Mutterseelenallein - Britta Buchholz - E-Book

Mutterseelenallein E-Book

Britta Buchholz

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Beschreibung

»Wenn die eigene Mutter stirbt, ist das ein tiefer Einschnitt für eine Tochter. Egal, wie gut oder schlecht die Beziehung zur Mutter war.«

Das Buch von Britta Buchholz ist eine Liebeserklärung an die Mutter – aber auch ein Appell, sie loszulassen. Als sie ihre Mutter mit 31 Jahren verliert, bricht für sie eine Welt zusammen. Es ist Verzweiflung und die tiefe Erschütterung, in der Trauer zu versinken. Nach und nach jedoch versteht sie, dass es um mehr als Trauer geht. Sie liest Bücher über den Verlust der Mutter, sie tauscht ihre Erfahrungen mit anderen aus, bis sie schließlich erkennt, dass es etwas mit ihrer eigenen Entwicklung, ihrem Weg als Frau und dem Erwachsenwerden zu tun hat. Berührend erzählt sie ihre persönliche Geschichte und setzt sie ins Verhältnis zu Frauen, die ebenfalls ihre Mutter früh verloren haben.

Mutterseelenallein ist eine Mut, Kraft und Hoffnung gebende Lektüre für alle Frauen auf dem Weg zu sich selbst.

"Danke für dieses unfassbar schöne und ehrliche Buch. Ich habe viel geweint, aber auch viel reflektiert und viel Kraft daraus gezogen. Es hat gut getan, mich dem Schmerz, aber auch den wunderschönen Erinnerungen beim Lesen hinzugeben, festzuhalten, loszulassen, und mir bewusst zu machen, dass jedes Gefühl und jeder Gedanke seine Daseinsberechtigung hat und Teil des Prozesses ist, durch den so viele Menschen gehen. Ich bin mir sicher, das Mutterseelenallein noch unfassbar vielen jungen Frauen Kraft schenken wird. Danke. ♥️" (Iris Mareike Steen - Schauspielerin)

"So viele Geschichten gibt es zu erzählen über Frauen und ihre Mütter – Britta Buchholz lässt uns an ihrer eigenen teilhaben und wir weinen, schmunzeln und lernen dabei. Über diese besondere Beziehung und wie es uns selbst damit geht. Das Buch bewegt etwas in uns; mich persönlich hat es sehr inspiriert. Gehört auf jeden Nachttisch." (Christina v. Ungern-Sternberg, Moderatorin)

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Seitenzahl: 400

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Das Buch

»Wenn die eigene Mutter stirbt, ist das ein tiefer Einschnitt für eine Tochter. Egal, wie gut oder schlecht die Beziehung zur Mutter war.«

Als Tochter die Mutter früh verabschieden

Als Frau sich selbst finden

Mit Anfang 30 verliert Britta Buchholz ihre Mutter. Sie ist verzweifelt und versinkt in tiefe Trauer. Sie entflieht dem Alltag und nimmt sich eine Auszeit auf Lanzarote. Nach und nach kommt sie bei sich an und erkennt, dass sie etwas in ihrem Leben verändern muss.

Ihre persönliche Geschichte setzt sie dabei ins Verhältnis zu der von Frauen, die ebenfalls ihre Mutter früh verloren haben. Tröstend zeigt sie uns, dass wir vieles überwinden können, wenn wir Schmerz zulassen und uns damit auseinandersetzen.

Die Autorin

Britta Buchholz ist ausgebildete Journalistin, schrieb für Die Zeit und den Tagesspiegel und arbeitet als Korrespondentin des ZDF im Hauptstadtstudio Berlin. Sie realisierte bisher mehrere TV-Dokumentationen. Unter anderem schrieb sie das Drehbuch für den 90-minütigen Film Deutsche Seelen über die Colonia Dignidad in Chile- und lebte dafür zwei Monate in der einstigen Sekte. Für den Film Die Macht der Manager erhielt sie den Helmut-Schmidt-Journalistenpreis. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Britta Buchholz

MUTTERSEELENALLEIN

EINE TOCHTER FINDET IHREN WEG

Diederichs

Dies ist ein autobiografischer Roman. Er basiert auf wahren Begebenheiten. Zahlreiche tatsächliche Abläufe und handelnde Personen sind jedoch so verändert und ergänzt, dass Fakten und Fiktion eine untrennbare künstlerische Einheit bilden

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Copyright © 2022 Diederichs Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: zero-media.net

Covermotiv: Sybille Sterk/Arcangel Images; FinePic®, München

ISBN978-3-641-28798-6V002

www.diederichs-verlag.de

Für meine Kinder

Inhalt

Prolog

Das Ende

Meine Mutter …

TAG 1. LANZAROTE Warum sind Mütter so besonders?

TAG 2. LANZAROTE Wozu ist Leid gut?

TAG 3. LANZAROTE Was ist dieses Mutter-Tochter-Ding?

TAG 4. LANZAROTE Was ist mit dem Kind in uns?

TAG 5. LANZAROTE Wie funktioniert Abnabeln?

TAG 6. LANZAROTE Warum verdrängen wir?

TAG 7. LANZAROTE Wer bin ich – ohne Mutter?

TAG 8. LANZAROTEWie beeinflusst unser Alter unsere Trauer?

TAG 9. LANZAROTE Wieso sind wir so traurig?

TAG 10. LANZAROTE Wie trauern wir richtig?

TAG 11. LANZAROTE Wie überstehen wir Ängste?

TAG 12. LANZAROTE Stille

TAG 13. LANZAROTE Sprechen oder schweigen?

TAG 14. LANZAROTE Die ehrliche Bilanz

TAG 15. LANZAROTE Wie beeinflussen Mütter unsere Partnerwahl?

TAG 16. LANZAROTE Wir sind alle mutterseelenallein

TAG 17. LANZAROTEIst alles zu überwinden?

TAG 18. LANZAROTE Wie lassen wir los?

TAG 19. LANZAROTE Wie verlassen wir die Opferhaltung?

TAG 20. LANZAROTE Zurück ins Leben

TAG 21. LANZAROTE Sieh das neue Ich

ABFLUG Glück kommt in Wellen

DANACH Berlin

DIE DANKBARKEITSLISTE

DIE LITERATURLISTE

Prolog

Vor zehn Jahren konnte ich mir ein Leben ohne meine Mutter nicht vorstellen. Und dann stirbt sie einfach. Für mich als Tochter ist von da an nichts mehr, wie es war. Nachts liege ich wach und kann vor lauter Fragen nicht mehr schlafen. Warum nur? Warum nur sie? So früh. Endet dieser Schmerz irgendwann? Werde ich jemals nicht mehr traurig sein? Diese Gedanken reißen mich hinab in die Trauertiefe. Und dann wird es Tag, und es muss einfach weitergehen.

Ein halbes Jahr geht das so – aber die Traurigkeit verschwindet einfach nicht. So beginnt meine Suche nach Antworten. Mir helfen viele Worte von Menschen, die ich manchmal gar nicht richtig kenne und die aber mehr wissen als ich. Sie wissen, warum eine Mutter so wichtig für jede Tochter ist. Sie wissen, dass Trauer keine Frage von Wochen oder Monaten ist. Sie wissen, was wir ändern müssen, um wieder klarzukommen. Wenn wir uns unser Leben wie einen Spielfilm vorstellen, dann sind wir die Hauptdarstellerin – aber die erste Hauptrolle spielt immer die Mutter. Es gibt weitere Hauptrollen und wichtige Nebenrollen – den Vater, Geschwister, Großeltern, Tanten, Onkel, eine Cousine, Freundin, Lehrerin. Später den Partner, Ehemann oder Kinder. Und so ändern sich im Laufe des Films die Rollen, bei manchen Töchtern wird die Mutter nach und nach von einer Hauptdarstellerin zur Nebendarstellerin. Aber ihr Tod ist fast immer eine Schlüsselszene in unserem persönlichen Lebensfilm. Wie sollte es uns nicht umwerfen, wenn eine Hauptrolle endet? Dabei ist es fast nebensächlich, ob wir uns mit unserer Mutter gut verstanden haben oder nicht. Ob es harmonisch oder konfliktreich war. Denn für alle Töchter gilt: Wenn die eigene Mutter stirbt, ist das ein tiefer Einschnitt – egal, wie gut oder schlecht die Beziehung war.

