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Myriam lädt die Leser zu einer ungewöhnlichen, stürmischen und schicksalhaften Lebensreise ein. Wohlbehütet wächst Myriam, Tochter jüdischer Eltern, in Berlin auf. Als 18jährige lernt sie auf einer Veranstaltung den adeligen jungen und abenteuerhungrigen Benedikt kennen, während sie ihren Vater, der als Organisator der Feier engagiert ist, als Bedienung, unterstützt. Baron von Lipps empfängt in seiner Villa geladene Gäste, um den knappen Wahlsieg der Demokraten 1932 bei den Maiwahlen gegenüber der NSDAP, gegründet von Adolf Hitler, zu feiern. Myriam und Benedikt verlieben sich. Benedikt will, gegen den Willen seiner Familie, mit Myriam ein gemeinsames Leben gründen. Sie wollen in eine ungewisse Zukunft nach Südafrika mit Benedikts selbst gebautem Flugzeug fliehen. Doch während des Fluges stürzen sie kurz vor der Küste Tunesiens ab. Ohne von dem Schicksal des anderen zu wissen, überleben beide und beginnen ein eigenes neues Leben in unterschiedlichen Kontinenten. Sie sind überzeugt, dass der andere beim Absturz gestorben ist. Benedikt führt ein trostloses Leben in Tunis und Myriam unterstützt ihre Eltern in einem Motel in Amerika, die als Juden zu ihrer Sicherheit ausgewandert sind. Nach einigen Jahren will ihr Schicksal, dass sie sich Myriam und Benedikt in Amerika wieder begegnen. Myriam ist unglücklich verheiratet. Benedikt kommt von Tunesien, um seinen Vater zu beerdigen. Beide stellen fest, dass sie sich immer noch lieben. Tragische Umstände, bösartige Intrigen und Schicksalsschläge führen beide nach Tunesien und wieder werden sie getrennt. Lebensgefährliche Abenteuer müssen überstanden werden. Der ständige Wechsel vom höchsten Glück zur niederschmetternden tiefen Trauer des Verlustes bestimmen Myriams und Benedikts Wege. Doch Myriam ist eine Kämpfernatur. Eisern geht sie über die Stolpersteine, die ihr das Leben hinwirft.
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Seitenzahl: 208
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Myriam
eine Liebesgeschichte
Lisa Winter
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.de abrufbar.
© 2022 Lisa Winterscheid
Gestaltung: Dr. Bernd Floßmann www.ihrtraumvombuch.de
Covergrafik: Patrizia Wood
Es war einmal ein Maharadscha, der war Herrscher über eine große Oase, um die sich seine wunderschöne fruchtbare Stadt erstreckte. Sein Volk war glücklich, denn es konnte sorgenfrei das Leben genießen. Jeder von ihnen war gleichgestellt.
Als sich der Sohn des Maharadschas in ein Blumenmädchen verliebte, war der Maharadscha erzürnt und bat den Zauberer, ihm zu helfen, diese Liebe zu entzweien. Als Gegenleistung forderte der Zauberer, alle Quellen, die in die Stadt flossen, zu versiegeln. Nur so konnte sein Zauber wirken. Er könne das Mädchen in einen ewigen Schlaf versetzen, aus dem sie nie wieder aufwachen sollte. Nur der Duft einer roten Rose könne diesen Zauber auflösen. So ließ der Maharadscha alle Quellen versiegeln. Der Boden trocknete aus, alle Blumen und Pflanzen verdorrten und sein Volk verließ die ehemals fruchtbare Oase. Nur der Maharadscha und sein unglücklicher Sohn blieben. Der Sohn erfuhr von dem Fluch des Zauberers und ebenso, dass seine große Liebe durch den Duft einer roten Rose zum Leben geweckt werden könnte. So machte er sich mit dem Vater des Blumenmädchens auf den Weg, um eine rote Rose zu finden. Tatsächlich fanden sie eine lebende Wurzel, die von einem Rosenstock stammte. Direkt neben der Gartenmauer pflanzten sie im Schatten behutsam die Wurzel in den trockenen Boden und legten das Mädchen an diesen Platz. Die Wurzel schien jedoch ebenso tot zu sein, wie der trockene Boden, in dem sie gepflanzt war. Nach einigen Tagen verlor er