Mut zum Protest - Aleksandra Majzlic - E-Book

Mut zum Protest E-Book

Aleksandra Majzlic

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Beschreibung

Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls gibt Aleksandra Majzlic jenen Andersdenkenden eine Stimme, die gegen das System aufbegehrten und staatliche Gewalt ertragen mussten. In den persönlichen Erfahrungen und Reflexionen dieser Menschen wird die DDR-Geschichte und deren Aufarbeitung konkret: Eine Betroffene berichtet von sexuellem Missbrauch im Jugendwerkhof Torgau. Ein Ex-Häftling erzählt von einer späteren Begegnung mit seinem damaligen Stasivernehmer, ein anderer spricht von seiner versuchten Flucht aus dem Überwachungsstaat. In den Porträts geht es nicht nur um erlittene Repressionen, sondern auch um Zwangsadoptionen, Ausländerhass und um Schikanen, denen Homosexuelle ausgesetzt waren. Die Schilderungen der Protagonisten zeugen von der Möglichkeit und vom Mut des Einzelnen, sich gegen Anpassung und Willfährigkeit zu entscheiden und Widerstand zu leisten. Die meisten der von Aleksandra Majzlic Porträtierten sind der Öffentlichkeit kaum bekannt, und dennoch stehen sie exemplarisch für all jene, die 1989 den politischen Wandel im Osten Deutschlands durchgesetzt haben. Diese Menschen setzen sich noch heute für die Aufklärung des DDR-Unrechts ein und halten die Erinnerung an das Geschehen lebendig.

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Aleksandra Majzlic

Mut zum Protest

Erfahrungen von DDR-Zeitzeugen

© 2019 zu Klampen Verlag ∙ Röse 21 ∙ 31832 Springe ∙ zuklampen.de

Umschlaggestaltung: © Stefan Hilden ∙ München ∙ hildendesign.de

Covermotiv: © HildenDesign unter Verwendung eines Motivs

von shutterstock.com

Satz: Germano Wallmann ∙ Gronau ∙ geisterwort.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

ISBN 978-3-86674-741-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Für meine Eltern Helga und Elio

sowie meinen Lebenspartner Stefan

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwortvon Katrin Sass

Einleitung

Porträts

»Mein Schicksal macht mich stark«Katrin Behr hilft Menschen, die in der DDR zwangsadoptiert wurden – wie sie selbst

»Wenn jemand seine Schuld eingesteht, kann ich vergeben« Gilbert Furian interviewte seinen ehemaligen Stasivernehmer, DDR-Juristen und Spitzel

»Ich wollte aus Liebe zu meinem Freund in den Westen«Mario Röllig wagte die Flucht und setzt sich heute mit Ex-Stasileuten auseinander

»Wir bestrafen die Täter, indem wir das Schweigen brechen«Corinna Thalheim klärt über sexuelle Gewalt im Jugendwerkhof auf – als Betroffene

»Für mich war die DDR eine einzige Lüge«Monika Lembke kämpfte mit Gleichgesinnten in der Gruppe Weißer Kreis für die Ausreise

»Heute wird die Diktatur oft verharmlost«Kai Feller erhielt Abiturverbot – wegen öffentlicher Regimekritik in der Schule

»Wir haben in Grenzen gedacht und wollten im Land etwas verändern«Evelyn Zupke entlarvte mit ihren Weggefährten im Weißenseer Friedenskreis 1989 den Wahlbetrug

»Die Kirche muss deutlich zu hören sein«Almuth Berger setzte sich vor und nach der Wiedervereinigung für Ausländer ein

»Wir lassen uns in den Friedensgebeten nichts vorschreiben«Hans-Joachim Döring war einer der Initiatoren der Montagsgebete in der Leipziger Nikolaikirche

»Noch sechs Tage hätte die Stasi gebraucht, dann hätte sie uns gehabt«Günter Wetzel flüchtete mit seiner Familie im Ballon in den Westen

»Man singt sich die eigene Angst von der Seele«Wolf Biermann prangerte in seinen Liedern die Diktatur an und wurde ausgebürgert