Diese besondere Bindung zu unserer Mutter ist prägend, unzerbrechlich, dauerhaft – in einer Welt, in der so vieles fragil ist. Wenn ihr Tod zu früh kommt, dann hat er immense Auswirkungen auf unser Leben. Wann ist zufrüh? Ein zu früh ist immer dann, wenn wir sie noch brauchen. Wenn wir glauben, nicht ohne unsere Mutter leben zu können. Mit welcher Wucht uns ihr Tod trifft, hat auch mit uns selbst zu tun. Sind wir Mädchen oder Frau? Begegnen wir unserer Mutter auf Augenhöhe? Liegen Schuld, Wut und Groll zwischen uns wie Trauerballast? Wo stehen wir Töchter, wenn unsere Mutter geht? Unser eigenes Alter beeinflusst unsere Tochtertrauer.

*

Viele Töchter wissen nicht, wie trauern geht. Ich wusste das auch nicht. Anfangs nehme ich mir schlichtweg keine Zeit zum Trauern, ich muss mich um vieles andere kümmern. Aber dann höre ich ein Lied im Radio, und die Trauer überfällt mich mit einer Wucht, die man sich nicht vorstellen kann, wenn man es nicht selbst erleben musste. Mit der Trauer ist es wie mit einem Ball, den wir unter Wasser drücken wollen. Es kostet extrem viel Kraft, ihn runterzudrücken, aber es funktioniert durchaus. Für manche Töchter für Wochen, für andere Monate und wieder andere drücken sie jahrelang weg. Doch irgendwann flutscht der Ball einfach in die Luft, und die ganze Traurigkeit bahnt sich ihren Weg. Aber darin liegt auch eine Chance. Wir können so viel anstellen mit diesem Ball, wir können mit ihm spielen, ihn ansehen, festhalten oder auch loslassen. Nur wie lasse ich meine Mutter los? Wie soll das überhaupt gehen?

Es ist eine Reise, die wir machen müssen. Manchmal hilft eine echte Reise. Aber es muss nicht gleich Lanzarote sein, wie bei mir. Es kann auch eine innere Reise zu einer eigenen Insel sein. Jede von uns trägt diese Insel in sich, wir müssen sie nur entdecken. Die Insel kann die Musik sein, das Malen, das Wandern, die Natur oder das Schreiben. Eine innere Insel für Töchter. Die Reise sollte vor dem Tod beginnen, lange davor. Wenn die Loslösung erst mit dem Tod richtig beginnt, dann ist es sehr schmerzhaft. Dieses besondere Mutter-Tochter-Verhältnis, diese verflucht robuste Nabelschnur, lässt sich dann nur unter Schmerzen durchtrennen. Deshalb ist es so wichtig für Töchter, das Verhältnis zu ihrer Mutter bewusst zu erkennen. Deshalb richtet sich dieses Buch nicht nur an Töchter, deren Mutter gestorben ist, sondern an alle, die die Beziehung zu ihr ansehen wollen. In diesem Buch schreibe ich an Töchter, aber jedes Kind ist nach dem Tod der Mutter nicht mehr dasselbe. Söhne müssen diesen Weg ebenso gehen, denn auch sie leiden unter dem Verlust – ganz genauso und doch anders. Auch andere Trauernde, die um einen Lieblingsmenschen weinen, können in diesem Buch viel über Trauer lernen.

Natürlich hat die Mutter-Tochter-Bindung ihre eigene Dimension. Die Mutter ist oftmals unsere längste Lebensbegleiterin, bis sie plötzlich weg ist. Dann müssen wir wir selbst werden – wer sind wir denn, wenn wir eine Tochter ohne Mutter sind? Aus jedem kleinen Mädchen sollte eine eigenständige Frau werden. Es ist wie bei der Raupe Nimmersatt, aus der ein wunderschöner Schmetterling wird.

Bei uns Töchtern spielt für diesen Prozess die Beziehung zur Mutter eine große Rolle. An niemandem reibt sich die Tochter mehr als an der Mutter. Mit niemandem vergleicht sie sich mehr. Was aber, wenn die Mutter stirbt, bevor dieser Prozess abgeschlossen ist? Wenn die Mutter früh von uns geht? Was, wenn die Tochter noch gar nicht ihr ebenbürtiges Gegenüber war? Im Moment des Todes zeigt sich, wo die Tochter steht. Eine Siebzehnjährige trauert anders als eine vierzigjährige oder eine sechzigjährige Tochter. Manchmal trauert aber auch eine Siebenundfünfzigjährige intensiver als eine Siebenundzwanzigjährige.

*

Als meine Mutter starb, begann meine ganz besondere Reise. Ich lernte Menschen kennen, die ich sonst nie kennengelernt hätte. Ich verlor Menschen, die ich sonst nicht verloren hätte. Ohne den Tod meiner Mutter hätte ich einen anderen Mann, andere Kinder und ein anderes Leben. Alles änderte sich, als mir klar wurde, dass ich meine Mutter richtig verabschieden muss, bevor ich weiß, wer ich eigentlich bin. Erst auf Lanzarote fand ich mich und meinen Weg wieder. Es ist der Weg von einem Mädchen zu einer Frau. Von der geborgenen Tochter zu einer Tochter ohne Mutter. Wenn diese Krise mich eines gelehrt hat, dann dass der Weg aus der Trauer durch die Trauer führt. Es ist eine Reise, die tröstet, inspiriert und Hoffnung gibt. Eine Reise, die den Blick auf die Mutter verändert – und den Blick auf sich selbst.

Aber dieses Buch ist mehr als meine Reise. Wir Töchter ohne Mutter verlieren viel, wenn wir aber genauer hinsehen, erkennen wir, dass wir auch etwas dazugewonnen haben.

Vor zehn Jahren hätte ich mir mein Leben von heute niemals vorstellen können. Wir können unser Leben ohne Mutter weiterleben, und es kommen wieder glückliche Tage. Es gibt ein Danach. Die Trauer bleibt für immer, aber sie macht uns nicht für immer so traurig. Der Trauerprozess verändert uns alle. Vollwaise klingt nicht schön, und gleichzeitig habe ich Elternlose, Mutterlose kennengelernt, die eine immense Stärke und Kraft ausstrahlen. Gibt es auch ein Potenzial, das in diesem Schicksal liegt? Bekommen wir durch das Loslösen eine innere eigene Stärke?

Ich wünsche jeder Tochter ohne Mutter eine Insel, auf der sie Antworten findet. Keine Tochter ohne Mutter ist allein, es gibt viele von uns. Wir sollten zusammenhalten. Wir alle leben weiter. Aus vielen werden ganz besonders schöne Schmetterlinge.

