es sei denn, man wolle sich nicht mehr als einige Kilometer von Ulan-Bator entfernen oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln reisen. Die fuhren aber langsam, hielten wegen technischer Defekte oft außerplanmäßig und waren meist überfüllt. Nur hinsichtlich der Wahl meiner Reiseroute in China war ich frei. Lediglich eine Hoteladresse für meine erste Station müsste ich in den Visumsantragsformularen angeben.

Ich entschied, spielerisch an die Planerei heranzugehen: Ich war bereit, mich für Russland und die Mongolei vorab auf eine Route festzulegen. Wollte aber alternative Routen recherchieren und dann vor Ort entscheiden, ob ich von dem einmal gebuchten Plan abweichen wollte oder nicht. Auch die generelle Möglichkeit der Planabweichung wollte ich vor Ort austesten: Würden mich russische und sibirische Hotels überhaupt aufnehmen ohne vorherige Anmeldung durch einen Reiseveranstalter? Würde ich vor Ort Menschen finden, die unsere spontanen Reisewünsche erfüllen wollten? Oder drohte Levi und mir im Fall der Planabweichung die russische Sicherungsverwahrung aufgrund frevelhaften Verhaltens? War es ratsam, im Rahmen eines dreiwöchigen Mongoleiaufenthaltes spontane Abweichungen der Reiseroute mit den Menschen vor Ort zu besprechen? Könnte ich mich verständlich machen? Oder träfe ich auf taube Ohren, weil so etwas einfach nicht vorkam? Weil die Mehrzahl der Besucher entweder in vorgefertigten Gruppenprogrammen durch das Land brausten oder allein im eigenen Bus im Rahmen monatelanger Auszeiten?

War es nicht mit dem kleinen Levi ein unverzichtbares Sicherungsnetz, die Route zumindest grob vorab geplant zu haben? Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit Levi mir unterwegs für organisatorische Kapriolen lassen würde. Und irgendwie fühlte es sich bei unserem abenteuerlichen Vorhaben ganz gut an, dass in den hintersten Ecken dieser Welt jemand auf uns wartete. Und dieser Jemand würde vielleicht einige helfende Hebel in Bewegung setzen, sollten wir zur vereinbarten Zeit nicht am vereinbarten Ort eintreffen? Die Strategie, mich vordergründig und formal zur Abwechslung an die Regeln zu halten und dann vor Ort zu schauen, inwiefern ich daraus ausbrechen möchte und könnte, erschien mir für unsere Mission zweckmäßig.

Hätte ich mit meinem Sohn nach Afrika, in den Himalaja oder nach Südamerika reisen wollen, hätte ich auf mein eigenes Netzwerk an Reisepartnern zurückgreifen können, deren Ziel es ist, selbst die für die meisten Menschen ungewöhnlich klingenden Reisewünsche in die Tat umzusetzen. Noch heute spreche ich mit meinem bhutanischen Partner über die Dame im Rollstuhl, die zum Chomolhari Base Camp trekken wollte. Kurzerhand wurden eine Trage gebaut und ein paar Träger mehr engagiert. Die Dame war so unendlich glücklich und stolz auf dieses Erlebnis, welches ihr die meisten Reiseveranstalter, die sie vorab kontaktiert hatte, hatten ausreden wollen. Viele Reiseunternehmer scheinen nicht zu wissen, dass sie es manchmal mit überlebenswichtigen Kundenwünschen zu tun haben. Mit lebensverändernden Geschichten, die erlebt werden wollen. Müssen.

So. Und nun musste ich ihn also finden, den Planungspartner mit individuellem Anspruch und Interesse am etwas Ungewöhnlichen: Transsib. Mit Baby. Startschuss in zwei Wochen. Ohne Gruppenanschluss.

Warum ich denn unbedingt in zwei Wochen schon los wolle, fragte der nächste Kandidat. »Weil ich mindestens zwei Monate unterwegs sein möchte. Und der Reiseführer behauptet, dass es nach Mitte September in der Mongolei kalt bis bitterkalt wird. Und ich denke, dass es mit Baby in einer Jurte bei zehn bis 20Grad minus etwas ungemütlich werden könnte«, entgegnete ich mittlerweile routiniert.

»Dann warten Sie doch, bis Ihr Sohn etwas älter ist. Das ist auch bei warmen Temperaturen viel zu gefährlich mit Baby, was Sie da vorhaben!«

Meine Frage nach der genauen Art der Gefahr blieb unbeantwortet, und somit vertagte ich wieder einmal verunsichert und verärgert die Suche nach dem perfekten Reiseplaner für uns auf den kommenden Tag.