die Hoffnung und weinte hoffnungslos. Die Tränen tropften auf den trockenen Boden über der Wurzel. Er konnte seine Tränen nicht stoppen und weinte über den Tag und bis in die Nacht hinein. Erschöpft schlief er neben seiner Geliebten auf dem staubigen Boden ein. Als die Sonnenstrahlen ihn weckten, erblickte er einen dichten Rosenstock, der sich über die gesamte Wand ausgebreitet hatte. Grüne Blätter und scharfen Dornen bildeten eine dichte Hecke. Sorgfältig suchte er nach einer Knospe und fand sie auch. Eine einzige. Das Herz des Prinzen sprang vor Freude in seiner Brust, Hoffnung auf ein Erwachen seiner Geliebten. Ungeduldig wartete er auf das Erblühen der Knospe. Endlich, am frühen Abend öffnete sich die Knospe. Sie war nicht rot, sie war weiß, weiß, wie seine Tränen. Alle Hoffnungen hatten sich zerschlagen. So glaubte er, dass seine Liebe unerfüllt bleiben würde. Verzweifelt stürzte er sich in die Dornenhecke. Schmerzhaft bohrten sich die scharfen Dornen in sein Fleisch. Das Blut floss über die Rose und färbte sie dunkelrot. Bevor er sein Bewusstsein verloren hatte, hörte er die schwache Stimme seiner Geliebten.
Baron Siegmund von Lipps, Politiker der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, feierte mit Freunden und Parteigenossen in seiner Villa im Grunewald in Berlin die Niederlage Adolf Hitlers bei den Maiwahlen 1932. Die Demokraten errangen eine knappe Mehrheit von 52 Prozent gegenüber der neugegründeten radikalen Partei NSDAP, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei.
Der leitende Angestellte des Kaufhauses „Tietz“, Manuel Weiss, jüdischen Glaubens, wurde mit der Durchführung der Feierlichkeit beauftragt. Seine gerade 18 Jahre alt gewordene Tochter Myriam unterstützte ihn als Serviererin. Leidenschaftlich verfasste Myriam Gedichte. Ihr erster Band sollte bald veröffentlicht werden. Ihr Vater war eher pragmatisch zu ihrer Veranlagung eingestellt. Etwas Vernünftiges sollte ihre Zukunft gestalten. Am besten sollte sie auch in dem Kaufhaus arbeiten, in dem er gut bezahlt war.
„Sehr verehrte Gäste, danke, dass Sie heute dabei sind, um unseren Wahlsieg zu feiern“, begann der Baron seine Eröffnungsrede.
„Wir haben viel gearbeitet und viel erreicht. Deshalb fasse ich mich kurz. Die Mehrheit unserer Wähler erteilte den radikalen Wählern eine klare Absage und bejahten die demokratischen Bewegungen in unserem Deutschland.“
Die um ihn versammelten Anwesenden klatschten mit Beifall.
„Bitte erfreuen Sie sich an unserem Buffet.“
Unter dem Beifall der elegant gekleideten Gäste, trugen eine Schar livrierter Diener köstliche Speisen auf silbernen Tabletts in den Saal. Prachtvolle Kronleuchter erstrahlten die eleganten Räume. Auf schweren Orientteppichen standen wertvolle Antiquitäten, die der Baron auf seinen Auslandsreisen erworben hatte.
Myriam war eifrig bemüht, ihrem Vater, der in der Küche die Köche beaufsichtigte und an der Organisation der Kellner beschäftigt war, zu helfen. Sie sah entzückend aus. Die weiße Schürze über ihrem schwarzen Kleid betonte ihre schlanke Figur.
Das weiße Häubchen saß perfekt auf ihren dunklen Locken, die ihr ovales Gesicht umrahmten. Große, fast schwarze Augen leuchteten im flackernden Licht der Wunderkerzen, die bei der Präsentation der Speisen angezündet wurden. Freundlich servierte sie den Gästen Champagner. Einige Herren und Damen verfolgten sie mit bewundernden Blicken.
Baron von Lipps war zufrieden und ging auf Markus, seinen jüngeren Sohn zu.
Markus war mitten in einer Unterhaltung mit hübschen jungen Damen. Der Baron beobachtete, wie sich Markus sich unter dem Vorwand, eine professionelle Tennisrückhand zu erklären, eng von hinten, an eine der Damen anschmiegte. Die Angesprochene kicherte angeregt.
