Nach der Party - A. Beatrice DiSclafani - E-Book

Nach der Party E-Book

A. Beatrice DiSclafani

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Beschreibung

Die dramatische Geschichte einer großen Frauenfreundschaft

Texas in den 1950er Jahren: Joan Fortier ist das Epizentrum der Welt der Schönen und Reichen von Houston. Groß, blond, atemberaubend schön und unabhängig, zieht sie alle Blicke auf sich. Jeder Mann scheint sich nach ihr zu verzehren, jede Frau ihr nachzueifern. Texas ist in diesen Tagen eine starr geordnete Welt. Das Geld sprudelt hier wie das Öl aus den Fördertürmen, aber Freiheit, Macht und Einfluss haben nur die Männer. Was aber, wenn eine Frau sich aus der Norm bewegt? Und wie wirkt sich das auf ihre beste Freundin aus? Cece Buchanan ist Joans Freundin seit Kindertagen. Sie hat sich der glamourösen Freundin verschrieben, mit Haut und Haaren. Früh verwaist, sehnt Cece sich nach Zuneigung und Anerkennung und lebt als Ehefrau und Mutter die Rolle, die Frauen in dieser Welt zugestanden wird. Doch in ihrer Verschworenheit mit Joan wird sie deren Komplizin und Zeugin ihrer Eskapaden, die bis an den Rand der Selbstzerstörung gehen. Bis Cece eine Entscheidung treffen muss mit Folgen für sie beide ….

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Buch

Texas in den 1950er Jahren: Joan Fortier ist das Epizentrum der Welt der Schönen und Reichen von Houston. Groß, blond, atemberaubend schön und unabhängig, zieht sie alle Blicke auf sich. Jeder Mann scheint sich nach ihr zu verzehren, jede Frau ihr nachzueifern. Texas ist in diesen Tagen eine starr geordnete Welt. Das Geld sprudelt hier wie das Öl aus den Fördertürmen, aber Freiheit, Macht und Einfluss haben nur die Männer. Was aber, wenn eine Frau sich aus der Norm bewegt? Und wie wirkt sich das auf ihre beste Freundin aus? Cece Buchanan ist Joans Freundin seit Kindertagen. Sie hat sich der glamourösen Freundin verschrieben, mit Haut und Haaren. Früh verwaist, sehnt Cece sich nach Zuneigung und Anerkennung und lebt als Ehefrau und Mutter die Rolle, die Frauen in dieser Welt zugestanden wird. Doch in ihrer Verschworenheit mit Joan wird sie deren Komplizin und Zeugin ihrer Eskapaden, die bis an den Rand der Selbstzerstörung gehen. Bis Cece eine Entscheidung treffen muss mit Folgen für sie beide …

ANTON DISCLAFANI

Nach der Party

Roman

Aus dem Amerikanischen von Gabriele Werbeck und Andrea Stumpf

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe The After Party erschien 2016

bei Riverhead Books, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright © 2016 by Anton DiSclafani

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

beim C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: www.buerosued.de, München

Umschlagmotiv: Trevillion Images/Rekha Garton

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-19409-3V002

www.cbertelsmann.de

Für Peter Smith, der die ganze Zeit, als ich dieses Buch schrieb, an meiner Seite war, und in Gedenken an Peter DiSclafani (1928–1999)

Prolog

Es sind die Frauen, die mich noch immer nach Joan fragen. Junge Frauen, die auf ihre Geschichte und meinen Anteil daran gestoßen sind. Alte Frauen, die früher einmal die Fotos von ihr in den Klatschspalten bewundert haben: Joan, ein funkelndes Juwel am Arm eines Mannes. Dem von Frank Sinatra, Dick Krueger, Diamond Glenn. Sie wollen mehr über sie wissen. Ich sage ihnen, dass sie vor allem Furlow Fortiers kleiner Goldschatz war. Vom ersten Tag an wurde sie abgöttisch geliebt.

