My Soul in Your Hands - Kristin Ullmann - E-Book
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My Soul in Your Hands E-Book

Kristin Ullmann

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Beschreibung

Eine Welt für das Leben nach dem Tod, eine für den letzten Kampf – Chaos, Verrücktheit & Gefahr. Um Rab White zu entthronen sowie Wonderland vor einem Krieg zu bewahren, sind Cathrine Cheshire und ihre Verbündeten gezwungen, mit alten Feinden zu kooperieren, aber auch Hilfe von Fremden anzunehmen. Erneut stellen sie sich gefährlich verrückten Aufgaben und beschreiten Wege ins Unbekannte. Bei ihrem letzten Abenteuer werden die Freunde von Verlust, Wahnsinn und Heimtücken verfolgt, wodurch ihr Verstand immer wieder auf die Probe gestellt wird. Das Spiel hat begonnen, die Zeit läuft. Wer wird sein letztes Tack ticken und wer wird wen schachmatt setzen?

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Epilog

Danksagung

Wonderland-Playlist

Die Autorin

GedankenReich Verlag

N. Reichow

Neumarkstraße 31

44359 Dortmund

www.gedankenreich-verlag.de

MY SOUL IN YOUR HANDS

(Band 3)

Text © Kristin Ullmann, 2021

Cover & Umschlaggestaltung: nach einem Konzept von Marie Graßhoff

Lektorat/Korrektorat: Luise Deckert

Satz & Layout: Phantasmal Image

Piktogramme: Christina Ullmann

Innengrafiken © shutterstock

E-Book: Grit Bomhauer

ISBN 978-3-947147-72-4

© GedankenReich Verlag, 2021

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Der aufgebrachte Vater trug das Gewicht eines unschuldigen Lebens auf seinen Schultern, als er neben seiner Frau über hervorstehende Wurzeln imposanter Drehbäume und durch dichte Gräser eilte.

»Lewis! Das führt doch zu nichts«, keuchte diese verzweifelt und schluckte bittere Tränen hinunter. »Den Schutzschild um uns kann ich nicht mehr lange aufrechterhalten. Ich werde zu schwach.« Sie blieb stehen und drehte sich panisch im Kreis.

Noch war die kleine Familie alleine auf dem Kornfeld mit den violetten Ähren, die in der lauen Luft Wonderlands unbeirrt einen Tanz aufführten. Doch sie konnte spüren, wie die Gefahr ihre kleine Familie einzuholen drohte.

»Liebling.« Lewis versuchte seine Frau mit einem eindringlichen Blick gleichermaßen zu beruhigen und zum Weiterlaufen zu drängen. »Wir werden nicht kampflos aufgeben. So kann unsere Geschichte nicht enden. Das Leben unserer Tochter hat doch gerade erst begonnen.«

Er stellte sich seiner großen Liebe gegenüber, strich ihr eine dunkelrote Strähne aus dem Gesicht und ließ seine Finger auf ihrer Wange verweilen.

Das Mädchen, das bei dem Geschaukel durch das Rennen des Vaters eingeschlafen war, erwachte langsam aus seinem Traum. Es schaute zu seinen Eltern auf und brach mit einem Niesen die eingekehrte Stille.

Die Gesichtszüge ihrer Mutter wurden weicher und Entschlossenheit leuchtete in ihren Augen. Sie nickte ihrem Mann zu und lief voraus.

Die Familie flüchtete weiter über Felder und schlängelte sich dann zwischen dicht nebeneinander wachsenden Bäumen hindurch. Tagelang suchten sie Unterschlupf in ausgehöhlten Zwirbelbäumen, tranken frisches Flusswasser und ruhten sich hinter leer stehenden Hütten kurz aus.

Sie hatten plötzlich ihr Zuhause verlassen müssen und dachten seitdem nur noch über ein Entkommen nach. Doch dass sie kein Ziel vor Augen hatten, ließ den Wettkampf gegen die Zeit als ungerecht erscheinen.

Die Kleine bekam davon jedoch nicht viel mit. Sie beobachtete lieber die malerische Kulisse, die über ihr vorbeizog.

Zum Stillen musste die Familie jedes Mal den sichersten Ort in ihrer Umgebung ausmachen, denn während des Fütterns konnte die verzweifelte Mutter den schützenden Schild um sie herum nicht aufrechterhalten. In diesen quälenden Minuten spitzte Lewis die Ohren wie ein Raubtier, das seine Beute anvisierte. Dabei war es seine eigene Familie, die auf dem Silbertablett präsentiert wurde.

Lewis vernahm das sanfte Rauschen eines Flusses neben ihnen. Dieser reflektierte die Sonnenstrahlen und funkelte in seiner satten orangen Farbe.

In der Ferne hörte er einen Ast knacken und wandte sich in einem Sekundenbruchteil dem Geräusch zu. Etwas hatte die fliegenden Schaukelpferdchen aufgescheucht, die nun oberhalb des Nebelschleiers in Aufruhr klackernd aneinanderstießen.

Seine Frau hob schnell den Blick und richtet sich mit der Kleinen im Arm auf. In diesem Moment wurde ihr klar, dass all das Davonlaufen vergebens war. Sie spürte die Präsenz ihres Feindes, ehe sie ihn sah.

»Er ist hier«, hauchte sie.

Aus einem Gestrüpp trat eine kleine Gestalt ins Tageslicht. Lewis schob sich instinktiv vor seine Frau und sein Kind und drängte beide an den Baumstamm zurück, weg von dem Fremden. Überraschenderweise hob der Winzling seine Hände, als wolle er die junge Familie beruhigen.

»Ich bin hier, um zu helfen«, sagte er mit einer weichen Stimme.

Doch davon ließ sich das Paar nicht täuschen, denn sie wussten, dass er trotz seiner zierlichen Statur eines der mächtigsten Wesen Wonderlands war.

»Du möchtest uns helfen? Dass ich nicht lache. Wir wissen, was uns erwartet«, blaffte Lewis.

»Du Narr. Er will nur sie.« Der Kleine deutete auf die Mutter, die ihre Tochter noch mehr an sich drückte. »Und genau ihretwegen bin ich hier, denn mein Gebieter wird nicht aufgeben, ehe er sie bestraft hat. Aber du und deine Tochter werdet nur zu seinem Ziel werden, wenn du dich ihm in den Weg stellst.«

»Wieso solltest du uns warnen und Lewis die Chance geben, zu verschwinden?«, rief die Frau wütend. »Du machst doch alles, was der König dir befiehlt!«

Die zierliche Figur verschränkte die Arme vor der Brust. »Natürlich tue ich das. Er ist immerhin der König. Aber ich habe nur die Anordnung, gegen dich vorzugehen. Es war nie die Rede von deiner Familie. Wir sind nicht ungerecht.«

»Pah!«, stieß Lewis verächtlich aus. »Was für ein schlechter Scherz. Du willst dem Kind die Mutter nehmen. Und mir meine Geliebte.« Seine Stimme bebte vor Zorn. »Also verrate mir, was daran gerecht sein soll.«

Der Feind trat näher und hob die Nase in die Höhe, damit er größer wirkte. »Ich habe meine Befehle, so wie deine Frau auch ihre hatte. Mach mich nicht dafür verantwortlich, dass sie sich auf die falsche Seite geschlagen hat. Zudem solltest du froh sein, dass ich den König davon abhalten konnte, eine Schwangere zur Rechenschaft zu ziehen.«

Diese Aussage verschlug Vater und Mutter die Sprache.

