Mut ist Angst plus ein Schritt - Mischa Miltenberger - E-Book

Mut ist Angst plus ein Schritt E-Book

Mischa Miltenberger

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Beschreibung

Vom Hasenfuß zum Mutmacher „Mut ist Angst plus ein Schritt“ ist die Antwort auf die entscheidende Frage in Mischa Miltenbergers Leben: Wie schafft man nach 20 Jahren mit Panikattacken und depressiven Episoden die Kehrtwende? Wie findet man zu einem mutigen, freudvollen und selbstbestimmten Leben? Und stimmt es wirklich, dass auf Angst und Depression nicht lebenslänglich steht? Heute ist Mischa Miltenberger Coach und Seminarleiter – doch es ist noch gar nicht lange her, da bedeutete jeder Tag für ihn ein Ritt durch die Hölle: von Panikattacken bis hin zum totalen Zusammenbruch. In seinem Buch erzählt er von seinem Kampf, dem Tag der Erlösung und wie er sich seitdem seinen Ängsten entgegenstellt und sein Leben mutig und selbstbestimmt gestaltet. Rezepte für ein mutiges Leben Ein Geheimrezept gegen die Angst gibt es nicht. Deshalb enthält Mischa Miltenbergers Buch keine Wissensvermittlung, keine Konzepte, Tools oder Therapiemethoden. Stattdessen berichtet er schonungslos ehrlich und mit viel Humor von seinen Erfahrungen. Die 15 Rezepte für ein mutiges Leben haben ihm dabei geholfen, seine Gedanken und Verhaltensweisen zu hinterfragen. Mit ihnen will er seine Leser inspirieren, das Leben aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten und Lebensfreude, Leichtigkeit und Neugier wiederzuentdecken. Sein Buch ist ein Weckruf, nicht mehr vor den eigenen Ängsten davonzulaufen – und gleichzeitig eine Liebeserklärung an das Leben. Aus dem Inhalt: • Übernimm Eigenverantwortung und triff eine klare Entscheidung • Bring deinen Körper in Bewegung • Werde still • Fühl deine Gefühle • Sei du selbst • Lass dir helfen • Trau dich, hinter deine größte Angst zu schauen • Mach dein Ding und lebe nach deinen regeln • Mut ist ein Muskel, der sich trainieren lässt • Die Welt braucht jeden Mutigen

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Seitenzahl: 239

Veröffentlichungsjahr: 2019

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INHALT

Warum dieses Buch? Ein Weckruf

Vom Hasenfuß zum Mutmacher

Rede-Boykott im Kindergarten: 0 bis 10

Blinkender Leuchtturm in der Kirche: 10 bis 20

Panik vor der Nüchternheit: 20 bis 30

Der eingesperrte Revoluzzer: 30 bis 40

Freier Fall mit hartem Aufschlag

Die Entscheidung meines Lebens

Tanzen bis zum Weinkrampf

Alles auf Neustart

Allein mit Dr. D durch Europa

Ab in die Selbstständigkeit!

Meine Rezepte für ein mutiges Leben

1. Übernimm Eigenverantwortung und triff eine klare Entscheidung

2. Bring deinen Körper in Bewegung

3. Stopp die Betäubung

4. Werde still

5. Fühl deine Gefühle

6. Fang an, dich zu mögen, und folge der Freude

7. Finde deinen Weg der (Selbst-)Heilung

8. Bring Klang in dein Leben

9. Sei du selbst

10. Lass dir helfen

11. Trau dich, hinter deine größte Angst zu schauen

12. Werde zum neugierigen Gestalter deines Lebens

13. Stell die richtigen Fragen

14. Gib die Kontrolle ab, das Leben kümmert sich schon

15. Mach dein Ding und lebe nach deinen Regeln

Was ist eigentlich Mut?

Mut ist ein Muskel, der sich trainieren lässt

Die Welt braucht jeden Mutigen

Anhang

WARUM DIESES BUCH? EIN WECKRUF

Das Mutigste, was wir im Leben tun können, ist authentisch zu sein und uns in all unserer Verletzlichkeit zu zeigen.

Mut ist Angst plus ein Schritt. Ich liebe diesen Satz. Er gibt die perfekte Antwort auf die entscheidenden Fragen meines Lebens: Wie ist es mir gelungen, nach mehr als 20 Jahren mit Panikattacken und mehreren depressiven Episoden die Kehrtwende hinzulegen? Wie komme ich angesichts dieser Vorgeschichte dazu, heute ein mutiges, freudvolles und selbstbestimmtes Leben zu führen? Und stimmt es wirklich, dass auf Angst und Depression nicht lebenslänglich steht, wie ich immer frech behaupte?