Später war sie die schillerndste Figur der Houstoner Gesellschaft. Die Frauen werden nie wissen, wie es war, ihr nahe zu sein, aber ich will versuchen, ihnen einen Eindruck davon zu vermitteln. An Joan war nichts Zurückhaltendes, sie war dazu geboren, alle Blicke auf sich zu ziehen. Sie war schlank, aber keine Bohnenstange. Ihre Kleider schmiegten sich an ihren Körper und lenkten die Aufmerksamkeit auf ihre wohlgeformten Hüften, ihre kräftigen Arme, ihren berühmten Busen. Wo sie auch war, floss der Champagner in Strömen. Sie machte die Menschen glücklich. Natürlich, sie war schön, aber das war nicht alles. Sie leuchtete von innen heraus.

Ich halte hier inne. Sie wollen wissen, wie sie verschwand. Aber das kann ich ihnen nicht sagen.

Ich sage nicht, dass meine Liebe zu ihr meine erste Empfindung war, meine erste Erinnerung. Seit Sandkastenzeiten war ich ihre beste Freundin, die moderne Version ihrer Kammerzofe, in jeder Hinsicht ihre Schwester – außer von Geburt.

1950, in unserem letzten Highschool-Jahr, verschwand sie zum ersten Mal. Wir fanden schnell heraus, dass sie durchgebrannt war, um in Hollywood ein Star zu werden. Und jeder, der sich einmal im selben Zimmer mit ihr aufgehalten hatte, war davon überzeugt, dass sie es schaffen würde. Sie war der Traum aller, warum nicht auch der eines Filmproduzenten? Ein Jahr blieb sie weg, dann gab sie auf und kam zurück, und das Leben, wie wir es kannten, verlief wieder in den gewohnten Bahnen, mit Joan als strahlendem, glühendem Mittelpunkt. Nach diesem Jahr in Hollywood verschwand sie immer wieder, auf tausenderlei Weise. Einen Tag, einen Abend, eine Woche lang. Selbst wenn wir zusammen waren, hatte ich das Gefühl, sie würde verschwinden.

Das war die einzige Konstante in unserer Freundschaft: Sie ging weg, und ich suchte nach ihr. Bis ich es nicht mehr tat.

Anfangs waren wir beide Joan. Joan eins und Joan zwei, bis zu jenem Tag, an dem uns unsere Kindermädchen das erste Mal in der Vorschule der River Oaks Elementary School ablieferten. Die Lehrerin, ein junges blondes Ding, das den Sprösslingen reicher Familien das ABC und die Farben beibrachte, bis ihr Verehrer ihr endlich einen Antrag machte, hielt inne, als sie die Namen aufrief. Hielt bei uns, den beiden Joans, inne. Eine blond, eine dunkel. Eine, die bereits in diesem zarten Alter eine Schönheit zu werden versprach, die andere dunkel, mit klaren, ebenmäßigen Zügen. Halbwegs hübsch.

»Wie heißt du mit zweitem Vornamen?«, fragte sie mich, das dunkelhaarige Mädchen.

»Cecilia«, antwortete ich. Ich war fünf. Ich kannte meinen zweiten Vornamen, meine Adresse, meine Telefonnummer.

»Und du?«, fragte sie, kniete sich vor Joan, nahm ihre winzige Hand und hielt sie wie ein Vögelchen.

Ich entwand der Lehrerin Joans gebräunte Hand. Schon damals mochte ich es nicht, wenn sich andere Leute Freiheiten bei meiner Freundin herausnahmen, sie anfassen wollten. Ich verstand es, mochte es aber nicht.

»Sie hat keinen«, sagte ich, und Joan nickte fröhlich. Sie hatte keine Angst vor Fremden oder vor großen Männern mit tiefen Stimmen und auch sonst eigentlich vor nichts. Im Jahr zuvor hatte sie mit dem Schwimmunterricht angefangen und sprang schon jetzt vom höchsten Brett.

»Ich habe keinen.«

»Nun«, sagte die Lehrerin, die Hände in die Hüften gestemmt.

In meiner Erinnerung trägt sie ein blassblaues Kleid mit einem zarten Blumenmuster, die Haare zu einem schlichten Pagenkopf geschnitten. Als sie vor uns kniete, um mit uns zu sprechen, konnte ich den Spitzenrand ihres Unterrocks sehen. Es war das Jahr 1937, und sie wartete sicher sehnsüchtig darauf, zu heiraten, ihren eigenen Kindern das Abc beizubringen, ihnen die vielen Farbtöne der strahlenden, bunten Welt zu zeigen.

