Mutternichts - Christine Vescoli - E-Book

Mutternichts E-Book

Christine Vescoli

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Beschreibung

Das Nichts war zeitlebens im Rücken der Mutter, war allumfassend und doch nie greifbar. Nach dem Tod der Mutter fragt die Tochter sich, ob sie nun endlich sehen kann, was die Mutter hinter sich verborgen und worüber sie geschwiegen hat. Ihr bleiben nur wenige Erzählungen, geflüsterte Erinnerungen, ein paar Fotos und Zeitungsausschnitte. Die Mutter hat eine Kindheit voller Härte und Kälte auf einem fremden Hof in einem Südtiroler Seitental verbracht. Sie habe Gedichte in den Schnee geschrien und gegen den Frost angesungen – das hat die Mutter immer erzählt. Dass sie es gut hatte unter den fremden Menschen, ließ sie die Tochter glauben. Doch die glaubt es nicht mehr. Wie kann sie die Geschichte der Mutter erzählen, wo beginnen, was darf sie verknüpfen? Denn erzählen muss sie endlich, bevor diese Tür sich für immer schließt. "Ich stemme einen Fuß dazwischen, klemme ihn zwischen Mutters sich auflösende Geschichte und mich." Wer also war sie? Die Erzählerin nähert sich Schritt für Schritt dem Leben der Mutter an, stets hinterfragend, ob es so gewesen sein könnte oder ob sie mittels ihrer Sprache eine bereits vorgeformte Wirklichkeit schafft, die sich mit der Wahrheit der Mutter nicht deckt. "Mutternichts" ist ein kraftvoll-poetisches Debüt. Christine Vescoli nimmt darin etwas so Altmodisches wie Gegenwärtiges neu in den Blick: die Liebesbeziehung zwischen Mutter und Tochter.

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Seitenzahl: 179

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Christine Vescoli

Mutternichts

Roman

für Jonas und Hannah

Die Drucklegung dieses Buches wurde gefördert von:

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1314-3

eISBN 978-3-7013-6314-8

© 2024 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christine Rechberger

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Druck und Bindung: Florjančič tisk

Umschlaggestaltung: wir sind artisten

Dass die Sache geschrieben sein will.

(Marina Zwetajewa)

Mutter schlug die Augen nieder, wenn sie nachdachte und in sich verschwand. Sie schaute in einen Punkt, der im Boden lag. Irgendwo war er immer. Manchmal lag er auf dem Tisch. Dann zogen ihre Finger langsam darüber und zeichneten unsichtbare Linien in das gebügelte Tischtuchleinen. Sie senkte den Kopf und ich meinte schon, er würde gleich abknicken. Aber plötzlich stemmte sie sich hoch und ihre Stimme war vollkommen klar, sodass ich nicht verstand, von wo sie herkam, während ich gerade noch gedacht hatte, das nichtsnutzige Nichts würde sich wieder über sie legen.

Als ihr Blick zu mir zurückkehrte, wollte ich sie fragen: Wo bist du gewesen, Mutter? Ich fragte nicht. Ich fragte sie nie.

Es war schnell bei der Hand. Sie hatte es immer bei sich. Das Nichts war verlässlicher als ihr lieber Gott. Ob sie es brauchte oder sich davor duckte, wollte ich verstehen. Nichts zu sein und nicht zu sein waren für meine Mutter eins.

Das ist eine Weile her. Ich sehe sie nicht mehr in den Punkt auf der Tischdecke schauen. Ich sehe nicht mehr ihren Kopf niedergehen. Sehe nicht, wie er sich hebt, und nicht ihren Blick, der meinen davon abhält, dem ihren zu folgen. Was hatte sie in ihm gesehen? Sah sie, dass er den Einstieg nicht fand, an dem der ihre ins Leinen ging? Wollte sie ihn austricksen, abschütteln, zersprengen? Ich war ihren Linien gefolgt, die häufig Kreise waren, ich versuchte etwas darin zu erkennen, eine Form, eine Figur oder eine Schrift auf den Fäden des Leintuchs. Es stand nichts geschrieben. Es blieben nur die unsichtbaren Linien und Fäden, die fein gezogenen Fäden aus einem Mutterwollknäuel, nach denen ich wie ein Kätzchen angelte.

