Mutter aller Schweine - Malu Halasa - E-Book

Mutter aller Schweine E-Book

Malu Halasa

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Beschreibung

Der christlich-jordanische Armeeoffizier Hussein Sabas versucht nach der Pensionierung sein Glück als einziger Schweinemetzger der Levante und verkauft alle Arten von Koteletts, Würsten und Schinken – sehr zum Leidwesen seiner rechtgläubigen muslimischen Nachbarn. Hussein lebt in einem von Frauen dominierten Haushalt in einem Vorort der jordanischen Hauptstadt Amman. Da ist seine konservative Schwiegermutter Fadhma, die über die Familie und ihre Geheimnisse wacht; seine enttäuschte Frau Laila, die sich bemüht, nicht in Bitterkeit zu versinken; seine junge Schwester Samira, die sich insgeheim einer Gruppe syrischer Aktivistinnen anschließt; und seine Nichte Muna. Diese ist zum ersten Mal aus den USA zu Besuch, bringt mit ihrem westlichen Blick gewohnte Sichtweisen durcheinander und freundet sich rasch mit Samira an. Husseins versteckte Schweinefarm, die Ankunft eines mysteriösen jungen Soldaten, der einst unter ihm diente, und Samiras politisches Engagement erschüttern das empfindliche Gleichgewicht des Haushalts und zwingen den Sabas-Clan zu einer dramatischen Entscheidung. Malu Halasa erzählt aus wechselnden Perspektiven die Geschichte dreier Generationen von Frauen und verwebt virtuos die ungleichen Wege, die sie sich entlang der engen kulturellen Grenzen und angespannten politischen Realitäten des Nahen Ostens bahnen. Religion und Politik, Flucht und Exil, Sinn und Irrsinn prägen diesen Roman, der – wie der Nahe Osten – vom Gewicht der Geschichte und der Erinnerung durchdrungen ist. "Mutter aller Schweine" ist ein Roman über den heutigen Alltag im Nahen Osten, erzählt aus dem Innern einer Familie – unverhüllt und kritisch, mit schwarzem Humor und einem tiefen Verständnis für die Herausforderungen der Region.

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Malu Halasa

Mutter aller Schweine

Roman

Aus dem Englischen von Sabine Wolf

Für Andy

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

DANK

1

Die Enttäuschung brennt wie Steppe. Sie riecht nach alten Socken und durchsickert die Spalten und Risse des neuen Hauses. Der Geruch, vertraut und immer gleich, begrüßt Hussein jeden Morgen. Ähnlich beharrlich ist die dumpfe Schwere in seinem Kopf – heute das Ergebnis von zu viel Johnnie Walker Red beim Begrüßungsessen für seine amerikanische Nichte Muna am Abend zuvor. Sie ist zum ersten Mal im Heimatland ihres Vaters, und Hussein dachte, er heitere die Stimmung des Familientreffens auf, aber tatsächlich hat er sich einfach egoistisch betrunken. Während er sich langsam anzieht, hofft er, dass sich der Nebel in seinem Kopf auflösen wird, sobald er sich Wasser ins Gesicht spritzt. Doch als er am Waschbecken im Badezimmer den Hahn aufdreht, kommt kein einziger Tropfen heraus. Da erinnert er sich an die leeren, quietschenden Wassertanks auf dem Dach. Der Wasserlaster ist schon drei Wochen zu spät. Fast mehr vom Geruch geführt, tastet er nach den Kanistern, die seine Stiefmutter gewöhnlich für solche Anlässe bereitstellt. Geht das Leitungswasser zur Neige, füllt Mutter Fadhma Gefäße an der öffentlichen Zisterne der Stadt. Sie ist bei so schlechter Gesundheit, dass sie die Behälter mit dem Taxi nach Hause transportiert. Weil Hussein zu faul zum Helfen ist, beschwert er sich nie über die Kosten.

Das Wasser schmeckt bleiern, so elementar wie der Geruch beim Aufwachen. Derselbe Geschmack durchzieht das Glas Tee, das auf dem Küchentisch für ihn bereitsteht. Beim ersten gierigen Schluck verbrennt und beruhigt Hussein sich zugleich, doch der strenge Geschmack stößt ihn ab. Als würde man Erde essen. Als er sich vorbeugt, um seiner Stiefmutter einen Gutenmorgenkuss zu geben, verliert er fast das Gleichgewicht. Er hustet, lässt sich auf den nächsten Stuhl sacken und verweigert das wartende Essen mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln. Das Glas Tee drückt er an die Brust wie einen Rettungsring.

»Chubs?« Die alte Frau hat ein Stück heiße Pita abgerissen und hält es ihm hin. Mutter Fadhma hat Husseins Tee und Frühstücksgeschirr mit einer Sorgfalt hergerichtet, als drehte sich die Welt allein um seine Wünsche und Bedürfnisse. Sie ist in ihren neuen blauen Polyesterbademantel gehüllt – ein Geschenk ihrer Enkelin aus Amerika – und würde Hussein nur zu gerne bedienen, doch er schüttelt nur wieder den Kopf, und so isst sie das Stück Brot schließlich selbst.

»Was für ein Fest gestern Abend …« Sie seufzt die Worte lang und schwer, doch ihre Satzmelodie hebt sich. Sie will seine Meinung hören.

Hussein bleibt reglos sitzen. Er weiß, dass Fadhma gerne über das Fest sprechen würde, über Muna, über irgendetwas, aber er muss seine ohnehin schon dezimierte Energie für den langen Tag aufsparen, den er noch vor sich hat.

Als sie keinerlei Bestätigung erhält, werden Mutter Fadhmas kleine Augen schmal. Sie will mit Hussein schimpfen, dass er zu wenig isst und zu viel trinkt; aber schon lange ist klar, dass sie am Ende doch schweigt. Selbst wenn er sich blamiert, wie gestern Abend, vergibt sie ihm. In den seltenen Fällen, in denen sie einmal den Mut aufbringt, ihn zurechtzuweisen, ist ihr Tadel sanft und tröstend.

Hussein gilt noch immer als der bestaussehendste der sechs Brüder. Selbst in seiner einfachen khakifarbenen Militäruniform, identisch mit tausend anderen, sah er gut aus. Etwas an dem abgenutzten roten Barett betonte seine jungenhaften Züge. Die Verbindung von Leutnant-Stern und diskret eingesticktem Adler seiner Elitebrigade erzeugte eine subtile Magie, die mehr als nur eine Frau unwiderstehlich fand. Doch jetzt, als er den schmuddeligen Schlachteranzug von der Garderobe neben der Haustür nimmt und hinausgeht, wird deutlich, dass diese einst schmissige Wirkung inzwischen völlig verloren ist. In Husseins ehemals glatte, schöne Züge haben die Jahre Krähenfüße gegraben.

Draußen zeigt die rissige Steintreppe ein ähnliches Bild. Das Haus ist das neueste an der holprigen, unbefestigten Straße. Die benachbarten Gebäude sind aus Lehmziegeln oder Stein; hinter ihren Mauern, uneinheitlich, gedrungen und verwittert, liegen Räume wie Löcher in einer verfaulten Zahnreihe. Auch Husseins Heim zeigt trotz seiner modernen Bauweise bereits eindeutige Zeichen des Verfalls.

Direkt hinter dem Zaun erstrecken sich karge, struppige Felder in die diesige Ferne. Der Dunstschleier liegt nicht an Husseins Kater; schon steigt die Hitze rasch empor. Zwei oder drei streunende Hunde schleichen lustlos auf der staubigen Straße umher. Sie sind jeden Morgen dort, angezogen vom unverkennbaren Blutgeruch aus dem ramponierten Van, der den Großteil von Husseins kurzer, spärlich geschotterter Zufahrt einnimmt. Normalerweise tut er so, als würde er einen Stein aufheben. Er muss ihn gar nicht werfen; sich zu bücken reicht, damit sich die Hunde, seit dem Welpenalter an Grausamkeit gewöhnt, die Straße hinuntertrollen. Eigentlich genießt er diesen kleinen Sieg, aber heute ist ihm zu übel, als dass er sich bücken könnte. Stattdessen kickt er halbherzig etwas Staub in Richtung des nächsten Köters und fährt mit dem Finger über einen neuen Kratzer, der beim Rücklicht beginnt und sich bis vor die Fahrertür zieht. Am Morgen zuvor war er noch nicht da. Mehrere ähnliche Kratzer durchziehen den Lack, die nicht vom üblichen Verschleiß durch Schotterstraßen herrühren. Die jüngste Zugabe ist länger und tiefer als der Rest. Entweder werden die Zeiten schlechter oder die Steine spitzer. Hussein seufzt und quetscht sich auf den Fahrersitz. Der Wagen ist für jemand viel Kleineres ausgelegt. Selbst wenn er den Sitz so weit wie möglich nach hinten rückt, berühren seine Knie fast das Steuer. Im Rückspiegel sieht er gerade noch, wie auf der anderen Straßenseite ein Gesicht hinter einer Gardine verschwindet. Er hat sich daran gewöhnt, beobachtet zu werden, dennoch lässt er nutzlos trotzig den Motor aufheulen, legt den Gang ein und fährt stürmisch rückwärts aus der Einfahrt. Ruckend kommt er zum Stehen und bereut seinen temperamentvollen Auftritt sofort. Sein Magen holt den Rest seines Körpers ein und dreht sich unangenehm. Feuchtkalter Schweiß tritt ihm auf Schultern und Stirn. Seine Hände kommen ihm leicht und unbeholfen vor, er lässt sich in den Sitz sinken und atmet schwer. Ein schwarzbrauner Hund erhebt sich aus dem Rinnstein, sieht apathisch zu Hussein und trottet davon.