»Dann wollen wir dich von jetzt an Cecilia nennen. Nein, Cece. Das klingt netter. Und du« – sie lächelte Joan beruhigend an – »keine Sorge, du bleibst Joan.«

Unsere Mütter waren nicht befreundet, aber sie pflegten gesellschaftlichen Umgang miteinander. Wir hatten uns über unsere Kindermädchen kennengelernt, Idie und Dorie, die Schwestern waren. Die beiden hatten möglichst nah beieinander in River Oaks arbeiten wollen und nur eine Straße voneinander entfernt eine Anstellung gefunden, bei Mary Fortier und Raynalda Beirne, zwei sehr unterschiedlichen Frauen. Die Unterschiede waren wie so oft in Geld begründet. Mary, Joans Mutter, war in einfachen Verhältnissen im texanischen Littlefield aufgewachsen. Als sie Joans Vater kennenlernte, war sie noch in der Highschool. Er war fünfzehn Jahre älter als sie und bereits damals vermögend. Mary war sich bewusst, wie viel Glück sie gehabt hatte, wie unwahrscheinlich es gewesen war, dem staubigen, gottverlassenen Littlefield zu entkommen. Als Mary nicht mehr damit rechnete, jemals ein Kind zu bekommen, wurde sie mit Joan schwanger. Joan machte Furlow zum Daddy, Mary zur Mutter, und beide schienen ihr für alle Zeiten dafür dankbar zu sein. Furlow, der aus Louisiana stammte, im Ölgeschäft tätig war und selbst während der Wirtschaftskrise sein Geld vermehrte, glaubte an göttliche Vorsehung, wie es vom Glück Begünstigte oft tun, und Joans späte Geburt war für ihn der Beweis, dass Gottes Segen auf ihm ruhte.

Auch meine Familie war wohlhabend, aber nicht so wie die Fortiers. Meine Mutter hatte das Familienvermögen geerbt, und mein Vater war leitender Angestellter bei Humble, allerdings hatte er keine solche Spürnase für Öl wie Furlow Fortier. Für meine Mutter war die Ehe ein steiler Abstieg. Sie war in Savannah mit Hausmädchen, Hausdienern und Kindermädchen aufgewachsen; in River Oaks hatte sie nur ein Hausmädchen und ein Kindermädchen und lebte in einem Haus, das nicht annähernd zu den größten gehörte.

Dennoch hatten beide Frauen ihre erstgeborenen Töchter Joan genannt. Das kommt mir jetzt wie ein Hoffnungszeichen vor. Joan – was für ein eleganter Name! Und auch stark: Es muss ihnen vorgekommen sein, als würden sie ihren Babys einen Männernamen geben. Vielleicht hofften sie, ihre Töchter würden die Männerwelt mit den Privilegien eines Mannes übernehmen.

Vermutlich haben sie aber auch nichts dergleichen gedacht. 1932 stand Joan auf der Liste der beliebtesten Mädchennamen an fünfter Stelle. Mary und meine Mutter nannten uns Joan, wie es alle anderen auch taten, denn das macht man doch im Allgemeinen: das, was alle anderen machen.

Aber zurück zu unserem ersten Vorschultag. Als meine Mutter mich an diesem Abend ins Bett brachte, nachdem Idie mir zu essen gegeben und mich gebadet hatte, erzählte ich ihr, dass ich umbenannt worden war. Sie war empört, natürlich. Meine Mutter war immer empört. Aber der Name blieb mir, und von da an wurde Joan zu Joan und ich zu Cece, weniger ein Name als ein Geräusch, ein zweimaliges Zischen; fast ein Pfeifen.

Ich gewöhnte mich daran.

Kapitel 1

1957

Joan saß bei mir im Wohnzimmer, auf meiner niedrigen orangefarbenen Couch, und nippte an einem Dirty Gin Martini, ihrem üblichen Drink. Es war ihr zweiter, aber Joan hatte schon immer wie ein Mann trinken können. An diesem heißen, schwülen Tag im Mai – der Sommer beginnt in Houston früh – war unser Leben noch normal. Im August würde Joan weg sein.