Das Ende

An dem Tag, an dem ich eine Tochter ohne Mutter wurde, weckt mich ein Klingeln. Das Festnetztelefon meiner Mutter liegt nachts neben mir, falls etwas ist. Es muss fünf oder sechs Uhr in der Früh sein. »Wir müssen sofort los, Mutter liegt im Sterben.« Ich höre die Panik in der Stimme und bin völlig perplex. Meine Mutter liegt im Sterben? Ich springe aus meinem Bett, es ist ein Montag. Normalerweise würde ich jetzt die Sendungen des Wochenendes besprechen, aber ich ziehe mich in Windeseile an, irgendetwas. Ich denke nicht darüber nach, was ich am Tag des Abschieds von meiner Mutter anziehen will. Ich esse nichts, weil ich auch nicht daran denke, wie lange ich nichts essen werde. Mein Hungergefühl ist mir längst abhandengekommen.

*

Es schneit leise kleine Schneeflocken. Mein Bruder steuert den Wagen durch die Dunkelheit, dem Dunkel entgegen. Nur der Schnee ist hell. Wie kann das sein? Weinen wäre vielleicht gut, aber mir ist nicht zum Weinen zumute. Ich bin nur geschockt. »Sollen wir noch versuchen, sie nach Hause zu holen?«, fragt er. Vielleicht lebt sie gar nicht mehr, durchzuckt es mich. »Sehen wir«, quäle ich heraus. Und dann wieder Hoffnung: Vielleicht haben sie sich auch getäuscht, und ihr geht es bald wieder besser? Gestern ging es ihr doch noch relativ gut.

Im Radio sprechen sie über Haiti. Erdbeben. Die Welt um uns herum dreht sich einfach weiter, während meine Welt zusammenbricht. Meine persönliche Erschütterung ist tief. Ich fühle unendlich viel Traurigkeit in mir.

Im Krankenhaus eilen wir in ihr Zimmer, meine Mutter liegt einfach nur da, stoisch wie bei der Diagnose, wie bei der Krankheit. Sie scheint alles einfach zu ertragen. Sie kann kaum mehr sprechen. Ich lege mein Ohr an ihren Mund, sie haucht »Hallo«.

Vor dem Fenster schweben die Schneeflocken. Sie tanzen durch die Luft und lassen sich draußen auf dem Fenstersims nieder. Als Kind konnte ich stundenlang zusehen, wie der Schnee sich sanft auf die Erde fallen ließ, und da war diese Lust, nach draußen zu stürmen. Glücksgefühle beim ersten Schnee. Das Kind von damals hätte sich den Schmerz von heute nicht vorstellen können. Mein Kopf rast: Wer fährt mit welchem Auto nachher nach Hause? Muss ich noch jemanden anrufen? Ist es richtig, dass Marcus dabei ist? Mir geht unfassbar dummes Zeug im Kopf herum, während meine Mutter vor sich hindämmert.

Die Schneeflocken lassen sich ganz langsam fallen. Ich will den Raum nicht verlassen, ich habe Angst, sie stirbt und ich sitze auf dem Klo, deshalb esse ich nichts und gehe nicht raus. Ich habe auch Angst, dass dieser Moment überhaupt da ist. Ein Leben ohne meine Mutter ist nicht vorstellbar. In diesen Stunden bin ich mir ganz sicher, das Schlimmste zu erleben, was ich jemals erleben muss. Nie hätte ich mir vorstellen können, was alles auf mich zukommt. Die Schneeflocken fallen unablässig. Als wenn es keinen Boden gäbe.

Meine Mutter …

Meine Mutter mag die Natur. Am liebsten mäht sie den Rasen. »Muss ja gemacht werden«, sagt sie fröhlich. Sie beschneidet Bäume, pflanzt Blumen und Gemüse. »Geht schon« ist ihre Grundhaltung. Sie spielt nicht sonderlich gut Tennis. »Ich habe ja keine Zeit zu üben«, sagt sie. Aber sie liebt Spiele. Da steht sie mit ihrem weißen Shirt und dem weißen Rock auf dem Feld.

Sie zieht sonst nie Röcke an, eigentlich auch nie Kleider. Auf Hochzeiten trägt sie manchmal ein schwarzes Kleid mit Fransen. Aber an ihrem vierzigsten Geburtstag trägt sie einen fliederfarbenen Hosenanzug. Sie tanzt gerne, am liebsten schnell. Es ist nicht so einfach für sie mit den Tanzpartnern. Die Ehefrauen tanzen mit den Ehemännern. Es gibt keine Singles – außer meiner Mutter. Sie tanzt mit meinem Onkel, mit ihrem Bruder und den Männern ihrer Freundinnen. Wenn sie betrunken ist, was höchstens ein bis zweimal im Jahr vorkommt, färben sich ihre Wangen knallrot.

Ich sehe meine Mutter nie im Liegestuhl. Ihre weiße Arbeitskleidung tauscht sie schnell gegen Jeans und Pullover. Ruhelos, immer alles schnell. Zu Hause kommt sie in die Küche reingepoltert und reißt eine Dose auf. Ravioli mag ich am liebsten. Oder Nudeln mit Tomatensoße. Es dauert fünfunddreißig Jahre, bis ich es erstaunlich finde, dass eine Frau, die Landwirtschaft gelernt hat, auf einem Bauernhof aufgewachsen ist und mir als Kind die Ernährungspyramide erklärt hat, höchstens zweimal in der Woche gesund kocht. Am Wochenende backt sie oft Apfelkuchen. Ich sitze auf der Küchenablage und schütte die Zutaten in die Küchenmaschine. Sie backt hervorragend.

Yoga hält meine Mutter für Quatsch. »Wir turnen doch schon seit dreißig Jahren. Warum muss das jetzt Yoga heißen?«

Ihr Humor, ihre Offenheit, die Wärme. Aber auch: ihre Zurückhaltung. Gefühle behält sie für sich. Selbst wenn ich sie lange nicht gesehen hatte, gab es keine stürmische Umarmung oder warme Worte. Ich spüre, was sie fühlt. Meine Mutter, der Olympia-Fan. Die Kartenspielerin. Die Sprücheklopferin.

Als Kind stehe ich mit den Kindern des Dorfes am Straßenrand, während eine Hochzeitsgesellschaft vorbeifährt. Wir winken und jubeln, und die Gäste werfen Süßigkeiten und Pfennige raus. »Die Braut wird auch noch erwachen«, sagt meine Mutter. Oder: »Die Männer lernt man erst nach der Hochzeit kennen.« Sie singt und summt dauernd. Wenn sie etwas tut, höre ich sie oft »By the rivers of Babylon« summen. Da da da da da daaadadaaaa … da da da daaaa … dadaahaaadaaa … dadadadadadaaahhaaa. Auch wenn sie mich gar nicht wahrnimmt, summt sie fröhlich Lieder.

Als Kind war sie schüchtern, ein kleines Mädchen mit langen geflochtenen Zöpfen, das sich zwischen Heuballen im Schuppen versteckte, wenn Besuch kam. Später: eine Löwenmutter. Vor Gericht stritt sie um uns drei Kinder. Sie holte ihre Ausbildungen nach, saß da und lernte. Sie machte Nachtdienst in einer Psychiatrie. Sie hasste es, wenn Patienten in ihren Betten festgebunden wurden. Brauner Bob, voller Tatendrang. Eine, die dreihundert Kilometer fährt, bis nach Amsterdam, um ihren reisenden Kindern die geklauten Fahrräder durch zwei alte zu ersetzen. Eine, die nachts aufsteht, wenn man sie braucht. Aber wenn nicht: »Kümmert euch um euch selbst.« Eine, die da ist, aber nicht zu viel. Wenn ich jetzt drüber nachdenke, dann hatte meine Mutter eine besondere Gabe: Sie gab mir das Gefühl, frei und gleichzeitig beschützt zu sein.