Hätte mir Anfang 2013 jemand prophezeit, ich wäre rund fünfeinhalb Jahre später ein erfolgreicher Coach und Seminarleiter, der von einem Verlag gebeten wird, über sein ungewöhnliches Leben zu schreiben: Diesen Menschen hätte ich sanft darum gebeten, sich mal verstärkt Gedanken um seine Zurechnungsfähigkeit zu machen. Damals bedeutete jeder einzelne Tag für mich ein Ritt durch die Hölle. Tag und Nacht nur noch Panik. Ein langer, aussichtsloser Kampf bis zum Zusammenbruch – gleichzeitig der Tag der Erlösung und des Erwachens. Zum Glück fiel der Aufprall nach dem langen Sturzflug so heftig aus, dass ein „Weiter so“ nicht mehr möglich war. Seitdem besteht mein einziger Auftrag darin, mich, das Leben und die Welt aus völlig neuen Blickwinkeln zu entdecken. Ehrlich und schonungslos hinzuschauen: Was habe ich all die Jahre getan oder nicht getan, dass es so weit kommen konnte? Und was ist bitte schön los in unserem Land, in dem es laut fachärztlichen Statistiken über zehn Millionen Menschen mit diagnostizierten Angsterkrankungen gibt? Rund jeder sechste Erwachsene kennt das Thema aus eigenem schmerzhaftem Erleben. Dazu kommen nach einer WHO-Schätzung noch über vier Millionen Menschen mit Depression in Deutschland. Was läuft hier – genauso wie in vielen anderen reichen westlichen Industrienationen – so schief, dass psychische Leiden zu Volkskrankheiten geworden sind?

Meine Antwort: Die meisten Menschen wissen gar nicht mehr, wie sich echtes Leben anfühlt. Sie tun alles dafür, Gefahren zu minimieren. Igeln sich in ihrer Komfortzone ein. Sind erstarrt in ihrem Korsett aus vermeintlicher Sicherheit und Kontrolle. Egal ob in der Beziehung, im Umgang mit anderen Menschen, im Job und bei so vielen anderen Themen: Bitte nur kein Risiko! So funktionieren die meisten Menschen vor sich hin. Erzählen und machen das nach, was ihnen von Eltern, Lehrern und den Medien eingetrichtert wurde. Doch wenn ein Mensch wie eine gut programmierte Maschine funktioniert und nicht weiß, wofür er genau genommen auf dieser Erde ist, dann muss das auf Dauer Einfluss auf seine Psyche haben. Für diese Feststellung brauche ich kein Psychologiestudium. Da reichen mir meine eigene Geschichte, der tägliche Gang über unsere Straßen und die Gespräche mit anderen Menschen.

Wer traut sich denn, mal einen ehrlichen Blick aufs eigene Leben zu werfen? Sich zu fragen: Lebe ich wirklich? Oder werde ich gelebt? Was macht mich lebendig, bringt mein Herz zum Leuchten? Und wer ist dann noch mutig genug, die eigenen, ungeschönten Antworten darauf in Empfang zu nehmen – jenseits aller Ausreden und Programmierungen?

Wenn wir mal ehrlich sind: Es ist nicht die Angst vor der Angst, die Menschen belastet. Es ist auch nicht die Angst vor dem Tod. Es ist die Angst vor dem echten Leben. Die Angst, sich hinzustellen, seinen eigenen Weg zu gehen. Sich authentisch mit allen Facetten zu zeigen, die zu einem gehören. Seine eigene Wahrheit herauszufinden. Ungewöhnlich zu sein, aufzufallen, Wagnisse einzugehen – selbst wenn das gesamte Umfeld laut aufschreit.

Angesichts unserer angstgeprägten Gesellschaft bleibt uns also gar nichts anderes übrig, als der Angst eine völlig neue Bedeutung zuzuweisen. Wegschauen, Verdrängen, Weglaufen und Betäuben funktionieren nicht mehr. Was wäre, wenn wir die Angst als Chance sähen? Als fantastischen Hinweisgeber unseres Körpers, der uns sagt: „Okay, meine sanften Signale der vergangenen Jahre wolltest du nicht hören. Jetzt musste ich leider die dicke Keule auspacken.“ Und der damit endlich die Möglichkeit bietet, unser Leben, unsere Gedanken, Einstellungen und Verhaltensweisen offen und ehrlich zu hinterfragen. Nicht mit dem Verstand. Denn wir können das Problem nicht auf derselben Ebene lösen, auf der es entstanden ist. Sondern mit dem Blick nach innen. Dem Hineinspüren. Der Zugang zu den eigenen Gefühlen erschließt im Heilungsprozess völlig neue Dimensionen. Meine spannendste Erkenntnis dabei: Hinter meiner größten Angst liegt meine größte Stärke. Verrückt, der Kalenderspruch stimmt tatsächlich!

Ich hatte mein Leben lang vor zwei Dingen eine Heidenangst: vor anderen Menschen zu sprechen und ehrlich über meine Gefühle zu reden. Heute verdiene ich damit mein Geld. Womit bewiesen ist: Krasse Veränderungen im Innen wie im Außen sind möglich, völlig unabhängig von der Ausgangssituation. Den Satz „Wenn etwas nicht funktioniert hat, mach was anders“ habe ich inzwischen fest in meinem System verankert. Das Mantra läuft in Dauerschleife.