»Mut wächst meist, ohne dass man es bemerkt«Bärbel Bohley stritt erst für DDR-Reformen und dann für die Aufarbeitung der Diktatur

»Ich war das, was man eine Überzeugungstäterin nennt«Melanie Weber unterstützte Häftlinge und ging gegen das Vergessen an

»Die Universität ist keine Parteiinstitution«Georg Wrazidlo protestierte gegen den sowjetischen Einfluss an den Hochschulen

Anhang

Glossar

Chronik

Dank

Verwendete Literatur

Über die Autorin

Vorwort

Wenn ich an die Friedliche Revolution von 1989 denke, habe ich vor allem ein Plakat vor Augen. Darauf stand dieser großartige Satz von Rosa Luxemburg: »Freiheit ist immer nur Freiheit des Andersdenkenden.« Ich war damals am Schauspielhaus in Leipzig engagiert und immer montags vor der Nikolaikirche. Es war jedes Mal ein spannender Moment: Die Tür ging auf, junge Leute kamen heraus, langsam und ganz leise. Sie holten unter ihren Jacken Transparente hervor, rollten sie aus. Dann setzte ein Sprechchor ein, erst kaum vernehmbar, dann immer lauter. »Wir wollen ein offenes Land mit freien Menschen«, skandierten sie. Es klang fast wie ein Gesang. Wunderschön. Ich kriegte Gänsehaut, heulte. Aber auch daran erinnere ich mich: Plötzlich waren wir alle umstellt. Ich bekam mit, wie Typen in Zivil vor der Kirche blitzschnell die Gummiknüppel aus den Jacken zogen. Man sah ihnen die Bösartigkeit richtig an. Sie prügelten diese mutigen Demonstranten auf den Lkw. Das war schrecklich.

Einer meiner Schauspielkollegen geriet auch einmal in so einen Tumult, kurz vor Beginn der Theatervorstellung. Er wurde geschlagen. Aus Versehen, weil er verwechselt wurde. Ich sagte zu ihm: »Du hast kaputte Knie und eine Verletzung am Kopf, so gehen wir jetzt vor das Publikum.« Aber das ging natürlich nicht.

Wir schlossen die Fenster und probten fleißig weiter, während die Demonstranten an unserem Theater gegenüber des Staatssicherheitsgebäudes vorbeizogen. Kein Wunder, unser Leiter war Mitglied im Zentralkomitee (→ Glossar »Zentralkomitee (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED)«). Einige von uns schlichen sich dennoch immer montags zur Nikolaikirche.

Ich finde die Leute so toll, die sich als Erste in die Nikolaikirche trauten. Ich glaube, es ist in der Öffentlichkeit gar nicht so bekannt, dass die ersten Montagsgebete in Leipzig schon Anfang der Achtzigerjahre stattfanden. Damals hatte ich nicht den Mut, mich in die Riege der Demonstrierenden einzureihen. Das ärgert mich heute sehr. Ich hätte in der DDR mit Musik den Kampf erklären sollen – wie es Dunja Hausmann in der Fernsehserie Weissensee wagt. Ich spiele diese Rolle einer regimekritischen Sängerin in der Diktatur, sozusagen einen weiblichen Biermann.

Als Jugendliche wusste ich gar nicht, wer Wolf Biermann überhaupt ist. Das erfuhr ich erst an der Schauspielschule. Nach der Ausbürgerung des unbequemen Liedermachers 1976 gab es eine Razzia in unserem Studentenwohnheim. Alle Biermann-Kassetten mussten verschwinden. Die Studenten schoben einige in den doppelten Boden eines Vogelhäuschens auf dem Balkon. Andere Bänder versteckten sie in ihren Stofftieren. Eine Freundin nähte ihre Kassette ins Kopfkissen ein. Abends holte sie das gerettete Stück wieder heraus. Wir tranken Rotwein, zündeten Kerzen an und hörten heimlich die oppositionellen Lieder. Ich war begeistert und dachte: »Das ist ein toller Typ. Der macht tatsächlich was.«

Ich finde es wichtig, dass Aleksandra Majzlic bekannte, aber vor allem auch weniger bekannte mutige Menschen in diesem Buch präsentiert. Diese Menschen boten den Oberen in der DDR die Stirn und beteiligen sich heute an der Aufarbeitung, indem sie schildern, wie die DDR wirklich war und wozu ihre Diener fähig waren.