Nachts lag ich im Bett und konnte nicht einschlafen. Ein Planungstag war verstrichen. Nichts war gebucht. Dreizehn Planungstage blieben mir. Dreizehn mal nichts blieb nichts. Was mache ich, wenn ich niemanden finde, der mich bei meinen individuellen Reisevorstellungen unterstützt?, dachte ich. Denn ich wollte ja nicht einfach nur mit der Transsib durch Sibirien und die Mongolei nach Peking. Ich wollte unterwegs so leben, wie es mir Spaß machte und guttat: mal mit Rucksack on the road sein, gefolgt von einigen Tagen Relaxen und Genießen in einer kleinen, nach Möglichkeit komfortablen oder auch luxuriösen Unterkunft, mal mit Familienanschluss in das Leben vor Ort eintauchen, um dann mit wechselnden Verkehrsmitteln – statt eines staubigen Linienbusses auch mal mit einem gecharterten Fischkutter – ohne Rücksicht auf andere Gäste und mit einem Fahrplan, der sich nach meinen und Levis Bedürfnissen richtete, weiterzuschippern. Ich wollte Abenteuer, intensives Naturerlebnis, Begegnungen mit Menschen vor Ort, Reduktion auf das Wesentliche kombinieren mit ein bisschen Verwöhnprogramm. Wenn wir durchgefroren aus der Wüste Gobi zurückkommen würden beispielsweise. Oder nach der ersten längeren und, laut Reiseveranstalter, entbehrungsreichen Zugetappe von Sankt Petersburg nach Irkutsk. Auf früheren Reisen ohne Kind hatte ich die Erfahrung gemacht, dass man bei kleinen Verwöhnpausen nicht nur dem Erlebten intensiv nachspüren kann, sondern auch Kräfte und neuen Mut für weitere Abenteuer sammelt. Und Mut brauchte ich laut der Prognosen meiner Freunde, Bekannten und der bisher befragten Transsibexperten für diese Reise. Wobei noch unklar war, wofür genau.

Welche Unterkunft und welche Erlebnisse könnten mich am Baikalsee nach überstandener erster Transsibetappe wieder aufpäppeln? Gab es in Irkutsk ein kleines Boutiquehotel, in dem ich mich vor dem spannenden und vermutlich auch anstrengenden Erlebnis Mongolei noch mal richtig entspannen konnte, mit Levi? Gab es in der Mongolei familiär geführte Jurtencamps, die einen echten Einblick in das Nomadenleben ermöglichten? Und ein komfortables Jurtencamp, in dem Levi und ich uns nach überstandener erster Mama-Sohn-Etappe in Wohlfühlatmosphäre wieder an Markus gewöhnen konnten? Levis Vater, der uns zur Halbzeit unserer Reise in der Mongolei besuchen wollte. Zum Auffüllen der Windel- und Babygläschenvorräte. Und auch so.

Meine recht konkreten Reisewünsche ratterten mir durch den Kopf – und immer wieder hörte ich dazu die Kommentare der bisher kontaktierten Spezialreiseveranstalter: »Zu kurzfristig! Alles schon ausgebucht! Sie müssen aus unseren vorgefertigten Programmen auswählen!« Es war zum Heulen. Vielleicht mache ich die Reise doch erst im nächsten Frühjahr? Warum soll ich mir den Stress antun? Reiseplanung soll doch Spaß machen! Mit dem festen Vorsatz, das Projekt Transsib morgen von meiner Agenda zu streichen, schlief ich erleichtert ein. Aber mein Körper sollte die Entspannung nur kurz genießen dürfen.

Wir wollten ja nicht nur zum Spaß aufbrechen. Wir hatten eine Mission. Eine Lösung fürs Leben musste her. Eine Idee für die Zukunft. Die mir zu Hause, in München, einfach nicht einfallen mochte. Daher musste ich los. Wir. Raus in die Welt. Auf der Suche nach  Ja, nach was eigentlich?

Transsibirische Eisenbahn mit Baby: Meine Antwort auf die gescheiterte »Mission Mutterschaf«

Kinder waren in meiner Lebensplanung eigentlich nicht vorgesehen. So sehr nicht, dass ich nicht einmal den Gedanken an ein mögliches Leben mit Kindern zuließ. Kinder halten einen vom eigentlichen Leben ab. Von der Verwirklichung der eigenen Träume. Vom Reisen. Von allem halt, was Spaß macht. Dachte ich.

Doch gerade das Reisen brauche ich wie andere Menschen ihren regelmäßigen Sonntagabendkrimi. Neue Ideen, Antworten auf wichtige Fragen und vieles mehr finde ich nur in der Bewegung, auf Reisen, in der Abgeschiedenheit faszinierender Natur. Wenn ich meine Gedanken fokussieren muss. Auf die Umgebung. Auf den nächsten Schritt. Auf das Wesentliche. All das ist, so dachte ich, durch ein Kind in Gefahr.

Mit Mitte dreißig fing ich an, diese Glaubenssätze zu hinterfragen. Zum Glück. Denn ich stellte überrascht fest, dass ich dem Gedanken an ein Kind eigentlich recht positiv und aufgeregt gegenüberstand. Es tauchte jedoch eine weitere Hürde auf: Ich hatte es nicht. Dieses Gefühl. Dieses drängende klare starke Gefühl, von dem alle, wirklich alle Frauen berichten, die ich kenne. Bei mir hingegen: nichts. Gar nichts. Ich hatte es einfach nicht: dieses Gefühl, unbedingt Mutter werden zu müssen.

Und nun? Mein Leben war auch ohne Kind schön. Ich war nicht auf der Suche nach einem neuen Sinn des Lebens. Also wartete ich, dass sich dieser innere Drang nach einem Kind vielleicht doch noch einstellen würde. Denn ohne kann ich unmöglich eine Mutter werden. Zumindest keine gute, richtige Mutter. So dachte ich, und das quälte mich sehr.

Nach zwei Jahren des erfolglosen Wartens traf ich eine Entscheidung: Ich kann auch ohne dieses Gefühl, unbedingt Mutter werden zu müssen, weil mein Leben sonst keinen Sinn macht, Mutter werden. Auch eine gute. Es muss nicht falsch sein oder gegen meine Natur, nur weil mir ebendieses Gefühl fehlt. Diese Entscheidung war eine enorme Erleichterung.

Dann ging ich verschiedene Phasen meines Lebens durch und stellte fest, dass es die besten, spannendsten und aufregendsten Wendungen genommen hatte, wenn ich immer dann, wenn ich mich nicht entscheiden konnte – und das kam charakterbedingt leider des Öfteren vor –, für die jeweils größere Veränderung entschieden hatte.