»Dieses Kind wird eines Tages noch von Nutzen sein. Mit der Stärke von euch beiden in seinen Adern … Unvorstellbar, wozu sie fähig sein könnte.« Die gelben Iriden des kleinen Mannes blitzten gierig auf. Dann wandte er hektisch den Blick zur Seite. »Er kommt. Ich erlaube dir«, wieder zeigte er auf die Mutter, »deinen Mann und deine Tochter in Sicherheit zu bringen, oder sie werden mit dir bestraft.«

Ohne zu zögern, tat Lewis’ Frau das, von dem ihr Mann gehofft hatte, dass sie es nicht tun würde. Erhobenen Hauptes trat sie hinter seinem schützenden Körper hervor und überreichte ihm mit Tränen in den Augen ihr Kind.

»Pass gut auf sie auf. Finde für sie eine andere Mutter und für dich eine neue Liebe. Werdet glücklich.« Dann hauchte sie erst ihrer Tochter einen Kuss zwischen die unschuldigen, rubinroten Augen und schließlich küsste sie ihren Gemahl zum Abschied. »Ihr habt kein Leben auf der Flucht verdient. Einzig meinetwegen stecken wir in dieser Lage. Ich muss mit den Konsequenzen leben. Es war immerhin allein meine Entscheidung, auf White als nächsten König zu setzen. Ich wollte doch nur unsere Zukunft sichern.«

»Nein. Nein, Liebling. Du hast dich geändert. Du stehst in keinerlei Verbindung mehr zu Mirror. Er kann dich für nichts bestrafen, das Ewigkeiten zurückliegt.«

Seine Frau presste die Lippen aufeinander und schluckte schwer. »Ich liebe euch, vergesst das nicht.«

Dann schritt sie hinter den dicken Stamm des Zwirbelbaumes und zeichnete eine Linie in die Luft. Sogleich leuchtete diese auf und ein Spalt öffnete sich. Ein Spalt in eine andere Welt.

Lewis verfolgte mit Schrecken, wie sie ihm mit dem Erschaffen eines Portals einen Ausweg bot. »Ich kann das nicht. Nicht ohne dich.«

»Du musst. Ihretwillen.«

Sie schloss die Augen und atmete tief durch, verinnerlichte unwillkürlich das Bild ihres verängstigen Mannes mit ihrem Kind in den Armen. Ihr Kind, das sie wohl nie wiedersehen würde. Sie hielt die Augen geschlossen, als sie sich am Stamm entlang aus dem Sichtfeld ihrer Familie tastete. Erst als sie sich sicher war, dass ihre Liebsten sie nicht mehr sehen konnten, öffnete sie die Lider. Dann sammelte sie alle verbleibende Kraft in sich, um ihrem Schicksal mutig entgegenzutreten.

»Gute Entscheidung«, meinte das kleine Männlein, das selbst unauffällig einen Kloß im Hals hinunterschluckte.

»Danke, Bayard«, flüsterte sie. »Danke, dass du sie entkommen lässt.«

Das Hufgetrappel auf dem blauen Waldboden kündigte ihren Richter an.

Aber dass sie ihre Familie in Sicherheit wusste, bestärkte ihre aufrechte Haltung. Nun hatte sie nichts mehr zu verlieren. Was war ihr Leben schon wert, wenn sie es nicht weiter mit ihren Geliebten teilen konnte?

Die Soldaten hielten mit großem Abstand zu ihr an. Nur ein Hengst blieb so nahe bei ihr stehen, dass sie seinen stinkenden Atem riechen konnte. Sie verzog allerdings keine Miene. Nein. Sie hob den Kopf und starrte in die zufriedenen Augen des Herrschers über Wonderland.

»König Heart«, sagte sie mit keiner einzigen Gefühlsregung in ihrer Stimme, denn die Genugtuung würde sie ihm nicht geben.

»Whites Sympathisantin«, schleuderte er ihr entgegen, ehe er abstieg und auf sie zuschritt.

Auch Bayard trat wieder aus dem Hintergrund nach vorne und gesellte sich zu seinem Freund.

»Nun sieh mal einer an.« Der Winzling tippte sich verspielt an das Kinn. »Wir haben sie gleichzeitig gefunden. Welch wunderbarer Tag, nicht wahr?« Bay war der beste Schauspieler, den Wonderland zu bieten hatte.

»Wahrlich, mein Freund. Ab heute gibt es eine Ratte weniger, habe ich gehört«, höhnte der König mit tiefer Stimme.

Die beiden Männer unterhielten sich weiter, ohne der Mutter Beachtung zu schenken. Als wäre sie nur Dreck zwischen den Hufen eines Mastschweines. Schließlich drehte der König ihr doch seinen Kopf zu und beäugte sie abschätzig.

»Du und deine leuchtende Ausstrahlung. So unschuldig. Gute Tarnung.« Er ging auf sie zu und hob ihr Kinn mit einem dicken Finger an. »Ich wäre nie darauf gekommen, dass du einer von Whites Spionen bist. Immerhin hast du oft genug mit deinen Kräften auch meiner Familie zur Seite gestanden. Dass du dich aber für den falschen Bruder entscheidest … Welch Verschwendung.«

»Er ist der Erstgeborene«, fauchte sie.

»Er ist ein Bastard! Du hast deine Zeit vergeudet.«

»Ob ehelich oder nicht, er hat das Anrecht auf den Thron. Und er ist Euch überlegen. Ich habe nur dafür gesorgt, dass ich auf der stärkeren Seite stehe.«

Der König lachte auf. »Du hättest ihm nach Mirror folgen sollen. Warum könnt ihr Parasiten mein schönes Wonderland nicht in Ruhe lassen?«

»Ihr habt ihm ein Reich gegeben, das kaputt war.«

»Und du hast ihm genug Wondies gebracht, damit er das Land noch weiter zerstören kann.«

Nie würde sie König Heart gegenüber zugeben, dass sie das leider zu spät begriffen hatte, denn sie hatte an Gerechtigkeit geglaubt und daran, dass Rab White Wonderland wieder für sich einnehmen würde. Sie hatte sich gut mit dem Herrscher Mirrors stellen wollen, damit sie auch im neuen Wonderland einen Platz haben würde. Dass genau dieses Denken ihren Tod bedeutete, war reinste Ironie.

Als könnte das Mädchen in Lewis’ Armen die Verzweiflung seiner Mutter spüren, wurde es unruhig. Ein weiteres Zeichen dafür, dass für ihn die Zeit gekommen war, sich von seiner Liebsten loszusagen, sodass ihr Kind eine Chance auf Leben bekam. Er wusste, er durfte nicht länger lauschen und damit riskieren, entdeckt zu werden. Also sog er tief Wonderlands warme Luft ein.

»Ich liebe dich. Ileria, ich werde dich nie vergessen«, flüsterte er gleich einem Windhauch und schritt durch den Spalt.