Wirklich Herausragendes leistet Katrin Behr in ihrem Berliner Verein Hilfe für die Opfer von DDR-Zwangsadoptionen. Bei der Verleihung des Medienpreises Goldene Henne 2014 in Leipzig lernte ich sie kennen. Katrin Behr wurde für ihre Arbeit in dem Verein ausgezeichnet und ich durfte die Laudatio halten. Leider wird Zwangsadoption noch immer als Tabu behandelt. Dagegen geht Katrin Behr an. Als Kind wurde sie selbst zwangsadoptiert. Das Familiengericht hatte das über den Kopf ihrer Mutter hinweg beschlossen – ein unbegreiflicher Missbrauch staatlicher Gewalt (→ Glossar »Justiz«). Erst nach der Wiedervereinigung (→ Glossar »Wiedervereinigung: die entscheidenden Schritte vom Mauerfall bis zum Tag der Deutschen Einheit«) sahen sich Mutter und Tochter wieder. Unzählige Zwangsadoptionsfälle sind hingegen noch nicht aufgeklärt. Deshalb ist es so wichtig, dass Katrin Behr die Betroffenen bei der Suche nach ihren Angehörigen unterstützt.

Meine Bewunderung gilt auch Bärbel Bohley. Ich traf sie leider nie. Bei der Trauerfeier in Berlin anlässlich ihres Todes 2010 durfte ich Zitate aus ihren Texten vortragen. Die Einladenden hatten gemeint: »Bärbel Bohley hatte so eine Direktheit und Schnodderigkeit. Wäre schön, wenn Sie das lesen könnten.«

Ex-Stasileute trauern der DDR heute nach. Bei der Vorstellung des Buchs Drachentöter. Die Stasi-Gedenkstätten rüsten auf vom früheren Stasioffizier Herbert Kierstein in Berlin platzte mir der Kragen, als einige der einstigen Stasitreuen über Demokratie redeten. Behaupteten, sie finde in diesem neuen Deutschland nicht statt und dies sei in der DDR ganz anders gewesen. Da ging ich sehr laut dazwischen und rief: »Wenn es diese Demokratie heute bei uns nicht gäbe, würdet ihr Verbrecher da vorne nicht stehen!« Plötzlich packte mich ein junger Bursche an und schrie: »Raus!« Aber die Demonstranten stellten sich mit ihren Plakaten um mich herum und schützten mich.

Einer von ihnen war Mario Röllig. Ich hatte ihn bei einer Theateraufführung in Potsdam kennengelernt. Als ehemals Inhaftierter von Hohenschönhausen wirkte er in dem Stück Staats-Sicherheiten am Hans-Otto-Theater mit. Die Vorführung war sehr emotional. Ich sprach Mario danach an, sagte, wie toll ich das fand. Er und seine Schicksalsgefährten versuchten nicht, das Erlebte zu spielen. Sie erzählten einfach auf der Bühne von ihren schlimmen Erfahrungen. Was Mario erlitt bei seiner gescheiterten Flucht (→ Glossar »Republikflucht«), in der Haft und während der zufälligen Begegnung mit seinem vormaligen Stasivernehmer nach der Wiedervereinigung – das ist für mich wirklich unglaublich. Dass er sich dann entschloss, in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen Führungen zu machen, finde ich wunderbar. Ich war bei seinem Rundgang durch das ehemalige Stasigefängnis dabei. Es war ein verregneter Tag. Es war grau – und was ich da drinnen sah, war grauenvoll. Er zeigte uns auch seine damalige Zelle. Was Mario dann beschrieb, löste in mir noch viel mehr aus, als meine Fantasie überhaupt zuließ. Der absolute Horror. Und das passierte alles in einem Staat, der sich Deutsche Demokratische Republik nannte. Er und andere frühere Gefangene halten die Erinnerung an das Geschehen wach.