„Wie ich sehe, amüsierst du dich ausgezeichnet, lieber Sohn.“
Den missfälligen Ton seines Vaters nahm Markus ungern zur Kenntnis.
Myriam kam hinzu und reichte das Tablett, auf dem gefüllte Gläser standen, den Gästen.
„Oh, welche Schönheit reicht uns den Nektar!“, rief Markus und wendete sich von seiner Eroberung ab und Myriam zu. Verlegen lächelte sie unverbindlich und wollte weiter zu den anderen Gästen gehen, nachdem sie die Gruppe versorgt hatte.
Markus verstellte ihr den Weg. Sie drehte sich verlegen ab und ging ihrer Arbeit nach.
Doch für Markus hatte die Jagd begonnen. Er folgte ihr, nahm ein volles Glas von dem Tablett und trank es in einem Zug aus.
„Sie sollten damit aufhören. Sie werden sich noch vergiften“, sagte Myriam genervt.
„Ich nehme den Tod gerne gelassen hin, wenn ich hiermit ihre Aufmerksamkeit auf mich wenden kann.“
Bevor sie sich wieder von ihm abwendete, sagte sie ärgerlich, doch gefasst: „Nein, ich versichere Ihnen, was Sie anstellen, ist vollkommen aussichtslos.“
Markus war jetzt noch mehr von dieser für ihn noch reizvoller gewordenen Frau angetan und behielt sie im Auge.
Doch einer fehlte in der Gesellschaft. Benedikt. Der ältere Sohn von den von Lipps. Er war 21 Jahre alt. Im Dachgeschoss der Villa sitzt Benedikt an seinem überladenen Schreibtisch. Konzentriert arbeitete er an technischen Zeichnungen eines Flugzeuges. Tief versunken überhört er das Klopfen seines Vaters an der Tür. Der Baron trat ein.
„Benedikt, arbeitest du immer noch an deinen verrückten Plänen?“
„Ich habe die Distanzen für die Zwischenstopps noch nicht berechnet. Das ist wichtig, Vater.“
„Komm doch runter, jede freie Stunde arbeitest du. Tag und Nacht. Du solltest mit uns feiern. Es sind auch junge Leute da, und essen musst du schließlich auch.“
„Du weißt, was ich von diesen Festen halte, lieber Vater. In meinen Augen ist das nur Geld- und Zeitverschwendung.“
Mit Unverständnis schüttelte der Vater seinen Kopf. Benedikt legte den Bleistift auf die Seite, lehnte sich zurück und strich sich müde eine blonde Haarsträhne aus der Stirn. Benedikt war ein hübscher junger Mann. Athletische Figur, mittelgroß, blondes, ungebändigtes dichtes Haar mit wasserblauen Augen. Im Gegensatz zu seinem Bruder Markus. Dieser war 19 Jahre alt, 1,85 m groß, schlank und dunkelhaarig. Manchmal wunderte sich der Baron darüber, wie verschieden die Brüder waren. Nicht nur im Aussehen.
„Es soll ein Rekordflug werden, Vater. Berlin- Kapstadt in 10 Tagen. Wenn ich den Rekord von 11 Tagen von Elli Beinhorn schlagen will, muss ich alles auf die Minute berechnen und muss noch heute Nacht den neuen Propeller einbauen. Geh wieder zu deinen Gästen, Vater. Mach dir keine Sorgen um mich.“
Damit wendete er sich wieder seinen Berechnungen zu. Der Vater bemerkte, dass es zwecklos war, seinen Sohn zu überreden.
„Gut, dann geh ich wieder. Trotzdem solltest du deine Meinung ändern und zu uns kommen. Deine Mutter macht sich wirklich Sorgen um dich, lieber Sohn.“
Benedikt schüttelte den Kopf.
„Nein, ich komme nicht. Ich kann meine Arbeit nicht im Stich lassen, nicht jetzt. Vielleicht später. Erst muss ich zum Flugzeug. Heinrich wartet auf mich.“
„Bevor ich gehe, sage ich dir noch etwas. Es gibt einiges, was wir zu besprechen haben. Ich brauche deine Unterstützung. Veränderungen stehen an, die uns alle betreffen.“ Seufzend drehte sich der Baron zur Tür und verließ das Zimmer.