Wenn ich daran denke, dass ausgerechnet ich meine Erkenntnisse nun weitergeben darf, muss ich mich öfter mal zwicken. Oder mir kullern ein paar Tränen der Rührung über dieses Wunder herunter. Genau genommen hatte ich mich selbst schon als hoffnungslosen Fall abgeschrieben, der seinen Alltag nur mit Hilfe von Psychopharmaka und Alkohol irgendwie bewältigen kann. Heute weiß ich: Es war nötig, all diese Erfahrungen zu machen, damit ich anderen Menschen helfen kann.

Dieses Buch ist Ratgeber und Nicht-Ratgeber zugleich. Ich sehe es als wichtigste Aufgabe, Menschen zu ihrer eigenen Wahrheit zu führen und ihnen nicht meine als die einzig richtige und wichtige zu verkaufen. Gleichzeitig werde ich hier Lösungsansätze vorstellen, die mein Leben heraus aus der Angst auf ein komplett neues Niveau katapultiert haben. Greif dir aus meiner Geschichte und meinen Tipps nur das heraus, was sich für dich richtig oder schlüssig anfühlt. Es geht nicht darum, mein Leben nachzubauen, sondern die Quintessenz daraus zu verstehen. Meiner Erfahrung nach lernen wir die wichtigsten Dinge des Lebens oft nicht durch Ratschläge, Tools und Methoden, sondern durch die Geschichten anderer Menschen und der damit verbundenen Energie. Deshalb habe ich als Ansprache bewusst das Du gewählt, weil wir damit eine ganz andere Art von Verbindung aufbauen können.

Viel Freude mit diesem besonderen Weckruf! Einer, der möglicherweise an vielen Stellen das hinterfragt, was du bisher geglaubt hast. Ich habe das Buch für dich geschrieben, weil ich weiß, wie viel Mut in dir steckt. Mein größtes Anliegen ist, dich zu ermutigen, aufzuwecken und dich zu ermächtigen, dir das Vertrauen in dich selbst zurückgeben und dich manchmal zu verrückten Dingen anzustiften. Nach der Lektüre hast du zumindest keine Ausrede mehr, wenigstens den ersten kleinen Schritt zu tun.

VOM HASENFUSS ZUM MUTMACHER

Für jeden von uns hält das Leben etwas anderes bereit. Viele Prägungen werden uns schon in der Kindheit mitgegeben, später treffen wir selbst die Entscheidungen, die unseren Lebensweg bestimmen. Wie meine ersten 40 Lebensjahre aussahen, warum ich irgendwann nicht mehr einfach so weitermachen konnte wie bisher, ohne meine psychische Gesundheit dauerhaft zu riskieren, und wie ich aus diesem Sumpf endgültig wieder herauskam, erfährst du in diesem Kapitel.

Was hast du zu verlieren, außer einem langweiligen Leben, das dich krank gemacht hat?

Lange Jahre hatte ich geglaubt, ich sei Opfer der Angst. Da muss doch einer oben auf einer Wolke sitzen, der arme, unschuldige Menschen mit Angst bewirft. Ungerecht ist der Typ auch noch, denn warum trifft er immer die Falschen? Den Gedanken, meine Panik könnte mit frühkindlicher Prägung zu tun haben, konnte ich noch akzeptieren. Aber mit meinem aktuellen Leben als Erwachsener? Was für ein absurder Gedanke! Angst und Depression sind böse Krankheiten, die mich hinterlistig überfallen haben. Davon war ich überzeugt. Zur Rache habe ich sie mit Medikamenten bekämpft.

Erst mit 41 Jahren, nach dem heftigen Erwachen, kam die schmerzhafte Erkenntnis: Meine psychischen Probleme waren keine Strafe Gottes, sondern eine fast schon logische Folge der Summe all meiner Prägungen, Gedanken, Einstellungen, Taten und Nicht-Taten. Dabei geht es nicht um Schuld. Dieses Wort, besser gesagt dieses leidbringende Konzept, habe ich aus meinem Lebensmodell gestrichen. Ich weiß heute, dass ich immer – wie jeder andere Mensch auch – nach meiner besten Option gehandelt habe, die mir in diesem Moment mit meiner damaligen Lebenserfahrung und meinem damaligen Wissen zur Verfügung stand. Gleichzeitig trage ich, spätestens als Erwachsener, die volle Verantwortung für mein Leben.

Somit durfte ich in den vergangenen Jahren viel reflektieren: Wie kam es, dass ich so eine steile Panik-Karriere einschlagen konnte? Und wieso kann ein fröhlicher Mensch schwer depressiv werden? Hier kommen einige Antworten darauf in einem kurzen Überblick meiner ersten vier Lebensjahrzehnte. Garniert mit dem mir eigenen Humor. Ich lache nämlich lieber über mich und meine Besonderheiten, als tief ins Drama einzusteigen.