Frühere Stasileute verdienen heute noch Geld mit ihrem Fachwissen. Das ist wirklich absurd. Als wir Weissensee drehten, erklärte uns ein Technikexperte, wie man zu DDR-Zeiten Abhörgeräte eingebaut hatte. Ich wurde gebeten, ruhig zu bleiben, als ich ihn dann beim Mittagessen sah. Ich dachte: »Der sitzt da wie ein ganz normaler Handwerker und kassiert Geld für Dinge, bei denen mir, wenn ich daran denke, wirklich schlecht wird.«

Ich finde es mutig, dass Gilbert Furian seinen Ex-Stasivernehmer sowie in der DDR tätige Juristen und Spitzel zum Interview traf. Einer von denen sagte tatsächlich: »Ich schäme mich abscheulich.« Das ist schon großartig, und ich denke, er meinte das auch so. Von vielen hört man hingegen Sätze wie: »Wir haben das gemacht für eine gerechtere Welt. Weil wir überzeugt waren. Weil unsere Familien uns geprägt haben. Weil wir sicher waren, dass von der DDR nur Frieden ausgeht.«

Ich würde wirklich gern den ehemaligen Freunden gegenübersitzen, deren Berichte ich in meiner Stasiakte (→ Glossar »Inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS)) entdeckte. Sie sind natürlich nicht bereit dazu. Nach der Akteneinsicht rief ich sie fast alle an. Sie redeten sich mit Erpressung heraus, heulten. Kein einziges Wort mehr möchte ich allerdings mit meiner einst besten Freundin reden. Sie hatte sich mir damals an den Hals geworfen. Ich legte ihr mein gesamtes Leben in den Schoß. Erzählte alles, was man seiner besten Freundin eben so erzählt. Sie schrieb alles auf. Seitenweise. Später sagte sie in einem Interview, sie wolle mit dieser Schuld nicht sterben. Aber ich möchte sie nicht mehr sehen. Ich kann ihr nicht vergeben, selbst wenn sie vor mir heulend auf die Knie fallen würde.

Mich wollten Stasimänner auch als Spitzel ködern. Sie klingelten bei mir, hatten Sportgarderobe von adidas dabei. Die wollten sie mir schenken – zum 1. Mai, weil an diesem Tag die Schauspieler und Sportler immer zusammen feierten und ich an diesen Veranstaltungen mit einer Gesangseinlage beteiligt war. Erst freute ich mich riesig über die schicken Klamotten. Aber dann wollten sie mich ausquetschen über das Ensemble am Landestheater Halle, zu dem ich gehörte. Ich beendete das Gespräch schnell. Sie nahmen die Sportsachen, gingen und ließen mich fortan in Ruhe.

In Konfrontation mit den Oberen geriet ich auch bei den letzten Wahlen (→ Glossar »Wahlen«) 1989. Damals war man eigentlich schon auf der sicheren Seite. Ich ging wählen und mein damaliger Mann hatte seine Kamera dabei. Es war aber kein Film darin. Ich setzte mich in die Wahlkabine, das war schon verdächtig. Ich machte ein großes Kreuz über das ganze Blatt. Als ich den Zettel dann in die Urne steckte, tat mein Mann so, als würde er mich fotografieren. Einer der Aufpasser drohte: »Gehen Sie weg mit der Kamera!« Mein Mann erwiderte: »Wieso? Honecker wird doch auch ständig fotografiert beim Wählen.« Sie warfen ihn hinaus. Da kochte es in mir über. Ich zerriss den Wahlzettel, schmiss die Fetzen in den Papierkorb und rief: »Macht doch diesen Scheißladen zu und das ganze Land auch!«

Bald danach geschah dann das Wunder: Die Mauer fiel (→ Glossar »Mauerfall«). Was für ein unfassbares Glück. Wir bekamen endlich unsere Freiheit. Ich hatte mich immer so danach gesehnt. In der DDR war sie uns geraubt worden. Wir waren in einem großen Gefängnis zur Welt gekommen.