»Der Wein macht lose Leute, und starkes Getränk macht wild; wer dazu Lust hat, wird nimmer weise.« Dschabir Ahmed Saber zitierte vor seinen Kindern gerne die Heilige Schrift. Doch Hussein erinnert sich immer nur dann an die Worte seines Vaters, wenn sie ihm am wenigsten nützen – nach der Tat, nicht davor. Er kann sich unschwer vorstellen, wie sein Vater die gegenwärtige Situation beurteilt hätte. Der Christ Dschabir Ahmed Saber war stets darum bemüht, die unterschiedlichen Religionen seines Umfelds miteinander zu versöhnen und nicht weiter auseinanderzutreiben. Für Hussein grenzte diese Passion, Konflikte zu vermeiden, manchmal an Schwäche. Hätte Respekt vor den Nachbarn den alten Mann nicht so gehemmt, hätte die Familie schon früher Nutzen aus Husseins Geschäftssinn ziehen können. Doch wenn Hussein an seinen Vater denkt, fühlt er sich zwangsläufig unwohl – als ob er ihn irgendwie enttäuscht hätte. Als die Stadt noch ein Dorf war, war Dschabir Ahmed Saber als natürlicher und bescheidener Anführer hervorgetreten, ein Mann von Wert. Er war ein einfacher und zäher Bauer, bekannt für seine Liebe zu Geschichte und Erzählungen. Er entwickelte einen solchen Ruf als Denker und großzügiger Gastgeber, dass die gesamte Gemeinde – selbst seine engste Familie – den alten Mann nur Al Dschid nannte, »Großvater«.

Das Geisterduo Al Dschid und Johnnie Walker wird von einem lauten elektrischen Rauschen vertrieben, gefolgt vom keckernden Ruf des Muezzins aus dem Moschee-Lautsprecher. Einen Augenblick lang bleibt Hussein reglos sitzen; dann fährt er, so schnell sein empfindlicher Zustand es erlaubt, den Hügel hinunter in Richtung Stadt. Er weiß, er muss sich beeilen, wenn er Ärger vermeiden will.

Die Viehgehege stehen dicht gedrängt um eine Freifläche, ein improvisierter Schlachthof hinter dem Markt am anderen Ende der Stadt. Verdrossen begutachtet Hussein die Tiere in ihren engen Pferchen. Heute ist Freitag, der Tag, an dem er nichts Unredliches verkauft, nichts, was seine muslimischen Freunde und Nachbarn beleidigen könnte. Ein Versprechen, das er sich selbst gab, als er neu in dem Job war, und an dem er entschlossen festhält. Ihm fällt ein schmutziges weißes Schaf ins Auge, ein wenig größer als der Rest, und er signalisiert dem Jungen, der Kaugummi kauend in der Ecke des Standes sitzt, dass er es zur Begutachtung herausbringen soll. Hussein blickt dem Schaf tief in Augen und Ohren, öffnet ihm das Maul, um sich die Zähne anzusehen. Das Tier wirkt gesund. Er hebt einen Hinterlauf an, um das Verhältnis von Fett zu Fleisch abzuschätzen. Er ist zufrieden und reicht dem Jungen wieder den Strick, der um den Hals des Schafes geknotet ist. Hussein wählt eine Ziege aus und untersucht auch sie gründlich. Natürlich ist der geforderte Preis zu hoch und sein Angebot zu niedrig. Sie handeln mehrere Minuten lang, bis Hussein schließlich zustimmt, etwas mehr als den tatsächlichen Wert zu zahlen. Er hat einfach keine Lust mehr, weiterzudiskutieren. Außerdem ist das Schaf Teil einer Sonderbestellung. Er wird die Differenz an den Kunden weiterreichen.

Manchmal folgen die Tiere widerstandslos, doch wenn eines plötzlich hierhin will und das andere dorthin, wird es schwierig, ihrer Herr zu werden. Hussein zerrt die störrischen Tiere zu seinem Parkplatz. Er bindet das Schaf an die hintere Stoßstange, dann wirft er mit erfahrenen, entschiedenen Bewegungen die Ziege auf die Seite, bindet ihr die Hufe zusammen und schiebt sie in den Transporter. Das Schaf folgt gleich darauf. Er schließt die Heckklappe und hält inne, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Schon jetzt fühlt er sich, als hätte er einen ganzen Arbeitstag hinter sich. Er quetscht sich hinter das Steuer, lässt den Motor an und wirft einen Blick nach hinten auf die Tiere. Ihre Augen sind glasig, matt, todgeweiht.

Bei der alten öffentlichen Zisterne wird die Straße enger, dann gabelt sie sich. Normalerweise nimmt Hussein die linke Strecke, um das Ostviertel herum, bis er wieder auf die Hauptstraße stößt: fünf oder zehn Minuten Umweg, nicht mehr. Aber er muss die Sonderbestellung für das Hochzeitsmahl am Abend bis um neun Uhr abgeliefert haben, und mitten hinter seiner Stirn hat sich ein dumpfer Schmerz breitgemacht. Außerdem kann er es nicht leiden, wie ein Krimineller Schleichwege zu nehmen. Tollkühn biegt er nach rechts ab, auf die kürzere Strecke.

Unvermittelt stürzt aus einer engen Seitengasse ein Reiter hervor, und Hussein muss fluchend nach links ausweichen. Ein Stück weiter vorne strömen Männer und Jungen aus der Moschee. Hussein spürt einen Anflug von Nervosität in der Brust und überlegt, ob er wenden soll, aber es ist zu eng. Das winzige Sträßchen voller Leute lässt ihm keinen Platz. Er schließt das Fenster und packt das Lenkrad fester.

Wütende Hände schlagen auf den Wagen. Leute schreien Beschimpfungen. Ihre Rufe scheuchen die Ziege auf, die schwermütig um ihr allzu kurzes Leben meckert. Hussein beugt sich über das Lenkrad, das ihm in den Bauch drückt. Er wird sich nicht einschüchtern lassen. Sein Körper scheint vor Empörung anzuschwellen, doch sein Kopf ist zum ersten Mal an diesem Morgen klar. Er steuert den Transporter weiter geradeaus. Den feindlichen Gesichtern dicht vor seinem Fenster begegnet er mit stählernem Blick. Er wird ihnen keine Genugtuung verschaffen, indem er Wut oder Angst zeigt.

Gleich hinter der Moschee wird die Straße breiter und macht eine Kurve. Die Menschenmenge lichtet sich ein wenig, und der Lieferwagen fährt langsam hindurch, wobei er einen kleinen Staccato-Schotterhagel aufwirft. Da zersplittert etwas. Im Rückspiegel erspäht Hussein den jugendlichen Angreifer. Das Bürschchen, ein paar versprengte Haare im Gesicht, ist noch nicht mal alt genug für einen Bart. Als Vergeltung für das zerschmetterte Rücklicht drückt Hussein laut auf die Hupe. Erschrocken stieben die Passanten auseinander, und in einer Wolke aus Sand und Staub schießt der Wagen des Schlachters der Freiheit entgegen.

2

Laila blickt über die Parfümflakons hinweg in den Spiegel und untersucht ihr Gesicht sorgsam nach Spuren von Stress. Sanft massiert sie die empfindliche Stelle über ihrem rechten Ohr und fragt sich, warum sie die Kopfschmerzen bekommt, wann immer ihr Ehemann trinkt. Der säuerliche Geruch, der aus den vollen Windeln im Wäschekorb strömt, kümmert sie gerade genauso wenig wie ihre beiden älteren Söhne in deren Zimmer. Morgens hat sie nur ein einziges Anliegen. Ihr ist egal, wie viel Wasser noch übrig ist oder woher es kommt – von der Farm, aus einem dieser Banditenlaster oder aus einem verfluchten Erdloch –, sie will einfach nur eine ausreichend große Menge für ihren alleinigen und sofortigen Gebrauch. Wenn sie Mutter Fadhma darauf hinweisen muss, dass die Kanister im Bad fast leer sind, kann sie laut und ausfallend werden.