Rede-Boykott im Kindergarten: 0 bis 10

Meinen ersten Sprung vom Dreimeterbrett wagte ich mit 25 Jahren (und zog mir dabei eine Bänderdehnung zu, aber das nur am Rande). Mehr muss ich zu Mut und Abenteuerlust in meiner Kindheit gar nicht erzählen. Während andere Jungs in Bäumen herumkletterten, übte ich Blockflöte. Während andere Jungs nach Ringen tauchten, gab es für mich Senfbrot am Freibadkiosk. Ich war ein Schisser durch und durch. Ein Hasenfuß von Natur aus, dafür Musterschüler. Meine Abenteuer spielten sich in den Büchern ab, die ich verschlungen habe. Ich war Meister der Theorie. Die Praxis habe ich meist lieber ausgelassen – wobei ein wenig Stuntman-Gen durchaus vorhanden war. Sobald es bei Fahrradausflügen mit der Familie auf einen Kiesweg ging, lag ich schon mit Schürfwunden im Graben. Zur Belohnung gab es das fiese orangefarbene Jod drauf. Wie gemein das brannte! Ich frage mich, ob da eine kleine masochistische Ader bei mir vorhanden ist, weil es mich so regelmäßig hingelegt hat.

Bemerkenswert war auch meine massive Höhenangst. Auf unserem Balkon hielt ich schon als kleines Kind einen Sicherheitsabstand von mindestens einem Meter zum Geländer ein, um nicht herunterzufallen. Dabei war ich zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal halb so hoch wie die schützenden Holzbalken.

Im ersten Kindergartenjahr verweigerte ich mit vier Jahren jegliche Kommunikation. Es war im Nachbarort. Da gab es einen Jungen, der mich – vorsichtig formuliert – nicht ganz so supertoll behandelt hat. Worauf ich es vorzog, angesichts dieser Mobbinghölle dort nicht mehr zu reden und stattdessen meinen Eltern daheim die Ohren blutig zu quatschen. Worauf diese es vorzogen, mit mir zum Kindertherapeuten zu gehen. Dessen Therapieversuche erwiesen sich als ähnlich erfolgreich wie alle folgenden in den nächsten 35 Jahren. (Die Erlösung kam erst 2013 in der Klinik in Scheidegg: Psychotherapie ist doch nicht komplett sinnfrei – hurra! Doch dazu später.)

Immerhin durfte ich nach einem Jahr den Kindergarten wechseln und aufgrund meiner mobbingbedingten Sprachunlust (offiziell „Entwicklungsverzögerung“) erst mit sieben Jahren in die Schule – was zumindest später den Vorteil hatte, dass ich in der 11. Gymnasiumklasse schon 18 war, Auto fahren und mir meine häufigen Entschuldigungen selbst schreiben durfte.

Was sonst noch war: beide Eltern Lehrer, streng katholisches Elternhaus, Leistungsdruck und jede Menge Streit. Noch Fragen? Wie in unzähligen Filmen gesehen: Vorzeigefamilie nach außen, in der Innenperspektive nicht so richtig fluffig und herzwärmend. Nicht falsch verstehen: Ich liebe meine Eltern, bin ihnen unendlich dankbar und verstehe mich super mit ihnen. Und gleichzeitig nehme ich schon lange kein Blatt mehr vor den Mund, nur aus Angst, jemand könnte mir daraufhin seine Liebe entziehen.

Zuletzt sei noch der Hausarzt erwähnt, der mir mit sechs Jahren bescheinigte: „Mit deinen Platt-, Senk- und Spreizfüßen wirst du in Sport nie eine bessere Note als eine 5 bekommen.“ Eine von vielen ärztlichen Prognosen und Diagnosen, die ich im Laufe meines Lebens mit großer Freude widerlegt habe. Mehr dazu im Verlauf dieses Buchs.

Blinkender Leuchtturm in der Kirche: 10 bis 20

Ängstlichkeit, Schüchternheit, dauerndes Nachdenken über mich und die Welt, häufige Schamgefühle, relativ wenige Freunde und schon gar keine Freundin: ein ziemlich heißes Gemisch für einen Heranwachsenden. Meine Patentlösung dafür hieß Rückzug. Vormittags die Pflichtzeit in der Schule absitzen, nach dem Mittagessen einen Berg Süßigkeiten beim Bäcker kaufen, stundenlang schlafen, abtauchen in Bücher, minimalen Aufwand für die Schule betreiben, um nicht allzu negativ aufzufallen. Und dann endlich wieder schlafen, wenn der Tag herum war. Aufregende Hobbys? Den Block-flötenunterricht hatte ich schon erwähnt. Spannende Abenteuer? Den größten Adrenalinkick gab es bei der täglichen Frage, ob ich mit dem Hausaufgabenabschreiben im Bus und auf der Schultoilette in der ersten Pause rechtzeitig fertig werden und mit welchem Lehrer ich mich diesmal anlegen würde. Diesbezüglich habe ich mein Revoluzzer-Gen voll ausgelebt und hatte lustigerweise vor solchen Konfrontationen niemals Angst.