Katrin Sass, Schauspielerin

Einleitung

Mutige Menschen bewiesen Menschlichkeit in einem menschenverachtenden System. Trotz Unterdrückung entschieden sie sich für den aufrechten Gang. Friedlich opponierten sie gegen Lug und Trug, Willkür und Gewalt in der DDR. Sie scheuten kein Risiko im Kampf für Freiheit, Meinungsvielfalt und Gerechtigkeit. Heute beteiligen sie sich mit großem Einsatz an der Aufarbeitung der Diktatur – als Mitglieder von Vereinen für Betroffene und Zeitzeugen in Schulen und Gedenkstätten.

Die meisten der Porträtierten in diesem Buch sind in der Öffentlichkeit nicht bekannt, denn ich möchte bisher kaum erzählte Geschichten in den Fokus rücken. Ihre Lebenswirklichkeiten stehen beispielhaft für ähnliche Biografien couragierter Menschen in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) (→ Glossar »Blockparteien«) betrachtete die DDR als ihren Staat, lenkte, kontrollierte und beherrschte ihn. Schon Kinder und Jugendliche wollte die DDR-Staatspartei ideologisch indoktrinieren – erst bei den Pionieren, dann bei der Freien Deutschen Jugend (FDJ) (→ Glossar). Wer beispielsweise in der Schule keine Nachteile erleben wollte, musste diesen Massenorganisationen angehören. Den weiteren persönlichen Werdegang bestimmte auch, ob man zu den SED-Mitgliedern zählte oder nicht. Die Hegemonialpartei wollte das Volk auf Biegen und Brechen auf Kurs bringen, jegliche Individualität und Auflehnung unterbinden.

Dennoch wählten die im Buch versammelten Protagonisten die Alternative zu Anpassung und Willfährigkeit. Welche Ziele verfolgten sie mit ihren Aktionen? Welche Erfahrungen sammelten sie dabei? Welche Folgen zog ihr Handeln nach sich? Diesen Fragen gehe ich hier unter anderem nach.

Die Pfarrerin Almuth Berger gründete mit Mitstreitern das erste offene Begegnungszentrum für Aus- und Inländer in der DDR. Erfolgreich behauptete sie sich gegenüber den Verantwortlichen in ihrem Ostberliner Stadtbezirk, die dieses Engagement unterbinden wollten. In den Betrieben schaltete sie sich ein, wenn die ausländischen Vertragsarbeiter gedemütigt wurden.

Wie und weshalb der in der DDR tabuisierte Ausländerhass nach dem Mauerfall (→ Glossar) um sich griff, erläutert die einstige DDR-Ausländerbeauftragte Almuth Berger im Interview: »Dass der Nationalsozialismus nicht richtig aufgearbeitet wurde, halte ich unter anderem auch für einen Grund für die Aggressivität gegenüber Ausländern.«

Die Leipziger Friedensgebete lockten im Herbst 1989 die Massen an. Bereits sieben Jahre zuvor hatten sie in der Nikolaikirche stattgefunden – wenn auch mit weit weniger Teilnehmern. Der damalige Diakon Hans-Joachim Döring gehörte zu den Initiatoren. Im Gespräch erklärt er, welcher Zufall bei der Entstehung mitspielte. Und er sinnt darüber nach, warum es möglicherweise »eine gewisse historische Bedeutung« hat, dass sie nicht wie ursprünglich geplant mittwochs, sondern montags veranstaltet wurden. Von den Montagsgebeten gingen schließlich die Montagsdemonstrationen aus. Auch außerhalb der Nikolaikirche solidarisierte er sich mit den Jugendlichen und ging auf Konfrontationskurs mit den Herrschenden.