Joan und ich wohnten fünf Minuten voneinander entfernt, noch immer in River Oaks, dem hübschesten Viertel von ganz Houston, in dem sich eine eindrucksvolle Villa an die andere reihte. Wenn man in River Oaks lebte, hatte man das Gefühl, ein bedeutender Mensch zu sein. Die Rasenflächen waren so groß wie Weiden, die Häuser so prachtvoll, dass man sie für Schlösser halten konnte, die gepflegten Gärten und Promenaden hätten sich in Versailles befinden können. Sicher, es gab auch andere hübsche Viertel in Houston, aber West University war nicht reich genug und Shadyside nicht groß genug, eher eine Ansammlung von Häusern als ein Viertel. River Oaks war eine andere Welt. Man betrat sie und fand sich in einem Land wieder, das beeindruckend und grenzenlos war.

Ich war fünfundzwanzig, Mutter eines kleinen Jungen, und verbrachte meine Tage damit, den Haushalt zu versorgen und Besuche zu machen, kurzum, ich lebte das Leben einer reichen jungen Hausfrau. Nicht, dass irgendeine der Frauen in River Oaks etwas anderes als Hausfrau war. Was hätten wir auch sonst tun sollen? Ich gehörte dem River Oaks Garden Club an, der Junior League of Houston, dem Ladies’ Reading Club. Joan auch, allerdings nahm sie diese Mitgliedschaften nicht ernst und kam nur selten zu den Treffen. Aber niemand wäre auf die Idee gekommen, ihr die Mitgliedschaft zu entziehen. Sie war Mary Fortiers Tochter, und Mary hatte zu ihrer Zeit in River Oaks den Ton angegeben. Abgesehen davon hätte ich es niemals zugelassen.

Joan fläzte in einem braunen Hemdblusenkleid aus der letzten Saison, das in der Taille von einem roten Gürtel zusammengehalten wurde, auf meiner Couch. An diesem Kleid stimmte nichts: Es war für den Herbst gedacht, an den Schultern zu breit, aus einem steifen, wenig schmeichelhaften Stoff. Was Mode anging, hatte sie kein Gespür, und wenn wir ausgingen, suchte immer ich etwas für sie aus. Oder die Verkäuferinnen bei Sakowitz schickten ihr eine komplette Ausstattung, von den Schuhen über Unterwäsche und Kleid bis zu den Ohrringen, ein Schwarz-Weiß-Polaroid des entsprechenden Ensembles am Ärmel befestigt.

Von uns beiden war stets ich diejenige, die besser angezogen war. Obwohl ich das Haus an diesem Tag nur einmal für ein Treffen der Junior League verlassen hatte, trug ich einen knielangen blassblauen Taftrock, der vom Bund wie ein Blütenkelch nach unten aufsprang und bei jedem Schritt mitwippte. Gut gekleidet zu sein, verlieh mir Selbstvertrauen.

Ich musste mich nur vorbeugen und den Saum ihres Rocks berühren, schon verdrehte Joan die Augen.

»Du willst bestimmt sagen, dass ich es einmotten soll. In die Altkleidersammlung geben.« Sie stellte ihren Martini auf den kleinen Beistelltisch aus Chrom und Glas, den ich immer für Cocktails hervorzog, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und streckte sich. Joan bewegte sich fast wie ein Mann. Sie war unachtsam mit ihren Gesten, ihren Gliedmaßen. Ihr Blick wanderte durchs Wohnzimmer, sie sah überallhin, nur nicht zu mir. Sie langweilte sich.

»Wo ist Tommy?«, fragte sie mit aufgesetzter Munterkeit, was mich darauf brachte, dass ich ihr Verhalten womöglich falsch interpretiert hatte. Vielleicht langweilte sie sich gar nicht. Als ich ihr Gesicht musterte, fiel mir auf, dass ihre berühmten braunen Augen ein wenig geschwollen waren.