Als er die Treppe runterkam, sah er Markus, der sich einen alten Degen seiner Sammlung griff. Er stand vor Myriam und tat, als wolle er sein Leben vor ihren Augen beenden.
„Geliebte schöne Frau. Wenn du mich verschmähst, so will ich sterben“, rief er theatralisch. Als er seinen Vater bemerkte, zückte er sein Taschentuch und hauchte die Klinge des Degens an und polierte sie damit.
Myriam verschwand, froh darüber, dass sie Markus entkommen konnte.
„Wenn ich mir überlege, was allein deine Erziehung im Schweizer Internat gekostet hat …“, sagte er wütend im Vorbeigehen, ging zu einer Gruppe älterer Herren und wechselte einige Worte. Sie begaben sich in die Bibliothek. Nach dem der französische Cognac und Havanna-Zigarren von einem Butler gereicht waren, und er diskret den Raum verlassen hatte, meldete sich von Lipps zu Wort: „Behringer, ich möchte mal wissen, was es zu lachen gibt. Leisewitz, worüber amüsieren sie sich? Etwa darüber, dass die Schlägertruppen der NSDAP die ganze Stadt terrorisieren? Oder, dass vier untereinander total zerstrittene demokratische Parteien gerade mal 53 Prozent der Stimmen ergattern konnten?“
Beide waren sichtlich verlegen und verstummten.
Nachdem er einen tiefen Zug seiner Havanna inhaliert hatte fuhr er fort:
„Meine Herren, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Hitler an die Macht kommen wird. Es wird gemunkelt, dass er schon jetzt eine schwarze Liste führt, in der seine politischen Gegner erfasst sind. Vielleicht lachen Sie darüber?“
Behringer fühlte sich angegriffen und konterte: „Übertreiben Sie nicht etwas, lieber Baron? Schwarzseherei hilft uns jetzt auch nicht weiter. Ihre negative Einstellung zu Hitler ist allgemein bekannt. Doch bleiben Sie objektiv. W i r haben die Wahl gewonnen, noch sind w i r am Ruder!“
Ruhig antwortete von Lipps: „Ihren Optimismus in Ehren, doch im Moment erscheint er mir makaber. Es gibt noch eine Möglichkeit, den Radikalen den Schneid abzukaufen. Schlüssel zu diesem Problem ist die Wirtschaftskrise in unserem Land und die daraus resultierende Arbeitslosigkeit. Sollte es uns gelingen, die Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen, den Menschen Hoffnung zu geben, dann hätten wir eine Chance, diesen braunen Rattenfängern den Wind aus den Segeln zu nehmen.“
Die Anwesenden nickten zustimmend.
„Meine Herren, wir müssen dem Bürgertum ein Zeichen setzen, ein Licht im Tunnel zeigen und unsere Rechtsstaatlichkeit beweisen. Dieses Bankett ist eine Art Abschied. Wie einige von Ihnen wissen, plane ich eine längere Auslandsreise. Mein Ziel ist, einen Aufschub der französischen Reparationszahlungen zu bewirken und Kredite von unseren Nachbarstaaten und auch von Amerika zu bekommen. Wenn wir diese Mittel gezielt für Arbeitsplätze einsetzen, könnte dies das Licht im Tunnel sein.“
Nun löste sich im Raum die Starre des Schweigens. Die Teilnehmer redeten aufgeregt miteinander im Stimmenwirrwarr.
„Völlig sinnlos, mit den Franzosen zu verhandeln.“
„Wenn das so einfach wäre, lieber Baron.“
„Diese Idee ist nicht schlecht, wenn wir Garantien haben könnten.“
„Bleiben Sie sachlich, Ihre persönliche Antipathie gegenüber Hitler können Sie doch nicht zum Parteikurs erklären.“
„Ja, die Sozialisten sind genauso unsere Gegner, wie die NSDAP!“
„Unterschätzen Sie nicht den deutschen Wähler, lieber Baron!“
Währenddessen setzte Markus im Salon seine Annäherungsversuche ungehindert fort. Ruhig stand er mit seinem Champagnerglas in einer Ecke, doch seine Blicke verfolgten Myriam unentwegt. Myriam fühlte seine durchbohrenden Blicke von ihm.