In diesem Buch geht es auch um den studentischen Widerstand von Georg Wrazidlo, Melanie Webers Hilfe für schwer kranke DDR-Gefangene, Bärbel Bohley und die Bürgerrechtsbewegung. Zudem porträtiere ich den regimekritischen Liedermacher Wolf Biermann, dem die SED nach seinem Kölner Konzert 1976 die Staatsbürgerschaft aberkannte. Ich beschreibe Wolf Biermanns Auftritte im Berliner Ensemble und am Brandenburger Tor – zum 25. Jahrestag des 9. November 1989.

Dreißig Jahre nach dem Mauerfall repräsentieren die Lebensgeschichten die Vielfalt des mutigen Protests in der DDR. Inwiefern prägten oder prägen die Jahre im SED-Staat die Protagonisten? Was mussten sie erleiden – als Kinder, Jugendliche und Erwachsene? In welchem Maße wurden sie an Leib und Seele beschädigt? Und auf welche Weise engagieren sie sich heute für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte? Das wollte ich von meinen Interviewpartnern wissen. In den Porträts kommen sie als Experten für das persönlich Erlebte zu Wort.

Eine von ihnen ist Katrin Behr. Sie wurde als Vierjährige von ihrer systemkritischen Mutter getrennt, im Heim von einer Erzieherin schlecht behandelt und schließlich zwangsadoptiert. Als Gründerin und Vorsitzende des Berliner Vereins Hilfe für die Opfer von DDR-Zwangsadoptionen bringt Katrin Behr heute durch Zwangsadoption getrennte Menschen wieder zusammen. Ich besuchte sie in ihrem Vereinsbüro, das sich in Berlin-Lichtenberg, wenige Stockwerke über dem Stasimuseum befindet, und beschreibe sie und ihre Tätigkeit an diesem Ort.

Im Interview kritisiert die Fachberaterin für DDR-Zwangsadoptionen, dass sich die Bundesregierung bedeckt hält, wenn es um die Entschädigung ehemals Zwangsadoptierter und Heimkinder geht. »Hören Sie auf, das als Tabu zu behandeln, denn das ist geschehen«, beschwor Katrin Behr die Politik bei der Verleihung der Goldenen Henne 2014 in Leipzig. Mit dem Medienpreis in der Kategorie Stille Helden wurde sie für ihre Vereinsarbeit geehrt.

Die siebzehnjährige Corinna Thalheim musste im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau tagelang in einem Kellerloch einsitzen und wurde vom Direktor mehrmals sexuell missbraucht. Heute ist sie Vorsitzende des Vereins Missbrauch in DDR-Heimen und berät Betroffene in der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau. »Sexuelle Gewalt ist immer noch ein Tabuthema. Und gerade über den Missbrauch in DDR-Heimen ist noch viel zu wenig bekannt«, betont Corinna Thalheim 2014. Als sie Leuten begegnete, die alles richtig fanden, was in der DDR passiert war, nahm sie sie mit in die Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau, die an die härteste Jugenderziehungseinrichtung der DDR erinnert. Nach dem Rundgang entschuldigten sie sich bei ihr für die Bemerkungen.

Die Schicksale meiner Interviewpartner machen die Dimension der SED-Diktatur begreifbar. In die geheimsten Ecken der Gesellschaft nisteten sich die Schergen des Ministeriums fürs Staatssicherheit (MfS) ein.

Als »Schild und Schwert« der SED fungierte das MfS – von der Bevölkerung »Stasi« genannt. Sie war politische Geheimpolizei, geheimer Nachrichtendienst und Organ für strafrechtliche Untersuchungen. Stasileute beschatteten Bürger, verhafteten sie und erzwangen Geständnisse. Undurchsichtig waren die Machenschaften dieses übermächtigen Überwachungs- und Unterdrückungsapparats.