Das restliche Wasser aus dem größten Behälter braucht sie fast komplett auf, um sich das Gesicht zu waschen, dann kämmt sie ihr halblanges braunes Haar und legt Make-up auf. Durch den Rauch einer Zigarette, die sie aus einer Schachtel auf dem Fensterbrett gezogen hat, mustert sie abermals ihr Spiegelbild und nickt zögerlich, aber anerkennend. Gut sieht sie aus, trotz allem, was sich gegen sie verschworen hat. Manche Frauen sind von zu vielen Kindern körperlich ausgelaugt und erholen sich nie wieder vollständig. Doch Laila hat nach jeder Geburt strenge Maßnahmen getroffen: die richtige Ernährung, Schminke und Kleidung. Ihre Hände sind manikürt, ihre Haut ist geschmeidig und weich.

Disziplin war schon immer der Kern ihres Charakters. Normalerweise wirkt ihre Bestimmtheit, als habe sie alles fest unter Kontrolle, unabhängig davon, wie es ihr tatsächlich gehen mag. Als sie sich vom Spiegel abwendet, durchzuckt sie ein Schmerz, hell und stechend. Erinnerung oder Warnung? Sie öffnet ein Fläschchen extrastarkes Aspirin, schluckt drei Tabletten mit dem Wasserrest aus dem Kanister, zieht ein letztes Mal an der halb aufgerauchten Zigarette und drückt sie in den qualmenden Aschenbecher.

Mutter Fadhma hat langjährige Übung und ist auf die fein abgestuften Blicke ihrer Schwiegertochter eingespielt. Sie sieht, ob Laila am Frühstückstisch allein sein möchte, und verlässt dann die Küche ohne ein Wort oder eine weitere Überlegung. Fadhma kommt ihrer Schwiegertochter nicht in die Quere. Schlimm genug, in Lailas Haus zu wohnen, aber obendrein müssen Fadhma und ihre jüngste Tochter Samira auch noch von ihrem Stiefsohn Hussein finanziell unterstützt werden.

Laila scheint sich heute morgen Mühe zu geben. Sie füllt das Teeglas der alten Frau, bevor sie sich selbst eingießt und sich ihr am Tisch gegenübersetzt, zwischen ihnen ein beeindruckendes Aufgebot an gekochten Eiern, Laban, Tomatenscheiben, Frühlingszwiebeln, grünen und schwarzen Oliven, getrocknetem Satar-Thymian, Olivenöl und Brot.

»Und wie fandest du’s?« Nur selten sucht Fadhma das Gespräch mit ihrer Schwiegertochter, doch seit ihr zweiundzwan-zigjähriger Gast angekommen ist, ist sie unruhig. Munas Vater Abd ist der zweitälteste Sohn von Fadhmas Schwester Nadschla. Als Fadhma nach Nadschlas Tod Al Dschid heiratete, zog sie Abd und seine fünf Brüder zusammen mit ihren eigenen fünf Mädchen und zwei Jungen groß. Abds Weggang aus Jordanien vor fünfundzwanzig Jahren beschleunigte zwar den Zerfall von Fadhmas unmittelbarer Familie, doch dafür macht die alte Mutter ihm keine Vorwürfe. Von Al Dschids dreizehn Kindern war er der Erste, der sich gegen eintausend Jahre Tradition stellte, indem er eine adschnabi heiratete, eine Ausländerin.

»Unserem Teil der Familie sieht sie wohl eher nicht ähnlich«, bemerkt Laila trocken.

Gestern Abend, als Fadhma Muna zum ersten Mal sah, platzte sie hervor: »Wie eine Chinesin!«, worüber alle nervös lachten, auch Laila. Trotz der riesigen Land- und Wassermassen zwischen den beiden Ländern waren per Post, Telefon und, am schlimmsten, mündlich, unschöne Geschichten durchgedrungen. Das Temperament von Munas ausländischer Mutter, die die Anzüge ihres Gatten in Fetzen schnitt und Geschirr im Wert einer ganzen Küche zerschlug, war schon vor langer Zeit in die Sabas’sche Familiengeschichte eingeflossen. Die Berichte haben Mutter Fadhma lediglich bestätigt, wie unwägbar Eheschließungen mit unbekannten, ungeprüften Außenseitern sind.

»Stell dir doch mal vor«, empört sich die alte Frau, »das Mädchen hätte ja mit ihrem Vater kommen können. Aber sie muss unbedingt alleine reisen, wo sich doch gerade die Zerbrecher quer durch Syrien und Irak schlagen.«

Laila nervt es, wie Mutter Fadhma die Dschihadisten immer als »Zerbrecher« – vom Wort deas – bezeichnet, scheinbar nur, um sie zu ärgern, aber sie geht bewusst nicht darauf ein. Die Familie ihres Mannes interessiert sie in der Regel eher wenig. Die junge Frau an sich findet sie faszinierend.

»Ich habe Muna gefragt, ob sie einen Freund hat oder ob ihre Familie Pläne für ihre Verheiratung hat, und weißt du, was sie gesagt hat?« Laila stochert im Essen und wartet die Antwort ihrer Schwiegermutter nicht ab. »Sie hat gesagt: ›Das meinst du nicht ernst, oder?‹«

Am Abend zuvor erfüllte Laila eine solche Mischung aus Missbilligung und Neid, dass sie das Gespräch nicht fortführen konnte. Heute Morgen musste sie wieder daran denken, und sie kann es noch immer kaum glauben. Nachträglich fügt sie hinzu: »So ein Selbstbewusstsein – solche Freiheit.« Sobald die Worte ausgesprochen sind, weiß sie, dass sie das Falsche gesagt hat.

»Da haben wir hier schon genug davon. Muss wohl ansteckend sein, meinst du nicht?«

Fadhmas Häme ist nicht zu überhören. Doch ebenjenes Thema, das die beiden peinlichst meiden, hat Laila gar nicht gemeint, obwohl es sie zugegebenermaßen seit einer Weile umtreibt.

»Du musst mit Samira sprechen«, stellt Laila nüchtern fest. »Schließlich bist du ihre Mutter.«

»Ja, es ist immer gleich die Mutter schuld.« Als wollte sie sich die Kehle durchschneiden, wischt sich die alte Frau lapidar mit der Hand unterm Kinn entlang. »Aber eins sag ich dir«, fügt sie unwirsch hinzu, »ich bin in dieser Familie nicht als Einzige schuld.«

Laila bereitet sich auf das Schlimmste vor und wappnet sich für ein frühmorgendliches Streitgespräch. Stattdessen verschafft ihre Schwiegermutter nun ungeniert ihrem Kummer Luft; Laila erscheint das untypisch, denn außer Starrsinn zeigt Fadhma normalerweise keine Gefühle.

»Ich habe Hussein angefleht, Samira an ihre Pflichten zu erinnern – ihr einen Rat zu erteilen. Es stehen ihr Ruf und unserer auf dem Spiel.« Sofort ändert sich Fadhmas Stimmung, und ihre Worte klingen wie flüssiges Blei: »Aber er musste sich in letzter Zeit auf andere Dinge konzentrieren.«

Laila fällt eine der englischen Redewendungen ein, die sie in der Mittelstufe unterrichtet, ein Elefant im Zimmer, etwas steht unausgesprochen im Raum: Ein Tier steht im Raum, launischer als ein Elefant – und auch schmutziger und stinkender. Es wütet durch ihre Leben … Aber laufen ihre Streitigkeiten nicht immer so? Fadhma versucht doch ständig, jegliche Kritik abzuwehren. Heute Morgen will Laila sich nicht abbringen lassen.

»Wenn ich Samira zur Rede stelle, hat sie immer einwandfreie Erklärungen, warum sie unterwegs sein muss.« Unbeirrt nippt Fadhma an ihrem Tee.

»Die neue Direktorin hat gesagt, dass sie Samira in der Hauptstadt gesehen hat«, erwidert Laila. »Stell dir nur mal vor, das Mädchen bricht die Pädagogische Hochschule ab, hat nichts zu tun und landet unter lauter Fremden, wo das doch so gefährlich ist! Frau Salwa hat natürlich nur gedacht, sie hätte jemanden gesehen, der wie Samira aussah.«

Die beiden Frauen rücken näher zusammen und schweigen angespannt. Laila weiß nicht mehr genau, wann sie zuerst vermutete, Samira könnte sich leichtsinnig verhalten. Noch nicht während der Aufstände in der arabischen Welt; Samira und ihre Teenager-Freundinnen waren damals noch zu jung für die Proteste. Doch irgendetwas liegt im Argen. Laila ist sich nicht sicher was – die politische Unsicherheit ringsum oder der Umgang, den Husseins Halbschwester pflegt.

Auch wenn Laila zahllose Zweifel an der Gesellschaft hegt, in der sie lebt, bleibt sie peinlichst innerhalb der Konventionen und erwartet dasselbe von der angeheirateten Familie. Samira, die ledige Schwester ihres Ehemanns, ist besonders angreifbar, denn es braucht recht wenig – es reichen Gerüchte um die Indiskretion eines Mädchens –, damit sich gleich die ganze Stadt empört und eine Familie auf ewig geächtet ist. In einer Kultur, in der nichts wichtiger ist als die Tugend einer Frau, ist jegliche Verteidigung derselben bereits ein Zeichen ihrer Angreifbarkeit. Prüfende Blicke vermeidet man lieber. Die Frauen der Familie Sabas müssen sich gegenseitig schützen, weil es sonst niemand tut.