»Mein König, mein Freund«, meldete sich Bay zu Wort und fuhr sich durch sein zerzaustes türkises Haar, »wäre es nicht Verschwendung, jemanden mit solch einer Kraft wie der ihren auszulöschen?«

Der Angesprochene drehte sich dem Winzling zu. »Was schwebt dir vor?«

Bayard umkreiste den Herrscher Wonderlands und seine Beute. Dabei gab er vor, nachzudenken, obwohl er längst einen Plan hatte. »Was, wenn wir sie zur Strafe in ein Gefängnis werfen, damit sie uns weiterhin nützlich sein kann?« Dann riss er die Augen so weit auf, dass nicht mehr viel gefehlt hätte und sie wären ihm aus dem Schädel gefallen. »Kein Gefängnis. Besser.« Er schielte zu dem Gewässer, das ruhig seine Bahn zog. »Wir können sie an den Fluss binden. Sie kann sich darauf frei bewegen, aber ihn nie wieder verlassen. In ein paar Jährchen wird sie dem Wahnsinn verfallen. Bis dahin wird sie Eurer Majestät zu Diensten stehen, dafür kann ich sorgen. Für sie wird es die reinste Folter.« Sein höhnisches Grinsen unterstrich seinen scheinbar hinterlistigen Gedankengang.

»Das ist eine schrecklich gemeine Idee, mein Freund. Sie gefällt mir. Whites Sympathisanten haben es nicht anders verdient.« Der König wandte sich wieder Ileria zu. »Du, meine Liebe, wirst weiter in den Diensten meiner Familie und mir zu stehen. Ich weiß, du hast Mann und Kind. Sie werden dich besuchen können und du darfst deine Tochter aufwachsen sehen. Solange, bis dich der Wahnsinn holt.« Grübelnd kratzte sich Wonderlands Regent am Kinn. »Ach ja, du wirst White weiterhin Wondies geben. Aber nur gebrochene Seelen. Für die haben wir sowieso keine Verwendung. Sie bringen lediglich unnötiges Chaos in unser schönes Land. Sollen sie sich in Mirror austoben.« Zufrieden strahlte er Bay an. »Bereite den Fluch vor.«

Ileria sah zu dem Männlein, als der König ihnen den Rücken zuwandte.

»Danke«, flüsterte sie dem kleinen Mann zu, was dieser mit einem verschwörerischen Zwinkern quittierte.

Dann verfluchte Bayard Ileria und band sie als Geist an das Gewässer. Er ließ ihr sogar die Möglichkeit, sich als Projektion ihrer selbst zumindest für kurze Zeit ihrer Familie abseits des Flusses zu widmen. Doch Bay wusste nicht, dass Ileria Mann und Kind in eine andere Welt gebracht hatte und ihre Ewigkeit in Einsamkeit verbringen würde.

»Nein«, wimmerte ich. »Nein.« Immer wieder.

»Cathrine, beruhige dich. Du träumst«, hörte ich eine sanfte Stimme sagen. Sofort spürte ich Fingerspitzen an meinen Schläfen kreisen.

Ich schlug die Lider auf und sah direkt in wunderschöne Augen. Ein mitfühlender Blick schlich sich in die weißen Iriden und bestätigte mir, dass ich in der Wirklichkeit war, denn diese Intensität könnte ich nie in einem Traum spüren.

»Danke, Al«, brachte ich mit kratziger Stimme hervor und wischte mir den Schweiß von der Stirn.

Dieser Ablauf war in den letzten Wochen zu unserem Ritual geworden. Ich brauchte Al als Bestätigung dafür, dass ich wach war. Immer wieder träumte ich von einem verglasten Wonderland, einer Menschenwelt mit allerhand Tücken oder Lewis’ Geschichte – Ilerias Geschichte – meiner Geschichte. Jene, die ich durch Hetties Fähigkeiten in Lewis und Bay gelesen hatte und die mir die Luft zum Atmen geraubt hatte.

Die ersten Nächte nach unserer Reise durch Mads Traumwelt hatte ich wachgelegen, mich hin und her gewälzt, endlose Minuten an die dunkle Holzdecke gestiert, mich nicht getraut, ins Land der Träume überzugehen. Als ich gemerkt hatte, dass Al nachts in den kalten Fluren des Schlosses unterwegs gewesen war, hatten wir beschlossen, uns Gesellschaft zu leisten.

Wie schon so oft streichelte Al solange über meine Wangen, bis sich mein Herzschlag wieder normalisierte.

Er stahl sich jeden Abend in mein Zimmer auf der Südseite des Schlosses, denn ohne ihn konnte ich nicht mehr einschlafen. Und nicht mehr aufwachen. Wir brauchten unsere Nähe, was eine unausgesprochene Tatsache war. So wie vieles zwischen uns. Bei dem Gedanken, dass ich in Sicherheit war, füllte ich meine Lungen langsam mit Luft und entließ sie mindestens ebenso bedächtig.

»Besser?«, hakte Al nach.

»Besser.«

Er stand auf und öffnete die schweren Vorhänge.

Ich lief zu ihm und vergewisserte mich, dass das Wonderland vor uns nicht mit Glas überzogen war. War es nicht. Und wie auch an jedem Tag davor fiel mir erneut ein Stein vom Herzen.

Doch nicht nur mir ging es offenbar so. Als angespannter Körper nahm ebenfalls eine weniger steife Haltung ein. Ich griff nach seiner Hand und schmiegte meinen Kopf an seine starke Schulter. Still starrten wir auf Wonderlands Schlossplatz und ich beobachtete Soldaten, die tüchtig über den Hof marschierten.

»Es ist völlig absurd. Von hier oben sieht es fast so aus, als wäre es ein normaler Tag wie jeder andere.« Al schnaubte aufgebracht.

»Es ist ein Tag wie jeder andere. Solange wir keinen Plan haben, wie wir deinen«, ich räusperte mich, »wir White stürzen, wird das unsere Normalität sein.« Ich spürte Als Blick auf mir ruhen, doch ich starrte weiter auf das Treiben unter uns.

»Kriegsplanung, Kampfvorbereitung, die Suche nach den Seelenessenzen. Wie konnte das unsere Normalität werden?«

In Gedanken ging ich die vergangenen Ereignisse durch, welche uns zu den Wracks gemacht hatten, die wir momentan waren.

Kaum zu glauben, dass alles mit Al begonnen hatte. Seit seinem Eindringen in Wonderland war alles aus dem Ruder gelaufen. Die Suche nach ihm hatte uns und vor allem meine Schwester in Gefahr gebracht. Ich hatte Ilerias Hilfe angenommen – nein, ich konnte sie in meinen Gedanken nicht Mutter nennen – und damit Mad der Königin auf dem Präsentierteller serviert. Lächerlich, dass ich gedacht hatte, der Kampf durch den Irrgarten, um zu Mad zu gelangen, hätte mir alles abverlangt, aber sich durch scheinbar endlose Träume zu schlagen und Freundschaften aufs Spiel zu setzen, war eine ganz andere Nummer gewesen.

Und nun waren wir hier.

Die Grenze hielt nicht mehr lange stand, weswegen sich Het und Xander den Kopf zermarterten, um eine Lösung für dieses Problem zu finden. Bay und Lewis halfen ihnen dabei.