Rückwirkend betrachtet habe ich über größere Strecken eine Totalverweigerung des Lebens betrieben. Weil ich gar nicht anders konnte. Weil das, was mir alle als „echtes Leben“ vorgespielt haben – viel Vorzeigbares leisten, Druck, Streit und ausgelassene Freude nur unter Alkoholeinfluss –, so surreal war und überhaupt keinen Sinn für mich ergab. Weil es niemanden gab, mit dem der kleine oder inzwischen mittelgroße Mischa über seine massiven Ängste reden konnte. Niemand, der dem sensiblen, nachdenklichen und aufgeweckten Jungen zeigen konnte: „Hey, alles okay. Du bist gut so, wie du bist. Und auch für dich und deine Besonderheit gibt es da draußen in der Welt einen Platz.“ Weit und breit keine Menschen, die anders waren, sein durften und damit glücklich waren. Kein Freak in Sicht, der mich auf den Rücksitz seines orangefarbenen Motorrads gelupft und gesagt hätte: „Die typischen Erwachsenen haben doch alle einen Knall. Wir fahren mal los und ich zeige dir, wie lustig die Welt wirklich sein kann.“

Zu allem Überfluss ging irgendwann die Warnlampe an – und gar nicht mehr aus. Wer mich finden wollte, brauchte einfach nur nach meinem roten Kopf zu schauen. Aufgerufen werden in der Klasse? Blink! Als Ministrant in der Kirche eine Stunde lang 200 Menschen gegenüberstehen? Blink! Blink! Ein Referat halten? Blink! Blink! Blink! Ein Mädchen ansprechen? So viele Blinks haben hier gar nicht Platz. Deshalb ließ ich es meist lieber sein.

Ich fühlte mich oft fehl am Platz, gefangen in Angst und Scham. Dieses Muster hat sich damals so tief bei mir eingebrannt, dass selbst heute – unter komplett anderen Voraussetzungen – immer mal wieder letzte Überbleibsel davon ans Tageslicht kommen. Lampe an, Lampe aus: Diese Besonderheit liebend anzunehmen, fordert mich heraus wie sonst nichts anderes – im selben Maß, wie es an dieser Stelle in die Öffentlichkeit hinauszuposaunen. Dank der heilsamen Wirkung meiner gnadenlosen Offenheit werde ich auch darüber irgendwann schmunzeln und es als weitere Anekdote erzählen können.

Eine Kindheit und Jugend zwischen Kirche, Bierbank und ausgefallenem Hosengeschmack.

Zum Glück trat mit 15 der segensreiche Einfluss des Alkohols in mein Leben. Segensreich meine ich ironisch – mit dem heutigen Wissen, wie sehr die Sauferei meine Angst befeuerte und eine konstruktive Lösung meiner Themen unmöglich machte. Doch damals empfand ich sie tatsächlich als zutiefst segensreich. Wenn der Alkohol nach ein, zwei oder drei Bier so schön angeflutet war, merkte ich zum ersten Mal: Wow, mich gibt’s auch im entspannten Modus. Ausgelassen. Fröhlich. Mutig. Abenteuerlustig. Ohne Schüchternheit. Ohne Angst. Ohne Scham. Ohne Gedankenkarussell. Wo war sie denn hin, diese innere Gefangenschaft, die mich stets zu fesseln schien? Irgendwie stand fest: Das muss mein wahrer Kern sein. So bin ich wirklich. Keine Ahnung, wie ich ohne Alkohol in diesen Zustand kommen soll, doch das ist augenscheinlich die beste Version von mir. Selbst wenn die beste Version jedes Wochenende in irgendwelche Büsche kotzt und tags darauf so einen Kater mit sich herumschleppt, dass der ganze Tag gelaufen ist.

Panik vor der Nüchternheit: 20 bis 30

Abi, Zivildienst, Bewerbung für ein VWL-Studium, viele Partys und mehr Alkohol. Der Wechsel ins neue Lebensjahrzehnt bot bis auf das neue Beschäftigungsfeld wenige Neuerungen. Warum auch? In meiner Wahrnehmung fühlte sich das, was ich tat, nach einer durchaus akzeptablen Lebensform an: weiterhin möglichst geringer Aufwand bei möglichst häufiger Betäubung.

Die Idee, sich im August 1992 am letzten Urlaubstag in Lissabon mit Portwein volllaufen zu lassen und am nächsten Tag stark verkatert in der Raucherzone des Flugzeugs die Heimreise anzutreten, erwies sich allerdings als Bumerang. Gefangen in einem Metallkäfig in zehn Kilometern Höhe servierte mir das Leben meine erste Panikattacke (zumindest die erste bewusst wahrgenommene; heute bin ich mir sicher, auch als Kind schon welche erlebt zu haben). Kalter Schweiß, Herzrasen, Engegefühl in der Brust, zitternde Hände, alles um mich herum verschwimmt, ich bin der Ohnmacht nahe.

Klares Zeichen: Mein letztes Stündlein hat geschlagen. Dummerweise waren es gleich drei letzte Stündlein, weil sich die Attacke so richtig entfalten und in aller Pracht zeigen wollte. Allen Experten, die behaupten, jede Attacke klinge nach spätestens 15 bis 30 Minuten automatisch ab, erzähle ich gerne von diesem Höllenritt.