TAG 1. LANZAROTE Warum sind Mütter so besonders?

Im Flieger schaue ich erschöpft aus dem Fenster. Unter mir leuchtet der Atlantik. Dieses Über-den-Wolken-Sein habe ich immer geliebt. Kleine weiße Tupfen im unendlichen Blau.

Der Dalai Lama soll gesagt haben: Etwas Schlimmeres kann einem Kind nicht passieren, als dass es von der Liebe seiner Mutter getrennt wird. Ich bin kein Kind mehr, ich bin über dreißig, aber ich bin das Kind meiner Mutter, und es gibt nichts Schlimmeres, als von ihr getrennt zu sein. Die Wolken ziehen an mir vorbei, manchmal öffnet sich der Himmel, und hinter den Wolken strahlt ein anderes Blau. Irgendwo dort ist sie. Aber ich kann es nicht fühlen. Seit ihrem Tod hat eine tiefe Traurigkeit von mir Besitz ergriffen. Sie klammert sich an mir fest wie ein Krake.

Aus meiner Tasche hole ich das kleine Notizbüchlein und schreibe: Warum gerade sie? Warum vermisse ich sie so sehr? Warum fällt es mir so schwer? Mir schnürt es die Kehle zu. In mir breitet sich wieder ein Gedanke aus: Ich vermisse sie so, dass ich selbst tot sein möchte. Wenn ich Teil dieser Wolken wäre, wenn dieses Leid endlich vorbei wäre. Das wäre eine Lösung. Das Ende des Leidens. Im Flieger schlage ich eine Zeitschrift auf, aber da prangt mir eine Geschichte über Trennung entgegen. »Bleiben oder gehen?« steht da, und meine Gedanken sind sofort woanders.

*

Es war ein Herbsttag, an dem meine große Liebe und ich bei einem Italiener sitzen, wir sind Ende zwanzig, drei Jahre sind wir zusammen, Fernbeziehung. Oft wünsche ich mir, dass er fragt, ob wir zusammenziehen. Aber einer von uns müsste sein jetziges Leben aufgeben. Das wäre ein großer Sprung für die Liebe, für uns. In dem Restaurant gibt es karierte Tischdecken, auf dem Tisch eine Kerze, die nicht angezündet ist, und ein Pfefferstreuer, der nicht funktioniert. Wir lachen, weil wir immer miteinander lachen. Dann druckst er herum, redet von der Entfernung, davon, dass wir noch zu jung sind, um uns festzulegen.

Abends rufe ich meine Mutter an. Ich sage nichts von der Trennung, höre nur ihre Stimme, die vom Tag erzählt, von ihrer Zeit bei den Patienten und dem Spaziergang mit dem Hund. Und dann war sie noch einkaufen. »Ich komme am Wochenende«, sage ich. »Was? Das ist aber toll«, sagt sie. Ihre Freude ist wie ein Pflaster. Ihre Stimme hält mich über Wasser, jedenfalls für einen kleinen Moment.

Am Freitagabend sitze ich im Zug. Es gibt immer zwei Möglichkeiten: Meine Mutter steht am Gleis, damit macht sie meinen Besuch zu etwas Besonderem, wir nehmen uns kurz in den Arm und gehen gemeinsam zum Auto. Oder sie wartet im Auto, liest irgendwas und sagt: »Hallo.« Welche Möglichkeit sie wählt, kann ich nie wissen.

Heute steht sie am Gleis, ihr brauner Lieblingsmantel weht im Wind, ihr brauner Bob schimmert in der Abendsonne. Ich hatte geweint, jetzt reiße ich mich zusammen. Im Auto sage ich es leise, als müsste ich es beichten: »Er hat sich getrennt.« Und sie sagt: »Ich weiß, ich habe es schon am Telefon gehört.« Draußen zieht die Stadt an uns vorbei, aus der ich komme. Zu Hause dampft eine Suppe auf dem Herd. Wir sitzen da und essen. Sie fragt nicht viel und erzählt von den Nachbarn. Mehr gibt es nicht zu sagen. Vielleicht ist sie froh, dass er es beendet hat, frage ich mich zwischendrin, weil ich jetzt nicht noch weiter wegziehe. Wir gehen spazieren, unser Hund voran. »Derselbe Weg wie immer?«, fragt sie, und ich nicke.

*

Nach der Landung fahre ich mit dem geliehenen Polo durch eine Hügellandschaft, sie mutet an wie der Mond. Es wächst kaum etwas, keine Blumen, nirgendwo. Der Sand ist tiefschwarz oder aschgrau. Leere, Einsamkeit, Kühle. Manchmal scheint rechts von mir das Meer auf, es grüßt mich nur kurz und verschwindet dann wieder. Vielleicht bin ich hier richtig auf meinem Weg zu überleben. Das Navi weist den Weg. In mir glüht Stärke auf. Wie ein kleines Feuer. Mein Ziel liegt glasklar vor mir: Ich werde meine Mutter loslassen. Seit ihrem Tod hat mich die tiefe Traurigkeit nicht einen einzigen Tag verlassen. Das muss sie aber, damit ich wieder glücklich werde. Meine Mutter loslassen, damit ich Marcus festhalten kann. Wir sind seit drei Jahren ein Paar, aber jetzt ist alles kompliziert. Ich muss ihm beweisen, dass ich die Alte werden kann. Nur wenn ich das schaffe, haben wir eine Zukunft. Sie gehen lassen, um ihn zu behalten …

Wenn ich die Trauer ganz genau betrachte, wenn ich mich ihr stelle, wird sie sich verändern. Dann wird er bleiben. Vor mir erscheint ein Wegweiser: Jardin de Cactus. Kakteengarten. Dort biege ich rechts ab, dem Meer entgegen. Es kommt eine kleine bergige Anhöhe, und dann liegt es vor mir: Los Cocoteros.

Die Sonne brennt über dem verschlafenen Dorf. Ich suche die Zimtstraße, sofort finde ich das Haus, es gibt nicht viele. Apartment Nummer 26, umrundet von einer weißen Mauer voller rosa Blumen, Bougainvilleen heißen sie. Ich klingele, das Tor öffnet ein erstaunlich junger Mann. »Hola, soy Luis«, sagt er.

Ich habe mir meinen Vermieter älter vorgestellt. Er ist rundlich und sieht ein bisschen aus wie Buddha. Er lächelt auch genauso freundlich. Er geht vor, direkt hinter dem Tor führt eine Wendeltreppe nach oben in den ersten Stock. Meinen Koffer lässt er mich selbst tragen. Das Apartment ist unglaublich. Genauso, wie ich es im Internet gesehen habe. Stundenlang habe ich gesurft, wusste wie immer nicht, was ich wollte, und irgendwann sah ich es. Es besteht fast nur aus Glas, ein bisschen wie ein Aquarium, überall Glasfronten. Auch das Schlafzimmer ist komplett verglast und egal, wo ich hingucke, blicke ich auf das Meer. Es ist ein guter Ort, um meine Mutter zu verabschieden.

*

Wir Töchter schweben ohne Mutter oft erst einmal frei und haltlos in dieser Welt. Die Mutter gießt das Fundament für unser Leben, wenn sie uns aber verlässt, bevor es getrocknet ist, wird vieles instabil, brüchig. Der zu frühe Tod lässt Töchter instabil werden, wie eine Pflanze, deren Wurzeln abgeschnitten werden.