Allerdings herrschte Spannung zwischen den Parteien, denn keiner vertraute dem anderen. Hettie war sauer auf Bay und Lewis, weil sie ihr nicht eher erzählt hatten, wie Lewis und Ileria zu mir standen. Die beiden hatten Het erst gemeinsam mit mir deren Vergangenheit lesen lassen.

Hinzu kam, dass Gilbert mich mied, weil ich ihn auf den Thron gestoßen hatte, wofür er seiner Meinung nach noch nicht bereit war. Nun war sein schlimmster Albtraum Realität geworden und er musste Wonderland vor einem Krieg bewahren oder es sogar durch einen hindurchführen.

Mad distanzierte sich ebenfalls von mir. Für sie war ich zwar nicht länger das Monster, das sie in den Schatten stellte, jedoch traute sie mir nicht mehr, wie sie es einst getan hatte.

Wenigstens ließen sich Dee und Dum von keinem Zerwürfnis ablenken und halfen Gen und Eve bei der Suche nach den Seelenessenzen. Die Brüder waren der Meinung, dass die beiden Hüllen ihre eigenen Seelen besser aufspüren konnten. Wie ein Magnet, der einen anderen anzog.

Ohne die vier bei der Erkundung des Schlossgeländes zu unterstützen, hatten sich Humpty und Hopp aus dem Staub gemacht. Sie verbrachten schätzungsweise ihre Tage wieder mit einer Tasse Tee an der vergammelten Tafel mitten im Wald.

Steph blieb die meiste Zeit in dem Heilzimmer, das in weiser Voraussicht im Schloss während unserer Abwesenheit extra eingerichtet worden war. So fit, wie sie nach ihrem Erwachen geschienen hatte, war sie nicht. Sie war nur einen Tag später zusammengebrochen und schlief seitdem die meiste Zeit.

Wir machten uns alle Sorgen, aber die Heilerin und auch Bay beteuerten, dass es ihr gut gehe. Immerhin hätte sie das Alter von Xander und Hettie haben sollen, steckte nun aber in dem Körper einer jungen Frau.

»Das kann einen schon mitnehmen«, waren Bays Worte gewesen.

Jeder hatte also für etwas oder sich selbst zu sorgen. Deshalb blieb nur Al konstant an meiner Seite. Wir kümmerten uns um alles und jeden und versuchten, die Arbeit der anderen zu erleichtern. So reisten wir zwischen Grenze und Schloss hin und her und spielten dabei Vermittler für Hettie und Bay, halfen den Schattenbrüdern bei der Suche nach den Essenzen und unterstützten den mürrischen Gilbert bei der Neuaufstellung seiner Soldaten. Dadurch hatten Al und ich kaum eine ruhige Minute.

Umso mehr schätzten wir beide den gemeinsamen Morgen, bevor er wieder sein eigenes Gemach aufsuchen würde. Es waren stille Minuten, die nur uns gehörten, in denen wir den Alltag verdrängten und uns ohne viel Worte Gesellschaft leisteten.

Ich schüttelte den Kopf.

Schalte deine Gedanken aus, Cat. Gib dir eine kurze Pause, bis dich das Chaos erneut einholt.

»Komm«, sagte Al und öffnete das Fenster. Frische Luft durchflutete das Zimmer und er führte mich wieder zurück zum Bett. »Ich denke, wir haben noch ein paar Minuten.«

Er rutschte an das stabile Kopfteil mit den aufwendigen Schnitzereien und zog mich auf seinen Schoß. Ich lehnte mich an seine Brust und ließ mich auf seinen regelmäßigen Herzschlag ein. Dann griff ich nach seiner freien Hand, die andere streichelte bereits besänftigend meine Seite und fuhr jeden kleinen Knöchel entlang.

Wir verschränkten unsere Finger, öffneten sie und umschlossen sie erneut. Es war hypnotisierend. Seine Brust drückte sich immer wieder gegen meinen Rücken, und sein Atem kitzelte meinen Nacken.

Schritte auf dem Flur holten mich wieder zurück in die Realität und ich ergab mich dem Beginn des Tages. Also schob ich mich lautlos von ihm und blieb auf dem Rücken liegen, als er zur Tür schlich und auf den Gang spähte. Ich brauchte nicht aufsehen, um zu merken, dass er sich nicht noch einmal umdrehte. Das machte er nie.

»Steph war kurz wach und richtet euch Grüße aus«, sagte ich und dehnte meinen Hals, da die Muskulatur noch recht steif war. »Lagebericht?«

»Nichts Neues. Wir haben einzig die unvollständige Skizze von Mirror«, meinte Xander und wischte verärgert über das Stück Pergament.

Entgegen seiner Worte war ich beeindruckt, was er bereits für Details hinzugefügt hat. Verwirrt schaute zwischen ihm und Het hin und her.

»Was hindert dich daran, sie fertigzustellen?«

»Ich bräuchte meinen Sohn, weil ich mir bei einigen Positionen der verfeindeten Fraktionen nicht sicher bin. Aber du nimmst ihn andauernd in Beschlag.« Ich verengte meine Augen, denn Xander hatte den Unterton angeschlagen, den er mir gegenüber häufiger verwendete.

Kurz bevor wir in die Traumwelt aufgebrochen waren, hatte ich gedacht, wir kämen allmählich miteinander klar. Er war endlich nett zu mir gewesen, nachdem er mich hatte umbringen wollen, um White seine größte Machtquelle zu nehmen – wo keine Cat, da keine Kinderseele.

Allerdings stand noch etwas zwischen Xander und mir. Bisher hatten wir beide nicht darüber gesprochen, dass sein Sohn meinetwegen in Wonderland gelandet war. Aber ich ging davon aus, dass er bereits von Bay erfahren hatte, wie dieser Al nur in den Irrgarten gerufen hatte, um mir meinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen. Ansonsten wäre er in Mirror sicher und nicht in unser Durcheinander verwickelt.

Um nicht in eine Diskussion mit Papa Ice zu geraten, beschloss ich, seine flapsige Antwort zu überhören, und wandte mich meiner Mutter zu.

»Wo sind Bay und Lewis?«

»Die sehen gerade nach der Grenze.«

»Dort will ich jetzt auch hin.«

Hettie biss sich wieder auf die Lippen, wie immer, wenn ich über Lewis sprach. Sie sah ihn als Konkurrenz, das spürte ich. Ich konnte es ihr nicht verübeln, denn ich hatte ihr vor den Ereignissen in letzter Zeit nicht oft genug gezeigt, wie dankbar ich dafür war, dass sie meine Mutter war. Aber seit der Lesung seiner Vergangenheit hatte ich keine fünf Worte mit ihm gewechselt. Ich wusste nicht, wann ich mich endlich dazu aufraffen würde, mit ihm zu sprechen.

Seine Anwesenheit hielt mich allerdings nicht davon ab, zur Grenze zu wollen. Ich wandte den anderen meinen Rücken zu, um mich auf den Weg zu machen.

»Könntest du das Prinzchen holen?«, bat mich Xander, nachdem ich die Tür geöffnet hatte.