Anfang 20: Reiselust, Reisefrust und kurzzeitig sogar lange Haare, mit denen sich lustige Dinge anstellen lassen.

Ach so, ich habe meine drei letzten Stündlein überlebt. Besser fühlte sich das Leben dadurch leider nicht an. Denn ab jetzt galt es aufzupassen und volle Kontrolle zu bewahren, damit so ein Ereignis nie wieder passierte. Meine Taktik: akribisch auf alle Warnzeichen des Körpers zu achten und nur keine Risiken mehr einzugehen. Die Taktik ging überraschenderweise nicht auf. Denn was passiert, wenn der Aktionsradius immer enger wird und das Gehirn die ganze Zeit unwidersprochen „Gefahr!“ rufen darf? Richtig: Panikattacken-Party. Ob Notfallambulanzen in der Uniklinik in Würzburg, im Klinikum Großhadern in München, im Krankenhaus Kaufbeuren oder der hausärztliche Notdienst in Lindau und Landshut (nur um ein paar ausgewählte Beispiele aus mindestens einem Dutzend zu nennen): Ganz schön viele Ärzte durften sich meine Todesangst live ansehen. Und sich darüber freuen, dass sie mich 30 Minuten später ohne Herzinfarktdiagnose wieder entlassen konnten. „Das ist psychosomatisch.“ Für den Satz hätte ich sie würgen können.

Am liebsten hätte ich mir damals ein Zimmer im Krankenhaus gemietet, um in Sicherheit zu sein. Für Auslandsreisen hatte ich einen Joker: Ein befreundeter Rettungssanitäter war nicht nur dabei, sondern übernahm sogar die kompletten Fahrten in seinem Wagen. Was mir wiederum die Möglichkeit für ein paar Bierchen bot, um so richtig entspannt im Süden anzukommen.

Mein VWL-Studium gab es nominell auch noch. Durch meine Psychothemen hatte ich genug Ausreden, um mich vor dem nötigen Aufwand zu drücken. Wobei es den „nötigen Aufwand“ genau genommen nur für die Menschen gab, die glaubten, man müsse ein einmal begonnenes Studium auch zu Ende bringen. Ich glaubte eher, dass a) VWL das langweiligste und freudloseste Studienfach sei, das sich ein Mensch je ausdenken konnte, b) ich sowieso nicht vor 30 in das offizielle Arbeitsleben eintreten wollte, und schon gar nicht in so einem komischem Krawattenjob, und c) ich die Zwischenzeit noch ganz gut mit dem Zelebrieren des Nachtlebens überbrücken könne.

Was mir so gut gelungen ist wie sonst kaum etwas zuvor in meinem Leben. Wenn ich nicht als DJ, Barkeeper oder Hotelnachtwächter jobbte, war ich gern gesehener Gast diverser Clubs und Kneipen Würzburgs. Ist es nicht ein Ritterschlag, wenn einen jede Menge Türsteher mit Vornamen kennen? In der Nacht fühlte ich mich sicher, in meiner Welt, in meinem Metier. Dort, wo Betäubung normal war. Dort, wo die Menschen auch mal ihre Alltagsmasken fallen ließen. Dort, wo sich alle die trafen, denen die Tagwelt suspekt war. Nachts fällt kein so helles Scheinwerferlicht auf deine Ängste. Die Nacht ist perfekt für Hasenfüße, die ein bisschen was vertragen.

Der eingesperrte Revoluzzer: 30 bis 40

Ui, schon 30 – jetzt aber mal volle Kanne rein ins seriöse Leben! Der Übergang ins neue Lebensjahrzehnt ist schnell erzählt: VWL-Studium in Würzburg kurz vor der Exmatrikulation geschmissen, Umzug nach München, um dort zu jobben und an der Fernuni Hagen das Studium (diesmal BWL, was für ein abenteuerlicher Schachzug!) fertigzubringen, meine wundervolle Frau bei einer Millenniumsparty in München kennengelernt (nur mittelstark beschwipst), Start als freier Mitarbeiter bei einer regionalen Tageszeitung in Südbayern. Nach einem Jahr guter Führung sogar die Chance auf ein Volontariat. „Sie sind 30. Das ist Ihre letzte Chance!“, ließ mich der damalige Chef der Lokalredaktion wissen. Was weder er noch ich in dem Moment ahnten: Dieser Satz würde zehn Jahre später eine völlig neue Bedeutung bekommen und mein Leben von Grund auf umkrempeln.