Er wollte sein leeres Glas auf dem offenen Kamin abstellen, an dem er sich anlehnte. Dabei stieß er sein Glas an ein anderes abgestelltes Glas, das zu Boden fiel. Myriam kam sofort, um das Malheur zu beheben. Markus freute sich und warf provokativ ein anderes Glas auf den Boden, während Myriam die Scherben sorgfältig auflas und sie wegtragen wollte. Wütend schaute sie ihn an. Ihre dunklen Augen färbten sich fast schwarz und funkelten. Entschuldigend hob er beide Arme hoch.
„War ein Versehen, verzeihen Sie, schöne Frau.“
Schweigend räumte Myriam die restlichen zwei leeren Gläser auf ihr Tablett und ging hoch erhobenen Hauptes zur Küche. Dass Markus ihr folgte, bemerkte sie in ihrer unterdrückten Wut nicht. In der Küche knallte sie das Tablett auf die Anrichte. Das penetrante Benehmen dieses adeligen Sprösslings hatte sie aus der Fassung gebracht. Niemand war in der Küche. Bis die Tür aufging und Markus eintrat.
„Tut mir wirklich leid. Ich hatte wohl ein Glas zu viel getrunken. Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Wie heißen Sie denn?“
Gereizt erwiderte sie: „Ich weiß nicht, was das zur Sache tut, aber mein Name ist Myriam Weiss.“
„Oh, Myriam, die Schönheit aus dem Jordanland. Ich bitte untertänigst um Vergebung.“ Sein Ton klang spöttisch.
„Sparen Sie sich Ihre Entschuldigung. Trinken Sie weniger und lassen Sie mich gefälligst meine Arbeit machen. Außerdem bin ich in Berlin geboren“, sagte sie trotzig und wollte die Küche verlassen. Er hielt sie am Arm fest.
„Also doch. Sie sind mir doch böse. Wie kann ich das wieder gut machen, liebe Myriam?“
Als sie versuchte, sich frei zu machen, hielt er sie noch fester am Arm fest.
„Bleiben Sie doch bitte. Ich habe eine Idee, wie ich Sie besänftigen könnte“, dabei lachte er und nahm seine Hand von ihrem Arm.
„Pontius Pilatus. Ja, ich werde Sie mit Pontius Pilatus bekannt machen. Kommen Sie, er wird Ihnen gefallen.“
„Mit wem?“
„Mit dem Sieger aller Wettbewerbe. Dem reinrassigen Stern am Firmament des Pferde-Rennsportes. Unserem Deckhengst. Sie müssen Ihn einfach sehen. Er ist ihrer Schönheit ebenbürtig.“
Wie ein Raubtier seine Beute jagt, näherte er sich an Myriam, packte sie grob an den Schultern, presste sich an sie und versuchte sie zu küssen. Sie stieß ihn zurück und schrie ihn an, damit aufzuhören.
Doch nun war sein Jagdfieber endgültig entfacht, fast drohend klang seine Stimme: „Kleine schöne Myriam, wenn du nicht mitkommst, werde ich alle hier stehenden wertvollen Gläser zerschlagen.“
Während er das sagte, nahm er ein Glas und ließ es lächelnd auf den gefliesten Küchenboden fallen. Klirrend fiel es auf den Boden. Entsetzt und sprachlos sah sie zu.
„Wenn du in den Stall mitkommst, werde ich sagen, dass ich das Glas zerbrochen habe, dann hast du nichts zu befürchten. Doch wenn nicht …“, lauernd griff er zum nächsten Glas.
„Kommst du nun mit in den Stall? Ist doch gar nichts dabei. Ich kann aber auch sagen, dass du es warst. Dann gibt es Ärger, oder?“
Myriam versuchte an ihm vorbei zu dem Lieferanteneingang zu laufen, doch Markus verstellte ihr den Weg.
„Nein, nirgendwo gehe ich mit Ihnen hin, ich warne Sie!“
„Du warnst mich? Hier!“ Er nahm ein weiteres Glas und ließ es fallen. Dünne Glassplitter und Scherben glitzerten auf dem blanken Fußboden. Myriam schrie: „Ich habe Sie gewarnt.“ So laut, wie sie konnte, schrie sie: „Hilfe, Hilfe!“
Schnell hatte er sie gepackt und ihr mit der einen Hand den Mund zugehalten und mit der anderen versuchte er, ihr das Kleid hochzuziehen. Während Markus ihr den Mund zuhielt, zerrte er an ihrem Kleid. Sein heißer, nach Alkohol riechender Atem streifte ihr Gesicht. Das Kleid war schon über ihren Knien und Myriam wehrte sich, so gut, wie sie konnte. Die Situation schien zu eskalieren. In diesem Augenblick erschien der Majordomus des Hauses. In seiner Verlegenheit schaute er weg, drehte sich zur Küchenanrichte, räusperte sich und kramte in einer Küchenschublade. Unfähig, Myriam zu helfen. Markus war zornig. Er wollte unbedingt die Situation mit Myriam in den Griff bekommen.