Die Linien zogen weiter, gingen in Spiralen über. Ihre Finger liefen wie Schlittschuhe ohne Tänzer. Ich ging ihnen nach, fürchtend, dass sie einbrechen würden, hoffend, dass sie es taten und Mutters Blick freigaben. Sie brachen nicht ein. Sie fielen auch nicht nieder. Ihr Blick tauchte auf und sie schaute mich an, als wäre sie nie nicht da gewesen.

Es kann sein, dass die Angst umeinander der Ort war, an den wir zusammen hingehörten. An dem wir uns voreinander versteckten, während wir aufeinander schauten.

Manchmal gehe ich an ihr Grab. Vor mir der Stein mit dem Namen, dem Foto, dem Geburts- und Todesdatum. Dazwischen ihr Leben, eine Leerstelle auf dem Stein zwischen zwei Datumsangaben. Kein Strich dazwischen. Nichts, das die Zahlen verbindet. Vielleicht meine Augen, die sich an die Platte kleben. Ich versuche, mit ihr zu reden. Es gelingt nicht.

Ich kann nicht zu Mutter reden, als würde sie mich jetzt unter der Erde oder wo auch immer hören. Als wäre die Erde der Scheitel, der das Leben hierher und den Tod dahin kämmt, und mein klapperndes Reden zopfte uns wieder zusammen. Es geht nicht. Ich weiß nicht, was meine tote Mutter ist. Ich kann Mutter denken, die klein war, die zart, die schnellfüßig war. Ich kann sie still, laut, ich kann sie zornig oder traurig denken. Ich kann sie stolz denken, schweigsam oder zaghaft, stark, schwach, niedergeschlagen, aufgeschreckt, das alles. Die Bilder sind da. Bewegen sich, ziehen weiter oder schlafen.

Ich habe sie in meinem Kopf, ich habe die Erinnerung. Aber ich habe keine Vorstellung von einer toten Mutter. Ich weiß nicht, wohin damit. Mit welchem Teil von ihr deckt sich das Wort „tot“? Ich meinte es zu kennen, gebrauchte es nicht anders als „groß“, „süß“, „rot“ oder „dumm“. Ich nahm es in den Mund und es war eins mit einer Vorstellung. Bei Mutter versagt es den Dienst. Es rasselt in meinem Kopf wie trockene Kerne in einer leeren Kapsel. Es ist das einsamste Wort der Welt.

Ich gieße die Blumen mit der Plastikkanne vom Friedhof. Ich zupfe die welken Blätter von der Heckenrose, schlucke, klopfe Pollen von meinem Rock, die Friedhofspflanzen setzen. Ich bleibe kurz stehen. Dann gehe ich.

Ich habe keine Angst vor dem Vergessen, als folgte das Verschwinden dem Tod auf den Fersen. Es gibt die Augenblicke, die quer durch die Zeiten fallen. Manchmal steigen sie wie Landstreicher durch ein Fenster ein, räumen den Kühlschrank leer und lassen eine Mütze oder ein Feuerzeug liegen. Manchmal sind sie die Abschiede, die es gab. Ich kam durch die Gartentür und sie kam mir entgegen wie ein Mädchen, das lachte und nichts wusste, obwohl sie die Male zählte, wie oft sie mir die Gartentür noch einmal aufmachen würde. Die Male, die einmal die letzten sein würden. Sie sollten heiter sein, als wäre es nie anders gewesen. Wir aßen Würstchen vor dem Spital, tranken eine Cola, es war heiß auf den Bierbänken in der Sonne. Busse krochen wie Raupen an uns vorüber, in der Mitte knickten sie ab und schliffen ihr Hinterteil wie einen abgestorbenen Fortsatz nach. Wir drückten Senf auf den Pappkarton, einer saß neben uns, beugte sich über den Teller wie eine Unke und ließ den Hintern über die Bierbank hängen. Er war dick und man sah in den Schlitz, der hinter der Hose verschwand. Mutter war müde. Ich fuhr sie heim. Wir gingen durch ihren Garten. Blumen blühten vor dem Fenster, ein Vogel prallte gegen die Scheibe. Ich erschrak, sie nicht. Sie blieb unberührt von dem dumpfen Knall, ließ mich zurück mit dem Fleck auf dem Fenster mitten im Esszimmer.

