Mutter Angelica - Raymond Arroyo - E-Book

Mutter Angelica E-Book

Raymond Arroyo

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Beschreibung

Die außergewöhnliche Geschichte der Mutter Angelica, der Gründerin des Fernsehsenders Eternal Word Television Network und – nach den Worten des TIME Magazine – "der einflussreichsten Katholikin Amerikas". Mutter Angelica wurde im Jahr 1923 als Rita Rizzo in Canton, Ohio, geboren. Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf. Die Eltern waren geschieden. Die Macht des Gebetes erfuhr sie zum ersten Mal in jungen Jahren, als sie spontan geheilt wurde. Ein Jahr später trat sie in den Orden der Klarissen der Ewigen Anbetung ein. Doch Mutter Angelicas Glauben trieb sie schon bald zu den unwahrscheinlichsten Unternehmungen, angefangen von der Neugründung eines Klosters in Birmingham in Alabama bis zum Aufbau des weltweit größten religiösen Fernsehsenders. Sie gründete EWTN im Alter von 58 Jahren mit einem Startkapital von 200 Dollar in einer Garage des Klosters, ohne sich Gedanken über Haushaltspläne oder Spendenkampagnen zu machen. Mutter Angelicas Leben ist eine höchst erstaunliche Geschichte, die man nur Gottes Vorsehung zuschreiben kann. Das Buch stand monatelang auf der Bestsellerliste der New York Times.

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Seitenzahl: 642

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Raymond Arroyo

Mutter Angelica

Eine Nonne schreibt Fernsehgeschichte

Titel der amerikanischen Orginalausgabe:

Mother Angelica

The Remarkable Story of a Nun, Her Nerve, and a Network of Miracles

2005 veröffentlicht von The Doubleday Broadway

Publishing Group/Random House, Inc., New York,

www.doubleday.com

© 2005 by Raymond Arroyo

Bibliografische Information: Deutsche NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

© 2009 der deutschsprachigen Ausgabe

Media Maria Verlag, Illertissen

Umschlaggestaltung: Atelier Lehmacher

ISBN 978-3-9811452-7-4eISBN 978-3-9479317-7-4

Für die Mutter meiner Kinder, Rebecca,

meine Mutter Lynda

und alle Mütter auf der ganzen Welt.

Sondern das Törichte in der Welt hat Gott erwählt,

um die Weisen zuschanden zu machen,

und das Schwache in der Welt hat Gott erwählt,

um das Starke zuschanden zu machen.

1 Kor 1, 27

Inhalt

Einleitung

Prolog

1. Kapitel:Ein unglückliches Leben

2. Kapitel:Der Schmerz als Geschenk

3. Kapitel:Heilung und Berufung

4. Kapitel:Braut Christi

5. Kapitel:St. Klara

6. Kapitel:Leid und Vorsehung

7. Kapitel:Die Gründung

8. Kapitel:Ein Familienkloster

9. Kapitel:Der Geist bewegt …

10. Kapitel:Das Lächerliche tun

11. Kapitel:Eine Kathedrale am Firmament: EWTN

12. Kapitel:Tod und dunkle Nacht

13. Kapitel:Die Äbtissin im Äther

14. Kapitel:Ein Zeuge für die Völker: WEWN

15. Kapitel:Die Verteidigerin des Glaubens

16. Kapitel:Der Hammer der Häretiker

17. Kapitel:Wunder und Züchtigungen

18. Kapitel:Die letzten Dinge

19. Kapitel:Läuterung

Einleitung

Die Leute rund um Hanceville in Alabama nannten es „dieses Nonnengeschäft“, „den Palast“ oder auch „den Wallfahrtsort“, je nachdem, mit wem man darüber sprach. Dieser Ort sollte an den meisten kommenden Samstagvormittagen mein Ziel sein. Nachdem ich die Autobahn I 65 verlassen hatte, ging es weiter an den Rinderherden vorbei, die hier in der Hitze Alabamas vor sich hindösten. Bei Pitts Lebensmittelgeschäft bog ich rechts ab, fuhr schnell an einer Reihe neu erbauter Häuser vorbei, aus deren gepflegten Vorgärten mich Heiligenstatuen aus Gips anstarrten. Im Gegensatz zu den Menschen, die mit Wohnmobilen und klimatisierten Reisebussen hierher gekommen waren, interessierte mich weniger das Kloster Unsere Liebe Frau von den Engeln, sondern vielmehr die Frau, die es gebaut hatte.

Während ich auf mein Ziel zufuhr, auf einem riesigen Gebäude, dessen Fassade mit Sandsteinen verkleidet war, das Mutter Angelica ihr Zuhause nannte, überdachte ich noch einmal im Stillen die Fragen, die ich ihr stellen wollte. Dies war die letzte Chance, mich auf das fünfstündige Treffen mit ihr vorzubereiten: ein Gespräch unter vier Augen mit der freimütigsten kontemplativen Ordensfrau der Welt. Da Ordensschwestern, die in Klausur leben, ein direkter Kontakt mit der Außenwelt nicht erlaubt ist, waren unsere Treffen auf das Sprechzimmer der Gemeinschaft beschränkt, einen schlichten Raum, in dem ein Eisengitter die Nonne vom Besucher trennt.

Eigentlich erschien es mir ungünstig, ganz vertrauliche Details eines Lebens durch Gitterstäbe hindurch zu besprechen. Doch in unserem Fall verlieh diese Ausgestaltung dem Ablauf unseres Zwiegesprächs eine beichtähnliche Atmosphäre. Es war, als ob gerade das schwarze Eisengeflecht zwischen uns die neunundsiebzigjährige Äbtissin befreit hätte. Sie konnte dadurch ihre Vergangenheit mit einer Aufrichtigkeit und Offenheit lebendig werden lassen, die sie sich sonst hätte nicht erlauben können.

Sie kam, bereit zum Gespräch.

„Hey, Landsmann!“, krächzte Mutter Angelica, als sie das Sprechzimmer auf der anderen Seite des Gitters betrat. Sie blieb an der Türschwelle mit ausgebreiteten Armen stehen, geradeso, als würde sie eine Bühne betreten. Sofort durchflutete Herzlichkeit und Wärme das spärlich rosa gekachelte Zimmer.

In ihrem schokoladenbraunen franziskanischen Ordensgewand schien sie heute mit ihren knappen 165 cm noch erstaunlich jung und geschmeidig zu sein. Ihre runden Wangen quollen an beiden Seiten über den Schleier heraus wie ein in eine Schuhschachtel gezwängtes rosarotes Kissen. Durch ihr Lächeln, geschätzt und geliebt von Millionen Menschen, wurden ihre Augen zu durchdringenden grauen Schlitzen zusammengepresst.

Obwohl sie über vierzig Minuten zu spät gekommen war, gab es keine entschuldigende Erklärung. Mutter Angelica lebte einfach im gegenwärtigen Augenblick.

„Na gut, dann fangen wir an“, verkündete sie, als ob ich der verspätete Gesprächsteilnehmer gewesen wäre. Als sie sich den Gitterstäben näherte und ihre Hände durch das Gitter streckte, tänzelte ein Schimmer von Zuneigung und Schalk hinter ihrer Brille. Sobald sie meine Hand ergriff, kam sie auf etwas Wichtiges zu sprechen: „Wie wäre es mit einem Mittagessen? Was haben wir da, Schwester?“, fragte Mutter Angelica über ihre Schulter hinweg. Die stets dienstbereite Schwester Antoinette eilte in die Küche, um sich nach dem klösterlichen Speiseplan zu erkundigen.

Später, bei halbgegessenen Keksen und Tee mit Milch sowie einer unter ihrem Kinn eingesteckten Serviette, legte Mutter Angelica ihre sorgfältig zusammengestellten persönlichen Anekdoten beiseite, die sie im Laufe ihrer zwanzigjährigen Fernsehlaufbahn ganz ohne Manuskripte perfektioniert hatte, und fing an, Dinge aus ihrer Vergangenheit zu erzählen, die zuvor noch niemand, auch nicht ihre Mitschwestern aus dem Kloster, gehört hatte. Ob es nun Fügung oder einfach gerade die richtige Zeit war, jedenfalls traf ich Mutter Angelica zu einem Zeitpunkt, an dem sie bereit war, Rückschau auf ihr Leben zu halten. Soeben hatte sie ein lang ersehntes Ziel erreicht, die Fertigstellung eines mehrere Millionen Dollar teuren neuen Klosters. Sie schien wirklich zufrieden zu sein und war schließlich auch bereit, auf all das zurückzublicken, was sie überstanden und erreicht hatte. Da saß sie nun in einem dick gepolsterten Ledersessel, rang mit ihrem Gedächtnis und der Zeit, um die Wahrheit ans Licht zu fördern.

„Spüren Sie einen Zwiespalt in Ihrem Innern – in Ihrer Persönlichkeit?“, fragte ich sie heute. Immer wenn sie einen langen, fast schon gequälten Seufzer ausstieß und ihren Körper im Sessel in eine andere Position verlagerte – wie sie es auch jetzt tat – wusste ich, dass uns ein aufschlussreicher Moment bevorstand. Sie schob ihren Finger unter den steifen weißen Schleier, der ihr Gesicht umgab und rieb an ihrer Schläfe, als ob sie leibhaftig versuchte, die Vergangenheit aus ihrem Gedächtnis herauszuschürfen. Wie oft sollte ich noch hier sitzen und warten, an den Metallblümchen, mit denen das Gitter übersät war, vorbeistarren und gleichzeitig daran denken, wie sehr sie doch Mutter Angelica selbst ähnelten: Sie waren eisern und doch feminin, zurückhaltend und doch offenherzig, im Feuer gehärtet und unverwüstlich. Doch die Antworten sollten schon noch kommen.