Und plötzlich war alles klar und leicht: Eins plus eins macht drei!

Dann kam Levi, und ich war im Rausch der Glückshormone. Und jeder Tag war zu kurz. Und die Nächte auch. Neben den hilflosen Versuchen, die Zeit zu dehnen, stellte sich mir eine neue unerwartete Hürde in den Weg: Es fiel mir schwer, Levi loszulassen. Ihn bei Markus allein zu lassen. Oder bei der Nanny. Mein Kopf sagte Ja, mein Herz zerriss es. Mir, die es theoretisch immer selbstverständlich fand, dass Väter Erziehungsurlaub nehmen oder Eltern ihre Kinder mit einer Kita oder Babysittern teilen.

Ich befürchtete, zu einem dieser Mutterschafe zu werden, die sich 100-prozentig um ihre Kinder kümmern. Die sich auf dem Spielplatz über Zahnungsbeschwerden und die neuesten Trends in der frühkindlichen Förderung austauschen. Eine der Mütter, die selbst im Umgang mit Erwachsenen immer weniger in der Lage sind, die hohe sanfte Babystimme und den leicht senilen Blick abzulegen oder überhaupt Themen jenseits des wichtigsten Menschen in ihrem neuen Leben zu finden. Und fest davon überzeugt sind, damit das Beste und einzig Richtige zu tun. Ich doch nicht. Oder?

Wäre es denn so schlimm, ein Mutterschaf zu sein? Mäh? Mäh!

Also probierte ich es aus: Nur die wichtigsten joblichen Termine, das hieß, jeden zweiten Tag drei Stunden ins Büro, ansonsten: Levi wickeln, Levi füttern, einkaufen, mit Kinderwagen spazieren gehen, mit Babyjogger joggen gehen, mit Kinderwagen ins Café zum Lesen, aus dem Café flüchten, wenn Levi auf Dauer zu laut wird, Freundinnen mit Kinderwagen zum Mittagessen treffen, mit Levi in der Babytrage durch den Zoo spazieren, mit Levi schwimmen, mit Levi tanzen, mit Levi auf dem Sofa liegen und schmusen, Levi zum Greifen animieren, Levi zum Lachen bringen, Levi trösten, Levis Wäsche waschen, Levis Spielzeug aufräumen, wenn Levi schläft, schnell duschen und E-Mails checken, mit Levi zum Arzt gehen, Levi Levi Levi. Ich war selbst überrascht, als wie anstrengend ich diesen Selbstversuch empfand. Meine früheren Überstunden im Büro waren nichts dagegen. Also: Es machte viel Spaß. Aber dieser Teil in mir, der Ideen hatte, der Reisekonzepte entwickeln wollte, der den Menschen in meinem Reisebuchladen die Welt mit allen Sinnen spüren lassen wollte, der überall Ansatzpunkte für Verbesserungen im Dienstleistungsgewerbe sah, der wollte einfach nicht ausgebremst werden. Und auch die permanente Fremdbestimmung durch Levi fiel mir nicht leicht. Es musste doch auch mal wieder nach meinen Vorstellungen laufen.

Ich hielt Levi bei unseren Wanderungen entlang der Isar Vorträge über eine kooperative Mutter-Kind-Beziehung und was diesbezüglich meine Erwartungen an ihn seien. Er hörte aufmerksam zu, machte an manchen Stellen undefinierbare Geräusche und ansonsten weiter wie bisher.

An einem ganz normalen Dienstag – ich hatte gerade meine drei Stunden Job erledigt – balancierte ich mit Levi auf dem Arm und auf im sandigen Untergrund versinkenden Absätzen zu seinem ersten öffentlichen Spielplatzbesuch. Ich freute mich auf ein wenig Austausch mit anderen Eltern und vielleicht eine kleine Bekanntschaft für Levi.

Kaum hatte ich Levi in den Sandkasten gesetzt und die Förmchen, Eimer, Schaufeln und Siebe vor ihm ausgebreitet, waren sie auch schon wieder weg. Entführt von den Dreijährigen. Levi blieb entspannt und buddelte, da niemand sein Spielzeug zurückbrachte, mit den Händen im Sand. Fast liebevoll versuchte ich den obligatorischen Milchfleck von der linken Schulter meines schwarzen Kleides zu wischen, als aus dem Nichts ein Vierjähriger auf uns zugelaufen kam, kurz vor uns abbremste, Levi mit Schwung eine Eimerladung Sand ins Gesicht schüttete und wieder verschwand. Levi fiel um, weinte und blutete aus einer kleinen Wunde an der Stirn. Ich wischte den Sand aus seinen Augen, Ohren und dem zahnlosen Mund heraus, stillte das Blut mit der Innenseite meines rechten Mantelärmels und schaute mich um. Der »Täter« war zu seiner Mutter gelaufen, keine drei Meter von uns entfernt. Und die sagte nichts. Weder zu ihrem Sohn. Noch zu uns. Meinen Vortrag, wie wichtig es sei, unseren Kindern beizubringen, eben nicht wegzusehen und Schwächere zu schützen, hatte ich schnell im Kopf durchstrukturiert. Da ich mich jedoch auf unbekanntem Terrain bewegte – schließlich war ich zum ersten Mal seit dreißig Jahren auf einem Spielplatz –, entschied ich, zunächst zu beobachten und Informationen zu sammeln.