Ich stand da, plötzlich seltsam allein, als hätte sie sich davongemacht, ohne etwas zu sagen. Ich sah auch keinen Vogel. Es gab keinen, und ich, plötzlich mein eigener Avatar, wusste nicht, war eben der Knall oder mein Schrecken unwirklich gewesen. Oder beides eine Täuschung? Meine Wahrnehmung Einbildung und mein Schrecken Trug? Ich stand auf dem Teppich neben dem Tisch im Esszimmer, vor mir die Fensterfront in den Garten, vor dem Fenster die Rosen, deren Rot wie Rosen, wie nichts anderes. Der Teppich gemustert, Rauten und Arabesken, das Esszimmer sonnig und auf der großen Fensterfront ein faustgroßer Fleck. Das hatte es eben gegeben, einen gegen die Scheibe prallenden Vogel.

Auch meinen Schrecken hatte es gegeben. Und es hatte keinen von Mutter gegeben. Sie, die mich im Lieben das Fürchten lehrte und mit der Umarmung stumm eine Abwesenheit in mich hineindrückte, in mich hineinlegte wie ein Muttermal in die Achselhöhle, in der Angst und Lust den gleichen Schweiß treiben, Mutter stand felsenfest neben mir und war nicht mehr da.

Sie hat mir ihr Nichts hinterlassen. Existente Inexistenz, dicht hinter ihr. Manchmal denke ich, ein schwarzer Engel. Oder ein Gesetz in ihrem Rücken, dessen Exekutive sie war. Jetzt ist der Platz leer, ist durch ihren Tod frei geworden. Ich sollte also sehen können, was es war, was meine Mutter im Rücken hatte. Ich sollte es sehen können, das Erbstück, mit dem sie mich, die geliebt und blind an sich getackerte Tochter, beschenkt hatte, und es blitzte an meinem Ohr, an meinem Finger, an meiner Brust, funkelte klarer als jeder Brillant, den ich mir anstecken oder abstreifen oder den ich verkaufen könnte, und ich könnte abwägen, wogegen er einzutauschen wäre. Aber so ist es nicht. Sie hat es, wie es heißt, ins Grab mitgenommen.

Ob es das wirklich gegeben hat? Und wie soll man über ein Nichts schreiben, aus dem vermutlich nichts zu holen ist außer ein weiteres Nichts?

Ich war vier oder fünf und stand am Küchenfenster zwischen Holzkiste und Herd. Der Küchenvorhang hing schwer vor dem Fenster, gelb wie draußen die Herbstlandschaft. Sie lag träge vor meinen Augen, rann aus wie fetter Dotter. Noch kreischte eine Motorsäge in der Nachbarschaft, dann war nichts und niemand zu hören, nur die Landschaft und der Vorhang satt und goldgelb vor meinen Augen. Etwas machte mir Angst in dieser nachmittäglichen, klammen Stille, in der nichts geschah und alle schliefen und ich allein in der aufgeräumten Küche war. Ich stand da mit von Stille vollgepfropften, hämmernden Ohren und fürchtete, ganz einfach verschluckt zu werden vom Gelb, das anschwoll und herankroch und sich zähflüssig über alles ergoss. Es legte sich träge über die Erde bis in die Küche herein, knickte hinterrücks mein Kindsein nieder und drohte, mich in seiner dicken Masse zu ertränken. Da stieg eine Wut in mir auf gegen all das grelle Gelb und die dumpfe Stille, die so unverschämt und zudringlich wurde und mich wortlos schlucken wollte.

Warum kann ich mich daran so genau erinnern? Es geschah ja nichts.

Was von Mutter unsichtbar war. Ich hatte es vor Augen und konnte es nicht sehen. Es ist das von Mutter unsichtbar Gemachte. Eine Lücke mitten im Leben. Der Nebel mitten im vergilbten Bild. Ein Nichts, das da ist.

Vielleicht hat sich das Mutternichts auch verkrochen, lebt durch Schweigen abgerichtet in mir fort und ich kann es wieder nicht sehen. Schleicht durch meinen Körper und bohrt sich in meinen Bauch, dringt in die Gedärme vor und zerschleißt deren Wände, kratzt und dehnt sie und ich meine immer noch, es ist Luft, nichts weiter als Luft. Aber selbst Luft ist im Bauch Schmerz, höllischer Krampf im Kampf um eine Mitte. Ist es Schmerz, ist es Luft, ist es nichts, das darauf abzielt? Es zerrt und zurrt mich hinter dem Bauchnabel zusammen, zieht mich auf einen einzigen Punkt hin und sengt mich in einem hellen Zischen nieder. Es brennt Löcher in meine Mitte. Bohrt Löcher in meinen Bauch. Löcher in meinen Körper, Löcher, durch die die Angst in mich eindringt und zustößt. Sie reißt mir die Strumpfhose von den Schenkeln und legt sie mir um den Hals, sie hält mich und lässt nicht los, lässt mich zucken, als würde ich beben, drückt mich noch einmal nieder, bis ich offen bin für sie, die Angst im Nichts meiner Mutter, und mich selbst schuldig spreche für meine ergebene, hingegebene Nacktheit.