Mutter Fadhma steht langsam auf und lächelt triumphierend. »Jetzt, wo unser Gast da ist, geht mein Mädchen zumindest nicht mehr alleine aus, oder?«

Die alte Frau zieht ihren neuen Bademantel enger um sich wie einen Schutzschild. Unter dem dichten Stoff wird sie schwitzen wie ein Schwein. To sweat like a pig. Kurz fällt Laila aus der Rolle und muss fast laut auflachen. Englische Redewendungen mit Tieren mag sie besonders gern, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Klassenzimmers.

Ihre Gedanken werden unterbrochen, als ihr siebenjähriger Sohn Salim in die Küche gehüpft kommt. Erleichtert wenden sich die beiden Frauen voneinander ab. Laila umfasst das perfekt geformte Gesicht ihres Sohnes und drückt ihm die Wangen. Sie weiß, dass sie trotz allem Grund zur Dankbarkeit hat. Ihr Ältester ist ihr ein großer Trost, und ihn so frisch und munter zu sehen, verbessert ihre Stimmung sofort. Er wurde genau neun Monate nach ihrer Hochzeit geboren, und weil Hussein damals noch dauerhaft bei der Armee wohnte, wurde ihr Erstgeborener zur Liebe ihres Lebens.

Ein zweiter, kleinerer Junge wartet still in der Tür. Mansur, dunkel wie sein Vater, hat auch dessen Gemüt geerbt und ist eher zurückhaltend und empfindlich. Manchmal sind die banalsten Dinge zu viel für ihn und er bekommt einen Asthmaanfall. Laila sieht sofort seine gerunzelte Stirn. Er findet es schwierig, mit einem Bruder mitzuhalten, der, obwohl nur ein Jahr älter, sehr viel selbstbewusster ist.

Sie winkt ihren jüngeren Sohn herbei, ruft sanft: »Habibi, Liebling, komm her«, und tätschelt ihm den Rücken, als er auf den Stuhl neben ihr klettert.

Beide Kinder, noch in Schlafanzügen, haben sich das Gesicht gewaschen. Salim stopft sich Brot und Joghurt in den Mund, während Mansur Laila anbettelt, ihn zu füttern.

»Du bist doch schon ein großer Junge«, ärgert ihn Salim.

»Bin ich nicht …« Mansurs Stimme verliert sich in einem Keuchen.

Laila beruhigt ihn, nimmt ein Stück gekochtes Ei auf den Löffel und schiebt es in seinen eigensinnigen Mund. Bevor das Gestichel wieder anfängt, warnt sie: »Eure neue Tante schläft noch!«

Die Jungen sprechen leiser. Ihre Söhne mögen den Gast. Die Geschenke, die Muna von den Verwandten aus Übersee mitgebracht hat, haben sie aufgerissen, und es beeindruckt sie, eine echte, lebende Amerikanerin kennenzulernen, wie Abby aus CSI. Augenblicke später hat Salim die Warnung seiner Mutter vergessen und fuchtelt seinem Bruder mit einer Gabel unter der Nase herum. Das Gekabbel bringt sofort Fadhma an den Tisch. Sie umarmt Mansur und redet gleichzeitig Salim gut zu, bis beide Brüder versprechen, sich zu benehmen. Während sich die Kinder in Fadhmas Zuwendung sonnen, überlegt Laila kurz, warum die beiden mit ihren Sorgen eigentlich nie zu ihr kommen. Sie vermutet, dass sie Fadhma näherstehen, weil die ihnen nachgibt. Für ihre Mutter – und Laila kultiviert das tatkräftig – empfinden sie vor allem Respekt, gewachsen eher aus Angst denn aus Liebe.

»Seht doch nur, was ihr eurer Dschadda für einen Ärger macht!«, sagt sie zu ihren Söhnen. Ob die Jungen ihre Großmutter drangsalieren, ist ihr gleichgültig. Doch eine gewisse Darbietung formeller Höflichkeit ist geboten, egal wie leer sie sein mag.

»Ich bin doch nicht würdig, Umm Salim«, antwortet Fadhma. Im stillen Konflikt zwischen den beiden ist diese schlichte Aussage ein Angriff über zwei Flanken. Sie weiß, dass falsche Demut Laila reizt, und indem sie ihre Schwiegertochter »Mutter Salims« nennt, reduziert Fadhma sie wirkungsvoll von einer Person zu einer Funktion.

Gebieterisch blickt Laila durch Fadhma hindurch zum umfunktionierten Zwanzig-Liter-Butterschmalzkanister auf der Anrichte neben der Spüle. Er ist mit dem letzten kostbaren Abwaschwasser gefüllt und steht dort seit drei Wochen. »Wehe, dieser Laster kommt heute nicht«, beschwert sie sich, entnervt vom Chaos ringsum. Es ginge auch anders.

Letzte Woche musste sie nicht ein solches Auge auf die Jungen haben; sie aßen schnell, zogen sich an und gingen zum Spielen mit ihren Freunden nach draußen, bevor sie sich mit ihrer Mutter auf den Weg zur Schule machten. Jetzt zanken sie und spielen mit dem Essen. Laila hat auch bemerkt, dass die Jungen, wenn es Zeit wird loszugehen, ungewöhnlich still werden. Sie fragt sich, ob sie den Grund ihres Unglücks wohl ermittelt hätte, ohne die beiden zu bespitzeln.

Nach Munas Ankunft gestern Abend hörte Laila von der Küche aus Mansur auf der hinteren Terrasse heulen: »Die anderen mögen mich nicht mehr.« Statt hinzugehen und zu fragen, was los sei, verbarg sie sich hinter dem schweren Vorhang an der Terrassentür.

Salim ließ eine glänzende neue Spielzeugpistole sinken, ein Geschenk von einer seiner amerikanischen Tanten, und erwiderte: »Na und? Mir haben sie auch gesagt, dass sie mich hassen.«

Während Laila die beiden beobachtete, wusste sie, dass ihr jüngerer Sohn nicht verstehen würde, wie jemand irgendetwas anderes als Bewunderung für seinen älteren Bruder empfinden konnte.

»Was?«, fragte Mansur ungläubig.

Salim, seinem Alter voraus, nahm ein Taschentuch aus einer Schachtel zwischen den Kissen, wischte seinem jüngeren Bruder die Nase ab und legte dem Sechsjährigen behutsam den Arm um die Schulter. In diesem Moment wurde Lailas Kummer nur noch überwogen vom anhaltenden Zorn auf ihren Ehemann.

Abrupt steht sie vom Tisch auf. »Beeilt euch!«, befiehlt sie ihren Söhnen und verlässt die Küche. Ihre Schritte werden vorsichtiger, sobald sie ihre Schlafzimmertür öffnet. Dahinter schläft in einer hölzernen Wiege Fuad, der jüngste ihrer drei Söhne. Sie streicht ihm eine verschwitzte Locke aus der Stirn. Der Kleine, noch keine zwei Jahre alt, hat wegen eines übersäuerten Magens den Großteil der vergangenen Nacht wach verbracht; das Familienessen zu Munas Ehren hatte ihn etwas zu sehr begeistert. Laila macht sich fertig. Sie wirft noch einen letzten Blick auf das schlafende Kind und schließt die Tür hinter sich.

Im Flur ist es totenstill. Auch Samiras Tür ist verschlossen, die Zimmerbewohnerinnen schlafen noch. Ganz leise hört Laila jemanden im Wohnzimmer – zweifelsohne Fadhma, die sich mal wieder bei ihrem toten Ehemann beschwert. Laila findet die Jungen im Kinderzimmer vor, wo sie still warten, bereit für die Schule. Salim und Mansur starren zu ihr auf.

»Yalla«, flüstert sie, »lasst uns gehen.«

3

In der Schlachterei ist Hussein bei der Fleischlagerung absolut gewissenhaft. Er besitzt zwei Kühlschränke, einen für erlaubtes Fleisch und einen anderen, sehr viel größeren, für verbotenes. Als halal und haram sind die Kühlschränke nicht gekennzeichnet. Selbst folgt er zwar keinen Ernährungsvorschriften aus religiösen Gründen, doch er möchte verantwortungsbewusst handeln – auch wenn seine Vorkehrungen nur ihm bewusst sind. Außer ein paar Innereien ist der Halal-Kühlschrank so gut wie leer. Alles frische Hammel- und Ziegenfleisch verkauft er direkt von den Fleischerhaken im Schaufenster. Der andere Kühlschrank ist randvoll, bereit für das Wochenende. Heute Abend wird Hussein im Schutz der Dunkelheit noch mehr Schinken und Würste holen, doch zu Ladenschluss am Sonntag wird auch das letzte bisschen verkauft sein.