Mein Forschungsinteresse in Sachen Spielplatzinteraktion war geweckt: Die Mutter vermied weiterhin jeden Augenkontakt zu mir. Wie zu allen anderen Erwachsenen. Dafür sprach sie für alle gut verständlich mit ihrem Sohn: »Toll hast du den Sand in deinen Eimer geschaufelt. Super, Maximilian.« Und: »Komm bitte her zum Händeputzen! Die sind bäh!« Von den anderen Erziehungsberechtigten bemerkte ich den einen oder anderen Seitenblick auf uns verletzte Neuankömmlinge. Meine Versuche, einigen direkt ins Gesicht zu lachen, scheiterten. Sobald der Augenkontakt drohte, drehten die so Bedrängten den Kopf.

Ein kleines Mädchen baute sich vor uns auf, streichelte Levis Arm und fragte mich, ob ihm sein Kopf jetzt wehtue. Ich lächelte es an und sagte: »Ein bisschen, aber wenn du ihn noch ein paarmal streichelst, vergisst er es bestimmt ganz schnell.« Sie setzte sich neben Levi, und beide buddelten in trauter Zweisamkeit im Sand. Die Mutter setzte sich neben ihre Tochter auf den Sandkastenrand und fragte: »Hast du auch Hallo gesagt?« Ich sagte »Hallo« zu der Mutter, die entgegnete nichts. Levi griff Sand mit seinen Händen, hob die Hände hoch, ließ unter fröhlichem Gequieke den Sand wieder aus seinen Händen rieseln und schaute mich zahnlos strahlend an. Ich strahlte zurück, nahm auch Sand in meine Hände und machte es ihm nach. Fühlte sich ein bisschen an wie am Meer. Schön.

Das kleine Mädchen griff dann auch mit beiden Händen in den Sand und streute ihn freudestrahlend ihrer Mutter über die Hose. Die sagte: »Ich möchte das nicht, Lara. Bitte lass das!« Lara kicherte, griff erneut in den Sand und schleuderte der Mutter den Sand auf die Jacke. »Wenn du das noch einmal machst, müssen wir nach Hause«, sagte die Mutter in scharfem Ton und mit erhobenem Zeigefinger. Lara maulte leise vor sich hin und begann eine Sandburg zu bauen. Als diese fertig war, griff sie mit beiden Händen in die Burg, schleuderte der Mutter den Sand sowohl auf die Hose als auch auf die Jacke und lachte. Die Mutter packt Lara, klemmte sie unter den Arm wie eine Aktentasche und sagte: »So, Fräulein, wir gehen jetzt.« Levi und ich schauten der strampelnden und heulenden Lara hinterher.

Mit Levi auf dem Arm drehte ich eine Runde vorbei an einer verwaisten Rutsche. Sobald ich Levi auf den unteren Meter gesetzt hatte und ihn mit beiden Händen festhaltend ein wenig rutschen ließ, wollten auf einmal alle Spielplatzkinder auch rutschen. Um weitere Handgreiflichkeiten zu vermeiden, zogen wir also weiter zur Babyschaukel. Zwei Meter vor der Schaukel – unser Ziel war für alle klar erkennbar – stürmte ein Vierjähriger an uns vorbei, rempelte mich dabei an und quetschte sich in die Babysitzschaukel, statt sich auf die daneben hängende normale Schaukel zu setzen. Auf meine freundliche Bitte, doch die andere Schaukel zu nehmen, er sei doch schon ein Großer und dann könnten wir alle schaukeln, antwortete eine erwachsene Stimme aus dem Hintergrund, dass wir ja auch ein bisschen warten könnten.

»Klar«, sage ich, »können wir. Aber es ist nicht nötig.«

»Das versteht mein Sohn noch nicht«, sagte die Stimme, und der Sohn grinste dazu. Also steuerten Levi und ich um einige Erfahrungen reicher wieder den Sandkasten an. In der Ecke, die ich Levi aus unserer Wickeltasche gebaut hatte, saß nun ein dreijähriger Junge. Sein Vater saß daneben und tippte mit großem Enthusiasmus etwas in sein Mobiltelefon.

Eine Gruppe von Fünfjährigen, die schon eine ganze Weile über den Spielplatz jagten, entschlossen sich, den Sandkasten zum Zentrum ihrer wilden Verfolgungsjagd zu machen und die enge Trasse zwischen Levi und dem Sandkastenrand zur Erfolg versprechenden Fluchtroute. Dabei war einer der Verfolger darauf aus, möglichst unauffällig, aber doch zielgenau Levis Hände zu treffen. Ich stoppte den Flüchtigen und erklärte, dass es nicht gut sei, anderen Kindern auf die Hände zu treten, und dass insbesondere große Kinder auf kleine Kinder aufpassen sollten. Der Treter sagte, der Kleine hätte versucht, ihm ein Bein zu stellen, und suchte mit den Augen nach seiner Mutter, die just in dem Moment das dringende Bedürfnis nach einem Cappuccino verspürte, uns den Rücken zukehrte und mit einem Baby in Levis Alter in der Babytrage den Spielplatz Richtung gegenüberliegendes Café verließ.

Also schlenderten wir zum Klettergerüst. Ein älterer Junge hing wie ein trauriger Kartoffelsack in einem professionellen Klettergurt, ein ernst dreinblickender Vater in perfekter Outdoormontur sicherte das Kerlchen und schimpfte: »Jetzt konzentrier dich mal, Quirin. Gestern ging das doch viel besser. Ich denke, du willst im Sommer mit mir in die Berge? So wird das nichts!« Quirin heulte dazu: »Ich will auf die Wippe, mit Katja!« und hangelte sich mit weißer Nasenspitze weiter nach oben zur sicheren Plattform.