»König«, verbesserte Hettie ihren Liebsten. »Er ist mit Mad im Trainingssaal.«

Wie mir geheißen, lief ich über den Hofplatz, wo Al schon auf mich wartete.

»Dein Vater braucht dich zum Fertigstellen der Skizze«, erinnerte ich ihn gleich.

Er seufzte. »Mist, ich wusste, ich habe was vergessen.«

Ich musterte ihn. »Hast du nicht. Du gehst ihm aus dem Weg.« Erwartungsvoll sah ich ihn an.

Aber wieder rückte er nicht mit der Sprache heraus, was bei der Familie Ice abgesehen von dem Fluch, den seine eigene Mutter ihm auferlegt hatte, im Argen lag. Ich hatte Xander schon mehrmals gebeten, mit Al darüber zu sprechen, da ich keine Geheimnisse vor seinem Sohn haben wollte. Aber bisher hatte Ice gekniffen. Und nun ging der ahnungslose Al neben mir her und strafte jede Wache mit einem strengen Blick, die uns einen Moment zu lange anstarrte.

Kein Wunder. Für die Soldaten waren wir nur Gestalten aus einer Geschichte. Wir bekamen oft mit, wie sie sich über uns die Mäuler zerrissen. Nicht zuletzt machten sie uns für das Chaos verantwortlich. Und ich konnte es ihnen nicht verdenken, sie hatten schließlich recht. Keiner von ihnen vermisste die Königin, aber dafür deren klare Strukturen. Sie waren es gewohnt, Befehle auszuführen, statt Ewigkeiten auf kleine Botengänge gesandt zu werden, die zu nichts führten.

So glotzten uns auch die Wachen neben der massiven Tür des Trainingssaals merkwürdig an, als sie einen Schritt zur Seite machten. Trotz allem Getratsche hatten sie Respekt vor uns.

Al drückte die Tür auf und ich vernahm Mads gequältes Stöhnen. Sie hatte in den letzten Wochen bereits viel im Training erreicht. Eine Bestätigung für mich, dass ich sie gewaltig unterschätzt hatte.

»Guten Morgen«, rief ich durch den Saal.

Gilbert, der über Mad kniete und sie auf den Boden gepresst hielt, blickte zu mir auf.

»Du darfst mich nicht nur mit deinen Armen wegdrücken, sondern mit dem gesamten Oberkörper«, wies er meine Schwester an.

Mad schloss beschämt die Augen und Röte, die definitiv nicht vom Training stammte, kroch auf ihre Wangen.

»Ist Mad ihr Traum immer noch peinlich?«, fragte mich Al leise, während Gil ihr auf die Beine half.

»Natürlich. Sie war schließlich über Jahre hinweg in ihren eigenen Cousin verschossen«, flüsterte ich zurück. »Dass er das mitbekommen hat, setzt dem Ganzen die Krone auf.« Ich sammelte ein bereitliegendes Handtuch vom Boden auf und warf es dem zukünftigen König zu.

»Xander braucht dich im Ratsraum.«

Gil tupfte sich den Schweiß vom Gesicht und rieb sich auch über die Oberarme, ehe er Mad das benutzte Tuch in die Hand drückte. Diese schaute angeekelt von dem durchnässten Lappen zu Gil.

»Mad, trainiere deinen Oberkörper. Froggy wird dir helfen. Bis dann.« Daraufhin marschierte er demonstrativ zwischen mir und Al hindurch. Die Tür knallte, als er den Saal verließ.

Ich schüttelte den Kopf. »Zicke.«

»Er wird nicht ewig auf dich sauer sein«, meinte Mad. Anscheinend wollte sie mich beruhigen, was mich nur wütender machte.

Al drückte sachte meine Schulter. »Komm, wir sehen nach Gen und Eve.«

»Nein«, erwiderte ich und seufzte. »Das mache ich allein. Geh bitte zu Xander und hilf ihm, diese Skizze zu beenden. Vielleicht übersehen wir die ganze Zeit eine Möglichkeit, näher an White heranzukommen.«

Er strich über meinen Arm und schenkte mir einen verständnisvollen Blick. »Treffen wir uns zum Mittagessen?«

»Ich weiß nicht, ob ich da sein werde. Eigentlich möchte ich zur Grenze, dazu muss ich aber zuerst die Schattenbrüder finden.«

»Gut. Dann sehen wir uns, sobald du wieder zurück bist.«

Während Al dem eingeschnappten König hinterherging und Mad mit Froggy weitertrainierte, nahm ich einen der neuentdeckten Geheimwege zu den Kellergewölben. Es hatte auch seine guten Seiten, viel Zeit im Schloss zu verbringen. Leider zu spät. Hätte ich diesen Gang gekannt, bevor ich gegen die Königin gekämpft hatte, hätte ich mich für den Seelenraub anschleichen können und es wäre vielleicht anders ausgegangen.

Beispielsweise ohne einen abgetrennten Kopf.

Ich erwartete, Gen und Eve an der Stelle anzutreffen, wo sie gestern ihre Suche beendet hatten, doch ich fand nur die Schattenbrüder vor. Das Pulsieren meiner Kette in ihrer Gegenwart war ein Segen – eine willkommene Erinnerung an das, was früher gewesen war. Eine Konstante, die hoffentlich bleiben würde.

Ich fasste an die mit Rauchschwarz gefüllten Perlen, als ich näher an die Schattengänger heranschritt.

»Guten Morgen, Dee und Dum«, grüßte ich sie und hätte sie am liebsten in eine Umarmung geschlossen.

Doch sosehr ich es auch wollte, ich konnte sie nicht mehr so spüren wie früher. Seitdem sie das Hauptportal zerstört hatten und neben Bay die einzige Möglichkeit waren, das Schloss zu besuchen oder zu verlassen, waren ihre Kräfte auf Sparflamme gesetzt. Sie waren sogar zu schwach, um die kleinsten Dinge wie einen Stein in die Höhe zu heben.

»Gen und Eve nehmen sich heute eine Auszeit«, erklärte Dum, bevor ich nachfragen konnte.

»Es sei ihnen gegönnt. Aber warum macht ihr dann alleine weiter?«

Sein Bruder senkte seine rauchige Gestalt. »Es muss ja vorwärtsgehen.«

»Ich schätze euren Einsatz sehr, doch auch ihr solltet euch Ruhe gönnen. Obwohl … Einen Gefallen müsstet ihr mir tun. Ich will mir die Grenze ansehen. Jetzt war ich schon eine ganze Woche nicht mehr dort und habe ein schlechtes Gewissen. Habt ihr noch genug Energie?«

»Solange Bay nicht auf die Idee kommt, dass wir ihn und deinen V–«

»Wird er nicht«, unterbrach ich ihn sofort. »Laut Wärter hat er heute noch keinen Dorfbewohner aus dem Gefängnis heimgebracht. Er hat also genug Kraft, um sich und Lewis wieder herzuportalieren.«

Das war die Sache, für die Bays halbe Magie draufging. Wir hatten uns darauf geeinigt, dass die Wondies, die nach dem versehentlichen Übertritt zum Schloss von Het und Xander in die Verliese gesperrt worden waren, wieder nach Hause geschickt werden sollten. Und damit sie nicht gleich in ganz Wonderland herumtratschten, wie chaotisch es hier zuging, löschte Bay ihre Erinnerungen bis zu dem Zeitpunkt ihres Portaldurchgangs. Er hatte zum Glück genügend Macht für derartige Unternehmungen. Allerdings schaffte auch er nur ein oder zwei Wondies am Tag und es waren noch genug übrig, sodass er mindestens eine weitere Woche gut zu tun haben würde. Glücklicherweise war er an diesem Morgen anderweitig beschäftigt gewesen, sodass sich die Brüder somit nicht überanstrengen musste.