„Habe ich Ihnen schon davon erzählt, wie ich einmal ein Messer nach meinem Onkel geworfen habe? Ich möchte, dass Sie mein wahres Ich kennenlernen, denn weder in dem, was ich mache, noch in dem, was ich habe, findet sich mein wirkliches Ich. Es ist eine Frau von der Straße, die erkrankte und der vieles geschenkt wurde.“ Bedächtig präzisierte sie: „Mein wahres Ich ist nicht das, was Sie hier sehen.“

So habe ich fast drei Jahre lang in dem vergitterten Sprechzimmer ihres Klosters verbracht, um die „wirkliche“ Mutter Angelica aufzuspüren. Von 1999 bis Ende 2001 traf sich der „Superstar des religiösen Fernsehens“, wie Mutter Angelica vom TIME-Magazin genannt wurde, die sicher auch zu den mächtigsten und einflussreichsten Menschen in der römisch-katholischen Kirche zählt, einmal wöchentlich zum verabredeten Termin mit mir. Bei diesen Gesprächen sollte die Vergangenheit wieder lebendig und ein prüfender Blick auf ihr Leben geworfen werden.

Für Mutter Angelica waren diese Besuche Tapferkeitsübungen. Es ist schon eine große Sache, einem Neuling die Erlaubnis zu geben, die eigene Lebensgeschichte zu durchstöbern. Er ist von Anfang an im Nachteil und weiß nur, was das geschriebene Wort ihm vermittelt. Als ich die Gesprächsserie begann, kannte ich Mutter Angelica jedoch bereits persönlich, da ich schon seit fünf Jahren bei ihr angestellt war. Ich war ihr nahe gewesen in guten und in schlechten Zeiten, in der Öffentlichkeit, aber auch im privaten Umfeld. Seit zwei Jahren begleitete ich ab und zu ihre beliebte Fernsehsendung Mother Angelica Live und fungierte als Direktor der Nachrichtenabteilung des von ihr gegründeten Senders. In gewisser Weise war sie wie eine Großmutter für mich – eine Großmutter, bei der ich mich ungewöhnlich wohl und mit ihr verwandt fühlte. Unsere gemeinsame italienische Herkunft hat sicher dazu beigetragen. Wir konnten über alles reden und gingen auch gelegentlichen Reibereien nicht aus dem Weg.

„Wir hatten einmal Streit miteinander“, vertraute Mutter Angelica einem Freund in meiner Gegenwart an, „Raymond hat aber keinen Gebrauch davon gemacht“. Trotz mancher Unstimmigkeiten und Meinungsverschiedenheiten standen wir uns doch nahe. Aus meiner besonderen Stellung heraus konnte ich Mutter Angelica sehen, wie sie wirklich war: eine einfache Frau mit tiefer Spiritualität, die sich bemühte, Gottes Willen zu erfüllen und ihre persönlichen Schwächen zu überwinden.

Allmählich erkannte ich jetzt die andere Mutter Angelica, die sich jenseits des Eisengitters hinter dem engelsgleichen Gesicht verbarg. Rita Rizzo, das kränkliche Mädchen, das lediglich einen Abschluss an der High School geschafft, sich ihren Weg aus der Armut herausgekämpft und EWTN (Eternal Word Television Network), den weltweit größten religiösen Fernsehsender, im Alleingang aufgebaut hatte – ihr war es geglückt, während die gesamten Bischöfe der Vereinigten Staaten (und auch etliche Millionäre) daran gescheitert waren. Dies hier war eine moderne Teresa von Avila, ein brennendes Feuer, die freimütig redete, einen tiefgreifenden Glauben und eine absolute Entschlossenheit besaß, um Hindernisse zu überwinden, die die meisten Menschen lahmgelegt hätten. Sie hatte die Diskriminierung als Frau, Bankrott und Übernahmeversuche von Unternehmen und von kirchlicher Seite abgewehrt, um „den Menschen“ eine moralische Wegweisung zu geben. In körperlicher Hinsicht hatte diese leidgeplagte Dienerin einen mystischen Tanz von Schmerzen und göttlicher Vorsehung durchgestanden. Es war ein ungeheuer hoher Preis, der verblüffende und erstaunliche Belohnungen einbrachte. Diese Frau, die Papst Johannes Paul II. einmal als „schwach im Körper, aber stark im Geist“ bezeichnete, hat um des wahren Glaubens willen Kardinäle und Bischöfe öffentlich herausgefordert und in der nachkonziliaren Phase ein traditionelles und allgemein verständliches Bild der Kirche über den Sender verbreitet. So wurde sie zu einem ökumenischen geistigen Leuchtturm für Millionen.

Und doch bleibt sie selbst für ihre unzähligen Bewunderer ein Rätsel. Wie konnte dieses vernachlässigte, zurückgezogene Kind geschiedener Eltern zu einer der meistverehrten und meistgefürchteten Frauen in der katholischen Welt aufsteigen? Wie konnte eine in Klausur lebende Nonne den Äther erobern, obwohl sie keine Erfahrung auf diesem Gebiet hatte? Wie konnten denn Magenbeschwerden, beschädigte Rückenwirbel, ein vergrößertes Herz, chronisches Asthma, Lähmungen und verbogene Gliedmaßen ihre Mission voranbringen? Woher nahm sie die Kraft für ihre wohlbekannten öffentlichen Kämpfe mit der kirchlichen Hierarchie über Glaubenspraxis und Frömmigkeit? Wie konnten ihr Fernsehsender und ihr Orden so wachsen, während andere zusammenbrachen? Und, am wichtigsten, wie wird ihre Botschaft heute in der katholischen Kirche aufgenommen und welche Auswirkungen wird sie auf die Zukunft haben?

Solche bohrenden Fragen sowie meine Kenntnis von Teilen ihrer noch im Verborgenen liegenden Geschichte brachten mich zu der Überzeugung, dass eine vollständige Biografie über Mutter Angelica notwendig und die Zeit dafür reif war. Voll ängstlicher Erwartung näherte ich mich dieser Frau selbst, weil mir vollkommen klar war, dass ihre Beteiligung an diesem Projekt angesichts der ständigen Anforderungen ihres Senders sowie ihrer Verpflichtungen als Leiterin einer religiösen Gemeinschaft vermutlich nur minimal sein würde. Angelicas Reaktion war typisch für sie und kam unverzüglich: „Warum fangen wir nicht einfach an und sehen, was passiert?“ Da sie schon immer in ihrem Leben jede bedeutende Initiative mit Vertrauen auf die göttliche Vorsehung begonnen hatte, ließ sie sich auch auf dieses Vorhaben, das in ihr Innerstes eindringen sollte, mit totalem Einsatz ein.

Wir beschlossen, dass dies keine autorisierte Biografie werden sollte, und dass ich allein für die redaktionelle Bearbeitung und Interpretation verantwortlich sei. Erwartungsgemäß gewährte mir Mutter Angelica komplette journalistische Freiheit. Sie wollte mir mehrere Stunden lang an den Wochenenden oder nach der Direktübertragung ihrer eigenen Sendung für ausführliche Gespräche zur Verfügung stehen, wenn es ihre Zeit erlaubte. Es sollte keine Frage tabu und kein Thema zu heikel sein. Sie unterstützte mich uneingeschränkt bei meinen Nachforschungen, gewährte mir einen ungehinderten Zugang zum Archiv ihrer Gemeinschaft, zu ihrem persönlichen Briefwechsel, zu ihren Freunden, Ärzten und den Schwestern des Klosters Unsere Liebe Frau von den Engeln. Die Chronistin der Klostergemeinschaft, Schwester Mary Antoinette, wurde meine stärkste Verbündete. Sie beantwortete geduldig meine Fragen, gab mir entscheidende Informationen und erduldete meine Anrufe zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Und dann, nur wenige Wochen nach dem letzten Gesprächstermin für diese Biografie und nach der letzten Direktübertragung ihrer Sendung, erlitt Mutter Angelica einen schweren Schlaganfall. Er beraubte sie ihrer Sprache und versiegelte ihr Gedächtnis, weshalb es unwahrscheinlich ist, dass sie jemals wieder ein Interview wird geben können. Keinesfalls werden Gespräche mit einer solchen Tiefgründigkeit und Intimität möglich sein, wie wir sie in der Vergangenheit geführt hatten. Ohne es zu wissen, hatte ich Mutter Angelicas letztes Testament aufgenommen, das letzte Wort über ihr ungewöhnliches Leben.

Eines Abends, kurz vor der Direktübertragung ihrer Sendung, gab sie mir nur eine einzige Instruktion mit auf den Weg, die mir bis auf den heutigen Tag nachgeht: „Achten Sie darauf, dass Sie mich so darstellen, wie ich wirklich bin. Es gibt nichts Schlimmeres als ein Buch, das die Wahrheit über eine Person mit einem Zuckerguss überzieht und den wirklichen Menschen verdeckt. Wenn Sie das machen, wünsche ich Ihnen vierzig Jahre im Fegefeuer!“

In der Hoffnung, von diesem schändlichen Ende verschont zu bleiben, habe ich ein Buch geschrieben, das Strittiges oder auch die scheinbaren Widersprüche nicht vermeidet, die zu Mutter Angelicas Charakter dazugehören: die kontemplative, in Klausur lebende Nonne, die zur Welt spricht; die eigenständige Frau, die Regeln bricht und die als „sture Konservative“ verspottet wird; die treffsichere Komikerin, die fast ständig unter Schmerzen leidet; die Klarissin, die ein Multi-Millionen-Unternehmen betreibt.

Dies sind die Erinnerungen von Freund und Feind gleichermaßen, von allen, die ich ausfindig machen konnte und die jemals ihren Weg gekreuzt hatten. Kritische Bemerkungen über Mutter Angelica werden hier ebenso ohne Zögern dargestellt wie ihre erstaunlichen Fernsehproduktionen und deren Weiterentwicklung.

Um einem solchen Leben wie dem von Mutter Angelica gerecht zu werden, ist es notwendig, Rückblicke einzublenden. Nur so kann man die Verflechtungen von Schicksal und Gnade erkennen, die dieses höchst ungewöhnliche Leben formten. Wie bei uns allen geschah auch im Leben von Mutter Angelica nichts in einem Moment. Ihre Geschichte zeigt die äußerst schmerzhaften, verworrenen und für den Außenstehenden verrückten Schritte, die schließlich zu einem glücklichen Ende führten. Der innere Antrieb zu ihrer Lebensgeschichte liegt jedoch im Kämpfen – ein Kämpfen, das zum größten Teil verborgen blieb oder im Laufe der Zeit untergegangen ist.