In Gedanken versunken, kramte ich mein Mittagessen, einen Müsliriegel, aus der Jackentasche. Sofort war ich von drei Kindern umringt, die auch ein Stück haben wollten. Komischerweise hörte ich diesmal keine Stimmen aus dem Hintergrund. War mir neu, dass im Münchner Glockenbachviertel Kinder Hunger leiden. Und dennoch hatte ich keine Lust zu teilen. Also sagte ich: »Nein, ich möchte nicht teilen. Ich habe riesigen Hunger.« Nach intensiver Diskussion mit einem besonders hartnäckigen blondbezopften Mädchen, die zu eskalieren drohte, als ich das letzte Stück Müsliriegel in meinen Mund steckte, packte ich Levi in seinen Kinderwagen, sammelte die verbliebene Hälfte seines Spielzeugs zusammen und verließ den Spielplatz.

War das ein Blick in die Zukunft unserer Gesellschaft? Oder einfach stinknormaler Alltag in Deutschland, dem ich in den letzten Jahren erfolgreich aus dem Weg gegangen war, auf Flughäfen, in Hotels und den Straßen der Metropolen dieser Welt?

Mäh?

An jenem Abend erklärte ich meine Mission Mutterschaf offiziell für gescheitert. Nach sechs Wochen konnte ich nicht mehr. Weniger, weil Levi überraschenderweise manchmal schrie, ich mitlitt und es trotzdem irgendwann nicht mehr aushalten konnte. Mich dafür hasste, dass mir bei 24Stunden Levizeit pro Tag das Weinen meines Sohnes nicht nur an die Nieren, sondern auch auf die Nerven ging. Ich brauchte Pausen. War das in Ordnung?

Vor allem scheiterte die Mission Schaf, weil ich zwischen den Herden der anderen Mutter- und Vaterschafe niemanden gefunden hatte, mit dem ich mich identifizieren konnte. Niemanden mit leuchtenden Augen. Also: Es gab sie bestimmt. Aber ich hatte sie nicht gefunden. Keine Herde, der ich mich hätte anschließen wollen.

Und jetzt? Wo waren die Vorbilder? Die uns Orientierung und Mut geben könnten in dieser Phase des Umbruchs? Immerhin fand ich zahlreiche Freunde und Bekannte, die sich über klassische Mutter- und Vaterschafe und deren Geblöke lustig machten. Dann musste es doch auch Eltern geben, die irgendwie anders waren? Aber vielleicht war das so wie mit den Deutschen und dem Urlaub: Fast jeder Deutsche, den ich im Urlaub getroffen hatte, regte sich darüber auf, dass in Deutschland alle so verschlossen und grimmig seien. Wenn all jene Deutschen sich in Deutschland offen und fröhlich benehmen würden …!?

Ein russischer Freund macht  unseren Aufbruch möglich – fast

»Solange Ihr Baby noch nicht rumkrabbeln möchte und am liebsten auf dem Schoß seiner Mutter sitzt, steht, auf und ab wippt, ist so eine Reise wunderbar. Das mit dem Krabbeln könnte nur wegen des Drecks gefährlich sein, der aus den Toiletten in den Gang und in die Abteile getreten wird.«

Der Tag ging besser los, als der gestrige zu Ende gegangen war. War das endlich die Richtige? Die Planerin für Levi und mein erstes Mutter-Sohn-Reiseabenteuer? Auf der Suche nach unserer ganz persönlichen Familienidentität? Vergessen waren die Zweifel der letzten Nacht: Aufgeben war einfach nicht mein Ding!

Meine präzisen Vorstellungen hinsichtlich der Route konterte die ebenfalls abenteuererfahrene Dame mit zwei interessanten Gegenentwürfen, die neben der Tatsache, dass sie zu 90Prozent nicht mit meinen Vorstellungen übereinstimmten, auch meine Vorgabe, nicht mehr als zwei Stunden Autofahrt pro Tag und das maximal alle vier Tage, mit dem Vorschlag von fast täglichen ausgedehnten Roadtrips ignorierte.

Also schrieb ich in meiner aufsteigenden Verzweiflung darüber, die Reise endgültig gedanklich abblasen zu müssen, denn organisiert war ja noch nichts, eine E-Mail an einen russischen Spezialisten für Sibirien und Transsibreisen. Sechs Stunden später erhielt ich eine Antwort: Ein komplettes Erste-Klasse-Abteil könnte er mir im Zug Rossija, dem Vorzeigezug Russlands, anbieten. Und weil ich ja geschrieben hätte, dass unsere Reise in Sankt Petersburg beginnen würde, könnte ich dort auch in den ehemaligen Baikalexpress steigen. Dann würde ich mir den Flug nach oder das Umsteigen in Moskau sparen. Bestimmt angenehmer mit Baby? Hier gäbe es aber nur noch in der zweiten Klasse ein ganzes Abteil – also vier Plätze – für mich und meinen Sohn. Und yes, meine Vorstellungen für die Zeit am Baikalsee könnten sie umsetzen. Kein Problem. Und dass ich die Mongolei über eine Empfehlung meines nepalesischen Geschäftspartners organisieren möchte, sei auch kein Problem. Sie würden mir trotzdem den Zug bis Peking buchen. »P.S. May be difficult travel with young son? He can sick. Are you really want to journey with young son?«

Sechs Tage, mehrere Diskussionsschleifen mit dem russischen Chef des Unternehmens und zwei seiner Mitarbeiterinnen sowie eine dreitägige russische Funkstille später stand die komplette Reiseroute genau nach meinen Vorstellungen. Jetzt fehlte mir nur noch das Okay aus der Mongolei. Und ein Hotel in Peking. Und die internationalen Flüge. Ich vertröstete meine neuen russischen Freunde, da die Reisepuzzleteile ja ineinandergreifen sollten: Die Abfahrt im sibirischen Irkutsk nach zwei Wochen Baikalsee, fünf Tagen Transsib und einer Woche Petersburg musste zur Ankunft in der Mongolei passen. Meine Mongoleipläne mit dem Zug von Ulan-Bator nach Peking harmonieren.