»Also? Können wir los?«

Die wabernde Masse des Portals gab uns frei und gemeinsam mit den Schattenbrüdern landete ich nicht unweit von den giftigen Sträuchern kurz vor dem Übergang.

Dee und Dum brachten uns nie direkt vor die Grenze, denn wir befürchteten, dass die Energie eines Portals noch weitere Teile von ihr loslösen könnte. Und viel war von der Barriere sowieso nicht mehr übrig.

Ohne ein Wort zu wechseln, näherten wir uns der Grenze. Es war ein bedächtiger Spaziergang. Auf solch ein grausames Bild zuzuschreiten, verlangte vermutlich nicht nur mir einiges ab.

Die Temperaturen schwankten noch schlimmer als vor dem langsamen Verfall. Ich war es inzwischen gewohnt, dass es hier bis zu zehn Grad kälter oder wärmer werden konnte als im Rest des Landes. Aber momentan fühlte es sich so an, als kämpften Eis und Feuer. Gerade war es dampfig und meine Kleidung klebte an mir, wie ich es an der Grenze noch nie erlebt hatte. Und ich hatte hier fast mein ganzes Leben mit den Brüdern gearbeitet.

Unzählige Male hatten sie mir den Übergang in die Menschenwelt geöffnet, damit ich neue Seelen für Heart stehlen konnte. Ich hatte wirklich gedacht, ich hätte den Menschen dadurch geholfen – ihnen ihre boshaften Gedanken ausgetrieben und ihnen ein besseres Leben als emotionslose Hülle ermöglicht. Wie falsch ich doch gelegen hatte.

»Katze!«, rief Bay und brachte mich dazu, die Erinnerung an meine Tätigkeit als königliche Seelenfängerin in die hinterste Ecke meiner Gedanken zu verbannen.

»Hallo, Bay.«

Ich wahrte auch zu ihm noch Abstand. Die Mischung aus Wahnsinn und Durchtriebenheit, die aus seinen gelben Augen sprach, erinnerte mich immer an seine Handlungen, die auf der einen Seite geholfen, auf der anderen aber zu viele verletzt hatten. Neben uns unterhielten sich die Brüder mit Lewis, ich hingegen ignorierte ihn.

»Bilde ich mir das nur ein oder hat sich die Lage seit letzter Woche nicht verschlimmert?«, wandte ich mich an das kleine Männlein.

Bay berührte einen abgelösten Splitter, der vor seiner Nase schwebte. »Zum Glück nicht. Es gab keinerlei Veränderung. Dieses Fragment hier«, er tippte erneut das buntreflektierende Grenzstück vor sich an, »hängt schon länger als eine Woche an der gleichen Stelle.«

Ich machte einen Schritt zurück und bemerkte, dass sich die Bruchteile tatsächlich nicht mehr langsam bewegten. Es waren immer noch Abermillionen Teile, die in der Atmosphäre um uns herum glänzten und der Grenze zur Stabilität fehlten. Doch der Stillstand könnte etwas Gutes bedeuten.

In den nahestehenden Zwirbelbäumen hörte ich sogar einen Vogel zwitschern und andere Wunderwesen raschelten in den Büschen um uns herum. Dass sie wieder zurückkehrten, war auch kein schlechtes Zeichen.

»Das verschafft uns Zeit«, stieß ich erleichtert aus.

Ich vernahm Schritte, die sich zögerlich näherten.

Lewis kam mit den Brüdern zu uns. »Ich traue der Sache nicht.«

Bevor ich etwas erwidern konnte, zwang uns ein markerschütternder Schrei in die Knie. Schnell presste ich meinen Körper auf die bunten Halme unter mir und vergrub meine Ohren in den Handflächen. Der Laut wollte nicht enden. Dazu gesellte sich eine Vibration, die mich ordentlich durchschüttelte.

Ich wagte einen Blick zur Seite und erkannte, dass die schwebenden Grenzstücke nach und nach auf den Boden krachten.

So endet es also.

Ich würde von den spitzen Fragmenten durchbohrt und so die Last auf meinen Schultern loswerden.

Es war ein überraschend erlösender Gedanke. Aber …

Aber ich spürte keinen Schmerz.

Als ich mich erheben wollte, stieß ich gegen jemanden.

Es war …

»Lewis?«

Er hatte sich schützend über mich gebeugt. Auch er richtete sich nun wieder auf und seine roten Augen glänzten verdächtig, ehe sie schlagartig zufielen.

»Lewis«, keuchte ich, sobald ich realisierte, was mit ihm nicht stimmte.

Er hatte mich vor den Splittern abgeschirmt. Sie steckten in seinem Rücken und Blut breitete sich um jeden einzelnen Einstich aus. Dann sackte er in Richtung des mit Scherben übersäten Waldbodens.

Anders als gerade eben reagierte ich blitzschnell und zerrte an ihm, sodass er nicht auf dem Rücken, sondern auf dem Bauch landete.

»Bay!«, rief ich panisch. »Dee! Dum!«

Sie eilten zu uns. Die Schattenbrüder waren unversehrt, das Gute daran, dass ihre Gestalt rauchiger und damit durchlässiger war als je zuvor. An Bays Schläfe rann eine rote Linie hinunter, aber es schien ihm nichts auszumachen.

»Er … Er hat mich beschützt. Und jetzt –« Schockiert musterte ich die Wunden.

So viele Splitter und so viel Blut.

»Schaffen wir ihn ins Schloss«, meinte Bay gelassen.

War das Optimismus oder dachte er, es sei sowieso schon zu spät?

Nein, bitte nicht …

Der kleine Mann schnippte mit den Fingern der einen Hand und danach mit denen der anderen.

Ein wabernder Durchgang öffnete sich. Der bewusstlose Lewis löste sich vom Boden und verweilte ein paar Zentimeter in der Luft. Dann wurde er, wie an einer unsichtbaren Leine befestigt, hinter dem Männlein durch das Portal gezogen.

»Kommt ihr?«, drängte Bay.

Die Brüder beeilten sich, ich konnte aber nicht widerstehen, mich zur Grenze umzudrehen.

Ohne die schwebenden Bruchstücke davor war nur eine Wand zurückgeblieben, die flimmerte. So wie sie es bisher einzig an der Stelle getan hatte, die ich als Kind gefunden hatte und durch die man in die Menschenwelt schauen konnte.

»Cat!«, rief Dum und ich riss den Blick von der veränderten Grenze los.

»Erst war da ein schrilles Geräusch, dann hat der Boden gebebt und alles, was sich vorher von der Grenze gelöst hatte, ist mit einem Mal auf uns hinabgestürzt«, berichtete ich Steph, die gerade erst wach geworden war.

Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und glättete ihre abstehenden roséfarbenen Locken. »Schöner Mist.«

Dann machte sie auf ihrem Krankenbett Platz, damit ich mich zu ihr setzen konnte, was ich auch tat. Wie viele Male wir schon Witze darüber gemacht haben, dass unsere Rollen als Schwester und Patientin plötzlich vertauscht waren, konnte ich gar nicht mehr zählen.

»Wie geht es ihm jetzt?«, fragte sie mit leicht belegter Stimme.

Ich erinnerte mich unweigerlich daran, wie hektisch Heiler um Lewis herumgeschwirrt waren. Seine Schmerzensschreie waren markerschütternd gewesen und ich würde sie wohl nie wieder aus dem Kopf bekommen.

Tief atmete ich durch und verdrängte diese Bilder. »Sie haben ihm gerade noch rechtzeitig mehrere Heiltränke gegeben und die Schnitte gesäubert.«

»Etwas, was sie auch gut in der Menschenwelt gebrauchen können?«, versuchte sie offensichtlich zu scherzen, wobei das klägliche Halbgrinsen ihre Augen nicht erreichte.

»Explodierende Übergänge oder Wunderheiltränke?«

»Ich glaube, in deren Geschichte gab es schon mal Grenzen, die weggesprengt wurden.«

Wir saßen hier und scherzten über Kriege, obwohl uns bald selbst einer bevorstand, wenn uns keine andere Lösung einfallen würde.

»Hast du mittlerweile mit ihm geredet?«, fragte Steph.

»Sobald er wach und wieder bei Kräften ist, werde ich das Gespräch mit ihm suchen«, beschloss ich. »Immerhin hat er mich heute davor beschützt, zum Schweizer Käse zu werden.«

Steph lächelte schief. »Sieh es so. Schlimmer als mein Vater kann er auch nicht sein.«

Ich schnaubte belustigt, was dann zu einem Kichern wurde. Steph stimmte ein. Es tat gut, wieder mit ihr zu lachen. Das war wie Balsam für die Seele … für meine halbe Seele.

»Cathrine? Hey, du bist ja wach«, rief Al, als er in Stephs Privatbereich im Heilzimmer kam.

Er brachte frisch gepflückte Blumen mit, die er sogleich gegen die abgeblühten in der Vase neben ihrem Bett austauschte.

»Danke dir, mein Lieblingsneffe.«

Al sog scharf die Luft ein. »Hatten wir nicht darüber geredet, dass wir das irgendwie schräg finden?«

Steph zuckte wissentlich mit den Augenbrauen. »Du, mein Lieber, hast gemeint, dass du es schräg findest. Und ich ziehe dich eben gerne damit auf.«

Genervt verdrehte er die Augen und schaute dann mich an. »Im Kellergewölbe wartet jemand auf dich.«

Hatten sich Gen und Eve doch noch dazu entschieden, ihre Suche fortzusetzen?

Bitte, lass sie etwas gefunden haben.

»Ich komme später wieder bei dir vorbei.«

Dann verabschiedete ich mich von Steph, deren Augenlider erneut unendlich schwer wirkten und nicht weit davon entfernt waren, zuzufallen.

Al begleitete mich auf dem Weg an den mit Wandteppichen behangenen Steinmauern vorbei, die fast nur noch aus Löchern bestanden. Beides. Mauern und Vorhänge.

»Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist.« Al nahm meine Hand und hauchte im Gehen einen Kuss darauf.

Unsere Schritte hallten auf den Treppen, die wir im Gleichschritt nach unten eilten.

»Weißt du, was mich unendlich ärgert? Gerade als ich mich gefreut habe, dass beim Übergang mal eine Woche Stillstand geherrscht hat, passiert so was.« Vor Wut drückte ich seine Hand fester. »Jetzt ist nur noch eine dünne Schicht übrig. Wenn wir nicht bald die Seelenessenzen finden und ihre Energie wieder zum Erhalt der Grenzen nutzen, haben wir ein größeres Problem als White.«

Al nickte. »Die Menschenwelt und Mirror werden dann für jeden offenstehen. Wenn die Wondies sich zufällig in die Welt der Menschen verirren und plötzlich vor einem heranrasenden Lastwagen wiederfinden, verlieren sie bestimmt ihren Verstand.«

»Das wäre pure Ironie.« Ich stöhnte und ließ die Schultern hängen.

»Wenn wir schon von Wahnsinn reden«, sagte Al in schuldbewusstem Ton. »Wir treffen nicht Gen und Eve.«

Ich blieb stehen.

Al rieb sich den Nacken und fletschte die Zähne, was vermutlich ein Grinsen werden sollte.

Bevor ich nachhaken konnte, hörte ich sie.

Ich riss die Augen auf. »Nein! Tu mir das nicht an.«

Da er mich immer noch an der Hand hielt, konnte ich nicht einmal über eine Flucht nachdenken und musste mich ergeben, denn sie kamen sowieso schon auf uns zu.

»Hallo, Traumwandlerin«, sagte das eierförmige Männlein.

»Hallo, hallo, haaalllooo!«, echote der verrückte Hase hinter ihm.

Die Augenlider zuckten wild, genauso wie es die langen Löffel taten. Das zottelige Fell schien noch ungepflegter zu sein als sonst.

Ich atmete tief durch und blähte dabei die Nasenflügel auf. »Humpty, Hopp.«

Ich hatte nicht damit gerechnet, sie so schnell wiederzusehen. Oder überhaupt wiederzusehen.

»Wir haben dich auch vermisst«, meinte Humpty in einer Tonlage, die vor Missbilligung triefte.

»Was wollt ihr?«, fragte ich mit verschränkten Armen.

Al räusperte sich. »Sie meinten, sie hätten eine Idee, wo sich die Seelen befinden könnten.«

»Sie sind überall und nirgendwo.« Humpty grinste in sich hinein. »Nicht wahr, Hoppler, mein Freund?«

Hopp band sich die Löffel unter seinem viel zu menschlichen Kinn zusammen. »Irgendwo, nirgends, drüber, drunter und links heruuuuuum.« Seine Augen drehten sich wie ein Karussell.

»Du hättest wissen müssen, dass sie wieder nur Schwachsinn von sich geben«, tadelte ich Al.

Er erwiderte nichts darauf, was ich als stille Zustimmung wertete.

»Warte, warte.« Humpty hob eine seiner dicklichen Hände. Dann beäugte er das leere Kellergewölbe kritisch. »Die Königin dachte eine Sache gerne in unserer Gegenwart.«

»Wann habt ihr bitte Heart getroffen?«, fragte ich misstrauisch.

»Verrückte Heart! Verrückte Heart!«, kreischte Hopp und in seinem Gesichtsausdruck lag Panik.

Humpty hüstelte in seine Faust. »Wir werden darauf nicht weiter eingehen. Als wir die Königin trafen, hat sie an Richtungsanweisungen gedacht, um mich davon abzuhalten, ihr Geheimnis aufzudecken. Sie wusste, dass ich Gedanken lesen kann.« Er streckte die Brust heraus. »Aber wer weiß das schon nicht?«

»Ja, du kannst sehr stolz auf dich sein«, murmelte ich zur Seite. »Einen klasse Ruf hast du da.«

»Ich bin der beste Gedankenleser in ganz Wonderland.«

»So gut, dass du ihre Gedanken angeblich bis jetzt vergessen hattest?«, erkundigte sich Al und beäugte Humpty grimmig.