Genug. Jetzt will ich es sehen. Ich will ihr Nichts vor mir haben wie ihr Foto, die Uhr, die Vase. Was noch übrig ist. Jetzt, wo sie nicht mehr über ihr Schweigen waltet und es ohne sie da ist, darf es mir nicht mehr entkommen. Nicht mit dem Tod abfahren, mir die Tür vor der Nase zuknallen und mein Schreiben mit sich nehmen und ich bleibe an der Haltestelle stehen, als wäre sie Wartestelle für mein Leben und kein Bus kommt mehr. Ich will es kriegen, mit beiden Händen. Ich will es, wenn nötig, an der Gurgel packen und zudrücken, bis es röchelt und ich habe, was ich wollte, seine letzten Worte und seinen Namen. Es darf nicht die Täuschung gewesen sein, in der es mit mir spielte, es darf nicht eine Angst von uns übrig bleiben, leer, grundlos, fraglos, sinnlos, stumm und vergebens, stumpf wie ein schwarzer Stern, erloschen, lose und schwer wie Teer und am Ende nichts als endlos traurig. Mutter, ich will sehen, was du vor mir verborgen hieltest, und es war doch die ganze Zeit da.

Schon misstraue ich mir. Kann ich ein Verschwinden und sein Verschwundenes von dem trennen, was da ist? Als ob es wieder nicht da wäre? Will ich es davon abkoppeln, so, wie Mutter es wollte? Sie hielt mich eng an ihrer Seite, ließ mich bis an den Eingang heran, hinter dem ich sie wie im Tischtuch verschwinden sah. Sie bewachte ihn und er trennte das Leben, das ich mit ihr teilte, streng von dem, das nur ihr gehören sollte. Will ich nun das gleiche tun? Will ich vom einen reden, von ihrem Nichts, als wäre es nicht auch das andere, nämlich ihr Leben?

Davon erzählen.

Zunächst sachlich, wie ein Bericht es tut. Er schreibt nieder, was gewesen ist. Tatsachen. Seine Sache stimmt. Dass Mutter der Winter schwerfiel und sie im Februar auf den Frühling wartete. Dass ich im Sommer aufgehe, der für mich immer noch endlos ist wie als Kind. Dass sie fünf Minuten früher am Treffpunkt war und ich nur mit Mühe pünktlich bin. Dass wir nie ineinander eingehängt durch die Straßen gingen, weil ihre Schritte kürzer waren als meine und wir keinen Takt fanden, in dem wir uns hätten treffen können. Dass sie die Beine nie übereinanderschlug und nie die Arme ineinander verschränkte, wie ich es tue, ohne es zu merken. Dass sie aufrecht ging wie eine Kerze und bei Schmerzen nie weinte, während ich schnell heule. Dass sie andächtig im Konzert saß und danach mit keinem reden wollte. Dass sie Totenbildchen sammelte und Stellen im Buch markierte, dass sie Katzenwäsche machte und das Duschen hasste, weil ihr vom Strahl, der zu hoch war, schwindlig wurde. Dass sie sich ein Spiegelei briet, wenn sie allein war. Dass sie gern allein war. Dass sie es oft war. Dass sie zu jedem Weihnachtslied die kleine Terz sang, Spielfilme anschaute und hitzig das Weltgeschehen kommentierte. Sie liebte Blumen, kannte deren Namen und legte Peltzer davon an. Ich habe Mohn und eine Pfingstrose aus ihrem Beet im Garten. Ich habe ihre Augen und die Nase ihrer Tante, ich habe ihre Stirn, ihre Backenknochen, ihre Beine, nicht ihre Knie und nicht ihre schmalen Waden. Ihre Füße waren kleiner, ihre Hände schneller, ihre Ordnung dreimal größer als meine. Der Geruch von verbrannter Milch ist mir so vertraut wie der Duft von frischer Wäsche, die sie pünktlich in die Betten brachte. Ihr Kauern unter der Decke. Ihr Verkriechen. Ihr Mittagsschlaf auf dem Sofa. Vielredner mochten wir beide nicht. Wir mochten Kartoffeln mit Butter, wir mochten einen Kaffee an der Sonne, wir mochten Schönheit, weil es nicht egal ist, ob es sie gibt oder nicht. Mutter war ein Morgenmensch, ich war es nie. Sie hatte vier Kinder, ich habe halb so viele und die sind jetzt etwa so alt wie ich, als ich anfing, meinen Traum zu beschatten, als wäre er ein Unrecht. Ich stülpte ihn ein. Ich bewachte ihn, damit er mich nicht größer machen würde, als Mutters Angst es erlaubte. Später machte ich mich daran, ihn mir zu verbieten. Ich drückte ihn nieder, einmal war es aus Scham, weil er mir nicht zustand, dann aus Gewohnheit, nichts von einem Innersten zu verraten und nicht preiszugeben, wohin mein Körper drängte, wenn er in Sprache gehen wollte. Mein Traum war das Schreiben.