„Verschwinde, alter Mann. Du merkst doch, dass du störst.“ Seine Stimme war belegt und klang gefährlich.
Mit gesenktem Haupt verließ der Majordomus die Küche. Genau in diesem Moment nutzte Myriam die Gelegenheit und rannte durch den Lieferanteneingang hinaus. Nachdem Markus in seinem Jähzorn die restlichen Gläser von der Anrichte gefegt hatte, setzte er Myriam nach.
Währenddessen hatte Benedikt im Flugzeughangar an seinem Doppeldecker den Motor geschmiert und die Halteseile überprüft. Kräftig rüttelte er an einer der Stützstreben. Durch das Rütteln fiel ein Schraubenschlüssel, der auf der Tragfläche lag, dem Mechaniker und Helfer Heinrich auf den Kopf. Lautstark gab Heinrich handfeste Flüche von sich. Cesar, der grau melierte Labrador, flüchtete vom Cockpit und knurrte gereizt. Ein plötzliches Hämmern an der Tür des Hangars unterbrach die Situation. Überrascht schaute Heinrich, der sich die eine kleine Wunde auf dem Kopf rieb, zu Benedikt. Dieser zuckte mit seinen Schultern und fragte sich, wer wohl an der Tür heftig klopfte. Als Benedikt die Tür öffnete fiel ihm Myriam in die Arme. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihr Häubchen hing schräg auf ihrem Kopf, das lockige Haar war zerzaust. Panikartig drängte sie Benedikt in den Hangar. Lautes Gepolter und unverständliche Rufe drangen zu ihnen. Myriam flehte ihn an: „Bitte helfen Sie mir. Er ist betrunken. Er weiß nicht, was er tut.“
Jetzt erkannte Benedikt die Stimme, die aus der Dunkelheit drang. Angewidert betrachtete er Markus, als dieser schwer atmend im Türrahmen stand. Fragend dreht sich Benedikt zu Myriam.
„Hat er Sie belästigt?“
In Tränen aufgelöst nickte sie. Benedikt seufzte auf und packte Markus an den Schultern: „Es reicht Markus! Verschwinde und schlafe deinen Rausch aus.“
Doch Markus war zornig.
„Misch dich nicht ein, du hast es nötig. Du spielst doch so gerne den Engel. Du und Vater, ihr seid doch nur verlogene Heuchler. Ihr macht doch alles nur hinter verschlossenen Türen. Ihr wollt mir Vorwürfe machen?“
„Wir werden morgen darüber reden. Jedes Wort ist im Moment zu viel. Verschwinde!“, erwiderte Benedikt in harschem Ton.
Unfähig, etwas zu erwidern, dreht sich Markus um und schmetterte krachend die Tür hinter sich ins Schloss.
„Ich kann wirklich nichts dafür. Er wurde zudringlich. Er hatte die wertvollen Gläser zerschlagen, um mich zu zwingen, mit ihm in den Stall zu gehen“, schluchzte Myriam. Diskret widmete sich Heinrich seiner Arbeit und tat, als ginge ihn das alles gar nichts an.
Mit sanften Worten versuchte Benedikt sie zu beruhigen. Er kannte seinen Bruder, wenn er betrunken war. Mehrmals schon musste er Markus für die Familie aus peinlichen Situationen befreien. Oft aus übler Gesellschaft, die auf einen Adeligen keine Rücksicht nahmen, auch wenn sich Markus hinter seinem Titel zu verstecken versuchte. Nicht nur einmal wurde er nachts direkt vom Bürgermeister angerufen, um Markus aus der Ausnüchterungszelle zu holen.