Zu den Gefangenen der zentralen MfS-Untersuchungshaftanstalt in Hohenschönhausen zählte auch Gilbert Furian. Er hatte aufrührerische Texte an Freunde und Verwandte im Land weitergegeben und versucht, sie in die Bundesrepublik einschleusen zu lassen. Bei seinen Führungen durch die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen zeigt Gilbert Furian heute den Interessenten die Stelle im Kellerknast, an der sich ein Häftling tötete, führt sie zu den Gummizellen, beschreibt die Gewalttätigkeit der Schließer. Was passiert, wenn sich Ewiggestrige zu den Besuchergruppen gesellen und die Tatsachen leugnen, verriet er mir beim Rundgang durch die Gedenkstätte. Seinen ehemaligen Stasivernehmer traf Gilbert Furian nach der Wiedervereinigung (→ Glossar) zufällig wieder. Dass »man Schuld hat, schwerwiegende, ist schon klar«, räumte der einst linientreue Mann im Gespräch mit ihm ein.

Auch in der DDR tätige Richter und Staatsanwälte fragte Gilbert Furian, wie sie ihr damaliges Handeln beurteilen – in dem Staat, in dem eine Unabhängigkeit der Justiz (→ Glossar) nicht existierte. Die legislative, judikative und exekutive Macht lag bei der SED. Die Partei griff in laufende Verfahren ein, bestimmte oder berichtigte Urteile, erhöhte dabei meist das Strafmaß.

Im Stasiknast in Hohenschönhausen war auch Mario Röllig eingesperrt – nachdem seine Flucht (→ Glossar »Republikflucht«) gescheitert war. Er hatte sich in der Freiheit eine Zukunft aufbauen wollen, mit seinem Westberliner Freund, seiner ersten großen Liebe. Heute geht Mario Röllig mit Besuchern zum damaligen Ort des Entsetzens. Im Interview sprach er mit mir über seine düsteren Vorhersagen vom 9. November 1989, die sich bewahrheiteten, und von der zufälligen Begegnung mit seinem einstigen Stasivernehmer nach der Wiedervereinigung.

Auch im Ausland berichtet Mario Röllig über das ihm widerfahrene Unrecht in der DDR: Bei einem Vortrag in Moskau musste er sich mit ehemaligen Stasiverantwortlichen auseinandersetzen. In den USA wurde er hingegen nach seinen Schilderungen wie ein Hollywoodstar gefeiert.

Stoff für eine Hollywoodverfilmung sowie den Thriller Ballon von Michael Bully Herbig bot die einzige geglückte Ballonflucht aus der DDR: In einer Septembernacht 1979 flogen zwei Familien im selbst gebauten Heißluftballon von Thüringen nach Bayern.

Die DDR-Geschichte sei wichtig für Menschen in den alten und neuen Bundesländern, unterstreicht der Ballonbauer Günter Wetzel im Interview. Schülern vermittelt der Zeitzeuge: »Wir leben hier frei und können unsere Meinung sagen, das ist keine Selbstverständlichkeit.«

Günter Wetzel wollte damals weg, weil er mit dem System nichts zu tun haben wollte. Weil man nie wissen konnte, ob Spitzel einen belauschen. Im Interview rekapituliert er, wie dicht ihnen die Stasi auf den Fersen war. Dass die acht Flüchtlinge den Verfolgern entkamen, war eine peinliche Panne für das Ministerium für Staatssicherheit.

Zuletzt 91.015 hauptamtliche Mitarbeiter und etwa 189.000 Inoffizielle Mitarbeiter (IM) (→ Glossar) beschäftigte das MfS. Die IM observierten Kollegen, Freunde und Familienangehörige. Aus politischer Überzeugung. Weil sie sich etwa Vergünstigungen erhofften. Oder Aufstiegschancen. Oder weil die Stasi sie erpresste. Besonders auf den Kampf gegen Andersdenkende fokussierte sich das MfS. Dabei setzte es auf seine zerstörerischen »Zersetzungsmaßnahmen«, schüchterte DDR-Bürger ein, drängte sie ins Abseits oder verbreitete Gerüchte über sie – hinterhältig, niederträchtig und bar jedes Anstands.

Automatisch nahm die Stasi in den Schulen Kinder von Ausreiseantragstellern ins Visier. Nachdem Monika Lembke und ihr Mann für sich und ihre beiden Jungen die Ausreise beantragt hatten, wurde ihr sechzehnjähriger Sohn vom Lehrer als »Landesverräter« und »Klassenspalter« »schikaniert bis aufs Messer«. Der Schüler setzte deshalb seinem Leben ein Ende.