Sie bemerkte meinen Blick und hob die Augenbrauen. »Was ist? Hängt mir ein Stück Huhn zwischen den Zähnen? Ich habe heute zu Mittag wieder Hähnchen-Enchiladas bei Felix gegessen. Mit Speck dazu. Über kurz oder lang werde ich mich selbst in eine Enchilada verwandeln …« Ihre Stimme verlor sich, und sie zupfte einen unsichtbaren Fussel von ihrem Rock.

»Alles in Ordnung?«

»Bist du sicher, dass da kein Stück Tortilla klebt?«, wischte sie meine Frage mit einem Scherz beiseite und entblößte zwei Reihen wunderbar weißer Zähne.

Ich vergaß, was ich Joan gefragt hatte, und gleich darauf auch den Grund dafür.

»Tommy?«, wiederholte sie.

Ich rief nach Maria. Wenig später tauchte sie auf, dunkelhaarig und zierlich, Tommy auf dem Arm. Maria war offiziell unsere Haushälterin und half mir, Tommy zu versorgen. Die Leute – die Frauen aus unserem Kreis – fanden es merkwürdig, dass ich nicht mehr Personal hatte, kein Kindermädchen für Tommy, aber obwohl es mich störte, dass die Leute möglicherweise dachten, wir könnten uns kein Kindermädchen leisten, wollte ich keins. Die Vorstellung, Tommy den prüfenden Blicken einer fremden Person auszusetzen, selbst wenn sie meine Angestellte war, behagte mir nicht.

»Er kann laufen«, sagte ich streng. »Tommy, begrüße Miss Joan!.«

Falls Tommy überhaupt jemals anfangen würde zu sprechen, könnten aus seinem Mund dank Maria statt englischer Worte genauso gut spanische kommen. Wir verständigten uns in einem Mischmasch aus Worten und Gesten.

Von ein paar wenigen vom Land stammenden Weißen abgesehen, waren die Dienstboten, mit denen Joan und ich aufgewachsen waren, alle farbig gewesen. In River Oaks waren die meisten Hausangestellten nach wie vor Farbige, Nachkommen dieser ersten Generation, ich hatte jedoch ganz Houston nach jemandem abgesucht, der mich nicht an Idie erinnerte.

Tommy starrte mich an, dann streckte er die Hand nach Joan aus. Er war jetzt drei Jahre alt und hatte noch kein einziges verständliches Wort von sich gegeben. Er liebte Joan. Er liebte eine Menge Dinge: Wasser, Hunde, Rutschen. Ein Buch über einen fliegenden Affen. Wie ich ihm die Wangen tätschelte und dann auf jede einen Kuss gab, erst links, dann rechts, wenn ich ihn ins Bett brachte. Und doch kam es mir, nur mir, wie ich hoffte, manchmal so vor, als läge in seinem Blick eine gewisse Leere, eine Abwesenheit.

Joan durchquerte den Raum mit drei großen Schritten und nahm Maria Tommy ab.

»Warum laufen, wenn man sich tragen lassen kann?«, zwitscherte sie, während sie seinen Kragen zurechtzupfte und ihm die hübschen braunen Haare glatt strich.

Ich sah ihnen zu und war glücklich. Auch Joan wirkte glücklicher.

Es war leicht, in Joans Gegenwart glücklich zu sein. Mein Ehemann Ray war da, wo er im Augenblick hingehörte: in seinem Büro im Stadtzentrum. Aber er würde bald nach Hause kommen und später, nachdem Joan und ich uns umgezogen hatten und Ray seinen Anzug gegen etwas Bequemeres getauscht hatte, würden wir ausgehen. So tun, als wären wir wieder jung. Heute standen Abendessen und einige Drinks im Cork Club auf dem Programm. Wir würden tanzen, herumalbern, das gegenseitige Wohlwollen durch Champagner verstärkt. Wo immer Joan auftauchte, gingen die Drinks aufs Haus, und die Leute suchten ihre Nähe, wollten die Bekanntschaft mit ihr vertiefen, ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken.