Und dann das: Acht Tage vor unserer geplanten Abreise äußerte die bis dahin optimistisch agierende Mongolin Bedenken hinsichtlich der für Anfang Oktober geplanten Reise in die Wüste Gobi: Da seien wahrscheinlich alle Jurtencamps geschlossen. Manchmal falle dann der erste Schnee. Ob wir nicht früher kommen könnten? Oder nächstes Jahr? Da der Startschuss fast schon gefallen war und keinen Raum für zeitraubende Diskussionen mit Reiseveranstaltern oder gar eine Änderung der Reiseroute ließ, recherchierte ich auf die Schnelle drei weitere Mongoleiexperten – einen Engländer, einen in der Mongolei ansässigen Schweden und einen Holländer – und beauftragte alle gleichzeitig mit meinem Anliegen. Aufgrund der jüngst gemachten Erfahrungen mit diversen Transsibreiseveranstaltern hoffte ich, dass mindestens zwei der drei mein Vorhaben als zu gefährlich zu den Akten legen und keine Angebote erstellen würden. Zwischendrin besänftigte ich meine drei russischen Freunde, die mir stündlich den kurz bevorstehenden Ausverkauf der nun wirklich allerletzten Zugtickets meldeten – mit der Aussicht auf meine baldige Buchung.

Nun war ich schon vor der Abreise in ein multikulturelles Abenteuer geraten. Die Protagonisten: drei Russen, ein Holländer, ein in der Mongolei lebender Schwede, eine junge Mongolin, ein Engländer, einige Deutsche. Männer und Frauen unterschiedlichen Alters. In zwei Dingen waren sie sich dennoch einig: So kurzfristig eine Transsibreise zu organisieren grenze an Unmöglichkeit. Und: Die Reise mit Baby anzutreten sei mutig bis fahrlässig. Meine Motivation, dieses Risiko einzugehen, unverständlich.

Eigentlich hatte ich mir von der Reise Anregungen und Mut für unser künftiges Leben zu Hause erhofft. Die Situation der Menschen in Russland wie auch in der Mongolei und in China ist durch fundamentale Umbrüche gekennzeichnet: Russlands Bevölkerung versucht sich aus der Allmacht der Oligarchen zu befreien und kämpft neben politischer Freiheit um aus unserer Perspektive so selbstverständliche Dinge wie freies Unternehmertum im kleinen und mittelständischen Bereich. Die junge Demokratie Mongolei kämpft mit harten Wintern und Rohstoffreichtum. Die harten Winter entzogen den Nomaden, die immerhin noch 50Prozent der mongolischen Bevölkerung ausmachte, die Existenzgrundlage – das Vieh erfror oder verhungerte. Die seit Jahrhunderten den extremen Witterungsbedingungen trotzenden Nomaden sind zunehmend gezwungen, in den Städten sesshaft zu werden und sich eine neue Existenzgrundlage zu schaffen. Ein Drittel der Bevölkerung des Landes, das auf der Top-Ten-Liste der rohstoffreichsten Länder geführt wird, lebt in bitterer Armut. Der theoretische Reichtum lässt Korruption erblühen, die demokratische Strukturen wieder bedroht. China ist zerrissen zwischen mittelalterlich lebender armer Land- und modern orientierter Stadtbevölkerung, der es laut Medienberichten in Abgrenzung zur westlichen Kultur an einem eigenen Selbstverständnis fehle. Staatliche Familienplanung gepaart mit kapitalistischem Leistungsdruck. Uniformitätskultur auf der Suche nach kreativen Ausdrucksformen.

Meine Idee war, dass die politischen und gesellschaftspolitischen Spannungen in den von mir und Levi hoffentlich bald bereisten Regionen auch Nährboden für ein je eigenes spannendes, kreatives, improvisiertes Selbstverständnis berufstätiger Frauen und Mütter wären und mich ein Austausch mit diesen Frauen oder auch nur ein Beobachten oder Erspüren ihrer Lebenssituation bei der Suche nach einem für mich und uns passenden Familienmodell anregen würde. Dabei stellte ich mir vor, dass diese umbrucherprobten Menschen mit mir als einer eher untypischen Vertreterin der Spezies Mutter – einer Unternehmerin, die mit ihrem Baby die transmongolische Route der Transsib bereist – offen und interessiert umgingen und ich im Gespräch mit ihnen Klarheit für mich selbst erlangen würde. Wonach ich suchte, waren Ideen für unser Leben zu Hause. Für unser neues Leben mit Baby. Jenseits der typischen Familienklischees.

Zu Hause hatte ich dazu wenig Anregungen gefunden.

Über die glücklose Suche  nach der emanzipierten Familie in Deutschland

Vor Levis Geburt hatte ich mich umgeschaut, nach den möglichen Richtungen, in die unser Leben sich verändern würde. Könnte. Müsste? Denn in einem waren sich alle einig gewesen: Ein Kind verändert das Leben. Fundamental. Nur hinsichtlich der Richtung dieser Veränderung, und ob sie positiv oder negativ sei, hatten die Massen beharrlich geschwiegen.