Soweit genügend Wasser vorhanden ist, werden die Räume der tristen Schlachterei täglich sauber gespritzt, aber häufig verstopft eine fettige Schmiere die Abflüsse und sie sondern einen unangenehm durchdringenden, fauligen Geruch ab. Hussein stellt den Gasbrenner an und setzt einen Topf Wasser auf. Im Hinterzimmer hört er Khaled, seinen Mitarbeiter, arbeiten. Der Junge murmelt ein Gebet. Kurz darauf scharren hektisch Hufe über den Fliesenboden, dann erklingt ein Spritzgeräusch, das sich in kaum vernehmbares Gluckern auflöst, als Blut, satt und suppig, in einen verzinkten Eimer abfließt. Mehrere dumpfe Schläge – der Kopf und die Hufe werden abgetrennt –, dann ein Geräusch, als würde ein alter, fettiger Teppich entzweigerissen – Khaled zieht die Haut ab. Mit einem flüssigen Klatschen quellen die Gedärme heraus, seidig und milchig. Hussein stellt sich vor, wie sein Gehilfe durch den Haufen wühlt, wie ein Hexer auf der Suche nach Weissagungen, und die Delikatessen heraussucht: Leber, Nieren und Dünndarm. Mit ein paar schnellen, tiefen Atemzügen pustet der Junge die Lungen auf, die althergebrachte Methode, um die Gesundheit eines Tieres zu überprüfen. Der Gehilfe kehrt nach vorne in den Verkaufsraum zurück, legt den Schafskadaver auf die lange Holztheke, wischt seine blutigen Hände an der schmuddeligen Schürze ab und grinst blöd seinen Chef an.

Hussein ignoriert ihn und wählt aus der breiten Palette abgegriffener Werkzeuge an der Wand ein Hackebeil. Ein Tier zu zerlegen, hat etwas zutiefst Befriedigendes, jeder knochenzerschmetternde Hieb etwas unwiderruflich Endgültiges. Mit jedem Schwung des Hackebeils spürt Hussein, wie sich seine Stimmung verbessert. Bumm! Das bringt den jugendlichen Missetäter zur Einsicht über die Schändlichkeit seiner rücklichtzerschmetternden Sitten. Zack! Das ist für den Wasserlaster. Krach! Laila. Der nächste Hieb soll für Samira sein und all den Ärger, den sie ihnen macht, doch in letzter Minute überlegt Hussein es sich anders und erteilt den Schlag abermals als persönlichen Beitrag zum Kampf gegen die Jugendkriminalität. Er arbeitet methodisch, trennt Bein von Lende, Schenkel von Brust, und lässt mit jedem Schlag seine Frustration heraus.

Er wählt zwei schöne Keulen aus seinem Werk und hängt sie ins Schaufenster. Schon sammeln sich erste Fliegen auf den Fleischbergen, von denen geleeweiches Fett auf die Theke tropft. Plötzlich klingelt die Glocke über der Fliegengittertür und kündigt den ersten Kunden des Tages an. Hussein ringt sich ein einladendes Lächeln ab.

»Frau Habasch, wie schön, Sie zu sehen. Was darf’s heute sein? Wir hätten köstliches Lammfleisch.«

Die Frau des Bürgermeisters ist eine der wichtigsten Personen der kleinen Stadt. Sie ist mit einem ihrer Vettern verheiratet und aus einer alten Familie, die, wie die Sabasens, ihre Abstammung bis zu einer Festungssiedlung im Süden des Landes zurückverfolgen kann. Wie andere Christen mussten ihre beiden Familien vor über einhundert Jahren nach Norden fliehen – die Folge eines Missverständnisses, das zu einem Religionskrieg ausgeartet war. Schließlich erreichten sie eine erdbebenzerstörte byzantinische Stadt und gründeten darauf ein Dorf, das wieder zu einer Stadt anwuchs. Diese gemeinsame Historie ist Hussein nützlich. Sie erleichtert ihm seine zweiwöchentlichen Besuche im Büro des Bürgermeisters mit sogenannten »Häppchen«, die jedoch substanzieller sind als die sonstigen kläglichen Zuwendungen an den Ortsvorsteher. Den finanziellen Aufwand dieser freundschaftlichen Beratungsgespräche betrachtet Hussein als unerlässliche Betriebsausgabe. Warum sollten er und sein Onkel Abu Satar die einzigen am Trog sein? Seine Geschenke an den Bürgermeister sind nur recht und billig, niemand verlangt sie von ihm, doch der Umgang mit der Bürgermeistersfrau wird dadurch trotzdem nicht einfacher.

Frau Habasch lehnt sein Angebot ab. »Ich habe mir gedacht, dass Issa vielleicht gern ein Huhn zu Mittag hätte. Sie haben nicht zufällig noch eines hinten?«

Seit Frau Habasch einmal hat fallen lassen, dass sie nicht gerne auf den Markt gehe, hält Hussein in einem kleinen Hühnerstall im Hinterhof etwas Geflügel. Auf dem Markt wie eine Bäuerin zu feilschen, empfindet sie als unter ihrer Würde. Sie kommt lieber zu Hussein und zahlt für das Privileg. Er ruft: »Khaled, dschadsche!«, und der Junge erscheint mit einem dicken gesprenkelten Huhn im Arm.

Hussein ist überrascht. Ebendieses Huhn hat Khaled besonders gern. Es ist das beste der Schar, der Junge bevorzugt es und gibt ihm zusätzliches Futter. Doch vor Frau Habasch kann Hussein nichts sagen, und so nimmt er das dralle Huhn und dreht es für sie hin und her. Sie nickt zustimmend. Hussein gibt Khaled den Vogel zurück und sagt ihm, er solle ihn vorbereiten. Er mahnt den Jungen zur Eile – »Asra!« –, mehr sich selbst als der Kundin zuliebe, die er als aufdringlich empfindet. Wahrscheinlich bestellt sie nur Huhn, damit durch das Rupfen Zeit zum Tratschen bleibt.

»Wie geht’s der Familie?« Sie inspiziert das Fleisch auf der Theke. »Ich habe gehört, Ihre Nichte ist zu Besuch. Ich hoffe, sie ist nicht wie diese arabischen Hip-Hopper.«

»Ganz und gar nicht. Muna ist eine wohlgesittete junge Frau«, erwidert Hussein, obwohl er sich da anhand seiner spärlichen Erinnerung an gestern Abend nicht sicher sein kann.

»Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen. Ich könnte ihr gerne am Sonntag nach dem Gottesdienst die Mosaike zeigen.«

»Das würde ihr sicherlich große Freude bereiten.« Er weiß schon, was als Nächstes kommt.

»Hätten Sie vielleicht Lust, uns zu begleiten?«

Hussein hat schon vor langer Zeit jedwede religiöse Überzeugung aufgegeben. Seine Lebenserfahrungen haben es ihm unmöglich gemacht, weiter zu glauben. Trotzdem ging er früher noch der Form halber in die Kirche. Als sein Trinken, seine Enttäuschung und seine Scham zunahmen, ging er immer seltener. Das waren seine Gründe. Heute besteht seine Frau darauf, den Kindern zuliebe zu gehen, auch wenn es schwierig geworden ist. Manchmal glotzen und flüstern die Leute.

Eine so wichtige Kundin wie Frau Habasch will Hussein nicht verprellen. Normalerweise macht er ihr Komplimente zu ihrem guten Geschmack und stimmt ihr selbst dann zu, wenn er ihre Meinungen für unklug hält. Sein Onkel hat ihm das irrsinnigerweise als solides kaufmännisches Verhalten empfohlen.

Hussein entscheidet sich für Ausflüchte: »Frau Habasch, sonntags habe ich immer am meisten zu tun.« Die Autos, die am Wochenende die Hauptstraße blockieren, lassen sich kaum übersehen. »All meine Kunden sind ohnehin Christen. Und wann immer ich kann, nehme ich mir einen Augenblick allein, um zu …« Er schafft es nicht, unverhohlen zu lügen, und verschluckt das Wort »beten«.

»Das ist alles gut und schön«, seufzt sie, »aber Kommerz ersetzt keinen Gottesdienst. Religion ist der Anker unseres Lebens.«

Jetzt erinnert sie ihn gleich daran, dass ihre Stadt in der Bibel erwähnt wird. Die byzantinischen Ruinen, in denen sich ihre Familien niederließen, waren einst eine antike moabitische Stadt, in der Musa wandelte und Jesaja Prophezeiungen sprach. Ganz wie der Slogan auf den Reisebussen, Besuchen Sie das Land der Propheten. Sein Vater hätte ihr voll und ganz zugestimmt.