»Ganz langsam, Hübschling.« Humptys Blick verfinsterte sich. »Zweifle nie an meinem Genie, Junge.« Er erhob verärgert den Finger und drückte ihn gegen Als Brust.

Da konnte ich mir ein Auflachen nicht verkneifen, auch wenn es fehl am Platz war. »Okay, Dickerchen. Warum sind wir hier und reden nicht oben, wo es wärmer ist?«

»Weil«, selbstbewusst reckte er die Stirn gen Kellerdecke, »hier etwas Wichtiges ist, das mit den Seelen in Verbindung steht. Das weiß ich genau. Wir müssen nur herausfinden, was es ist.« Grübelnd schielte er auf den Steinboden und seufzte.

Hopp eilte auf seinen Kameraden zu. »Oh, nachdenklicher Humpty-Humpty.«

»Lass mich, du dummer Hase«, schniefte der Eierkopf, der plötzlich sehr aufgelöst war.

Wahnsinn. Purer Wahnsinn.

Hopp ging blind rückwärts und stolperte. Er hielt sich an einem herausstehenden Mauerstein fest, um nicht auf dem feuchten Kellerboden zu landen.

»Knapp, knappetie-knapp«, quasselte er und tätschelte mit seiner menschenähnlichen Pfote, Hand, was auch immer, den rettenden Stein.

Wie ein Hebel sackte dieser nach unten.

»Was …«, hauchte Al erstaunt.

Ich schüttelte den Kopf und zwinkerte ein paarmal.

Eine Geheimtür. Genau gegenüber dem Stein, den Hopp weiterhin schockiert anstierte.

Der Staub, der in dem Licht hinter der Öffnung tanzte, und das Gestein, das von oben herabbröckelte, deuteten darauf hin, dass der kleine Eingang schon länger nicht mehr geöffnet worden war.

»Ihr zwei Verrückten«, stieß ich aus und lachte über ihre gewinnbringende Schusseligkeit.

»Sieh mal einer an, Hasenpfoten bringen also doch Glück«, witzelte Al.

Ich schmunzelte, trat gebückt in das Versteck und richtete mich auf der anderen Seite wieder auf.

Vor mir lag ein von Leuchtsteinen erhellter Gang, der allerdings nicht lang war. Schon nach ein paar Metern führte eine schmale Holztreppe noch weiter nach unten.

»Willst du da wirklich runter?«, fragte Al und musterte das Loch, durch das wir klettern müssten, um voranzukommen.

Ich nickte kräftig. Blut rauschte in meinen Ohren. Adrenalin schoss mir aufgrund des Lichtblicks durch die Adern.

»Da könnten die Essenzen sein. Warte gerne draußen bei Humpty und Hopp.«

»Wie lange kennst du mich schon? Als würde ich dich alleine gehen lassen. Aber ich nehme an, du willst den Vortritt?« Wie gut Al mich doch einschätzen konnte.

Mutig kletterte ich in die Dunkelheit, die sofort durch weitere Leuchtsteine erhellt wurde, sobald ich den ersten Fuß auf die Fliesen setzte.

»Verdammt«, entfuhr es mir, als ich sah, wo ich gelandet war.

Al stellte sich neben mich. »Was ist?« Er schaute ebenfalls in Richtung der parallel nebeneinander aufgestellten, länglichen Holztische.

»Ich habe eine schreckliche Vermutung«, murmelte ich und lief auf die zugezogenen Vorhänge zu.

Glassplitter knirschten unter meinen Schuhsohlen.

Bitte, lass es nicht den Raum sein. Bitte.

Dann riss ich den schweren Stoff beiseite und schloss die Augen.

Verdammt!

»Was? Wieso können wir hier nach draußen sehen?« Al schob Scherben von dem Fensterbrett und lehnte sich dann durch den Rahmen.

»Ich weiß, es ergibt keinen Sinn.« Nie hätte ich gedacht, diesen Raum gerade unterirdisch zu finden.

O Wonderland, du und deine Kuriositäten.

»Was ist das hier?«

Ich drehte mich von den leeren Fensterrahmen und dem bunten Efeu weg, der sich im Laufe der Jahre um das Gemäuer gelegt hatte, und räusperte mich.

»Hier hat Heart ihren Sohn getötet.« Bei der Erinnerung an die grausame Szene, die mir Hettie gezeigt hatte, verkrampfte sich mein Magen. »Nachdem der König damals von White ermordet wurde, hat Heart auf Anraten von Ileria ein Experiment gewagt.« Ich fuhr mit den Fingerspitzen über das Holz eines Tisches. »Hier war die verweste Leiche des Königs aufgebahrt. Dort«, ich deutete auf die Tafel daneben, »schlief ihr Erstgeborener Break.«

Al trat hinter mich und legte seine warmen Hände auf meine Schultern.

»Heart meinte, Ileria hätte ihr von der Macht erzählt, die sie durch den Raub einer Kinderseele erhalten würde. Es war ihr erster Versuch überhaupt, eine Seele zu nehmen. Die von ihrem eigenen Sohn. Sie wollte nur einen kleinen Teil, um den König wieder zum Leben zu erwecken. Stattdessen …« Ich schluckte die Bitterkeit hinunter, die mir in die Speiseröhre kroch. »Stattdessen ist ihr alles um die Ohren geflogen und Gils Bruder hat sich in einen Haufen Asche verwandelt. Das war das Einzige, was sie geschafft hat.«

Ich drehte mich zu Al und schlang meine Arme um ihn. Er fuhr tröstend mit seinen breiten Händen über meinen Rücken.

»Seine Schreie … Es war entsetzlich. Er muss so unvorstellbare Schmerzen gehabt haben.«

Ich schniefte in Als Halsbeuge, weil mich die Emotionen übermannten. Bei Hetties Lesung hatte ich jedes Gefühl tausendmal verstärkt wahrgenommen. Es war grausam gewesen, was meine Mutter hier mitangesehen hatte.

»Du Göre! Ich habe dich nicht zu einer Heulsuse ausgebildet«, ertönte eine Stimme, die das Blut in meinen Adern gefrieren und meine Tränen versiegen ließ.

Ich zog meinen Kopf zurück und starrte Al an.

Seine aufgerissenen Augen verrieten mir, dass auch er sie gehört hatte.

»Hier drüüüben«, sang es fröhlich.

Wir drehten uns und suchten hektisch den Raum ab.

Dann blieb mein Blick an dem Kaminsims hängen, über dem ein riesiger Spiegel angebracht worden war.

»Das kann doch nicht w–«

»Oh, und wie wahr es ist, Kind«, zischte sie in einem überlegenen Ton, der mir durch Mark und Bein ging.

Heart.

Einige Sekunden, gefühlte Stunden später erwachte ich aus meiner Trance und kniff meine Augen zusammen. Sie brannten, als beschwerten sie sich darüber, dass ich mit ihnen eine kleine Unendlichkeit auf der Königin Spiegelbild gestarrt hatte.

»Das ist ein Trugbild!«, stieß Al hervor.