Doch von allen Orten auf der Welt, an denen sie hätte sein können, war sie in diesem Moment hier, bei mir. Sie stand in meinem Wohnzimmer, hielt meinen kleinen Jungen bei den Händen und versuchte, ihm das Tanzen beizubringen. Gleich würde sie mich bitten, eine Schallplatte aufzulegen.

Mit Joan gab es immer eine Zukunft. Einen weiteren Augenblick, auf den man sich freuen konnte. Tommy sah zu mir her, und ich lächelte; mit dem Tanzen klappte es noch nicht so ganz, aber er bemühte sich. Als würde er verstehen, worum Joan ihn bat.

Joan ließ sich in diesem Sommer einfach treiben. Die Mädchen, mit denen wir früher zusammen gewesen waren, hatten geheiratet, Kinder bekommen, ihren vorbestimmten Platz im Leben eingenommen. Wie ich. Seit der Highschool stand Joan in dem Ruf, ein Wildfang zu sein, aber in Houston spielte das weiter keine Rolle; nicht, wenn man jung war. Nicht, wenn man Geld hatte; gutes Aussehen war auch kein Nachteil. Und Joan besaß beides. In einer anderen Stadt hätte man ihr den Ausflug nach Hollywood nicht so leicht verziehen – wer wusste schon, mit welchen Männern sie zusammen gewesen war oder was sie dort getrieben hatte? –, aber in Houston war man allgemein großmütig.

Trotzdem war sie keine achtzehn mehr. Und vergangenen Monat hatte ich auf der Damentoilette des Confederate House gehört, wie Darlene Cooper zu Kenna Fields sagte, langsam sei Joan Fortier zu alt dafür, ihre blonden Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammenzubinden wie ein kleines Mädchen.

Ich war in meiner Kabine geblieben und hatte peinlich berührt die schwarz-weiß gestreifte Tapete angestarrt. Eine bessere Freundin als ich wäre rausmarschiert und hätte Darlene Cooper, deren Mann, wie jeder wusste, warm angehaucht war, klipp und klar gesagt, was sie von ihr und ihrem schäbigen Tratsch und ihrem noch schäbigeren Kleid hielt. Darlene gehörte seit der Highschool zu unserer Clique. Sie hätte besser ihre Zunge hüten sollen.

In letzter Zeit war mir einiges Gerede über Joan zu Ohren gekommen. Männer seien für sie Spielzeug, dessen sie nach ein oder zwei Monaten überdrüssig werde. Früher hatte sich niemand daran gestört, dass sie seit der Highschool keinen festen Freund mehr gehabt hatte – aber jetzt, da sie älter wurde, fiel es den Leuten auf. Man fand allgemein, es sei an der Zeit, dass die großartige Joan Fortier ihre Sprunghaftigkeit ablegte.

Aber ich durfte meine Munition nicht blindlings verschießen. Ich sagte mir, dass es diese Bemerkung nicht wert war, einen Streit vom Zaun zu brechen, im Grunde meines Herzens dachte ich jedoch, dass Darlene vielleicht recht hatte.

Nach ihrem Tänzchen mit Tommy fuhr Joan nach Hause, um sich umzuziehen. Stunden später tauchte sie wieder auf und lief in einem blauen Samtkleid und mit walnussgroßen Perlenohrringen über meinen Rasen.

Ich war nach draußen gegangen, als ich ihren Cadillac vorfahren hörte, und sah zu, wie sie aus dem Fond des hellgrünen Wagens sprang, bevor Fred, seit Urzeiten ihr Chauffeur, ihr die Tür öffnen konnte.

»Ta-da«, trällerte sie, als sie barfuß auf mich zukam, mitten durchs Gras statt auf dem ordentlich gepflasterten Weg. Sie hielt ihre Stöckelschuhe in der Hand, war ungeschminkt und nicht frisiert: Sie sah aus, als hätte sie sich gerade von einem Sonnenbad am Pool erhoben. Was wahrscheinlich der Fall war.

Ich kämpfte gegen einen Anflug von Ärger an; sie kam eine Dreiviertelstunde zu spät.

»Wir müssen uns beeilen«, rief ich ihr zu.

Sie lächelte, zuckte demonstrativ mit den Schultern, gab mir einen Kuss auf die Wange. Der Geruch von Kokosnuss-Sonnenöl stieg mir in die Nase.