Aber warum sind Mütter so wichtig? Warum ist der Tod der Mutter so fundamental für die Tochter? Die meisten Töchter wirft der Abschied von der Mutter um. Was gibt unserer Mutter so viel Macht? Wir Töchter ohne Mutter vermissen das Gefühl, aufgefangen zu werden. Geborgenheit zu fühlen. Geborgenheit sind Worte, eine Tasse Tee, ein Topf mit Hühnersuppe, ein Spaziergang, eine Frage: »Derselbe Weg wie immer?«, ein Spruch, ein Lächeln, eine Kritik, eine Ermunterung, eine Umarmung, eine SMS. Egal, wie gut oder schlecht wir uns mit unserer Mutter verstehen, diese Momente des Trostes oder des Zuspruchs kennen fast alle.

Trost kann erstaunlicherweise auch in der üblichen Kritik oder Demütigung liegen. Auch das ist eine Form, sich geborgen und zu Hause zu fühlen. Zauberformeln, die nur die Mutter kennt. So wie sie Knöpfe drücken kann, bei denen wir uns ärgern oder wütend werden, kann sie Halt geben.

Meine Mutter besitzt Wunderkraft. Wenn ich unglücklich bin, können ihre Worte das Unglück mindern. Ich: »Nee, geht nicht so gut. Ich habe eine Absage fürs Stipendium.« Sie: »Ach, das ist aber blöd. Die haben doch keine Ahnung.« Die Worte einer Mutter lassen Wunden schneller heilen, Niederlagen weniger schlimm erscheinen, Traurigkeit kleiner werden. Selbst bei dem größten Kummer helfen die mitfühlenden Worte einer Mutter. Und mit dem Zuspruch einer Mutter verhält es sich genauso. »Ich glaube, es lohnt sich nicht, wenn ich mich bewerbe.« »Ach, probiere es doch. Mehr als absagen können die doch nicht.« Oder alternativ: »Die wären schön blöd, dich nicht zu nehmen.« Aber warum ist gerade sie so wichtig? Was macht den Unterschied, dass es die Mutter ist, die uns diese Worte sagt?

Als Kind orientieren wir uns an ihr, sie ist unser Gradmesser für richtig oder falsch. Sie erklärt uns die Welt, und wie wir uns in ihr verhalten müssen. Doch die Momente, in denen wir Zuspruch brauchen, nehmen ab, je älter wir werden. Erst haben wir Freundinnen, später einen Partner, der so spricht. Dann lernen wir, selbst so mit uns zu sprechen. Das ist die eigene Reife.

Brauchen wir denn überhaupt jemanden, der uns ermuntert? Das ist einer der Unterschiede zwischen einem Kind und einem Erwachsenen. Deshalb spielt das Alter eine bedeutsame Rolle, wenn wir mit dem Tod konfrontiert werden. Je jünger wir beim Tod unserer Mutter sind, desto stärker vermissen viele Zuspruch und Anerkennung. Wenn wir stark an unsere Mutter gebunden sind, dann ist die Lücke, die ihr Tod reißt, riesig. Oftmals verlieren wir Töchter mit dem Tod der Mutter, mit dem Tod der Eltern auch unser Zuhause, die Heimatbasis. Der Ort, an dem wir Schutz finden und an den wir immer zurückkommen können. Und mit ihrem Tod stirbt das Wissen, das allein die Mutter besitzt. Dinge, die nur zwischen Mutter und Tochter leben. Es gibt keinen mehr, der uns sagen kann, wann uns die Milchzähne herausgefallen sind oder wie unser erster Schultag war. Erinnerungen, Wissen, Gefühle, Liebe. Die Lücke ist so groß, weil sie so besonders ist. Weil wir mit unserer Mutter sprechen können, wie mit niemandem sonst. Das alles müssen Töchter ohne Mutter auch betrauern.

Aber wir müssen auch hinsehen. Konnten wir mit der Mutter alles besprechen? War sie die Heimatbasis? Wo ist denn unser Zuhause? Müssen wir uns selbst die Hühnersuppe kochen, den Weg bestimmen, die Geborgenheit uns selbst schenken? Müssen wir Freundinnen finden, die uns Rat, Zuspruch und Trost geben können? Ersetzt das etwas? Kann eine eigene Familie ersetzen, was fehlt?

Es ist nicht einfach so, dass die Mutter stirbt. Wer das glaubt, befindet sich noch ganz am Anfang des Weges. Es stirbt so viel mehr. Die Mutter ist oftmals das Zentrum und das Herz der Familie. Ohne dieses Zentrum entsteht ein Vakuum. Plötzlich leben alle wie in einem leeren Raum. Viele Mütter halten den Laden zusammen. Weihnachten, Familienfeier, Geburtstag, geht es dir gut? Geschenke, Kinder, alle gesund? Ein echtes Interesse am Leben der anderen haben oftmals die Frauen. Selbst wenn der Vater noch lebt, fehlt vielen Töchtern trotzdem sehr viel. Oft bröckeln die Familien dann auseinander.

Natürlich ist das nicht bei allen so, und es gibt viele Mütter, die sich vor allem um sich selbst drehen oder der Familie diesen Halt gar nicht geben können. Aber die Töchter, die so sehr leiden, wenn ihre Mutter nicht mehr ist, sind eben oft genau die, die das erlebt haben. Und wenn sie aus unserem Leben geht? Dann klafft dort diese Lücke. Die Trauertage, die so wehtun. Die Trauergefühle, die furchtbar schmerzen. Es sind Situationen, in denen wir Trost, Rat oder Zuspruch bräuchten. Töchter ohne Mutter, die schwer erkranken, sich scheiden lassen oder ein anderes Unglück erleben, vermissen die Mutter besonders stark. Bei den Geburten sehnen wir Töchter ohne Mutter uns so sehr nach ihrer Nähe, ihrem Rat und ihrer Unterstützung. Da wäre die sanfte zusprechende Haltung der Mutter wertvoll. Weil Mütter besonders sind, fehlen sie uns so enorm. Wie lässt sich ein solcher Verlust überhaupt verschmerzen?

*

Meine Mutter ist fünf Jahre tot, als ich mit meiner Patentante – ihrer Schwester – in den Urlaub nach Rom fliege. Damals ist sie einundsiebzig. Sie ist sechs Jahre älter als meine Mutter und quietschfidel. Ihre kleine Schwester starb im Januar, vier Wochen danach – im Februar – ihr Mann. Zwei Verluste auf einmal. Zwei Verluste, die eine Lücke reißen, bei ihr und bei mir. Sie wollte ihr ganzes Leben lang gerne reisen, aber konnte es nie. Als wir schräg gegenüber vom Kolosseum sitzen, ist sie begeistert. »Der Blick!«, sagt sie immer wieder. Und: »Wie gerne hätte deine Mutter das noch erlebt.« Sie vermisst ihre jüngere Schwester. Auch sie fühlt eine Lücke. Wir besuchen ein Museum, werfen Münzen in den Tivoli-Brunnen, abends essen wir selbst gemachte Pasta. Sie erzählt von ihrem Leben, das ja auch in vielem das Leben meiner Mutter war. »Ich finde es so schade, kein Zuhause mehr zu haben«, gestehe ich ihr bei einem Glas Rotwein. »Weißt du«, sagt sie »es gab einmal den Punkt, an dem ich meinen Mann verlassen wollte. Heimlich habe ich unseren Sohn angezogen, und eine Freundin hat mich abgeholt. Als wir zu Hause die Birnenallee hochgefahren sind in mein altes Elternhaus, da habe ich mich aufgefangen gefühlt. Das war so entlastend. Ich habe mir geschworen, zu meinem Mann gehe ich nicht mehr zurück. Und plötzlich kommt er auf den Hof gefahren, um mich zu holen. Und da sagt doch meine eigene Mutter, deine Oma: ›Nun geh mal wieder nach Hause.‹«