Hussein hebt die Hände und gesteht müde ein: »Dagegen lässt sich nichts sagen!«

Frau Habasch übergeht ihn und redet weiter: »Erst heute Morgen meine ich zu Issa, selbst eine Frau in meinen fortgeschrittenen Jahren spürt den Druck, sobald man in die Nähe des Ostviertels kommt. Merken Sie sich meine Worte, in einem Jahr müssen wir Frauen hier alle Hidschab tragen!«

Hussein weiß, welche Reaktion sie von ihm erwartet, aber seine Kunden aus dem Ostviertel sind durchweg anständig zu ihm. Sein Wagen wurde vielleicht vor der Moschee attackiert, aber er kann sich nicht dazu durchringen, pauschal gegen eine ganze Religion und sämtliche ihrer Anhänger zu wettern. Seine achtzehn Jahre in der Armee haben ihn gelehrt, gegenüber kollektivem Glaubenseifer äußerst wachsam zu sein, und selbst seine zwei Jahre Spezialauftrag haben ihn davon nicht abgebracht.

Er ruft sich ins Gedächtnis, dass Heuchelei nicht die exklusive Domäne der Verwöhnten und Behüteten ist, die sich kaum je über Familie und Heim hinauswagen. Scheinheiligkeit hat er auch bei befehlshabenden Offizieren und der Geheimpolizei erlebt, bei Männern, die sehr viel weniger rechtschaffen waren als Frau Habasch. Dennoch beunruhigt ihn ihre Haltung. Als noch wenige syrische Flüchtlinge ins Land kamen und sie in Jordanien bei Verwandten oder mitfühlenden Freunden unterkamen, sprach Frau Habasch davon, wie wichtig Solidarität sei, und initiierte ein paar halbherzige Spendensammlungen. Die Obdachlosen und Beraubten, die durch die Stadt zogen, waren nicht mehr als eine ärgerliche Störung, eher zu bedauern, als zu befürchten. Als dann Hunderttausende über die Grenze flohen und sich das Ostviertel mit Flüchtlingen und anderen Migranten füllte, veränderte sich allmählich die Demografie der kleinen Stadt, und die Christen, historisch in der Mehrheit, wurden zahlenmäßig übertroffen. Diejenigen, die am meisten zu verlieren hatten – Leute wie Frau Habasch –, reagierten, indem sie ihre Mauern aufstockten und ihre Tore und ihren Geist verschlossen.

»Laila hat gar keinen Ärger erwähnt«, räumt er langsam ein.

»Wird sie noch«, stimmt die Frau des Bürgermeisters wieder an und beschwert sich gleich: »Ich weiß einfach nicht, wann unser Land wieder normal wird und unsere Stadt wieder uns gehört.«

Frau Habaschs Gedächtnis erscheint Hussein höchst selektiv. Die Stadt hat ihnen nie gehört. Als ihre Großväter, Onkel und Väter – damals kleine Jungen – sich hier niederließen, umkämpften sie gemeinsam eine Wasserstelle gegen lokale Nomaden. Man muss nur ein paar Generationen zurückgehen, und immer flieht irgendwo irgendjemand oder sucht Zuflucht bei Fremden. Die gesamte Region blickt auf eine lange Geschichte der Vertreibung zurück. Die Syrer sind nicht die ersten Flüchtlinge, und sie werden auch nicht die letzten sein.

Um Frau Habasch abzulenken, merkt er schlaff an: »Ich verkaufe jetzt immer so viel Ziegenfleisch …«

»Die brauchen wohl billiges Fleisch für die ganzen Kinder«, sagt sie. »Da sehen Sie, warum die kein Geld haben.«

Plötzlich fühlt Hussein sich ausgelaugt. Der Morgen hat ihn bereits stark strapaziert. Zu viele Grenzen bestehen zwischen denen mit und denen ohne Geld. Sich selbst verortet er als irgendwo in der Mitte strauchelnd, wo er möglichst viel für seine Familie zu ergattern versucht, doch die meiste Zeit kommt er sich dabei wie ein Versager vor. Müdigkeit übermannt sein besseres Wissen. »Frau Habasch, wir alle mögen doch viele Kinder, ganz unabhängig von der Religion, oder?«

Die Frau des Bürgermeisters hat keinen Nachwuchs – die einzige Schwäche in ihrer sozialen Rüstung. Hussein ist es egal, dass er jetzt waghalsig ist. Noch unter Flüchtlingen stehen kinderlose Ehefrauen. Ihnen mangelt es an einer Bestimmung, darin sind sich alle einig. Ob christlich, muslimisch oder jüdisch, diese Frauen haben ihre Familie und ihren Gott im Stich gelassen.

Augenblicklich verhärtet sich Frau Habaschs Haltung, und sie zielt auf Husseins verwundbarsten Punkt: »Und, wie läuft das Geschäft?«

Bevor er antworten kann, erscheint Khaled hinter der Theke, voller Hühnerfedern. Stolz hält er ein frisch gerupftes Huhn in die Höhe.

»Wunderbar!« Enthusiastischer als nötig klopft Hussein dem Jungen auf den Rücken. Er wickelt das Huhn ein, sagt: »Bestens, Frau Habasch, einfach bestens«, und reicht es ihr.

Sie hat die Münzen bereits abgezählt. »Ich frage nur, weil Gerüchte kursieren, wissen Sie.«

Beim Hinausgehen hält sie die Eingangstür der Schlachterei weit offen. Hussein weiß genau, gleich kommentiert sie den desolaten Zustand seines Wagens. Um sich die Peinlichkeit zu ersparen, dreht er ihr den Rücken zu. In Ermangelung eines Publikums schlägt die Fliegengittertür hinter ihm zu. Das Scheppern bringt Khaled aus dem Hinterzimmer nach vorne, in seinen Armen gackert das geliebte Huhn.

Vielleicht ist der Junge gar nicht so blöd, denkt Hussein, aber seine Genugtuung währt nur kurz. »Bring’s zurück. Wir haben schon zu viel Zeit verloren.«

Gemeinsam packen sie Hammelfleisch in durchsichtige Plastiktüten. Das Fleisch ist für die Küche von Husseins Freund Matrub bestimmt, der heute Abend ein Festessen zur Hochzeit seiner ältesten Tochter veranstaltet.

Normalerweise ermahnt Hussein Khaled, bei seinen Botengängen nicht zu trödeln. Heute verspricht er ihm etwas netter: »Wenn du dich beeilst, haben die bestimmt Maamul für dich.« Die Aussicht auf Grießgebäck erhellt Khaleds Gesicht. Hussein geht hinter dem Jungen aus dem Geschäft und bleibt an der Hauptstraße stehen.

Die anderen Läden und Stände haben jetzt geöffnet, vor der Bäckerei bildet sich langsam eine Schlange. Vor dem Pilgerhotel die Straße runter steigen Baseballkappen und Schirmmützen in einen der Reisebusse, die das Heilige Land erkunden. Ihm gegenüber, auf der anderen Straßenseite des einzigen geteerten Abschnitts, ragt das Schnäppchen-Emporium in die Höhe, ein Warenlager unbeschreiblicher Ausmaße, erdacht und geführt von Abu Satar. Sofort will Hussein hinübergehen, die Aufmerksamkeit seines Onkels einfordern und ihm sein Herz ausschütten, doch der Anblick eines irakischen Lasters unter dem Neonschild des Emporiums hält ihn zurück. Er kennt Abu Satars Prioritäten nur zu gut. Fahrer mit potenziell lukrativen Ladungen sind wichtiger als Familienangelegenheiten. Dieser Lastwagen hat einen zusätzlichen Bonus. Er kommt aus einer Gegend, die für US-Restposten bekannt ist – recycelte Militärkleidung, abgepackte Nahrungsmittel jenseits des Haltbarkeitsdatums, sogar Ersatzteile für alte Klimaanlagen –, heiß begehrt und Abu Satars ungeteilter Aufmerksamkeit bedürftig. In den wenigen Minuten zwischen Begrüßungsgetränk und Entladen wird ein Handel abgeschlossen. »Woran sich ein hungriger Mann klammert, das verschenkt ein voller Magen« lautet einer der liebsten Aphorismen seines Onkels.

Früher hätte Hussein das amüsiert. Doch seit ihr gemeinsames Projekt ihm immer mehr Ärger einbringt, fragt er sich, ob er nicht einfach ein weiteres Opfer von Abu Satars Habgier geworden ist. Bei jeder Transaktion nimmt sich sein Onkel mehr als seinen gerechten Anteil am Gewinn – das ist nur zu erwarten. Doch bei diesem Geschäft hat Abu Satar es geschafft, dass die Unannehmlichkeiten und das soziale Stigma, denen Hussein ausgesetzt ist, ihn selbst nicht betreffen. Angewidert schürzt der Schlachter die Lippen, größtenteils aus Selbstekel. Er weiß, dass es sinnlos ist, sich über Abu Satar zu ärgern. Das neue Unbehagen in ihrem Verhältnis ist nicht die Schuld seines Onkels. Dessen Verhalten hat sich um keinen Deut geändert. Vielmehr hat inzwischen Hussein ein Problem mit Abu Satars Philosophie, Profit über alles andere zu stellen. Er seufzt und geht zurück in den Laden.