Während der vergangenen fünf Jahre bin ich ihrem geistlichen und weltlichen Leben von Canton in Ohio bis nach Hanceville in Alabama nachgegangen. Dabei habe ich Menschen und Geschichten zutage gefördert, die Mutter Angelica schon längst vergessen hatte. Ich wog ihre Stärken und ihre Schwächen ab und entdeckte einen Glauben, der heutzutage selten geworden ist. Ich glaube, dass dieses Mosaik das vollständigste Bild von Mutter Angelica abzeichnet – sowohl von innen als auch von außen.

Im April 2001 begann Mutter Angelica, sich nach einem besonders strapaziösen Gesprächstermin sanft in die Ruhe ihres Klosters zurückzuziehen. Damals drehte sie sich auf der Türschwelle wie ein kokettes junges Mädchen noch herum und schlug mit einer Hand auf den runden Türrahmen. „Sie wissen jetzt genauso viel über mich wie der liebe Gott“, sagte sie mit einem spitzbübischen Lächeln. „Aber es gibt noch einige Dinge, die sogar Sie nie erfahren werden.“

„Sie haben aber nichts dagegen, wenn ich weiterhin versuche, sie herauszufinden?“, fragte ich.

Sie kicherte fröhlich und verschwand im Flur.

Hier folgen nun ihre freimütigen Erinnerungen, das Ergebnis meiner Nachforschungen und noch einige Dinge, von denen weder Mutter Angelica noch ich annahmen, sie jemals ans Tageslicht zu bringen.

Raymond ArroyoNew Orleans, 2005

Prolog

Im Jahre 2001 ließ sich die zusammengekrümmte Äbtissin am Morgen des Heiligen Abends in dem bereitstehenden Rollstuhl nieder und versuchte, ihre Töchter zu beruhigen. Schon seit Wochen hatten die Schwestern jede einzelne ihrer Bewegungen gespannt verfolgt und immer gehofft, ihre Wachsamkeit könnte die nächste Erkrankung oder einen Rückschlag irgendwie abwehren oder aufschieben. Angefangen von den Blicken der Verzweiflung, die sich die Nonnen gegenseitig zuwarfen, bis hin zu der Fürsorge, die sie ihr zuwandten, wenn sie stolperte oder auch nur zögerte: In all dem konnte sie die Sorge der Schwestern spüren. „Heute kommt Jesus“, verkündete sie an diesem Morgen mit ruhiger und entschiedener Stimme. Sie deutete auf den Gang und wies die Schwester an, sie aus der Zelle zu schieben. „Ich werde in die Kirche gehen, um dort auf Ihn zu warten.“

Lange musste sie dort nicht warten.

Als sie an den verschlossenen Türen des langen Klosterganges vorbeifuhr, in dem man nur das Rascheln der Ordenstrachten der Schwestern vernahm, sah die alte Nonne aus, als ob sie gerade von einem Fronteinsatz aus einer ausgedehnten Schlacht heimgekehrt wäre. Und vielleicht war es ja auch so. Öffentlich ausgetragene Kämpfe mit einem Kardinal und ihrem Ortsbischof, eine Überprüfung vonseiten des Vatikans, der Tod einer neunundvierzigjährigen Freundin aus dem Kloster sowie anhaltende gesundheitliche Probleme hatten Ende 2001 ihren Tribut von Mutter Mary Angelica gefordert. Selbst die Millionen Menschen, die sie jede Woche mit dem Fernsehen in ihre Wohnungen einluden, hätten sie nicht mehr erkannt. Eine Schlinge hielt Mutter Angelicas zerschmetterten rechten Arm. Sie war einige Tage zuvor gestürzt. Eine Augenklappe bedeckte ihr herunterhängendes linkes Auge, das sie seit einem Schlaganfall im vergangenen September nicht mehr schließen konnte. Und ihr Mund, der einmal selbst Bischöfe erbeben ließ und der den Verirrten auf den sieben Kontinenten das Heil brachte, hing traurig herab und entstellte das einst so vergnügte Antlitz. Angelica war nunmehr zu einer lebendig gewordenen Ikone des „heilbringenden Leidens“ geworden, von dem sie ihren Schwestern so oft gepredigt hatte.

Eine der jungen Schwestern, die schon ihre Gelübde abgelegt hatte, schob Mutters Rollstuhl in der Klosterkapelle vorsichtig über den polierten Fußboden aus grünem Marmor und Jaspis. Der vertraute Duft von honigsüßem Weihrauch umfing sie jetzt. Von den bunt verglasten Kirchenfenstern der Kirche schauten die dort abgebildeten Engel auf sie herab und entboten ihren Gruß, als die Sonne von der Ostseite hereinstrahlte. Die Äbtissin war in die sich ständig verändernden Farben dieser Engel getaucht, und so rollte sie ihrem Bräutigam entgegen. An diesem Morgen war sie zu schwach gewesen, um ihre Ordenstracht anzulegen. Deshalb erschien sie pflichtbewusst in einem cremefarbenen Gewand und einer passenden Skimütze, um Ihm zu huldigen. Sie trug die Zeichen, die Er zugelassen hatte.

Trotz ihrer körperlichen Verfassung war keine Bitterkeit bei ihr zu erkennen, als sie sich der fast zweieinhalb Meter hohen Monstranz näherte, in der die konsekrierte Hostie ausgestellt war. Dort war ihr Herr und Erlöser, der hoch über dem Zentrum der Kirche thronte, die sie für mehrere Millionen Dollar für Ihn hatte erbauen lassen. Für ihren Herrn war nichts zu viel. Die jetzigen Wunden waren lediglich neue Opfergaben, die sie Ihm darbrachte. Lange hatten sie miteinander unter Schmerzen kommuniziert, sie und ihr Bräutigam. Sie spürte, wie Er sie berührte, und ließ es zu. Sie hatte ja gelernt, dass sich im Schmerz – durch den Schmerz – Wunder ereigneten, wenn sie es nur fertigbrachte, Ihm vollkommen zu vertrauen und sich den Fügungen Seiner Vorsehung zu unterwerfen.

Nach der Messe und dem Rosenkranzgebet verließen die Schwestern nach und nach die Kirche. Einsam bewegte sie schwach ihren Kopf nach oben, richtete ihr gesundes Auge auf Christus im Allerheiligsten Altarsakrament, wie sie es schon siebenundfünfzig Jahre lang in ihrem Ordensleben getan hatte. Dann kam Er ganz zu ihr.

Ihr Kopf kippte plötzlich zur Seite, als wäre er aus Beton gegossen. Erschöpft und verwirrt wanderten Angelicas Augen zur Decke.

„Mutter Angelica, ist alles in Ordnung?“, fragte Schwester Faustina. „Mutter Angelica?“

Mutter Angelica antwortete nicht. Schwester Faustina fragte sich, warum sie einen solch verstörten Gesichtsausdruck hatte. War ihr Blutzucker abgefallen? Spielte ihr Diabetes verrückt? Warum konnte sie nicht mehr klar schauen? Die Schwestern standen um sie herum, riefen ihren Namen und versuchten, irgendeine Reaktion zu erhalten. Ein großes Glas Orangensaft wurde herbeigebracht, um ihren Blutzucker zu stabilisieren. Sie trank es ganz aus. Aber es half nicht. Die Nonnen brachten Mutter Angelica eilig in ihre Zelle zurück, um ihre lebenswichtigen Funktionen zu überprüfen.

Auf dem Gang trafen sie, noch im Nachtgewand, Schwester Margaret Mary. Sie war zeitweise Mutter Angelicas Krankenpflegerin, da sie für die Ausgabe der Medikamente verantwortlich war und der Neunundsiebzigjährigen mit allgemeinen gesundheitlichen Ratschlägen beistand. Als sie die verwirrte Äbtissin erblickte, brachte sie ihre schlimmsten Befürchtungen zum Ausdruck: „Sie hatte einen Schlaganfall“, sagte Margaret Mary wie benommen.

Zurück in ihrer Zelle, hatte Mutter zwar einen ganz normalen Blutdruck, sie schafften es jedoch nicht, sie durch eine Sauerstoffmaske wiederzubeleben. Schwester Mary Catherine, Mutters Stellvertreterin und damit die Zweite in der Rangfolge hinter Mutter Angelica, entschied, sie in das nahe Cullman-Bezirkskrankenhaus bringen zu lassen. Die einstündige Fahrt nach Birmingham wäre zu lang gewesen. Man lud die Äbtissin in einen Krankenwagen und fuhr schnell zum Krankenhaus.

Außer dem andauernden Nach-Luft-Schnappen und dem unkontrollierten Augenrollen war sie völlig teilnahmslos.

Im Krankenhaus wurden eine ganze Reihe von Tests vorgenommen, während die Schwestern beteten. Endlich betrat Dr. L. James Hoover mit verlegenem Ausdruck den Warteraum. Er trug einen festlich aussehenden roten Pullover, der bei diesem Anlass fast lächerlich wirkte. Mit den Händen in seinen Hosentaschen wirkte er irgendwie hoffnungslos.

„Wir können nichts für sie tun“, sagte Hoover gedehnt, als wollte er sich entschuldigen. „Sie hatte einen Schlaganfall und eine Gehirnblutung.“

„Und was wird jetzt geschehen?“, fragte Schwester Margaret Mary.

Der Arzt wich dem Blick der Nonne aus. „Sie wird einfach hinüberdämmern. Einer von hundert Patienten sind Kandidaten für eine Operation, doch in ihrem Alter und Zustand…“

Die Nonnen begriffen sofort, welche schreckliche Entscheidung sie treffen mussten, entweder nichts zu tun und mit anschauen zu müssen, wie ihre Oberin ihnen entglitt, oder die Fahrt nach Birmingham zu riskieren, um dort eine gefährliche Hirnoperation durchführen zu lassen, die sie womöglich nicht überleben würde. Während die schwerwiegende Entscheidung getroffen wurde, lag die Frau, die das weltweit größte religiöse Medienimperium aufgebaut hatte, im Koma in der Notaufnahme des Krankenhauses. In der Vergangenheit war sie schon so oft durch viele Wunder gerettet worden. Jetzt stand sie selbst an der Schwelle zur Ewigkeit, zu der sie anderen seit Langem den Weg gewiesen hatte.