Noch immer scheint meine Tante darüber empört zu sein, vierzig Jahre später. Ihre Mutter gab ihr nicht die Zuflucht, die sie brauchte. Das Zuhause war gar nicht mehr ihr Zuhause. »Ich hatte nie diese ganz enge Bindung zu meiner Mutter. Ich bin eben ein Kriegskind. Und nach dem Krieg musste Essen auf den Tisch. Die Mütter haben alle viel gearbeitet, und wir Kinder haben mitgeholfen.« So sitzen wir da, sie und ich. »Im Krieg mussten die Leute überleben, uns Kinder durchbringen, das war es.« Kuscheln gab es nicht, selten warme Worte. Meine eigene Mutter wurde nach dem Krieg geboren und hatte eine innige Beziehung zu ihrer Mutter, meiner Oma. Jede Mutter hat ihre Geschichte. Meine Patentante würde sicher auch gerne mit meiner Mutter hier sitzen, ich auch. Aber nun sitzen wir hier, es ist anders, aber es ist auch gut. Sie hilft mir, meine Lücke nicht so groß sein zu lassen. Und ich die ihre. Wir schauen auf eine wundervolle Piazza, die es vor Hunderten von Jahren schon gab. Der Vatikan glitzert in der Ferne. Auch dies ist eine besondere Beziehung.

Wir Töchter müssen realisieren, dass das Fundament sehr langsam trocknet. Deshalb ist es so schwer, wenn unsere Mutter zu früh geht. Wenn wir noch an einem Band hängen, wird es nun durchgeschnitten und wir fallen hin. Was ist die Lösung? Gibt es überhaupt eine? Müssen wir uns abnabeln und loslassen? Was müssen wir denn eigentlich tun, damit diese Lücke nicht mehr so wehtut und wir weiterleben können?

*

Mein spanischer Vermieter zeigt mir die kleine Terrasse. Meeresluft schlägt uns entgegen. »Q bonita«, wie wunderschön, staune ich aus der Tiefe meiner Seele. Das Meer glitzert in unzähligen verschiedenen Blautönen. Lanzarote leuchtet. Es ist umwerfend. Es gibt noch eine kleine Küche und eine Kammer, in die ich meinen Koffer stelle. »Este va a ser tu hogar por tres semanas!« Das ist dein Zuhause für drei Wochen, sagt Luis. Wir können uns verständigen, da ich Spanisch studiert habe. Seine Wohnung befindet sich unter meinem Apartment, erklärt er mir. So richtig gefällt mir nicht, dass er unter mir wohnt. Es fühlt sich komisch an, obwohl er nett ist.

Als Luis geht, kommt die Stille. Es ist niemand da, nur der Ozean und ich. Ich setze mich auf die Terrasse, auf den einen von zwei Stühlen. Und staune. Auch hier rankt noch die Bougainvillea über die Mauer. Ich fühle mich gut. Ich finde etwas schön. Beides habe ich lange nicht gefühlt. Plötzlich kommt mir ein Gedanke. Ich würde gerne Mama anrufen, ihr sagen: »Hi, ich habe es geschafft, allein hierherzufliegen, ich bin gut angekommen.« Das Normalste von der Welt ist nun für mich nicht mehr möglich. Ich bin stark, denke ich und heule los. Nie mehr werde ich sie anrufen können. Es ist endgültig. Die Traurigkeit kriecht in mich hinein, nein, eigentlich war sie immer da.

Was ist mit ihrer Stimme? Wie hörte sie sich an? Ihre Stimme wird verblassen so wie ihre Kleider im Schrank. Und eines Tages wird es auch die Erinnerung sein, die verblasst. Ich sitze da, der Ozean schimmert blau, und in mir breitet sich das Grau seinen Weg.

TAG 2. LANZAROTEWozu ist Leid gut?

Lanzarote weckt mich mit düsteren Wolken, die voller Regen scheinen. Mich fröstelt es. Das Bett hat nur eine dünne weiße Decke, die ich hochziehe. Aber es bleibt kalt. Ich hatte gehofft, hier würde es besser sein, aber mein Kopf ist voller quälender Gedanken. Diese ewige Frage nach dem Warum. Es war doch alles gut. Eben war noch alles gut. Und dann kommt alles anders. Alles. Als würde jetzt in Los Cocoteros, an diesem verlassenen Ort, eine Bombe einschlagen und alles in Schutt und Asche legen. Die Diagnose, die alles zerstört. Die mir meine Mutter nimmt – und aus mir eine andere macht. Ich verfluche diese Zeit. Das Meer ist unruhig. Es schlägt um sich. Ich kann den Kopf nicht ausstellen. Meine Gedanken um diese letzten Wochen. Immer wieder. Wenn ich aus dem Fenster sehe und in den düsteren Himmel blicke, martere ich mich: Warum nur? Warum ging es so schnell? Warum dieses Leiden? Immer denke ich an die Wochen vor dem Tod. Warum haben wir so viel falsch gemacht? Die Wellen schlagen über den Pier, und Meerwasser spritzt in die Höhe. Dann lässt der Himmel los. Es regnet.

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Herbst, nicht einmal zwei Jahre ist es her. Meine Mutter steht auf dem Gleis, ihre kastanienbraunen Haare leuchten, sie trägt ihren rostroten Lieblingspullover, Jeans und den braunen Trenchcoat. Ich steige aus. Sie kommt mir so klein vor, dabei ist sie fast so groß wie ich. Sie weint nicht, das würde auch nicht zu ihr passen. Ich weine jetzt auch nicht mehr. Schon da wird mühsam, was sonst immer einfach war. Sie hat gerade eine schreckliche Woche im Krankenhaus hinter sich. Das Warten hat uns alle verrückt gemacht. Wir dachten, jetzt passiert schnell etwas, wie bei einer frischen Wunde, die genäht wird. Aber bei Krebs geht es nicht um Minuten, jedenfalls für die Ärzte nicht. Nach einer Woche brachte eine sehr junge Ärztin meiner Mutter die Diagnose. Die Ärztin stockte, und dann weinte sie. Sie weinte einfach los, und meine Mutter tröstete sie.

Wir fahren nach Hamburg für eine Zweitmeinung (»Bei Krebs weiß man nie«), wir sind bei einem Onkologen, wir fahren nach Bremen (»Kaum Hoffnung«), meine Mutter beginnt eine Chemotherapie (»Aufhalten«), meine Mutter nimmt Morphium (»Die Schmerzen sind zu schlimm«), und sie stirbt. All das passiert innerhalb von acht Wochen. Meine Mutter ist einundsechzig. Der Onkologe war am klarsten: »Sie können eine Chemotherapie versuchen, aber sie wird den Krankheitsverlauf nur hinauszögern. Weihnachten dieses Jahr in vier Wochen schaffen Sie, Ostern sicher auch, aber ob Sie bis Weihnachten nächstes Jahr noch leben, ist schwer vorhersagbar.« Wie lässt sich mit einem solchen Todesurteil weiterleben?

Und ich, die Tochter? Ich bin schockiert, ungläubig, entsetzt, traurig, hoffend, völlig geschockt, gelähmt, hoffend auf ein Wunder, tieftraurig, depressiv, antriebslos, stumm. All das passiert innerhalb von acht Wochen. Ich bin einunddreißig.