Solange er vor dem morgendlichen Ansturm noch allein ist, bückt er sich hinter der Theke und greift hinter einen der Kühlschränke. Er überprüft, ob ihn niemand sieht, und zieht verstohlen ein einfaches Einmachglas hervor, schraubt den Deckel ab und trinkt, lange und langsam. Der unverdünnte Arak ist Feuer in seiner Kehle, doch mit dem Brennen stellt sich auch die tiefe Ruhe ein, die er verlässlich, wenngleich nur vorübergehend, am Boden einer Flasche findet. Menschen wie Abu Satar und Frau Habasch sollten kein Monopol auf eine anständige Zukunft haben. Hussein will dieselben Chancen haben, weniger für sich selbst – dafür ist es zu spät – als für seine Söhne. Also hat er getan, was viele undenkbar gefunden hätten: Er hat das Land seines Vaters verkauft. Aufgrund dieser Eigeninitiative lebt seine Familie in einem neuen Haus. Doch kein Geldbetrag, daran erinnert ihn sein Onkel regelmäßig, ist jemals genug. Hussein blickt sich noch einmal um, dann greift er wieder rasch nach dem Glas und nimmt noch einen weiteren kräftigen Schluck.

Seit Abu Satar ihm das Schwein zum ersten Mal zeigte, wusste Hussein, dass der Weg zum Wohlstand kein leichter sein würde. Er hatte eigentlich nicht weiter als bis zum ersten Wurf gedacht und nahm an, die Ferkel müssten für einen einmaligen Mega-Verkauf gemästet werden. Dann würde das Geschäft wieder aufhören. Er hatte nicht mit den Instinkten der Tiere gerechnet. Kaum waren die jungen Eber entwöhnt, entwickelten sie den Aufsprungreflex. Zuerst versuchten sie es bei ihrer Mutter, dann untereinander, und schließlich richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre eigenen Schwestern. Hussein betrachtete sie und fragte sich allmählich, ob sich das Projekt als größer als gedacht herausstellen könnte.

Er wusste, dass Kastration die beste Methode war, damit die Eber schön fett wurden, beschloss jedoch, zwei von ihnen vor dem Messer zu verschonen. Er ließ sie bei ihrer Mutter und bei fünf ihrer Schwestern und brachte die restlichen dreizehn Ferkel in anderen Ställen unter. Die Männchen paarten sich mit ungehemmt genussvoller Triebhaftigkeit und schwelgten in dreizehnminütigen Orgasmen. Fasziniert stoppte Hussein sie mit einer taiwanesischen Stoppuhr (bis auf eine Zehntelsekunde exakt), die er sich aus dem Schnäppchen-Emporium geborgt hatte. Das Experiment zahlte sich aus. Gegen Ende des fünften Monats waren die Muttersau und drei ihrer Töchter trächtig. Der Rest des Wurfs war bereit für den Markt, doch Hussein machte eine eigenartige Entdeckung: Er brachte es nicht übers Herz, sie zu töten. Seltsam, dass ein Bauernsohn, von klein auf mit den Notwendigkeiten des Schlachtens vertraut, auf einmal so zimperlich war; noch seltsamer, dass ein ehemaliger Soldat, geschult in den Accessoires des Todes, von Handwaffen bis zum Springmesser, sich als unfähig erwies, einem Schwein die Kehle durchzuschneiden. Irrationalerweise hatte er Zuneigung zu den Geschöpfen entwickelt, gewachsen aus Respekt vor ihrer Intelligenz. Sich an Abu Satar zu wenden, stand außer Frage; sein Onkel hätte ihn nicht verstanden.

Hussein fragte sich, an wen er vertrauensvoll mit seinem Problem herantreten könnte. Dann kam er auf die Idee, Ahmad zu fragen, das Oberhaupt der Familie, die das Lehmziegelhaus seines Vaters mietete. Als Hussein entschieden hatte, das Haus an eine der ältesten palästinensischen Flüchtlingsfamilien zu verpachten, die noch zu Al Dschids Lebzeiten in die Stadt gekommen waren, hatte er heftigen Protest von Laila überwinden müssen. Seine Frau konnte nicht verstehen, warum er von der Familie so wenig Miete verlangte oder warum er ihnen, wenn es im Laden einen Überschuss gab, Fleischgeschenke brachte. Für Hussein handelte es sich um mehr als um Wohltätigkeit. Indem er Al Dschids Haus zugunsten der weniger Begüterten nutzte, hoffte er wiedergutzumachen, das geliebte Land seines Vaters verkauft zu haben.

Ungeachtet seiner Beweggründe war die Familie ihm für seine Güte dankbar und der Mann, um die sechzig, gerne bereit, sich um die Schweine zu kümmern und sie von einem seiner Söhne gegen eine kleine Vergütung schlachten zu lassen. Auf diese Weise kam Hussein zu seinen ersten Angestellten, und Ahmad stellte sich als guter Arbeiter heraus. Neun Monate und einhundert Ferkel später gab es mehr zu tun denn je. Der Ladenverkauf zog an, und es sah so aus, als ob Abu Satars Prophezeiung eines leicht verdienten Wohlstands nicht unbegründet gewesen war.

Doch ein scheinbar unüberwindbares Problem blieb. Penibelst untersuchte Hussein jeden neuen Wurf auf Hinweise. Er verzeichnete Gewicht und Größe jedes Ferkels, inspizierte Hufe und Ringelschwänzchen und überprüfte die Augen. Bislang hatte er Glück gehabt, wusste aber, die Chancen, eine weitere Generation ohne Anzeichen von Inzucht zu produzieren, waren äußerst gering. Wie Laila meinte: »Wer will schon ein zweiköpfiges Vieh mit sechs Beinen essen?« Die Goldmine hätte frühzeitig wieder geschlossen, hätte nicht Abu Satar eingegriffen.

Der gewiefte Emporiumsbesitzer hatte bereits unzählige Zuwendungen erbracht: Für nur einen Bruchteil über dem Ladenpreis besorgte er Futter, Antibiotika, eine große und eher laute Gefriertruhe und sogar einen Elektroschocker, den zu gebrauchen Hussein nicht übers Herz brachte; doch die Lösung, die Abu Satar nun ersann, stellte seine bisherigen Bemühungen völlig in den Schatten: Durch seine grenzübergreifenden Kontakte hatte er tatsächlich tiefgefrorenes Ebersperma aufgetrieben. Hussein war von der Idee nicht allzu angetan – sie hatte etwas Unnatürliches, bei dem ihm mulmig wurde.

Als die erste Lieferung in einem Laster mit Fahrtziel Damaskus ankam, multiplizierten sich Husseins Befürchtungen nur noch. Sowohl das Etikett auf der Schachtel mit den Spermaampullen als auch die beiliegende Gebrauchsanweisung waren auf Hebräisch. Wenngleich auf der anderen Seite des Jordans ebenso ein religiöses Verbot von Schweinefleisch bestand, wurde es dort als Bassar lawan beworben – »weißes Fleisch«. Zuerst war es heimlich in Schlachtereien verkauft worden, doch als nach 1989 achthunderttausend russische Immigranten in Israel ankamen, war Schweinefleisch praktisch an jeder Straßenecke zu haben. Für viele in Husseins Stadt war allein die Idee künstlicher Besamung skandalös genug, und er wusste, sollte auch noch der Herkunftsort seines jüngsten Geheimnisses an die Öffentlichkeit dringen, würde all seine Arbeit in Rauch und Flammen aufgehen.

Abu Satar fand die Aussicht auf eine derartige technologische Innovation natürlich großartig. Überschwänglich besah er sich mit seinem guten Auge und einer Lupe das Thermometer und das andere Zubehör. Beim Studium der Gebrauchsanleitung wies er Hebräischkenntnisse auf, die Hussein schockierten. Während Abu Satar den Katheter zusammensetzte, erzählte er beiläufig, dass er zu einer Zeit, als man im gesamten Nahen Osten das Wort »Israel« nicht aussprechen durfte, ohne gleich verhaftet zu werden, die Sprache der Nachbarn aus jugendlicher Rebellion hatte erlernen wollen. Sein Traum wurde wahr, als Jordanien und Israel 1994 Frieden schlossen und die Knesset günstigen Hebräisch-Fernunterricht anbot. Dann wischte er die Ängste seines Neffen endgültig beiseite, indem er verkündete: »Was für Schweine gut ist, ist auch gut für die Politik.«

Bestärkt durch die Zuversicht seines Onkels willigte Hussein schließlich zögerlich ein, das Verfahren auszuprobieren. Bis die Methode perfektioniert sein würde, konzentrierten sie sich auf die Arbeit am Mutterschwein. Die ersten beiden Versuche waren nicht erfolgreich, doch indem sie gewissenhaft die Anzeichen verfolgten – eine gewisse Rötung um die Genitalien in der Anwesenheit eines Ebers, ein Anstieg der Körpertemperatur –, konnte Hussein den richtigen Zeitpunkt für den dritten Versuch bestimmen. Der resultierende Wurf war klein – acht Ferkel –, doch die Vorteile frischen Blutes überwogen bei Weitem die vorübergehende Verzögerung. Als die Würfe zahlreicher und häufiger wurden, war es Ahmad, der Abu Satars Schwein einen Namen verlieh. Bei seiner Pflege von Umm al-Chanasir, der Mutter aller Schweine, flüsterte er ihr zu, dass sie allein ihr großer Glücksbringer sei.