Mutter sah mein Träumen, das aufstieg und niederging, das auf- und zuging, das schwappte wie eine Qualle und mich einschloss und wieder losließ, das mich trug, selbst als ich glaubte, es wäre nichts als ein Selbstbetrug und dumme Täuschung. Sie erkannte etwas darin, wenn auch nicht das Schreiben. Was? Wir schwiegen, ich in meinem Versteck, sie, tja, warum sie?

Wovor machte sie Halt? Vor einer Angst? Aus Angst? Ich müsste sie fragen. Mutter, warum hast du mir mit deiner Angst das Schreiben verboten, mit deiner Angst, mit der ich um dich Angst hatte? Ich will dich fragen, in einer Geschichte graben, die es mir erklärt und erklärt, warum ich für dich still und gehorsam sein musste, ohne dass jemand es überhaupt merkte, warum ich mir die Sprache aus dem Gesicht wischen musste, in das du dich hineingeschrieben hast, sodass man dich in mir sah, warum ich das Schreiben schlucken und mir mit der Zunge in den Hals zurückschieben musste, wenn es wie eine Pillenkapsel wieder hochkam und nicht verschluckt bleiben wollte, warum ich es doch wieder hinunterwürgte und mit Kanister voll betäubendem Wasser in den Magen spülte, wo es unterging, und wenn es sich dort immer noch rührte, drückte ich es weiter, bis es in den Bauch kam und im Bauch in den Flammen aufging, die durch meine Gedärme liefen, und du saßest an meinem Bett und streicheltest meine fiebrige Hand, als hätte ich die Grippe und läge nicht im Spital. Mutter, ich will dich verstehen. Ich will hören, was du mir sagst. Will einen Grund für dein gehäutetes Schweigen finden, das ich mit meinem Gehorsam zudecken musste. Ich will verstehen. Aber verzeihen kann ich dir nicht, und noch weiß ich nicht, ob eine Geschichte, irgendeine Geschichte, in der ich dich finden könnte, dein Verbot entschuldigt.

Würde sie etwas sagen oder bliebe sie stumm? Gibt es ab dem Eingang ins Leintuch keine Stimme mehr? Ich weiß, manchmal bleibt die Zunge im Mund wie tot liegen. Liegt hinter geschlossenen Zahnreihen begraben und rührt sich nicht mehr. Ich weiß, wann. Ich erkenne Mutter in mir wieder. Ich bin nicht Mutter. Aber manchmal sind wir die gleiche Frau, getrennt durch die Zeit.

Ich weiß, wann die Stimme versagt, ich weiß, wann sie da ist, wann sie kommt, steigt, fällt oder bricht wie knackende Fingergelenke. Ihre Stimme ging auf Wellen. Auf vielen kleinen, wenn sie fröhlich war. Auf flachen, wenn sie von weit herkam und schwappend an Land schlug.