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Meine Mutter erfährt an einem Donnerstag, dass sie Krebs hat. Am Samstag zieht sie den weißen Tennisrock an, das weiße T-Shirt und spielt ein Punktspiel. Sie hat keine Schmerzen. Nur manchmal Bauchweh. Sie verliert 5:7, 4:6. Mist, sagt sie.

In der zweiten Woche sitzt sie nach dem Gespräch beim Onkologen auf unserem Sofa und weint. Ich habe sie nie zuvor weinen gesehen. Um sie herum all ihre Sachen, das Bücherregal, die Bilder, der hübsche Silberkrug. Es verstört mich, meine Mutter weinen zu sehen. Es ist ein seltsames Gefühl, sie in den Arm zu nehmen. Irgendwie habe ich schreckliche Angst, etwas falsch zu machen. In der dritten Woche überlegt sie, in den Urlaub zu fahren. Die weinende Ärztin hat ihr dazu geraten. »Ich würde so gerne noch mal auf die Kanaren, La Palma oder Lanzarote sehen«, sagt sie. Aber ist Urlaub überhaupt möglich? Welchen Sinn hätte der? In der vierten Woche beginnt sie eine Chemotherapie. »Hoffentlich fallen mir nicht die Haare aus.« Nicht auch das noch, denken alle. Es ist nicht zu verkraften für sie, für die ganze Familie, die Brüder, die Enkelkinder, die Freundinnen. »Was soll ich dir heute kochen?«, frage ich. »Ich schmecke sowieso nichts mehr durch die Chemo.« In der fünften Woche fällt das Herbstlaub, und wir bangen um die Haare meiner Mutter. Die Sonne lässt die letzten Blätter bunt aufleuchten. Wir gehen, so wie früher, sie und ich. Nur hakt sie sich nun unter. Doch schon nach fünfzig Metern ist sie erschöpft. »Vor einem Monat hatten wir ein Tennisturnier«, sagt sie traurig.

In der siebten Woche sitzt sie in der Küche und beobachtet Vögel. Das hat meine Oma auch gerne gemacht, da war sie aber über achtzig. Meine Mutter, die Kämpferin, ist deprimiert, ohnmächtig, machtlos. »Wie wollen wir Weihnachten feiern?«, fragt sie. Feiern, denke ich.

In der achten Woche leidet sie nur noch. Das Schlimme ist, sie leiden zu sehen. Jeden Tag etwas mehr. Sie nicht trösten zu können, daneben zu verharren. Die Trauer übermannt uns vollends, bevor der Tod da ist. Ich sehe meine Mutter an und möchte schreien: Bitte, bitte, geh nicht. Bitte, bleib hier. In mir ist so viel Trauer, dass ich es nicht aushalte, dieses Leid. Manchmal wünsche ich mir auch, dass es endlich vorbei ist. Für sie und für uns. Einfach nicht diese schwere Zeit erleben. Dafür schäme ich mich. Ich will, dass sie nicht mehr leidet.

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Der Regen hört wieder auf. Nur ein Schauer. Ich packe meinen Koffer aus, stelle die Bücher weg, lege die Trauerkarten meiner Freunde auf einen Stapel. Plötzlich halte ich den rostroten Pullover meiner Mutter in den Händen. Mir stockt der Atem. Ich habe fast nichts von ihren Anziehsachen behalten, aber ihren Lieblingspullover schon. Sie hatte ihn oft an, gerade in den letzten Wochen, weil er so warm ist. Sie sah immer elegant darin aus. Ganz schlicht ist er, aus warmer roter Kaschmirwolle. Ich packe ihn in den Schrank, ganz nach hinten. Mein Laptop kommt auf den Tisch. Die vielen neuen Bücher ins Regal. Dann fällt mir die alte Plastiktüte in die Hände. Als wir den Keller meiner Mutter ausgeräumt haben, dachte ich erst, was sind das für alte Papierreste, so unscheinbar ist sie. Dann fische ich einen Brief hervor und sehe lauter Liebesbriefe meiner Eltern. Vier Umzüge hat die Tüte mitgemacht und den Tod meines Vaters. Ein paar letzte Tropfen plätschern die Regenrinne runter. Es fühlt sich falsch an, die Briefe zu lesen, und ich habe Angst, was ich lesen werde. Aber hier wäre ein Ort, sie anzusehen, hinzugucken. Den Koffer stelle ich neben die Eingangstür. Kurz setze ich mich auf das Bett und blicke auf das dunkle Meer. Die Sonne kommt ganz kurz raus, wenige Strahlen, dann ist sie wieder verschwunden. Ich sehe sie nur, weil es so düster ist. Ständig laufe ich hin und her und raus und rein. Ich sollte rausgehen, aber ich weiß nicht, wie ich den Weg finden soll. Es sieht bedrohlich aus. Warum bin ich hier? Warum das Leid noch einmal ansehen? Es war eine völlige Schnapsidee. All diese Erinnerungen, die alle hochkommen, sind kaum auszuhalten. Immer wieder diese harten Wochen durchleben? Und dann meine Mutter loswerden. Geht das so? Manche Schicksalsschläge lassen sich einfach nicht überwinden. Wenn es mich nach anderthalb Jahren noch so quält, wie soll es jemals besser werden? Eigentlich weiß ich seit dieser quälenden Zeit gar nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Es wird wieder regnen, die Luft ist frisch. Mir ist kalt auf Lanzarote.

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Wenn wir Töchter unsere Mutter verlieren, dann beginnt das Drama oft nicht mit dem Tod, sondern mit der Diagnose. Und das ist ein entscheidender Unterschied. Denn gerade die Zeit vor dem Tod kann traumatisch und schlimmer sein als der Tod selbst. In einer solch emotionalen Ausnahmesituation passieren Dinge, die schwer zu verkraften sind. Bei uns waren es nur zwei Monate, aber es können auch zwei Jahre oder gar zwanzig sein. Es sind die Erinnerungen daran, die uns wach halten. Wer zu früh die Eltern verliert, für den ist diese Zeit besonders schlimm. Töchter, die selbst noch nicht erwachsen sind, passen nicht in eine Rolle, die fast jede Tochter überfordert. Eine Siebzehnjährige braucht die Mutter und kann sie schwerlich pflegen, begleiten und verstehen. Die Umkehr der Rollen traumatisiert. Aber auch eine Siebenundzwanzigjährige braucht die Mutter noch. Ebenso eine Siebenunddreißigjährige. Wann hört das auf und tut es das überhaupt?

Wenn eine Diagnose zu früh kommt, sind wir Töchter noch nicht auf diese Zeit vorbereitet. Das macht es in mehrfacher Hinsicht schwierig. Wir Töchter nabeln uns gerade ab und nehmen nun eine Rolle ein, die noch gar nicht zu uns passt. Es ist, als würden wir mit elf Jahren heiraten – weder den Mann noch das richtige Hochzeitskleid oder die richtige Feier könnten wir aussuchen. Wie wollen wir dann so früh wissen, wie wir unsere Mütter am Lebensende begleiten? Oder wie wir uns auf der Beerdigung des Vaters verhalten? Aber wann tritt der denn ein ein, in dem wir es wissen? Gibt es den? Leid zu erleben verändert. Das gilt unabhängig vom Tod der Mutter für jede Form von Leid. Aber ist Leid grundsätzlich für irgendetwas gut?