Also Feldforschung. Wohin ich auch blickte, in unserem Freundeskreis, im Kollegenumfeld, in Funk und Fernsehen: Nirgendwo konnte ich Familienmodelle ausmachen, die so richtig zu uns passten.

Da waren zum Beispiel Tanja und Frank. Tanja, sehr erfolgreich in einem Konzern, war von der Geburtsklinik in den Flieger in die USA zu einem wichtigen Meeting gehüpft, natürlich nicht ohne vorher noch 50Liter Muttermilch für das Baby abzupumpen und im Kühlschrank zu deponieren. Frank hingegen, in Sachen Karriere und Finanzen weniger begünstigt als seine Frau, hatte seinen Job zugunsten der Familie gekündigt, blieb zu Hause und kümmerte sich um das Baby. Tanja arbeitete und reiste vor und nach der Geburt viel. Das Baby wurde die meiste Zeit von Frank und einer Kinderfrau aufgezogen. Frank fand schließlich sein außerfamiliäres Glück in Form einer Professur an einer Fachhochschule. »Kaum Arbeit, was fürs Ego und eine sichere Rente für den Fall, dass Tanja mich verlässt«, lachte er zufrieden über sich selbst.

War das nicht das Paradies für die emanzipatorischen Vorstellungen der Alice-Schwarzer-geprägten Frauen? Ich hingegen konnte der einfachen Umkehr des klassischen Rollenmodells nichts abgewinnen. Und Markus auch nicht. Also weiter.

Martina und Klaus. Martina stammt aus einer Familie, in der Frauen zum Heiraten und Kinderbekommen bestimmt sind. Nachdem sie gegen den Willen ihrer Eltern das Abitur gemacht hatte und studieren wollte, erklärte ihre Mutter, dass sie diese Flausen nicht unterstützen würde. Also machte Martina sich dank einer Lehre finanziell unabhängig, engagierte sich, absolvierte im Abendstudium eine Berufsakademie und wurde stellvertretende Abteilungsleiterin. Als ihr mit Mitte dreißig endlich eine Abteilung zur Leitung angeboten wurde, war sie schwanger. Sie informierte ihren Arbeitgeber vor Annahme der Leitungsposition über ihre baldige Mutterschaft und ihre Intention, zwei bis drei Monate nach der Geburt wieder Vollzeit zu arbeiten, in der Hoffnung, man möge gemeinsam eine Lösung für die Zeit kurz vor und nach der Geburt finden. Das Leitungsangebot verschwand, zu wichtigen Meetings erhielt sie keine Einladungen mehr, Informationen wurden an ihr vorbeigelotst, Entscheidungen ohne ihre Expertise gefällt. Von männlichen wie weiblichen Kollegen und den Vorgesetzten wurde sie geschnitten. Als sie nach der Geburt wieder arbeiten wollte und man ihr eine Halbtagsstelle in einem 70Kilometer entfernten Ort anbot, für die sie überqualifiziert war, begriff sie, dass sie als Mutter ihrem Arbeitgeber nichts wert war. Sie bekam zwei weitere Kinder und steckte ihre im Übermaß vorhandene Energie fortan in die Organisation des Familienlebens und den Versuch, ein kleines Unternehmen aufzubauen. Nebenbei schob sie Dienst nach Vorschrift bei ihrem Arbeitgeber. Halbtags. Um diesem nicht ihre Rentenansprüche zu schenken und um weiterhin die Mitarbeiterkonditionen des Unternehmens nicht zu verlieren. Den Mutterschutz schöpfte sie voll aus, und ihr Satz: »Warum soll ich früher und mehr arbeiten gehen als nötig und Geld verschenken?«, geäußert bei einem gemeinsamen Frühstück mit anderen Exkolleginnen mit Anhang, die auch alle in die Halbtagsmutterschaft gemobbt worden waren, traf mich. Der Arbeitgeber ihres Mannes war familienfreundlicher und gestattete einen Homeoffice-Tag pro Woche, wenn Martina krank war, einen Termin hatte oder einfach mal etwas Zeit für sich oder Unterstützung zu Hause brauchte.

Oder Christine und Lennart. Sie Ende zwanzig, mit dem Aufbau ihrer Karriere als diplomierte und preisgekrönte Kreative beschäftigt. Er Mitte dreißig und vielversprechender Marketingmanager. Christine hatte sich Chancen, ein Netzwerk, Kontakte und Kunden in München aufgebaut und folgte dennoch Lennart, ohne zu zögern, in die norddeutsche Provinz, von wo aus ihn der Ruf des Aufstiegs ereilt hatte. Er schob noch mehr Überstunden, sie wurde schwanger. Er bereiste Deutschland, sie die seelischen Tiefen einer Frau, die nie Vollzeitmutter oder Alleinerziehende sein wollte und es nun in Ermangelung familiärer Strukturen oder eines Freundeskreises vor Ort, ohne Kitaplatz und angesichts der permanenten beruflich bedingten Abwesenheit ihres Mannes irgendwie war. »Christine verdient halt weniger als ich«, erzähl-te Lennart bei einem gemeinsamen Abendessen. »Sonst würde ich unser Kind die ersten Jahre aufziehen!« Meinen Einwand, dass statistisch betrachtet der weibliche Teil eines Paares meistens jünger sei als der männliche und dass jüngere und insbesondere weibliche Arbeitnehmer meistens weniger verdienten als männliche und somit diese Argumentation irgendwie ein Totschlagargument sei, konterte Lennart mit einem vernichtenden »Ich habe die Gesellschaft nicht gemacht, muss aber in ihr überleben« und ging zufrieden zum Kühlschrank, um eine weitere Flasche Wein zu holen. Als Christine sich frisch machte, ergänzte Lennart verschwörerisch: »Bald machen wir eh ein zweites Kind, dann ist Christine die nächsten Jahre beschäftigt.«