Irgendwo in den Tiefen ihres angeschlagenen Bewusstseins fasste Mutter Angelica wohl unbewusst den Entschluss, den Kampf aufzunehmen. Wie schon immer wollte sie sich jetzt in der Verzweiflung in die Hände Gottes fallen lassen. Für Mutter Angelica gab es keinen anderen Weg.

1. Kapitel

Ein unglückliches Leben

Mutter Angelica kam unbeachtet und sogar unerwünscht zur Welt, zumindest was ihren Vater betraf. Geboren wurde sie am 20. April 1923 als Rita Antoinette Rizzo in der bescheidenen Stadt Canton in Ohio.

Wenn man davon absieht, dass Präsident William McKinley in Canton gewohnt hatte und auch dort begraben wurde, handelte es sich um eine unbekannte Industrieansiedlung, etwa eine Stunde von Cleveland entfernt. Am Horizont sah man überall dicke braune Rauchschwaden aus den Fabrikschornsteinen hervorquellen, ein Zeichen für die von dieser kleinen Stadt ausgehende Produktivität. Die Stärke Cantons war der Stahl, der Werkstoff des neuen Jahrhunderts, der als Magnet Tausende Einwanderer anzog. Aus Cantons Fabriken und seinen Förderbändern stammten Kugellager, Straßenbahnwagen, Ziegelsteine, Telefone und Rohre, mit denen sich das Land weiterentwickelte und seine großartigste Epoche erreichen sollte.

Doch neben der Industrieansiedlung sticht Canton auch heute noch durch seine grüne Weidelandschaft mit leicht gewellten Hügeln in der Mitte Amerikas hervor. Hier konnte man Kinder aufwachsen lassen ohne das Chaos und die Enge des Stadtlebens. Das traf allerdings nur zu, wenn man nicht gerade im südöstlichen Teil der Stadt wohnte, dort, wo Rita Rizzo geboren wurde.

Im Jahre 1923 war der Südosten von Canton als Rotlichtbezirk bekannt oder auch als „Slumgebiet“, wie manche diesen Teil nannten. Für die Schwarzen und die zahlreichen italienischen Einwanderer, die in den Fabriken arbeiteten, war der Südosten die Heimat. Die Italiener waren an das Viertel durch eine Kombination von Analphabetentum und regelmäßigen Schutzgeldzahlungen gebunden, die von ihren unberechenbaren Landsleuten eingefordert wurden. Es war ein Ghetto, das von der „Schwarzen Hand“ beherrscht wurde, einer kriminellen Organisation, deren Ursprünge in Sizilien lagen. Und obwohl die Bandenmitglieder Revolver mit schwarzen Griffen trugen, während sie im Viertel ihren Geschäften nachgingen, stammte die Bezeichnung „Schwarze Hand“ doch noch aus ihrer alten Heimat. In dieser Zeit nahm die Bandenkriminalität ungeheuer zu. Es gab eine durchgehende Kette organisierter Korruption von Cleveland über Canton und weiter nach Steubenville. In Canton war die Cherry Street das Zentrum, wo kriminelle Banden und Prostituierte sich um die gleichen Seelen bemühten wie die katholische Pfarrei St. Antonius.

Bandenmorde kamen im Südosten von Canton häufig vor. Leute, die früher einmal in der Gegend gewohnt haben, berichten heute noch von Menschen aus ihrer Nachbarschaft, die auf ihrer Veranda in die Luft gesprengt, an Straßenecken erschossen oder in das Flusswasser geworfen wurden. Auch heute noch reden einige der Dorfbewohner, die ja nun mittlerweile weit über achtzig sind, mit gesenkter Stimme über die „Schwarze Hand“, und sie lehnen aus Angst vor Repressalien jede Veröffentlichung ihrer Namen ab.

Dieses ethnische Ghetto – in dem Dirnen an die Fensterscheiben ihrer Bordelle klopften, um ihre Freier anzulocken; in dem Ladenbesitzer in der gleichen Straße zusammen mit Auftragskillern lebten; in dem die Priester der Pfarrei versuchten, kleine Gauner zu einem besseren Leben anzuleiten; in dem sich das Profane mit dem Sakralen vermischte, und jeder sich anstrengte, irgendwie über die Runden zu kommen – dies nun war die Umgebung, die auf Rita Rizzo bei ihrer Ankunft im Jahre 1923 wartete.

Sie kam im Haus von Mary und Anthony Gianfrancesco, ihren Großeltern mütterlicherseits, auf die Welt. Diese wohnten einen Häuserblock entfernt von der berüchtigten Cherry Street. Das Haus in der Liberty Street mit der Hausnummer 1029 grenzte auf der einen Seite an ein offenes Feld mit gepflegten Weinreben. Auf der anderen Seite des Hauses, an der Kreuzung der Liberty Street und der Eleventh Street, befand sich das Lokal von Großvater Gianfrancesco, ein beliebter Treffpunkt für die neu ankommenden Einwanderer und ihre amerikanische Verwandtschaft, die sich dort trafen und etwas tranken oder zu Mittag aßen.

Für ihre Mutter Mae war die Geburt der kleinen Rita eine schmerzvolle Angelegenheit. Es waren mehrere Stunden sowie anschließend fünfzehn Stiche vonnöten, um das fast zwölf Pfund schwere Kind zur Welt zu bringen. Mae Gianfrancesco Rizzo wurde nicht müde, dies ihrer einzigen Tochter immer wieder zu erzählen.

„Meine Großmutter sagte, ich hätte rosige Wangen, einen vollen Haarschopf und die Größe eines sechs Monate alten Kindes gehabt. Es hätte ausgesehen, als ob ich zum Gehen bereit gewesen wäre“, erinnerte sich Mutter Angelica Jahrzehnte später kichernd.

John Rizzo, Ritas Vater, wollte nie ein Kind. Als ihm seine Frau nach zwei Jahren Ehe mitteilte, dass sie schwanger war, „tobte er so vor Wut, dass er sie mit Gewalt packte und an den Haaren zerrte“. Mae Rizzo war überzeugt, dass sie aufgrund dieses Zwischenfalls und der nachfolgenden Angstzustände das Kind nicht stillen konnte.

Als Mae John zum ersten Mal begegnete, schien er der ideale Mann für sie zu sein. Er war groß und schlank, anständig und ruhig im Verhalten, tadellos gekleidet und trug Gamaschen und einen Spazierstock. In einem Ghetto, in dem es von einfachen Arbeitern und Ganoven nur so wimmelte, war John Rizzo die Verwirklichung eines Wunschtraumes. Von Beruf war er Schneider. Er hörte Mae singen, als er einmal die Eleventh Street hinunterschlenderte, und kam so zum ersten Mal an die Küchentür der Gianfrancescos.

Mae sang oft beim Geschirrspülen die italienischen Opernarien mit, die vom Grammofon ihres Vaters aus dem Wohnzimmer erklangen. Seit ihrer Geburt war sie stets von Musik umgeben gewesen. Musik gehörte zu ihrem Leben genauso wie Papas Lokal oder der gusseiserne Herd in der Küche. Mae wollte gerne Sängerin werden und hatte sicher auch das Aussehen dafür. Sie war eine aparte Frau mit dunklen Augen, markanten Gesichtszügen und mit einem ernsten Ausdruck, der die Blicke der Männer in der Nachbarschaft auf sich zog. Familienfotos zeigen eine junge Frau, die sich ihres guten Aussehens bewusst war und die auch wusste, welche Mode zu ihr passte. Übergroße Hüte, bauschige Kleider, Handschuhe und Sonnenschirme schmückten Maes hübsche Figur. Ihre Schönheit nahm John gefangen.

Doch trotz all ihrer Reize war Mae sogar schon als junge Frau davon überzeugt, dass sie vom Leben betrogen worden war. Sie führte ihre Schwierigkeiten auf die fünfte Klasse zurück, als ein männlicher Klassenkamerad sie während einer Brandschutzübung an der Hand nahm. Ob Mae dies als eine Aufdringlichkeit empfand oder einfach nur schlecht gelaunt war, ist nicht bekannt. Jedenfalls riss sie eine Latte aus einem nahe gelegenen Zaun und schlug damit dem Jungen auf den Kopf. Vermutlich haben sich die Lehrer bei der Mutter darüber beschwert. Ihre Mutter, die Konflikten immer aus dem Weg gegangen war, entschied nun, dass Maes Schulbildung jetzt ausreichte. Sie wurde von der Schule genommen und kehrte nie mehr dorthin zurück. Dieses Gefühl, nicht genug gelernt zu haben oder nicht intelligent genug zu sein, hatte tiefe Narben bei Mae Gianfrancesco hinterlassen – Narben, die sich auch später noch bemerkbar machten und letztlich auch ihre Tochter belasteten.

Als John Rizzo an der Küchentür vorbeischlenderte und Komplimente über Maes Stimme machte, muss sie wohl gedacht haben, dass ihr Gebet erhört worden war. Jetzt war nun endlich die Gelegenheit in greifbare Nähe gerückt, diesem beengten und stürmischen Haushalt mit lauter Brüdern zu entkommen, eine Möglichkeit, ganz von vorne zu beginnen und vielleicht sogar eine Ausbildung zu machen. Mit zweiundzwanzig Jahren ergriff Mae ihre Chance zum Glücklichwerden und heiratete John Rizzo am 8. September 1919 gegen die Einwände ihrer Eltern, „die ihn noch nie gemocht hatten“.