Endlich ein fester Job. Wie geplant mit 30. Ehrlich gesagt hatte ich nicht mehr damit gerechnet, überhaupt in der Arbeitswelt unterzukommen. Und dann auch noch mein Traumjob! Sportredakteur. Runter von der Fantribüne, rauf auf die Pressetribüne. Das zumindest war einer der spannendsten Karrieresprünge, die je im Kaufbeurer Eisstadion vollzogen wurden. Eltern, Verwandte, Freunde – alle zufrieden: Aus dem ewigen Studenten ist ja doch noch was geworden. Mein Ego in Höchstform: „Ja, jetzt gehörst du dazu!“ Meine Seele, anfangs noch ganz leise: „Bist du sicher? Bist du wirklich, wirklich sicher, dass es das ist? Du als geborener Rebell magst jetzt also viel Druck, unbezahlte Überstunden, unberechenbare Chefs, unseliges Konzerngeklüngel und dich mit Kollegen um Urlaube und Brückentage streiten? Dein Traumleben besteht darin, dich häufig zu überarbeiten, dich danach zu Hause völlig fertig aufs Sofa zu werfen und den Rest des Abends Fernsehen zu schauen?

Und dich an den Wochenenden zu betrinken und die restliche Zeit Sport im Fernsehen zu glotzen? Ist ja interessant …“

Für solch unqualifizierte Einwürfe liegt die gewohnte Lösung in meiner Hand: Öffner, Bierflasche, plopp, gluckgluck, Ruhe im Karton. Ich lass mir doch meinen Traumjob nicht madig machen. Okay, anstatt rauszugehen und geile Geschichten zu schreiben, sitze ich 90 Prozent der Zeit an meinem Schreibtisch, bearbeite fremde Texte und baue Zeitungsseiten zusammen. Ich bin top bezahlter Sachbearbeiter für Schützenvereinsartikel, muss nicht annähernd die Grenzen meiner Geniezone ausloten und verkaufe mich weit unter Wert. Ich muss mich in sinnlose Konzernhierarchien einordnen, obwohl alles in mir dagegen aufschreit. Doch deshalb lasse ich mir noch lange nicht meinen Traumjob madig machen!

Meine Seele: „Alles klar, meine sanften Hinweise sind wohl im Stadiongebrüll untergegangen. Ich leg diesmal auf die Panikattacken noch eine schwere Depression drauf. Und jetzt?“ Und jetzt, und jetzt. Es ist Anfang 2004. Ich gebe doch nach nur einem Jahr Berufsleben nicht auf. Für eine schwere Depression gibt es einen Psychiater. Der wiederum hat tolle Psychopharmaka, um die Laune wieder zu heben. Was für ein Segen! Ich brauche gar keinen Alkohol mehr. Meine Betäubung zahlt jetzt die Krankenkasse. Da hätte ich ja früher darauf kommen können. Bei vermehrter Angst und Depression nehme ich eine höhere Dosis, bei weniger Angst und Depression einfach weniger. So einfach ist das, sagt mein Psychiater.

Komisch, trotzdem folgen in den nächsten neun Jahren immer wieder Panikattacken und zwei weitere, schwere depressive Episoden … 40 Jahre lang wollte und konnte ich nicht ehrlich hinschauen. Nach außen hin führte ich spätestens ab 30 ein super Leben. Verheiratet mit einer einfühlsamen und humorvollen Frau, die mir genug Freiheit lässt. Ein sicherer und gut bezahlter Job. Genug Geld für ansehnliche Klamotten, Restaurantbesuche, tolle Wellness-Hotels und mehrere wunderschöne Urlaube pro Jahr. Ein paar gute Freunde, liebe und lustige Arbeitskollegen. Meine neue Leidenschaft „Slow Food“ in einer bunten Truppe von Menschen, denen nachhaltige Lebensmittelproduktion und leckeres, regionales Essen am Herzen liegt. Andere motivierte Menschen, mit denen ich gemeinsam Sportveranstaltungen organisierte oder im Fußballverein ehrenamtlich zusammenarbeitete. Und vielleicht das Wichtigste: mein nie versiegender Humor (außer in den akut depressiven Phasen). Es waren also durchaus gute Jahre dabei, in denen ich dachte, die Wende geschafft zu haben.

Nach außen ein normales Leben als Sportredakteur, der gerne feiern geht. Doch Alkohol und Psychopharmaka hinterlassen körperliche Spuren.

Doch das Grundproblem blieb: Wieso fesseln mich immer wieder Ängste und Depressionen, wenn ich doch eigentlich ein gutes Leben führe? Heute weiß ich: Ich war noch nicht tief genug gefallen, um auch nur ansatzweise zu verstehen, was ich mir selbst tagtäglich antue. Ein Leben, in dem ich mich kaum gespürt habe. Ein Leben, das ich mit meinem Verstand in den Griff bekommen wollte. Ein Leben abgeschnitten von meiner Gefühlswelt. Ein Leben, das sich ohne Alkohol und Medikamente nur selten so richtig lebendig und lebenswert anfühlte. Ein Leben fernab von meinen ursprünglichen Qualitäten und Bedürfnissen.

Dieses Leben ist mir Anfang 2013 um die Ohren geflogen. Aus dem, was nach dem großen Knall übrigblieb, habe ich mir ein neues aufgebaut. Im folgenden Kapitel nehme ich dich mit in die Wendejahre 2012 bis 2014 – von meinen bittersten, schmerzhaftesten Momenten bis zum katapultartigen Neustart.