Diese schwere Zeit geht nicht spurlos an uns vorüber. Was bleibt über den Schock hinaus übrig? Wie war es für meine Mutter, mich bis zur eigenen Erschöpfung an ihrer Seite zu sehen? Wie hat sie es erlebt, dass ich für sie gekämpft habe wie eine Löwin? Wie war es für sie zu spüren, dass ich sie liebe? Wir Töchter müssen wohl auch erkennen, dass die schwere Zeit mehr ist als Leid. Auch wenn die Zeit der Diagnose emotional ein Gefühlschaos ist, so hat sie etwas verändert. Wir Töchter wachsen genau an diesem Punkt über uns hinaus. Wir werden zum Gegenüber unserer Mutter. Aus dem Kind wird ein Mädchen und aus dem Mädchen eine Frau. Diese harte Zeit macht aus uns erst den Menschen, den unsere Mutter, unsere Eltern geboren haben. Wir werden Pflegerinnen, Trösterinnen, Partnerinnen. Oft werden wir es zu früh, zu lange, zu intensiv, das ist nun einmal so. Aber wir wachsen in eine Rolle, die auch Teil dieses Lebens ist – wenn wir es zulassen und schaffen. Denn die Zeit der Diagnose holt die schwersten Gefühle hervor, Angst, Wut, Zorn, Einsamkeit, Verzweiflung – aber auch Hoffnung. Wie lange habe ich gehofft, dass meine Mutter doch überlebt. Es war so verflucht kurz, es war nicht einmal genug Zeit, um Abschied zu nehmen, Gefühle bis zum Ende zu fühlen. Aber es war dennoch eine wichtige Zeit. Viele hadern. Ich auch. Schuldgefühle kommen wie tonnenschwerer Ballast hinzu. Es ist so verflucht schwer, die Mutter anzunehmen, wie sie ist oder war. Die Enttäuschung über das, was nie war und nun nie sein wird. Einige Töchter werden jetzt wirklich wütend, gerade am Ende. Aber auch das ist eine Erkenntnis. Am Ende haben uns unsere Mütter ein Stück weit dazu gemacht, wer wir am Ende ihres Lebens sind. »Wie die Beziehung, so der Abschied«, heißt es.

Wir können unserer Mutter nur liebevoll begegnen, wenn unser Verhältnis liebevoll war. Und wir wollen nur da sein, wenn sie für uns da war. Oder auch gerade nicht. Solange noch Groll oder Ungeklärtes zwischen uns ist, wie sollte es ausgerechnet jetzt verpuffen? Deshalb bereuen manche Töchter sehr, nicht richtig mit der Mutter versöhnt gewesen zu sein. Schuld nimmt uns gefangen.

Kann Leid jedoch einen Sinn haben? Leid verändert uns nachhaltig. Wir Töchter ohne Mutter werden mitfühlender, verständnisvoller, emotionaler, empathischer, tiefer, liebevoller. Wir können trösten und zuhören. Wir können auch bitter werden, garstig, deprimiert, erschöpft, nachhaltig getroffen. Es steckt etwas in dieser Erfahrung. In der Dunkelheit steckt ein Funken Licht.

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Seit 2020 erlebt die Welt die Corona-Pandemie. Plötzlich müssen unzählige Töchter ihre Mütter ohne Abschied begraben. Sie können keine Hand halten, keine letzten Worte sagen, nicht trösten. Kein Gebet, keine Umarmung. Sie können nicht da sein. Einmal sehe ich im Fernsehen eine Tochter, die Augen gerötet. Sie ist dreiundfünfzig. »Ich habe meine Mutter vor sechs Monaten verloren. Sie hatte viele Vorerkrankungen«, sagt sie. »Aber dass sie so gehen muss«, hadert sie. Die Mutter war weit über siebzig. »Während meine Mutter auf der Intensivstation beatmet wurde, stand ich im Bäckerladen und habe Brötchen verkauft«, sagt sie. »Ich komme da einfach nicht drüber hinweg, dass sie ganz allein war.«

Wie viele Töchter hätten ihrer Mutter gern die Hand gehalten. Wie viele Ehepartner müssen allein sterben. Wie viele sind ganz allein. »Und als ich zu ihr komme, ist nur noch ein Sarg da. Ich komme da nicht drüber hinweg.« Wie bei einem Herzinfarkt oder Autounfall fehlen den Angehörigen die letzten Wochen oder Monate. Zwischenschritte nennen Hospizeinrichtungen die Zeit nach der Diagnose vor dem Tod. Zwischenschritte, die Angehörige und Sterbende gemeinsam gehen. Viele Hospize reagieren schnell, trotz Corona machen sie Besuche möglich. Auf Intensivstationen ist das meistens nicht möglich. Aber ohne Abschied, ohne diese letzten Wochen oder Monate, sitzt der Schock verdammt tief. Das Begreifen kann noch viel schwieriger sein, der Tod bleibt irreal. Das Aus-dem-Leben-Gerissenwerden ist für den, der gehen muss, so schwer. Letzte Worte sagen, letzte Schritte gehen. Abschied nehmen. Das fehlt brutal. Es ist grausam. So schwer diese letzten Wochen, Monate, Jahre auch sind, können sie auch ein Geschenk sein. Auch, nicht nur. Aber eben auch. Töchtern, die nicht Abschied nehmen können, fehlt etwas. Das Leid hautnah zu erleben, ist eine Qual, und doch ist es wichtig. Für unsere Mütter, für uns selbst. Manchmal bleibt ihnen und uns vielleicht etwas erspart. Es hat, wie alles, mehr als eine Seite.

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Es ist Abend auf Lanzarote, als ich mich aufraffe, einen Spaziergang zu machen. Die Sonne wird bald untergehen, das Meer sieht noch immer düster aus. Die Abendsonne wärmt mich nicht mehr genug, deshalb krame ich den rostroten Pullover meiner Mutter hervor und ziehe ihn über. Ich habe ihn noch nicht oft getragen, es ist merkwürdig, als würde ich ihn ihr wegnehmen. Es tut mir weh, dass sie ihn nicht mehr tragen kann. Er stand ihr auch viel besser. Mich macht er noch dicker.

Die Stufen von meinem Apartment führen durch den Innenhof. Es brennt Licht bei Luis. Vor seiner Tür sitzt eine schwarze Katze. Sie trägt ein rotes Halsband, lange kraule ich ihren Rücken und ihren Hals. Sie schnurrt. Den Weg zum Strand finde ich nicht gleich, aber dann sehe ich einen kleinen Steinweg, der direkt ans Meer führt. Möwen kreisen über dem Wasser. Das Dorf hat vielleicht hundert Häuser, fast alle sind weiß. Dahinter leuchten die Berge in der Abendsonne, kahl und massiv.

Die Toten spuken mir die ganze Zeit im Kopf herum. Im Dezember bekam ich einen Anruf: Mein Cousin ist tot. Er hatte mit einundvierzig einen Motorradunfall. Er starb vier Wochen vor meiner Mutter. Im Februar bekam ich einen Anruf: Mein Onkel ist tot. Er starb vier Wochen nach meiner Mutter. Alles ist so präsent. Ich ziehe meine Jacke enger und lasse die Tränen einfach zu. Die Küste ist rau, Felswände, an denen das Meer sich abarbeitet. Wenn ich mich ganz nah an den Rand stelle, schaue ich zwanzig Meter tief. Manchmal spritzt mich Meerwasser nass. Wasserflecken auf Mamas Pullover. Diese Naturgewalt lässt meine Gedanken langsamer werden. Die Luft riecht nach Salz. Langsam suche ich einen neuen Weg, gleich kommt dieser Moment, wenn die Sonne untergeht und sich das Dunkel über alles legt. Der Pullover und ich gehen durch die zerklüfteten Felsen. Es wird kühl. Wir beide sind mutterseelenallein.

TAG 3. LANZAROTEWas ist dieses Mutter-Tochter-Ding?