Vier Jahre später, am 12. September 1923, trugen die Eheleute ihre fünf Monate alte Tochter zum Taufbecken der St. Antonius-Kirche in der Liberty Street. Es war damals Brauch, Säuglinge innerhalb weniger Tage nach der Geburt taufen zu lassen, doch ein paar säumige Taufpaten hatten diese Verzögerung verursacht. Als die Rizzos dann schließlich mit dem kräftigen Kind an das Taufbecken herantraten, das schon so viel älter als fünf Monate zu sein schien, wandte sich der erstaunte Priester an Mae und fragte: „Weshalb haben Sie nicht gewartet, bis sie von selbst hierher laufen konnte?“

Rita wurde von ihrer Mutter sofort nach der Taufe zu einem Seitenaltar getragen, der der Schmerzensreichen Mutter gewidmet war. Sicher fühlte sie sich von dieser Darstellung Mariens ganz besonders angezogen. Auf diesen Altar der Madonna, deren Herz von Schwertern des Leidens durchbohrt war, legte Mae ihr eigenes Kind. „Sie erzählte mir, sie habe zu Maria gesagt: ‚Ich gebe dir meine Tochter‘“, erinnerte sich Mutter Angelica später etwas wehmütig. „Ich bin mir sicher, sie dachte, sie würde noch weitere Kinder bekommen, aber sie bekam keine mehr.“

Das war auch kein Wunder. Die Ehe der Rizzos war bereits am Zerbrechen. Johns Unfähigkeit, die Familie finanziell zu unterhalten, trug maßgeblich dazu bei.

„Mein Vater hatte nie genügend verdient“, meinte Mutter Angelica. „Meine Mutter bestand darauf, endlich ein Haus zu mieten… Eines Nachts lag ich in meinem Gitterbett und fing an zu weinen, zu schreien und zu brüllen. Mae stand schließlich auf, um nach mir zu sehen. Und dann waren dort überall Kakerlaken, in meinem Bett, auf mir selbst und auch an den Wänden. Die Tapete bewegte sich, auch sie war voll von Kakerlaken.“ Nach einigen bissigen Kommentaren John gegenüber, in denen sie zweifellos ihre Wut über sein Versagen als Ernährer der Familie ausließ, packte Mae ihre kleine Tochter und verbrachte mit ihr die Nacht im Haus ihrer Eltern. Dies sollte in ihrer Ehe zum Normalfall werden.

Zudem wurde die Beziehung auch durch die Mutter von John Rizzo untergraben. Catherine war eine herrische Schwiegermutter. Um das Jahr 1926 konnte Catherine Rizzo keine Wohnung finden. Dabei hatte sie elf Kinder, eines davon war John. Daher wurde beschlossen, dass sie auf Maes Drängen hin bei der jungen Familie Rizzo in Canton einzog.

„Sie besaß einfach nicht genügend Weitsicht, um sich vorstellen zu können, dass etwas nicht stimmen konnte, wenn elf Kinder nichts mit ihrer Mutter zu tun haben wollten“, bemerkte Mutter Angelica mit einem bitteren Lächeln. „So nahm meine Mutter sie also auf, und damit fing der Ärger an.“

Tatsächlich gingen die Schwierigkeiten vermutlich schon sehr viel früher los. John hatte, Gerichtsunterlagen zufolge, Mae seit Jahren mit Wort und Tat misshandelt. Deshalb hatte wahrscheinlich nicht Catherine Rizzo die Ehe zerstört, jedoch war sie sicherlich der Auslöser für viele Ehestreitigkeiten.

Die beherzte Mae traf in der Großmutter Rizzo auf eine Persönlichkeit, die ihr ebenbürtig war. Sie war eine stattliche Frau mit einem entsprechenden Mundwerk. Sie duldete keine Dummköpfe, vor allem nicht in der Küche. Die gastronomischen Ansprüche von Großmutter Rizzo waren hoch. Maes Kochkünste und auch alles andere, was die junge Frau tat, entsprachen jedoch nicht den Erwartungen von Großmutter Rizzo. Sie waren auch nicht gut genug für Catherines Sohn. Die regelmäßigen Nörgeleien wurden für eine ohnehin schon verunsicherte Person wie Mae einfach zu viel.

Eines Nachmittags hatte Mae gerade ein Hähnchen mitsamt den Knochen in den Ofen geschoben, was Großmutter Rizzo nun ganz besonders auf die Palme brachte, denn sie selbst war stolz darauf, Geflügel innerhalb von Minuten entbeinen zu können. Noch ehe die Klappe zum Backofen geschlossen war, fiel die alte Dame über Mae her und beschimpfte sie wegen ihrer Unfähigkeit in der Küche. Die dreijährige Rita klammerte sich an ihre Mutter. Nachdem das Kind mehrere Minuten lang angespannt zugehört hatte, trat es zwischen seine Mutter und Großmutter Rizzo.

„Ich sagte zu meiner Großmutter: ‚Oh, sei still! Immer nur reden, reden, reden!‘ Da hob mich meine Mutter hoch und gab mir hundert Küsse, weil ich sie verteidigt hatte“, erinnerte sich Mutter Angelica. „Mein Vater hätte sie ja nie verteidigt!“

Dies sollte das erste, jedoch nicht das letzte Mal sein, dass Rita ihre Stimme erhob, um fast instinktiv ihre Mutter zu verteidigen. Auch die ersten Anzeichen der in den späteren Jahren für sie charakteristischen Fähigkeit, energisch aufzutreten, machten sich hier bemerkbar. Ihr Eingreifen trug jedoch nur wenig zur Abmilderung der Schärfe im Verhältnis zwischen Mae und ihrer Schwiegermutter bei.

Nach den Worten von Mutter Angelica rannte Mae irgendwann zwischen 1927 und 1928 wie besessen die Treppen ihres Hauses hinauf, um ein Gewehr zu suchen, mit dem sie die alte Frau erschießen wollte. „Wenn die Mutter meines Vaters daheim gewesen wäre, hätte sie es auch getan. Zum Glück war sie aber schon nach Reading in Pennsylvania abgereist, um dort bei ihrer Tochter zu wohnen…“

Ab November 1928 lebte auch John Rizzo anderswo. Er zog nach Kalifornien und ließ zwei Jahre lang nichts von sich hören. Er gab weder einen Grund für seine Abreise an, noch hinterließ er irgendeine Adresse. Ohne Geld und ohne eine Arbeit musste Mae den Rest der Familie versorgen. Wie Flüchtlinge kehrten sie und die fünfjährige Rita in das Haus ihrer Eltern zurück. Dort hieß man sie nicht gerade willkommen. Das Haus der Gianfrancescos war bereits voll belegt. Maes vier Brüder (Tony, Pete, Frank und Nick) und die alten Gianfrancescos bewohnten die beiden Schlafzimmer. Deshalb waren Rita und Mae gezwungen, in einer renovierten Dachkammer zu schlafen. In den letzten Jahren erzählte Mutter Angelica oftmals über den ersten Winter in diesem Haus. Als sie und ihre Mutter in der Dachkammer schliefen, riss ein Sturm die Fenster auf und bedeckte sie mit Schnee. Doch angesichts der damaligen finanziellen Möglichkeiten und des Großmutes der Gianfrancescos erscheint es doch seltsam, dass sie ihre eigene Tochter und Enkelin solch widrigen Umständen ausgesetzt hatten…

Anthony Gianfrancesco war trotz der Armut, die ihn umgab, alles andere als arm. Er besaß drei Häuser in der Nachbarschaft, die er äußerst günstig an Familien sowie an frisch ankommende italienische Einwanderer vermietete. Anthony stammte aus Neapel, wanderte von dort aus und ließ sich zunächst in Colorado nieder, wo er in einer Goldmine arbeitete, bevor er nach Akron in Ohio umzog. Dort begegnete er Mary Votolato und heiratete sie. Konflikte mit seiner Schwiegermutter trieben ihn dazu, nach Canton umzusiedeln. Dort eröffnete er ein Geschäft.

Das Lokal, das Anthony Gianfrancescos Namen trug, wurde zu einem sicheren Hafen für ausländische Familien, die mit dem Schiff in einem fremden neuen Land ankamen. Im Südosten Cantons wurde Gianfrancescos Lokal zum Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens der Italiener: Dort konnte man die Muttersprache sprechen, untereinander in Kontakt kommen, sich unter seinesgleichen aufhalten und sich gegenseitig von den Demütigungen erzählen, die man bisweilen durch die Amerikaner erdulden musste. Mutter Angelica erinnerte sich daran, wie ihr Großvater die italienischen Neuankömmlinge mit Kleidung versorgte und ihnen bei der Arbeitssuche behilflich war. Großmutter Gianfrancesco gab den Einwandererfamilien oft in einem Zimmer oberhalb des Lokals etwas zu essen. Dort trafen sich auch manchmal die italienischen Clubs. Es war ein Familienlokal, in dem es verboten war, sich zu betrinken. Wenn die Rechnung zu hoch wurde oder die Stunde vorgerückt war, schickten die Gianfrancescos ihre Gäste nach Hause.

Wahrscheinlich wurde im Lokal der Gianfrancescos auch noch Schnaps oder Bier serviert, als dies durch das staatliche Alkoholverbot nicht mehr erlaubt war, das in Canton ab dem 16. Januar 1920 Gültigkeit hatte und erst im Februar 1933 wieder aufgehoben wurde. Noch lebhaft erinnerte sich Mutter Angelica an ein Ereignis, das sich entweder 1929 oder 1930 abspielte.