Freier Fall mit hartem Aufschlag

Endlich die höchste Gehaltsstufe als normaler Redakteur erreicht. Noch mehr Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Noch ein paar Euro mehr, die auf das Festgeldkonto wandern. Dort liegt er, der Traum von einem besseren, anderen Leben. Eine Pension wollten wir aufmachen. Menschen mit all unserer Herzensfreude betreuen, umsorgen, bekochen. Gastgeber spielen, weil meine Frau und ich das richtig gut draufhaben. Doch außer den Sparraten auf dem Konto und ein paar vagen Plänen tut sich nicht viel. Zu erschöpfend die tägliche Tretmühle, zu niedrig unsere Energie, zu wenig Leidensdruck trotz aller Probleme und augenscheinlich zu viel Schmerzensgeld in unseren Jobs.

Die 40er-Party ein rauschendes Fest. Wenn ich etwas kann, dann organisieren, die besten Leute zusammenbringen, feines Essen und leckerste Getränke im Überfluss zur Verfügung stellen. Trinken, tanzen, singen bis in die Morgenstunden.

Doch der Kater will diesmal gar nicht mehr gehen. Mitte des Jahres bekomme ich erste schwere Sehstörungen am Rechner in der Redaktion. Der Kollege, gelernter Pfleger, gibt Entwarnung: zumindest kein Schlaganfall. Das Warnzeichen kommt nun öfter. Dazu eine massive innere Unruhe und das diffuse Gefühl: Hier stimmt etwas ganz und gar nicht mehr. Der dreiwöchige Trip im Sommer mit Zug, Bus und Auto durch Skandinavien bringt kurzzeitige Erleichterung. Danach startet der rasante Sturzflug.

Ich sitze bei der morgendlichen Redaktionskonferenz. Sechs oder sieben liebe Kollegen, die sich alle gut verstehen. Wir sprechen über die anstehenden Themen des Tages. Mit einem Schlag ist nichts mehr, wie es war. Herzrasen, Schweißausbruch, Zittern. Fuck, jetzt hat mich die Panik sogar im Büro erwischt! Wieso ausgerechnet hier, wo doch alles in Ordnung ist und keine Gefahren drohen? Ich schäme mich so, weil ich nichts mehr unter Kontrolle habe. Der Puls von mindestens 200 lässt mich in Schweiß ausbrechen, riesige Flecken bilden sich unter den Achseln. Was passiert jetzt, wenn alle mitkriegen, was bei mir abgeht? Niemand außer meiner Frau weiß doch von meiner Angstgeschichte. Jetzt werden sie meine langjährige Schauspielerei entlarven und feststellen, dass sie mit so einem Psycho-Heini nicht zusammenarbeiten können. Also reiß dich zusammen, spiel Normalität, in ein paar Minuten bist du in deinem rettenden Einzelbüro!

Super, hat geklappt. Keiner hat was gemerkt oder sich etwas anmerken lassen. Das Spielchen geht die nächsten Wochen und Monate so weiter. Täglich grüßt die Morgenkonferenzpanik, und niemand ahnt, was los ist. Außer einem Kollegen, der mich auf das Zittern anspricht. Von meinem Psychiater und diversen Büchern hatte ich die Kernaussage der Konfrontationstherapie gelernt: Wenn ich mich der angstauslösenden Situation nur oft genug stelle, verschwindet die Angst. Was hiermit widerlegt wäre.

Bei mir wird es schlimmer und schlimmer. Bis ich zum ersten Mal kapituliere und meiner Chefin erzähle, was los ist und dass ich von nun an nicht mehr in die Konferenz gehen kann. Auf eine wichtige Pressekonferenz schicke ich einen Kollegen, weil allein der Gedanke an so viele Menschen und auf mich gerichtete Augen Panik auslöst. Ich schleppe mich täglich in die Arbeit, kämpfe, kämpfe, kämpfe und suche verzweifelt nach dem rettenden Fallschirm. Entspannungstechniken, geführte Traumreisen, Hypnose-Akupunktur, noch mehr Medikamente, noch mehr Alkohol? Ich probiere alles – und nichts hilft mehr. Stattdessen stürze ich endgültig ab. Panik beim Spazierengehen, Panik beim Autofahren, Panik im Supermarkt, Panik in der Arbeit, Panik im Fußballverein. Mein Psychiater rät: Jeden Morgen ein starkes (und extrem schnell süchtig machendes) Beruhigungsmittel nehmen, dann käme ich prima durch den Tag. Ich bin zum Glück trotz der katastrophalen Situation noch klar und innerlich gefestigt genug, um diesen Wahnsinn nicht mitzumachen, und breche die Therapie nach zehn Jahren ab.

17. April 2013. Nichts geht mehr. Der monatelange Sturzflug endet mit einem extrem harten Aufschlag. Ich finde mich wieder am tiefsten Punkt meines Lebens. Nach einer schlaflosen Nacht die erschreckende und erlösende Feststellung zugleich: Ich kann und will nicht mehr kämpfen. Ich habe keine Kraft mehr. Ich gebe auf.

Die Entscheidung meines Lebens