Wenn ich sie anrief, hielt ich den Atem an und wartete auf Mutters Stimme. Ob sie auf den kleinen oder den flachen Wellen ging. Ob sie an Land kam. Ob ich lange auf sie warten musste. Manchmal war das Warten sehr groß und ich nur ein Lauschen. Es dauerte so lange wie das Hinaufklettern auf eine Bühne. Ich hörte Mutter den Aufstieg suchen, ich hörte sie den Kittel zupfen, hörte sie die Gedanken einsammeln wie entlaufene Kinder. Endlich hörte ich sie in den Hörer sprechen und in die erste Silbe des Familiennamens fallen, mit dem sie sich vorstellte. Der Name, der mit der Heirat zu ihrem geworden und ihr doch immer fremd geblieben war. Es war Vaters Name, der italienische Name. Ihm liegt er auf der Zunge wie anderen das Herz. Er spricht ihn aus mit einem Genuss im Gaumen, er nimmt ihn in den Mund wie die Sprache, die er gebraucht für ein Spiel der Schnelligkeit, für das Match, das einer gewinnt und einer verliert, und er wird es gewinnen. Er genießt die Sprache, er liebt die Sprache, er segelt darin wie auf hoher See und so segelt er auch in seinem Namen.

Das gelang Mutter nie. Ihr lag er im Mund als fremder Körper. Er passte nicht auf ihre Zunge, er passte nirgends hin. Es war immer nur Vaters Name.

Wenn sie mich, die ich von irgendwoher anrief, am anderen Ende der Leitung hörte, hüpfte ihre Stimme oder sie hing mitunter schwer darauf wie ein nasses Tuch. Ich tappte nach ihr und sie nach mir, beinahe vergaß ich, wo ich mit dem Hörer am Ohr gerade war.

Ich wohnte in einer Stadt weit weg von Mutter, in der Stadt und in der Gasse von Sigmund Freud, eine Nummer vor ihm. Ich hatte eine Prüfung an der Uni hinter mir. Ich hatte einen Kater. Das nasse Haar im Handtuch und eingeschnürt im Gürtel, den man eng um die Taille trug, stand ich vor dem hohen Fenster und horchte auf die Wellen in Mutters Stimme im Hörer. Ich hatte sie wieder. Sie flossen ins Zimmer herein, zogen sich zurück in den Hörer und nahmen mich mit, bis sie verschwanden, und ich, mit nassem Haar, stand zurückgeworfen wieder im Zimmer in Sigmund Freuds Gasse.

Durch das Zimmer verstand ich, was die Größe eines Raums bedeutet. Eine Kammer hat diese Größe nicht und auch das Zimmer nicht, das ich mit meiner Schwester teilte. Kammer und Zimmer schlossen mich ein, sie steckten mich ab, sie hatten keinen Raum, der sich vom Tisch zum Fenster, vom Bett zum Schrank, von der Tür zum Balkon auftat. Man war immer schon beim Tisch, Schrank, Bett, Balkon. Dazu brauchte es fast nichts, manchmal nur eine Drehung um sich selbst. Das Zimmer in Freuds Gasse trug meine Schritte durch seine ganze Größe hindurch und machte es unmöglich, mich in kurzen Abständen zu denken.

Das Zimmer in Freuds Gasse, das Zimmer mit den zwei Fenstern. Der Kastanienbaum davor. Mein Schreibtisch am linken Fenster, auf den ich eine Spanplatte gelegt hatte, weil er zu klein war für die Zettel und Bücher, die Stifte, Löffel und Kaffeetassen, verwickelten Kabel, Kassetten und Taschentücher. Über alle Jahre hinweg kritzelte ich darauf und beschrieb die Platte mit Sätzen, Zitaten, Sudeleien, Telefonnummern und Linien. Die Platte war keine Zeichnung, keine Karte, kein Bild, als ich sie beim Auszug aus der Nummer 17 zum Sperrmüll brachte. Mit dem Gefühl von Abschied beim Anblick der Spanplatte im Sperrmüll meinte ich kurz, etwas wäre nun abgeschlossen. Aber ich glaube, mit der Spanplatte im Sperrmüll war mein Dahinkritzeln am Schreibtisch ein für alle Mal verschwunden.

Es gab eine Tür zwischen meinem Zimmer und dem meiner Freundin. Sie war von beiden Seiten mit Kästen verbarrikadiert und doch standen wir auf demselben Boden. Er trug knarzend jeden Schritt von einem Zimmer ins andere und ließ keinen unbemerkt. Wir hörten fast alles voneinander. Das Radio, die Tasten, auf die eine schlug, die Löffel, womit eine Cornflakes aß, die Stille, in der es bei einer spät wurde oder in der eine schlief. Wir lasen das und jenes und vieles, von dem wir