„Ich konnte nicht älter als vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, und mein Großvater wollte mich nicht im Lokal haben. Er gab mir einen kleinen Krug mit Bier. Er gab mir außerdem vier oder fünf Brezeln und sagte zu mir: ‚Geh hinaus und setz dich auf den Bordstein und lass es dir schmecken!‘ Ich ging also hinaus, setzte mich auf den Bordstein, trank dieses Bier und aß dazu die Brezeln, als plötzlich die Musikkapelle der Heilsarmee auftauchte. Sie stellten sich also vor mich hin und fingen an, alle möglichen Psalmen aufzusagen und für mein Seelenheil zu beten. Sie müssen total schockiert gewesen sein, als sie sahen, wie dieses kleine Kind Bier trank. Ich erinnere mich noch daran, wie ich meinen Großvater anbrüllte: ‚Da draußen ist eine Musikkapelle!‘“

Das kleine Mädchen mit der Pagenkopf-Frisur hatte jedenfalls die beste Gelegenheit, das Leben in seiner ungeschminkten Form aus nächster Nähe zu kennenzulernen. An der Kreuzung zwischen der Liberty Street und Eleventh Street beobachtete sie die Menschen und den Lauf der Welt, wobei wohl nicht alle so harmlos waren wie die vorbeimarschierende Heilsarmee. Bei ihren Bordsteinausflügen unterhielt sie sich mit Prostituierten, Bandenmitgliedern, mit Männern, die aus den Fabriken heimkehrten, mit Mamooch – einer Italienerin, die betend auf den Straßen umherstreunte – und mit den Schwarzen, die auch in ihrem Viertel wohnten. Dieses sich ständig drehende Karussell vieler verschiedener Menschen flößte dem Kind ein Mitgefühl für Fremde ein und brachte ihm bei, wie man leicht Kontakt zu Menschen verschiedenster Herkunft knüpft. In diesem Laboratorium des Lebens nahm die kleine Rita das Elend der Welt und den verborgenen Humor auf, wie es nur wenigen möglich ist.

Etwa zu dieser Zeit eröffnete Mae Rizzo eine chemische Reinigung neben dem Lokal ihres Vaters, nachdem sie zuvor eine kurze Ausbildung bei einem Schneider und in einer Reinigung gemacht hatte. Es sollte die erste von vielen Bemühungen sein, mit einem Geschäft ohne Unterstützung ihrer Familie für Ritas Unterhalt zu sorgen. Wenn sie schon unter dem Dach ihrer Eltern leben musste, dann war sie auch entschlossen, ihnen zu zeigen, dass sie ihre Tochter auch ernähren konnte, und zwar allein.

Auch in Glaubensdingen bewies Mae denselben Hang zur Eigenständigkeit. Obwohl die Gianfrancescos keine Kirchgänger waren, fing Mae an, die St. Antonius-Kirche regelmäßig zu besuchen. Die Kirche und ihr Seelsorger, Pfarrer Joseph Riccardi, vermittelten der verlassenen Frau ein Gefühl des Trostes und des Friedens. Ehrenamtlich organisierte sie italienische Festlichkeiten für die Pfarrei. Eine dieser Veranstaltungen sollte den Rahmen für Rita Rizzos ersten öffentlichen Auftritt bilden. Einige Jahre, nachdem Al Jolsons Film „Der Jazzsänger“ das Land 1927 im Sturm nahm, imitierte Rita ihn auf der Bühne. Die Sechsjährige trug einen Knabenanzug und spazierte in den überfüllten Gemeindesaal, um „Danny Boy“ zu singen.

„Die Bühne machte auf mich einen gigantischen Eindruck… Meine Mutter war wie zu Stein erstarrt, aber sie sagte: ‚Schau, ich werde dort im Publikum sitzen, sodass du deine Augen direkt auf mich richten kannst, und dann wird schon alles gut gehen! Du singst einfach dein Lied, in Ordnung?‘ Ich sagte: ‚In Ordnung.‘ Und ganz plötzlich schob mich mein Onkel hinaus, die großen Vorhänge hoben sich, und ich stand da. Ich begann also, mein Lied zu singen. Und genau an der Stelle, an der Al Jolson in dem Lied weinte, weil Danny Boy starb, konnte ich meine Mutter nicht finden. Jemand musste sich vor sie hingestellt haben. So fing ich an, erbärmlich zu weinen. Ich sang weiter, aber ich weinte dabei wie ein Baby und wurde selbst zu ‚Oh Danny Boy!‘ Bald weinte das ganze Publikum. Dann sah ich plötzlich meine Mutter, und ich war wieder ganz glücklich und sang weiter. Es war einfach perfekt! Mein Onkel Nick wurde fast verrückt. Er hob mich hoch und warf mich in die Luft, während die Leute johlten und klatschten.

So hatte Rita schon in ihrem zarten Alter nicht unbedingt für ihre Darbietungskünste Beifall bekommen, sondern vielmehr für ihre Fähigkeit, in der Öffentlichkeit aufrichtige Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Die Zuschauer fühlten sich tief verbunden mit den Gefühlskundgebungen dieses Kindes und reagierten darauf mit Zuneigung. Doch diese momentane Freude sollte nicht lange andauern.

In den späten Zwanzigerjahren löste die Bande der „Black Hand“ erneut eine Welle des Schreckens und der Gewalt in Canton aus. Ihr böses Treiben blieb von der Stadtpolizei weitgehend unbeachtet, da diese selbst an den Verbrechen beteiligt war. Bei einem der berühmtesten Mordfälle in dieser Zeit wurde Don Mellett in seiner Garage niedergeschossen. Er war der mutige Herausgeber der Tageszeitung Canton Daily News, in der er eine Artikelserie veröffentlicht hatte, in der Schwarzbrennerei und Prostitutionsringe in der Stadt angeprangert wurden. Der Polizeichef von Canton, Saranus Lengel, ein Kriminalbeamter und noch andere Personen wurden später wegen dieses Mordes verurteilt.

Da Rita, Mae und viele ihrer Nachbarn kein Vertrauen zu den Gesetzeshütern hatten, wandten sie sich lieber an die einzige stabile Institution, die ihnen zur Verfügung stand, die katholische Kirche. Sie war relativ stark in Canton und eine wirksame Kraftquelle im Leben der Gemeindemitglieder.

Bei einer von Mutter Angelica, ihrer Mutter und einigen Einheimischen berichteten Begebenheit entdeckte Pfarrer Joseph Riccardi, dass die Gangster schwarzgebrannten Schnaps an einem über jeden Verdacht erhabenen Ort vergraben hatten: auf dem Pausenhof der St. Antonius-Schule. Dieser Platz sollte einen doppelten Zweck erfüllen: Zum einen diente er den Gangstern als hervorragende Tarnung für ihren schwarzgebrannten Schnaps, zum anderen ergab sich hier eine Möglichkeit, den geradlinigen Priester zu beschämen. Doch Pfarrer Riccardi verteidigte sein Gelände, ließ auf dem Schulhof trotz Morddrohungen Scheinwerfer anbringen und benachrichtigte die städtischen Behörden. Es wäre wohl besser gewesen, wenn jemand dem zweiunddreißigjährigen Priester mitgeteilt hätte, dass die Behörden auf der Gehaltsliste der Mafia standen.

Schließlich war es jedoch die Ankündigung von Pfarrer Riccardi, dass die St. Antonius-Kirche aus dem Zentrum des Mafia-Gebietes in die relativ ruhigere Eleventh Street im Südosten der Stadt verlagert würde, die nun tatsächlich den Zorn der „Schwarzen Hand“ hervorrief. Die Umgebung der Kirche hatte immerhin als Wohngebiet und als „Geschäftsbereich“ der Gangster gedient und diesen einen gewissen Anschein von Ehrbarkeit verliehen. Außerdem war sie sicher auch ein durchaus brauchbarer Treffpunkt, um Geschäfte einigermaßen unbelästigt abzuwickeln. Was immer auch ihr Motiv gewesen sein mag, die Mafia war fest entschlossen, die Umsiedlung zu verhindern. Die neue Kirche sollte lieber in der Liberty Street gebaut werden, und zwar an der Stelle, an der das alte Gotteshaus stand. Unter Druck reichten Pfarrangehörige einen Antrag auf eine einstweilige Verfügung bei Gericht ein, durch die ein Baustopp erreicht wurde, der die Bauarbeiten an der Eleventh Street für eine gewisse Zeit aufhielt.

Schließlich setzte sich Riccardi durch, und die neue St. Antonius-Kirche erhob sich in einem besseren Viertel im Südosten von Canton. Bischof Schrembs, der Ordinarius von Cleveland, lobte den jungen Priester in den höchsten Tönen: „Pfarrer Riccardi kämpfte für den Aufbau einer anständigen und sauberen italienischen Siedlung, die frei vom Einfluss von Spielhöllen, Schwarzbrennereien und von anrüchigen Etablissements sein sollte, von denen das Viertel des ehemaligen Kirchengeländes geradezu verseucht war.“

Am Sonntag, dem 10. März 1929, kam die Reaktion der „Schwarzen Hand“. Nach der 9-Uhr-Messe ging Pfarrer Riccardi in den hinteren Teil der Kirche, um dort ein Kind zu taufen. Im Vorhof traf er Maime Guerrieri, eine siebenundzwanzig Jahre alte Frau mit fettigen Haaren, die von ihrer fünfjährigen Tochter begleitet wurde. „Ich freue mich, dass Sie Ihre Kleine wieder in die Schule schicken“, sagte der Priester, als er versuchte, mit der Frau ins Gespräch zu kommen. Bevor er noch etwas anderes sagen konnte, zog Guerrieri einen Revolver und feuerte aus kürzester Entfernung fünf Schüsse auf ihn ab. Der Priester wurde von zwei Kugeln getroffen, er verstarb noch am selben Tag.

Bei der Gerichtsverhandlung wurde die Angeklagte Guerrieri „allein wegen Unzurechnungsfähigkeit… des Mordes nicht für schuldig“ befunden und freigesprochen. Die Gläubigen der Pfarrei waren erschüttert, und die sechsjährige Rita war ihrem ersten Märtyrer begegnet.

„Man hat noch nie eine Gemeinde gesehen, die so viel geweint hat. Es war einfach ein schwerwiegender, furchtbarer Verstoß gegen die Gerechtigkeit – niemand wurde jemals bestraft!“, sagte Mutter Angelica, als sie sich an diesen Vorfall erinnerte. Sie zog ihre Augenbrauen hoch und schüttelte verärgert den Kopf. „Ich glaube, dass dies ein großer Verlust in unserem Leben war, denn Pfarrer Riccardi war jemand, der uns verstand.“

Für Rita und Mae war nun also auch noch die letzte Säule, an die sie sich in ihrem Leben anlehnen konnten, zusammengebrochen. Dann verschlang im Oktober 1929 die Weltwirtschaftskrise die kümmerlichen Ersparnisse der kleinen Leute in Canton und anderswo. Für den Rest ihres Lebens lehnte es Mae Rizzo ab, ihr Bargeld auf einer Bank einzuzahlen. Sie hortete ab jetzt ihr Geld in einer Handtasche, damit sie es jederzeit zur Verfügung hatte und auf einen zweiten Crash vorbereitet war. Der Tod ihres Pfarrers und die damalige finanzielle Unsicherheit setzten eine nach unten führende Spirale von Nackenschlägen in Gang, die Mutter und Tochter schwer trafen.