„Es tut mir leid, dass sich mein Bruder dermaßen danebenbenommen hat. Er ist kein schlechter Mensch. Er ist nicht mehr derselbe, wenn er zu viel getrunken hat. Ich entschuldige mich für sein Benehmen.“
In einer Ecke der Halle setzte sie sich auf einen Strohballen. Er reichte ihr eine Aluminiumtasse, die er mit warmer Milch gefüllt hatte. Dankbar schlürfte sie die Milch. Sein Hund Cesar legte sich vor ihre Füße und schaute sie mitfühlend an.
„Er scheint zu spüren, wie mir zumute ist. Er ist eben ein Hund, Hunde sind viel netter als Menschen.“
„Ich bin Mensch und spüre auch, wie Ihnen zumute ist“, antwortete Benedikt leise. Dabei sah er sie lange an. Erst jetzt bemerkte er ihre jugendliche Schönheit.
„Vielleicht ist Cesar ein verzauberter Prinz. Er fühlt, wie ein Mensch, der wach geküsst werden muss.“
Cesar drängte sich eng an Myriam und stupste sie mit seiner feuchten Nase an. Liebevoll streichelte sie sein weiches Fell. Fast hätte sie alles vergessen. Doch dann holte sie die vergangenen Stunden wieder ein. Mit starrem Blick schaute sie in die Dunkelheit aus dem Fenster.
„Warum tun Menschen so etwas? Ich fühle mich schmutzig. Warum hatte er kein Respekt vor mir? Ich habe nichts Falsches getan.“
„Kennen Sie das Märchen vom Maharadscha, dessen Sohn und dem Blumenmädchen?“
„Nein, erzählen Sie es mir bei Gelegenheit. Doch jetzt muss ich los. Mein Vater macht sich sicher Sorgen um mich.“
Zärtlich strich er eine Strähne ihrer Locken aus der Stirn, richtete ihr Häubchen gerade. Dabei schaute er ihr schweigend in die Augen. Sanft zog er sie zu sich.
„Vielleicht bin ich der Prinz, der wach geküsst werden muss, nicht Cesar“, behutsam küsste er sie auf den Mund. Die Wärme seines Körpers tat ihr gut. Der Kuss traf weich ihre Lippen. Ein unbekanntes, nie dagewesenes aufregendes Gefühl flutete durch ihren Körper. Heiß und kalt. Aus ihrer Trance erwacht, sprang sie auf und eilte hinaus in die Dunkelheit. Polternd fiel der Schraubenschlüssel von Heinrich in die Ölwanne, obwohl er versucht hatte, nicht zu lauschen. Versonnen blickte Benedikt auf den Strohballen, auf dem Myriam eben noch gesessen hatte.
Als Myriam spät in der Nacht nach Hause kam, wartete ihr Vater in ihrer Wohnung. Sie trug ihr Fahrrad auf ihren Schultern, das sie, wie jeden Abend, die Treppe zur Wohnung hochtrug. Ihr Vater hatte wohl schon einige Stunden auf sie gewartet. Mit dem Kerzenleuchter in der Hand forderte er sie auf hereinzukommen. Man hatte ihm zugetragen, dass es wohl Komplikationen zwischen dem jungen Baron Markus und ihr gegeben hätte. Streng befahl er ihr, diese Blamage zu erklären. Myriam kamen wieder die Tränen, als sie ihre Erlebnisse mit Markus erzählte. Ihr Vater hörte aufmerksam zu. Er war hin und hergerissen zwischen seinen Pflichten als Vater und als Arbeitnehmer, der dringend seine Position in seinem Kaufhaus halten musste. Die Zeiten waren schlecht. Immer mehr Menschen wurden arbeitslos. Immer mehr Unternehmen mussten aufgrund des wirtschaftlichen Desasters schließen.
„Diese Menschen sind nicht der richtige Umgang für dich. Auch wenn einer der Söhne vom Baron zudringlich gewesen ist und der andere Sohn dich gerettet hat, hast du mich blamiert. Du hättest dich strikt an die Arbeit halten sollen.“
Als er das sagte, wusste er, dass er Unrecht hatte. Seine Tochter war jung und schön, für solch einen Tunichtgut, wie diesen Schnösel von Markus, eine Herausforderung. Doch, wie konnte er erzieherisch mit bestem Gewissen handeln?