Danach sagte ein Behördenmitarbeiter Monika Lembke voraus, sie werde nie aus der DDR rauskommen. Da drängte es sie an die Öffentlichkeit. Monika Lembke, ihr Mann und Gleichgesinnte riefen 1983 den Weißen Kreis in Jena ins Leben. Regelmäßig fanden ihre Demonstrationen für ihre Ausreise auf einem zentral gelegenen Platz statt. Noch im gleichen Jahr wurde ihre Übersiedlung in die Bundesrepublik gewährt. Heute ist Monika Lembke als Zeitzeugin aktiv: »Man darf nicht vergessen, was geschehen ist, dafür war es zu schlimm.«

Im Interview erzählt sie von ihrer damaligen Sehnsucht nach dem Westen – und der Dämonisierung des Westens in der DDR. Mit Westen gemeint war die Bundesrepublik. Als Gegner brandmarkte die Obrigkeit das Land auf der anderen Seite der Mauer (→ Glossar). In der Schule versuchten die Lehrer, alles Westliche aus den Klassenzimmern zu verbannen. Monika schickten sie heim, als sie mit einer Westjeans im Unterricht erschien.

Evelyn Zupkes Plastiktüte mit Westwerbung erregte das Missfallen des Schuldirektors. Er wetterte gegen die Unverfrorenheit der Fünfzehnjährigen, damit in der Klasse aufzutauchen. Wenn Evelyn Zupke heute in Schulen darüber redet, reagieren ihre jungen Zuhörer verdutzt.

Von den Schülern hört die Zeitzeugin auch oft folgende Frage: »War die DDR ein Unrechtsstaat?« Evelyn Zupke bejaht das stets mit Nachdruck und schiebt als Begründung hinterher: »Es gab beispielsweise keine Meinungs-, Presse- und Wahlfreiheit.«

Dass die SED regelmäßig ihre Wahlergebnisse (→ Glossar »Wahlen«) aufhübschte, wusste eigentlich jeder im Staat. Evelyn Zupke und ihre Freunde im Weißenseer Friedenskreis in Ostberlin kamen als Erste auf den Gedanken, den Bluff bei der Kommunalwahl 1989 bloßzulegen – durch eine flächendeckende Auszählung; das hatte vorher noch keiner gewagt.

Weil Kai Feller sich getraut hatte, an der Ostberliner Carl-von-Ossietzky-Schule Unterschriften gegen die Militärparade am DDR-Staatsfeiertag (→ Glossar »Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR)«) zu sammeln, musste er die Schule verlassen. Das bedeutete lebenslängliches, landesweites Abiturverbot. In die sogenannte Ossietzky-Affäre 1988 waren auch andere Schüler einbezogen.

Dreißig Jahre später schildert Kai Feller Schülern an der Carl-von-Ossietzky-Schule, was einst geschah. Im Interview sagt er: »Heute wird die Diktatur oft verharmlost. Unsere Demokratie ist gewiss nicht vollkommen; aber es gibt Grundrechte, eine Gewaltenteilung und freie Medien. Und das ist der Unterschied zum totalitären System der DDR.«

»Mein Schicksal macht mich stark«

Katrin Behr

(*1967)

hilft Menschen, die in der DDR zwangsadoptiert wurden – wie sie selbst

Katrin und ihr älterer Bruder erlebten, wie unbekannte Männer die Mutter 1972 verhafteten. Die Schergen steckten die staatskritische Alleinerziehende ins Gefängnis und die Kinder ins Heim. Eine Betreuerin drangsalierte die Vierjährige. 1975 wurde Katrin von einem linientreuen Ehepaar zwangsadoptiert. Das Mädchen passte sich an, marschierte mit den Pionieren – und fand dennoch keinen Weg zum Herzen der Adoptivmutter. Schließlich flüchtete Katrin in eine unglückliche Ehe mit einem Politoffizier, trat ihm zuliebe in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands ein.