1930 kehrte John Rizzo nach Canton zurück und besuchte seine Familie im Haus der Gianfrancescos. Obwohl Mae noch immer eine gewisse Zuneigung zu John verspürte, war ihr Vertrauen zu ihm schon längst geschwunden. Die peinliche Begegnung führte zu nichts, und Mae bat ihn unvermittelt, das Haus zu verlassen. Am 24. September 1930 reichte sie beim Bezirksgericht in Canton den Antrag auf Scheidung ein. Im Dokument wurde Johns „extreme Grausamkeit“ erwähnt – Schläge, verbale Angriffe und das Unvermögen, für seine Familie zu sorgen und sie zu ernähren. In dem Gesuch wurde das Gericht gebeten, für Mae Unterhaltszahlungen und das Sorgerecht für Rita zu bewilligen.

Das siebenjährige Kind versuchte, all das irgendwie zu verstehen: die herabwürdigende eheliche Beziehung, die lange Abwesenheit ihres Vaters und den emotionalen Zerfall des einzigen Elternteils, den sie wirklich kannte. Eigentlich wäre es für eine Mutter selbstverständlich gewesen, ihrem Kind in dieser Lage Trost zu spenden, jedoch wusste Rita schon mit sieben Jahren, dass dies unmöglich war. Mae war mit der Endgültigkeit der Scheidung innerlich überfordert. Sie wurde zunehmend hysterischer und neigte zu heftigen Weinkrämpfen. Rita war völlig auf sich selbst gestellt.

„Manchmal fragte ich mich, ob es wirklich einen Gott gibt, und wenn ja, dann konnte ich nicht verstehen, weshalb Er mir dann nicht eine Familie wie den anderen Kindern gegeben hatte“, bemerkte Mutter Angelica mit einem in die Ferne gerichteten Blick.

„Sie war schon immer erwachsen“, sagte Angelicas Cousine Joanne Simia. „Sie hatte keine Kindheit.“

In ihrem späteren Leben brachte Rita durch ihren Fernsehsender Licht in die dunklen Orte dieser Welt – Orte, wo die in Vergessenheit Geratenen zusammenkommen: in Bars, Altersheimen, Krankenhäusern und heruntergekommenen Motels. Wenn sie redete, spürten diese Menschen, dass Rita ihren Schmerz, ihre ruinierte Ehe, ihre Alkoholsucht und ihre zerrütteten Familienverhältnisse nachempfinden konnte. Sie schien eine von ihnen zu sein. Sie spürten, dass hinter dem Schleier, den funkelnden Augen und dem verschmitzten Lächeln eine Person steckte, die auch verwundet war. Und das war sie auch tatsächlich.

Der Anfang der Hölle

Am 10. März 1931 wurde ihrer Mutter Mae vom Gericht das Sorgerecht für Rita sowie fünf Dollar wöchentliche Unterhaltszahlungen zugesprochen. „Und damit fing die Hölle an“, stellte Mutter Angelica fest. Das Stigma der Scheidung und die Herausforderung, mitten in der Weltwirtschaftskrise ihren Lebensunterhalt bestreiten zu müssen, erschütterte das Leben von Mae und Rita schwer. Die seltenen Unterhaltszahlungen von John Rizzo waren keine Hilfe. Manchmal ging Rita zum Gericht, ohne dort das vereinbarte Geld vorzufinden. Nach einem derartigen Vorfall suchte die beherzte Neunjährige eines Tages ihren Vater in dem Herrenbekleidungsgeschäft auf, in dem er arbeitete.

„Ich bat ihn um den Unterhalt, da gab er mir fünfzig Cent. In der nächsten Woche ging ich dann wieder zum Gericht. Der Schalter dort sah aus, als wäre er sechs Meter hoch. Ich sagte zu der Frau, dass ich die Unterhaltszahlung abholen wollte. Sie antwortete: ‚Aber Schätzchen, dein Papa hat dir doch letzte Woche fünf Dollar gegeben.‘ Ich widersprach: ‚Nein, das stimmt nicht, es waren nur fünfzig Cent.‘ Dann zeigte sie mir die Quittung, die ich ihm die Woche zuvor unterschrieben hatte. Er hatte einen Punkt und eine zusätzliche Null eingefügt, damit die Summe wie fünf Dollar aussah. Ich bin dann nie wieder dorthin gegangen, um meinen Unterhalt abzuholen.“

Um über die Runden zu kommen, eröffnete Mae wieder eine chemische Reinigung. Nach Auseinandersetzungen mit ihren Brüdern zog Mae aus dem Haus ihrer Eltern aus. Zwischen 1933 und 1937 wohnten Mae und Rita in einer Reihe von verwahrlosten, gelegentlich von Ratten heimgesuchten Ein-Zimmer-Wohnungen, die zur maximalen Nutzung normalerweise jeweils in verschiedene Bereiche aufgeteilt wurden. Der vordere Teil diente als Geschäft, der hintere zum Schlafen. Wenn Rita und ihre Mutter gerade nicht so gut miteinander auskamen, blieb das Mädchen bei einer befreundeten Familie. So wohnte sie zeitweilig bei Victoria Addams, einer Frau, die mit John Rizzo zusammen war. Dieser ständige Wechsel übte auf Rita einen negativen Einfluss aus.

In der St. Antonius-Schule rutschten ihre Noten ab. Manches davon kann sicher der herzlosen Behandlung durch die Nonnen zugeschrieben werden, die Rita als Kind geschiedener Eltern über sich ergehen lassen musste. In den frühen Dreißigerjahren war eine Scheidung für die meisten Katholiken, insbesondere für die italienischen, ein schändlicher Vorgang und galt als schwere Sünde. In der St. Antonius-Schule war Rita Rizzo das einzige Kind aus einer zerbrochenen Ehe.

1933 bat Ritas Klassenlehrerin, eine Ordensschwester, jede Schülerin, ein Abonnement für eine katholische Zeitschrift zu verkaufen. Rita meldete sich und sagte, dass sie zwei übernehmen wollte, weil ihre Tante Rose bestimmt eines davon abnahm. Die Nonne fuhr sie an: „Ach, du nimmst nur eins. Du willst immer so großartig sein und am Ende führt das doch zu gar nichts.“ Über Ritas Wangen kullerten Tränen. „Ich habe diese Nonnen gehasst, ich hasste sie“, sagte sie später einmal. Als Rita nach Hause kam, wusste Mae, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, doch Rita wollte nicht darüber reden. Mae rief die Mutter einer Klassenkameradin an und war ganz außer sich, als sie erfuhr, wie man ihre Tochter behandelt hatte. Als Vergeltungsmaßnahme nahm sie Rita aus der St. Antonius-Schule und schickte sie in die öffentliche Schule.

Später überredete ein Priester Mae, Rita wieder in der St. Antonius-Schule anzumelden. Doch im folgenden Jahr kam es zu einem neuen unerfreulichen Ausscheiden. Am Ende einer Weihnachtsfeier verteilten die Nonnen an Rita und ihre Mitschülerinnen Spielzeug. Die Kinder packten die Geschenke aus und fertigten aus dem Einwickelpapier kleine Papierspielzeuge. Zur Freude der Mitschüler wedelten sie damit herum. Als Ritas Name aufgerufen wurde, trat sie vor, um ihr Geschenk abzuholen.

„Ich bekam nun dieses Jo-Jo. Es war alt und zerkratzt und hatte Knoten in der Schnur – man konnte dieses Ding gar nicht benutzen. Dann ging ich nach Hause. Meine Mutter fragte mich, wo ich das Jo-Jo herhatte. Als ich ihr erzählte, dass die Schwester es mir gegeben hatte, war dies der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.“

Mae und Rita eilten zum Pfarramt der St. Antonius-Kirchengemeinde, wo Mae dem Pfarrer gründlich die Meinung sagte. Sie betrachtete das gebrauchte Geschenk als eine Demütigung – und ihr Kind ließ sie von niemandem demütigen. Bevor sie das Pfarramt verließ, meldete sie Rita zum letzten Mal von der St. Antonius-Schule ab.

Das Stigma der Scheidung sollte Mae aber bald auch von der Kirche trennen, die doch so lange ihre Stütze gewesen war. Da sie seit ihrer Scheidung nicht mehr gebeichtet hatte, wurde sie von ihren Freunden ermuntert, bei einem Missionar, der in der Pfarrei auf Besuch war, das Bußsakrament zu empfangen. Als Mae die Sünde der Scheidung beichtete, „ging der Priester an die Decke“. „Was haben Sie getan?“, tobte er. „Sind Sie sich bewusst, dass Sie sich mit der Scheidung selbst exkommuniziert haben?“

„Anstatt ihr gütig und liebevoll zu begegnen, ging er hart mit ihr ins Gericht!“, sagte Mutter Angelica. „Er gab ihr nicht einmal die Chance, darauf hinzuweisen, dass sie nicht wieder geheiratet hatte und die Gebote der Kirche hielt.“

Mae stürmte aus dem Beichtstuhl und ging zehn Jahre lang nicht mehr zur Kirche.

Ungefähr zur selben Zeit scheiterte ihr Geschäft. Kunden, die ihre Kleidung abholten, versprachen, in der nächsten Woche zu bezahlen, doch das Geld blieb meistens aus. Mae war zu stolz, zu ihrer Familie zurückzukehren. Mae und Rita kamen nur mit Mühe über die Runden. Manchmal gab es zum Abendessen für beide nur ein Stück Brot mit Wurst, das sie sich teilten. Fest entschlossen, ihr Ideal der Selbständigkeit hochzuhalten, lehnte Mae es ab, die Gianfrancescos um ein Almosen zu bitten, ganz gleich, wie widrig die Umstände auch sein mochten.