Aber fehlende Beschäftigung war nicht so sehr Christines Problem. Nach einem Vollzeitkinderbetreuungstag arbeitete sie nachts an neuen Entwürfen und Businessplänen. Als Lennart nach zwei Jahren genug Geld für einen privaten Kitaplatz verdiente, war sie ausgelaugt, mutlos, traurig und die Beziehung in einer Schieflage. Es folgten Urlaube, Gespräche, gemeinsame Wochenendaktivitäten, ein erneuter Umzug, die zweite Schwangerschaft. Ende offen.

Oder Anja und Jürgen. Anja hatte sich von dem Vater ihres Kindes getrennt und sich bis zur Hochzeit mit Jürgen, einem erfolgreichen Unternehmer, mit Jobs durchgeschlagen. Nach der Geburt des zweiten Kindes fokussierte Anja auf die Mitarbeit in Jürgens Unternehmen. Und auf die Suche nach ihrem eigentlichen Ding. Jürgen hingegen erklärte Markus und mir beim Essen: »Die paar Tausend Euro, die sie woanders verdienen würde, brauchen wir nicht.«

Es war schwer zu sagen, ob die Männer das Problem waren oder die Frauen, die Gesellschaft oder die individuellen Vorstellungen von Karriere. Aber eines war klar: Ich fand einfach keine Frau, die ich mir mit leuchtenden Augen zum Vorbild hätte nehmen können. Markus keinen Mann, der ihm Orientierung zu geben vermochte. Und gemeinsam fanden wir keine Familie, die zu uns gepasst hätte. Wir fanden nur Familienmodelle, bei denen sich einer – egal ob Frau oder Mann – vornehmlich um die Kinder kümmerte und hinsichtlich seiner eigenen Ziele zurücksteckte beziehungsweise die Kinder zeitweise zum primären Lebensinhalt machte, während der andere in der Welt unterwegs war und das Geld verdiente. Unsere Sorge war, dass so die Entfremdung als Paar vorprogrammiert war. Außerdem wollte keiner der eine oder der andere sein. Wir wollten beide beides.

Was ich statt passender Familienvorbilder hingegen zuhauf fand, waren Sprüche wie: »Jetzt wirst auch du endlich sesshaft, Julia.« »Jetzt holt auch dich das normale Leben ein. Willkommen im Klub.« Und dazu dieses Grinsen. Panik kroch in mir hoch.

Den einzigen Hinweis lieferte ausgerechnet ein Werbespruch: »Ich habe mich für Doppelfreude statt Doppelbelastung entschieden.« Dazu eine Frau mit Babybauch in fröhlicher Zweisamkeit mit ihrem Partner. Klingt gut, aber geht das vielleicht ein bisschen konkreter?

Da ich Unternehmerin und somit bei der Wahl meiner Arbeitszeit und meines Arbeitsortes grundsätzlich frei bin, sollte es doch ein Leichtes sein, meinen und unseren neuen Alltag zu organisieren, dachte ich. Mein Ehrgeiz war geweckt, das perfekte Lebensmodell für uns drei dann halt ohne Vorbilder am Reißbrett zu entwerfen. Und so entwarf ich: Babysitteranzeigen, Babysitterstundenpläne, Stundenpläne für Markus und mich: Levizeit, Arbeitszeit, Zeit für Freunde und Hobbys, Zeit zu zweit, Zeit Zeit Zeit. Auf dem Papier schien die Zeit unendlich und ließ sich perfekt in unterschiedlich große Kuchenstücke schneiden. Alles nur eine Frage der Organisation, machte ich mir selbst Mut. Aber Zeitmanagement war noch nie meine Stärke. Ich bin da eher der intuitive Typ. Und so scheiterten die Optimierungsversuche schon bald am Praxistest.

Zum einen fehlten mir, die es gewohnt war, Geschäftsmodelle zu entwickeln und dann Mitarbeiter und Kunden bei der Umsetzung dieser Pläne zu coachen, in diesem speziellen Fall wichtige Mitarbeiter. Ich hatte nur eine Nanny, aber die war erst krank und entschied dann, der Liebe wegen München wieder zu verlassen. Außerdem war Levi kein Unternehmen wie mein Reiseveranstalter, meine Agentur für Dienstleistungsentwicklung oder auch mein Reisebuchladen in München. Er hatte rund um die Uhr geöffnet. Und er war ein Freigeist, so wie ich. Er war nicht bereit, sich an Zeitpläne zu halten. Er schlief, wenn ich nach Plan Levizeit hatte, und ich war enttäuscht. Er war wach, wenn ich nach Plan arbeiten wollte, was mich nervte. Schnell lernte ich zu akzeptieren, dass mit Levi das Unvorhergesehene die Regel ersetzt. Planabweichungen waren mit ihm tägliches Brot. Und auch mir machte ein Leben nach Stundenplan keinen Spaß. Hatte ich jahrelang fünfzehn Stunden am Tag und mehr gearbeitet – auch an Wochenenden – und mir berufliche Unabhängigkeit und persönlichen Freiraum erkämpft, nur um sie nun wegen meines Kindes wieder an den Nagel hängen zu müssen? Und wer genau wollte mich eigentlich dazu zwingen?

Ende der Leseprobe