„Ja, du hast recht lieber Vater. Es ist alles schiefgelaufen, tut mir leid.“
An den leuchtend gelben Rapsfeldern vorbei galoppierte ein Reiter auf einem schwarzen Rappen. Er ritt über eine Lichtung und verschwand im Wald. Als das Pferd sich aufbäumte, hatte Benedikt Mühe, den Rappen unter Kontrolle zu bringen. Ein kleiner Fuchs zappelte in einer Falle, und sein Versuch, sich zu befreien, ließ die Schlinge immer enger um den kleinen Hals des Fuchses werden. Benedikt erkannte die Handschrift des Wilderers, der seit Wochen ihre Wälder unsicher machte, befreite den Fuchs aus seiner elenden Situation und schenkte ihm die Freiheit. Ein zweiter Reiter näherte sich und Benedikt erkannte seinen Bruder Markus. Mit brutaler Gewalt riss Markus an den Zügeln und parierte sein ebenfalls scheuendes Pferd.
„Der heldenhafte Retter Benedikt! Schon wieder. Wenn du es dir zur Gewohnheit werden lässt, lebst du gefährlich. Denn Helden sterben früh!“
Wieder bäumte sich sein Pferd auf, doch Markus hielt es fest an der Kandare.
Benedikt winkte ab, er hatte nicht vor, sich auf eines dieser Gespräche einzulassen.
Doch Markus war es recht, seinen Bruder wegen Myriam auszuhorchen. Noch war er von diesem Mädchen fasziniert. Er wollte sie besitzen und war eifersüchtig auf Benedikt. Benedikt schwang sich auf seinen Rappen.
„Na, hast du dieses Dienstmädchen bezirzt? Ich hoffe, du hattest den Erfolg bei der kleinen Jüdin, der mir eigentlich zu stand. Doch ich bin großzügig. Wir teilen brüderlich“, sagte er sarkastisch.
Benedikt hielt inne, bevor er los ritt.
„Wenn du wüsstest, wie mir deine Art mit Menschen umzugehen, zum Hals raushängt. Ich bin es leid, deine Eskapaden auszubügeln. Wenn du mit dir selbst Probleme hast, dann lasse doch bitte andere aus dem Spiel.“
„Und ich habe es satt, mir deine moralischen Tiraden andauernd anzuhören. Du bist für alle der Held. Der Held, der jeden Tag jedem beweisen will, wie anständig er ist. Doch, bitteschön, was hat denn unser anständiger Held mit der Kleinen im Flugzeugschuppen getrieben? Märchen erzählt, aus 1000 und einer Nacht?“, rief er dem davon galoppierenden Benedikt nach. Dann ritt Markus laut lachend davon und genoss es, sein Pferd die Sporen fühlen zu lassen.
Benedikt fühlte sich unbehaglich, wenn er an die Art seines Bruders dachte.
Als er sein Pferd versorgt hatte, schritt er durch das Portal der Villa ins Haus. An der Treppe hielt ihn der Majordomus auf.
„Herr Baron, dieses kleine Büchlein habe ich gestern Abend auf dem Fußboden der Küche gefunden. Es gehört sicher dem Mädchen, das ausgeholfen hatte. Ich weiß nicht, was ich damit machen soll. Können Sie mir weiterhelfen?“
Hocherfreut, bemüht seine Aufregung zu verbergen, antwortet er: „Natürlich kann ich das, geben Sie her.“
Am nächsten Morgen versammelte sich die Familie zum Frühstück auf der Terrasse. Die Sonne strahlte, der Himmel zeigte sich in kräftigem Blau und der Duft des Frühlings breitete sich aus. Die Eltern saßen am Tisch, der Diener goss für sie den Kaffee ein, bevor Benedikt erschien. Beiläufig begrüßte er seine Eltern und setzte sich unzeremoniell dazu. Markus erschien auch. Aufmerksam begrüßte er seine Mutter mit einem Handkuss und seinen Vater mit inszenierter Verbeugung. Auf einem silbernen Tablett stand ein Eiskübel mit kühlem Champagner, direkt auf einem Möbelstück daneben. Markus schenkt sich ein Glas ein und leerte es mit einem Zug. Mit resigniertem Lächeln beobachte ihn sein Vater.
„Markus, muss das schon am frühen Morgen sein? Hast du nicht genug von gestern? Wie ich hörte, hast du dich wieder mal unmöglich für einen Baron benommen.“
„Ja, Vater. Das stimmt leider. Doch Ihr seht immer nur, was ich falsch mache. Ich verpulvere wenigstens kein Geld für unsinnige Flugprojekte.“