Und so übertraf anfangs die Produktion zeitweilig die Nachfrage. Das quälte Abu Satar, der Verschwendung hasste, besonders wenn man sie zu Gewinn hätte machen können. Seine bereitgestellte Gefriertruhe war nicht groß genug, um den Überschuss zu lagern, und die Energiekosten des Generators erwiesen sich als schweißtreibend hoch. Also bedrängte der alte Mann seinen Neffen, er solle einen anderen Weg finden, um das Fleisch zu konservieren.

Hussein fing an, das relativ neue Internetcafé der Stadt zu frequentieren, wo er kulinarische Websites besuchte und eine fand, die detailliert unterschiedliche Methoden der Schinkenherstellung beschrieb. Er kam mit zwei Aluminiumtöpfen auf den Hof. Um sich gegen Trichinellose abzusichern, ein schleierhaftes, aber unangenehm klingendes Leiden, musste man das Fleisch bei hoher Temperatur behandeln. Hussein traute dem kleinen Feuer, das Ahmad geschürt hatte, nicht im Geringsten und bestand darauf, das Fleisch stattdessen in einer Salzlake ziehen zu lassen und es anschließend ausgiebig mit Salz, Zucker, Kaliumnitrat, Pfeffer und Gewürzen zu behandeln, allesamt aus den Beständen des Emporiums. Das Ergebnis wurde in der Sonne getrocknet. Die Schinken waren hart und wächsern; Abu Satar war nicht überzeugt.

Als Nächstes durchstreifte Hussein das Netz auf der Suche nach Räuchermethoden. Er wies Ahmad an, eine kleine Wellblechhütte zu bauen, und machte sich selbst auf die Suche nach dem richtigen Brennmaterial. Eine Website empfahl Eiche und Buche, Hölzer, die dem Fleisch definitiv einen goldenen Ton verleihen würden, doch nicht nur mangelte es in der Gegend an diesen bestimmten Sorten, es war schwierig, überhaupt irgendwelches Holz zu finden. Also schickte Hussein Ahmads Söhne los, das Umland zu durchforsten. Die Auswahl an Dornengestrüpp, die sie zusammenkratzten, verlieh dem Fleisch einen ungesunden blaugrauen Stich und einen ranzig-bitteren Geruch. »Kein Wunder, dass aus den Büschen hier die Dornen in Jesus’ Krone wuchsen«, meinte Hussein abschätzig. Er wollte das Projekt schon vollständig aufgeben, doch Abu Satar trieb ihn weiter an. Durch seine grenzenlosen Kontakte hatte der alte Mann von einem Olivenhain in den besetzten Gebieten erfahren, der gerodet werden sollte, um Platz für eine neue Siedlung zu machen. Er beschaffte eine Lasterladung Olivenholz und ließ sie auf eigene Kosten zum Hof transportieren. Hussein protestierte wegen der politischen Implikationen, doch sein Onkel blieb ungerührt.

»Al Dschid hat dir doch bestimmt die Geschichte vom heiligen Olivenbaum erzählt«, sagte Abu Satar. »Auf jedem Blatt stehen die Worte ›bismillah a-rahman a-rahim‹, ›Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes‹. Betet ein Baum nicht fünfmal täglich, verlässt ihn Gott, und es ist sein Schicksal, gefällt zu werden. Was kann ich dafür, wenn die Israelis jeden palästinensischen Olivenhain gottlos finden?«

Hussein ließ die knorrigen Äste verwittern, um den Gerbstoff in der Rinde zu verringern, dann entfachte er in seinem Räucherhaus vorsichtig ein Feuer. Und schließlich wurde er belohnt. Das Fleisch, da waren sich alle einig, hatte ein herbes Olivenaroma, einen saftigen, zarten Geschmack, der bei den Kunden sofort gut ankam. Aber die Holzlieferungen waren zu unregelmäßig, als dass sich das Räuchern rentiert hätte. Zwar gab es einen einzigen Mann, der eigene Wacholderzweige und -beeren bereitstellte – ein Vetter schickte sie aus Deutschland, wodurch Hussein einen absolut einwandfreien Westfälischen Schinken herstellen konnte –, doch sonst sah er sich gezwungen, sein Produkt wieder zu kochen. Nach einigem Herumprobieren stieß er schließlich auf die Methode, die Kochschinken mit Honig, Anis und Nanaminze zu ummanteln. Der wahre Durchbruch kam, als er eine dicke Schicht von Mutter Fadhmas Satar-Gewürzmischung aufstrich, die Geburtsstunde eines überaus arabischen Schinkens.

Das brauchte Zeit und Platz und machte den Bau eines Trakts zur Verarbeitung notwendig, auch um das Fleisch vor Sonne und Fliegen zu schützen. Wenngleich Hussein gewissenhaft darauf achtete, das Fleisch nie selbst zu verkosten, und es lediglich nach Gewicht und Griffigkeit beurteilte, war er mit der Konsistenz der Kochschinken nicht so zufrieden wie mit der geräucherten Variante. Es freute ihn also, als Abu Satar es schaffte, den Großteil dieser Fleischerzeugnisse zu exportieren. Nach dem Bestimmungsort fragte Hussein bewusst nie. Wenn sich Olivenholz und gefrorener Ebersamen leicht über den Jordan schmuggeln ließen, gab es keinen Grund, warum eine Ladung Schinken nicht in die andere Richtung gehen konnte. Nur wissen wollte Hussein davon nichts.

Alles, was nicht zu Schinken verarbeitet wurde, landete in der Wurstmaschine am anderen Ende des Verarbeitungsblocks. Selbst vor Ankunft der Maschine hatte Abu Satar darauf bestanden, dass sämtliche Reste, die für den Einzelverkauf zu unappetitlich waren, gekocht, mit altem Brot zermahlen und in Därme gestopft wurden. Er argumentierte, dass die schiere Neuartigkeit des Produkts für Käufer sorgen würde, und behielt recht. Das Verfahren erforderte viel Handarbeit. Ahmads Söhne halfen aus, aber es war immer noch zu viel Arbeit. Hussein beklagte sich bei Abu Satar, der daraufhin seinen mysteriösen Freund Hani kontaktierte, ein ehemaliger palästinensischer Mittelsmann und Lieferant des Unmöglichen. Er hatte es geschafft, Umm al-Chanasir über vier feindliche Grenzen zu schmuggeln, sein erster Clou. Der zweite war die unerwartete Anlieferung einer antiquierten deutschen Wurstmeister-Maschine.

Die Wurstmaschine war ein Ding barocker Schönheit. Röhren, Schüsseln, Kolben, Rührer, Trommeln, Rüttler, Greifer und Töpfe verströmten eine futuristische, funktionale Eleganz. Das Triebwerk sah aus, als könnte es auch einen Ozeandampfer flottmachen, und einmal in Betrieb, rumpelte die Maschine alarmierend. Doch sie erledigte ihre Arbeit mit makelloser Effizienz. Gehirn und Schwarten, Ohren und Bäckchen, Lungen und Reste sowie Husseins fehlgeschlagene Schinken wurden in einen großen Trichter über dem Haupt-Mahleinsatz gefüllt. Frisch zerkleinert wurden sie von einer rotierenden Messerschneide in einer Drehschüssel vermischt und dann in den Emulgator weitergeleitet, eine große Trommel, in die man nach und nach durch eigene Trichter Brot, gekochtes Getreide, Kräuter und Gewürze hinzugeben konnte. Hatte die Mischung die richtige Konsistenz erreicht, drückte ein Schraubmechanismus sie durch eine kleine Öffnung in die Wursthüllen. Gewaschen, ausgekratzt und mit Wasserstoffperoxid und Essig behandelt wurden die Därme in einem anderen Teil der Maschine. Ein automatischer Greifer drehte die Enden zu zwei unterschiedlichen Größen zusammen, Brat- oder Cocktailwürstchen.

Die Würstchen waren begehrter als der Schinken. Tatsächlich war das einzige Nebenerzeugnis, das bei der Kundschaft auf offenen Widerstand stieß, die Blutwurst. Sie verkaufte sich einfach nicht, bis Ahmad auf die Idee kam, die Pelle Türkis zu färben, eine Farbe, die traditionsgemäß den bösen Blick abwehrte. Ab da ging sie wie geschnitten Brot. Der Verarbeitungsblock diente als Denkmal für Abu Satars muntere Maxime, dass »jedes Stück des kleinen Schweinchens seinen Nutzen« habe.

Mitgerissen vom Enthusiasmus seines Onkels und verführt vom eigenen Umsatz konzentrierte Hussein sich auf den positiven Nutzen und verdrängte seine Zweifel. Der Vorfall am Morgen vor der Moschee hatte jedoch all seine alten Ängste wieder hervorgebracht. Hussein würde es gerne für einen Einzelfall halten, doch offenbar ist die Lage ernster als gedacht.

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