Für die Außenwelt schien Mae Rizzo der Inbegriff an Zuversicht zu sein. Noch immer trug sie ihre eleganten Hüte und hielt die etwas herrische Fassade aufrecht, die jeden Fremden auf Distanz hielt. Alle, die sie kannten, erinnern sich an sie als eine hinreißende Geschichtenerzählerin. Sie konnte die Aufmerksamkeit des Publikums fesseln, wobei es egal war, welche Geschichte sie gerade erzählte. Ihre Tochter hatte dieses Talent geerbt. Doch im Gemüt wurde Mae Rizzo krank. Um das Jahr 1934 brachten sie Armut und eine chronische Depression beinahe um den Verstand. Vor ihrer fassungslosen elfjährigen Tochter brach Mae dann zu Hause in Tränen aus, jammerte über das Leben, das sie ihrem Kind zumutete, den Mangel an Bildung, der Ritas Berufsmöglichkeiten beschränken würde und über den Ehemann, der ihr Unrecht angetan hatte. Drei Jahre nach der Scheidung war Mae noch immer außerstande, John Rizzo aus ihrem Herzen zu entreißen. Wenn sie ihn nur mit einer anderen Frau sah, wurde sie schon wütend.

John Rizzos neue Partnersuche machte Maes Depressionen nur noch schlimmer und rief düstere, verheerende Gedanken bei ihr hervor. „Ständig drohte sie mit Selbstmord“, verriet Mutter Angelica, „und wenn ich von der Schule nach Hause kam, wusste ich nie, ob ich sie lebend oder tot antreffen würde. Ich konnte nicht mehr lernen oder mich konzentrieren.“

Für Rita hatten die ständige Sorge um Maes Gemütsverfassung und der endlose Kampf ums Überleben jede Beziehung zur Außenwelt unmöglich gemacht. Das tief in ihr sitzende Gefühl, dass sie selbst irgendwie zur Situation ihrer Mutter beigetragen hätte, verstärkte nur noch ihre Anhänglichkeit an Mae, auf die sich ihr ganzes Augenmerk richtete. „Einen Großteil der Zeit passte ich nur auf sie auf“, erzählte mir Mutter Angelica. „Deshalb hatte ich auch nie Freunde und spielte auch nie mit Puppen. Für mich war das Leben bitterernst.“

Die Rollen wurden vertauscht. Rita wurde für Mae zur Mutter und zur emotionalen Pflegerin. Mit elf Jahren, kaum fähig über das Armaturenbrett zu schauen, fuhr Rita bereits mit Maes Auto, um den Kunden ihrer Mutter die gestärkte Kleidung auszuliefern und an Samstagen die Zahlungen einzukassieren. Manchmal brachte sie sogar einen Gewinn mit nach Hause. Dies wurde dann in der Stadtbibliothek gefeiert, wo Mae Bücher wälzte und Rita in Comics schwelgte und die mitgebrachten Karamellbonbons genoss. Doch in den meisten Fällen kehrte das Mädchen mit leeren Händen von ihren Auslieferungsfahrten zurück, und dann flossen bei Mae die Tränen. Rita stand der Traurigkeit ihrer Mutter völlig hilflos gegenüber.

„Wenn mich der Herr nicht herausgezogen hätte, dann wäre es nur ein unglückliches Leben gewesen“, bemerkte Mutter Angelica nachdenklich. „Nie sah ich, dass sich etwas änderte. Es kam mir vor, als sei ich so geboren worden und als würde ich auch so sterben. Ich war nicht verbittert, ich hatte nur resigniert.“

Und dann drang das Übernatürliche zum ersten Mal in Rita Rizzos Leben ein. Das schmächtige Mädchen wollte nach einem Besuch beim Zahnarzt in der Innenstadt wieder mit dem Bus nach Hause fahren. Sie musste eine breite Straße überqueren, um ihren Bus zu erreichen. Sie schaute nach rechts und nach links, über ihre Knöchel hingen ausgeleierte Socken. Rita lief geradewegs auf den Mittelstreifen der Straße zu, als eine Frau aufschrie. Sie blickte flüchtig über ihre rechte Schulter zurück und bemerkte zwei Autoscheinwerfer, die direkt auf sie zukamen. Wie erstarrt blieb sie stehen. Das Motorengeräusch wurde immer lauter. Nur noch Sekunden bis zum Aufprall, Rita schloss ihre Augen, gelähmt vor Angst.

„Ganz plötzlich hatte ich das Gefühl, als hätten zwei Hände unter meine Arme gegriffen, mich emporgehoben – ich kann es jetzt, wenn ich darüber spreche, fast immer noch spüren – und mich auf die Verkehrsinsel gestellt, wo die Autos parkten“, erzählte mir Mutter Angelica mit einem fast ehrfürchtigen Flüstern. Sie bemerkte, dass die Passanten sich über das Unglaubliche wunderten, das sie gesehen hatten und sie anstarrten.

Als Mae am nächsten Tag mit dem Bus fuhr, berichtete ihr der Fahrer, dass er gestern „ein Wunder“ miterlebt und noch nie „zuvor jemanden so hoch emporspringen“ gesehen habe. Mutter und Tochter schrieben dieses „Hochheben“ einer Gnade zu, die sie in einem sonst so trostlosen Zeitpunkt ihres Lebens berührt hatte.

Als die vierzehnjährige Rita um das Jahr 1937 die High School besuchte, konnten sie und ihre Mutter es nicht mehr alleine schaffen. Der finanzielle Druck zwang sie, in den Haushalt der Gianfrancescos zurückzukehren, wo noch immer Großmutter, Großvater, Onkel Pete und Onkel Frank wohnten. Doch das Heim war nun nicht mehr dasselbe. Anthony Gianfrancesco hatte einen Schlaganfall erlitten. Zuvor hatte er einen Streit mit einem Gast, geriet in Wut und verlor die Beherrschung. Halbseitig gelähmt, humpelte er mit einem Stock im Haus herum. Sein Zustand wurde durch sein ohnehin heißes italienisches Temperament noch verschlimmert. Dadurch wurden die Ängste der im Haushalt lebenden Personen erst recht geschürt. Aber trotz dieser Probleme und Maes Stolz, der durch die unvermeidliche Rückkehr verletzt worden war, konnten sie und Rita doch wenigstens mit regelmäßigen Mahlzeiten und einem Dach über dem Kopf rechnen.

Um ihrer Mutter jeden zusätzlichen Kummer zu ersparen, bemühte sich Rita, ihre Noten an der McKinley High School zu verbessern, was ihr allerdings nur mit mäßigem Erfolg gelang. In ihrem zehnten Schuljahr entdeckte Frau Thompson, ihre Lehrerin für Wirtschaftslehre, etwas in dieser hageren, verschlossenen und schlechten Schülerin. Vor der Klasse verkündete die Lehrerin, dass es jemanden in diesem Raum gäbe, der lauter Einsen und Zweien schreiben und auch die beliebteste Schülerin der ganzen Schule sein könnte, wenn sie sich nur anstrengen wollte. Nach dem Unterricht rief Frau Thompson Rita zu sich.

„Du weißt, dass ich über dich gesprochen habe“, sagte die Lehrerin.

„Ja“, entgegnete Rita.

„Und nun, was gedenkst du zu tun?“

„Nichts“, sagte Rita trotzig. „Ich mag die Menschen nicht, und ich mag auch Sie nicht.“

Auf ihrem Heimweg bereute Rita ihre garstige Bemerkung, aber es fiel ihr schwer, ihr cholerisches Temperament zu bändigen. Sie konnte ohnehin keine Freunde haben. Mae hätte dies als unangenehm empfunden. Außerdem wäre jeder, der Ritas Aufmerksamkeit beansprucht hätte, von ihrer Mutter als Bedrohung wahrgenommen worden. Mae zuliebe war aus Rita eine überzeugte Einzelgängerin geworden.

Ein paar Tage nach ihrem Gespräch mit der Wirtschaftslehrerin sprach der Bandleader der zur Schule gehörenden Musikgruppe Rita an und fragte sie, ob sie gerne Tambourmajorette werden wollte. Als Wiedergutmachung für ihre freche Antwort, die sie Frau Thompson gegeben hatte, und ohne sich irgendwie mit Musik auszukennen, nahm sie die Herausforderung an. Im Rückblick glaubt Mutter Angelica, dass Frau Thompson und die anderen Lehrer sich vielleicht zusammengetan hatten, um ihr zu helfen. Im Sommer des Jahres 1939 übernahm sie den Taktstock.

„Sie konnte sehr gut wirbeln“, erinnerte sich Blodwyn Nist, die mit ihr zusammen Tambourmajorette war. „Sie hatte diese großen Hände und machte es richtig gut.“ Blodwyn und Rita waren die ersten weiblichen Majoretten in der Geschichte der Schule. Sie traten zusammen bei Sportveranstaltungen, Paraden und anderen Gemeindefesten auf. Nist zufolge war Rita sehr leutselig und hatte ein feines Gespür für das, was richtig und falsch war.

Es scheint jedoch, dass in dieser Zeit ein gewisser Zwiespalt bestand zwischen Angelicas Erinnerung an ihr eigenes Selbstbild und der öffentlichen Wahrnehmung ihrer Person. Entweder hatte sich Rita von ihrer Mutter inspirieren lassen und in der Öffentlichkeit eine fröhliche Maske aufgesetzt, um die Ängste und Sorgen zu verbergen, die ihren Alltag verdüsterten, oder aber die neue Aufgabe, die ihr als Majorette zugefallen war, brachte die leichtere, die beschwingtere Seite ihres Charakters zum Vorschein. Was auch immer nun der Fall gewesen sein mag, keine ihrer Mitschülerinnen stand ihr nahe genug, um die Wahrheit zu erkennen. Die Gespräche mit Klassenkameradinnen ergaben, dass Rita in der Schule keine engen Freundschaften pflegte und, abgesehen von ihren Pflichten als Majorette, für sich alleine blieb. Wie ihre Mutter konnte Rita beharrlich eigenständig und argwöhnisch gegenüber Außenstehenden sein.