»Hast du wenigstens geduscht?«, fragte ich. »Oder gebadet?«

Erneutes Schulterzucken. Ihr Blick hatte etwas Verschwommenes, als hätte sie zu lange in der Sonne gelegen.

»Wozu?«, erwiderte sie und ging an mir vorbei ins Haus, wo sie ihre Schuhe – von Ferragamo – auf das Parkett in der Diele fallen ließ.

Ich brachte sie dazu, sich an meinen Toilettentisch zu setzen, und steckte, Darlenes Bemerkung über den Pferdeschwanz im Ohr, ihre Haare zu einer Banane hoch. Ich puderte ihr die Stirn, verzichtete aber auf Rouge, weil ihre Wangen bereits gerötet waren.

»Wenn du so lange in der Sonne liegst«, sagte ich, »bist du immer krebsrot.«

Joan gab keine Antwort, sondern spielte stattdessen mit dem Diamantarmband, das ihr Furlow zu ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte.

Joans Eltern lebten nach wie vor in Evergreen, dem Haus, in dem sie aufgewachsen war; ihr Vater war inzwischen über achtzig und verlor allmählich den Verstand, und Mary verwandelte sich von seiner treuen Gefährtin in seine Pflegerin.

»Sitz still«, murmelte ich, während ich Joans Augenbrauen nachzog. Mittlerweile trug Joan nur noch dann Make-up, wenn ich es ihr auflegte. Ich kannte ihr Gesicht besser als mein eigenes: das Muttermal an ihrer rechten Schläfe, das eher hübsch als ein Makel war; die ausgeprägten Wangenknochen; die vereinzelten hellen Sommersprossen auf ihrer Stirn, die nur im Sommer zum Vorschein kamen.

»Hast du das von Daisy Mintz gehört?«, fragte sie.

Natürlich hatte ich es gehört. Daisy Mintz, geborene Dillingworth, hatte im Sommer vor drei Jahren in River Oaks für reichlich Aufregung gesorgt, als sie weggegangen war, um einen New Yorker Juden zu heiraten. Ihre Eltern hatten sie enterbt, aber nur vorübergehend; offenbar hatte das Vermögen der Mintz ihre Wut wieder verrauchen lassen. Erst vergangene Woche hatte mir unsere Freundin Ciela erzählt, dass Daisy die Scheidung eingereicht hatte. Mr Mintz war fremdgegangen, eine Geschichte, so alt wie die Menschheit. Älter. Es langweilte mich.

»Was hat sie erwartet? Sie wollte Glanz, Glamour und Geld. Sie kannte ihn praktisch nicht. Und es ist schiefgegangen.« Joan sagte nichts. »Auf jeden Fall klingt es hässlich«, fuhr ich fort. »Er will, dass das Kind bei ihm bleibt. Lächerlich«, murmelte ich, während ich einen Klecks Grundierung auf ihrem Kinn verrieb. »Ein Kind gehört zur Mutter.«

»Sie wird eine Menge Geld bekommen«, sagte Joan unvermittelt. »Haufenweise Geld.«

»Und?« Wir alle hatten eine Menge Geld. »Das arme Kind wächst mit Eltern auf, die einander hassen. Was wollte sie bloß mit ihm?«

»Vielleicht hat sie ihn geliebt.«

»Vielleicht war sie ein bisschen kurzsichtig«, gab ich zurück.

»Ach, Cee«, sagte Joan, »sei doch nicht so spießig.« Sie sagte es in einem leichten Ton; ich war nicht beleidigt. Von uns beiden war ich die Spießige. Es war mir egal.

»Vielleicht bin ich langweilig, aber wenigstens ist mein Leben kein Scherbenhaufen.«

»Daisy Dillingworth Mintz«, sagte sie. »Gestrandet auf der wunderbaren Insel Manhattan.«

»Du fühlst dich ganz heiß an«, sagte ich und legte eine Hand an ihre Stirn.

»Tatsächlich? Muss am Wetter liegen. Ich glaube beinahe, die Sonne scheint nur für mich.«

»Kann schon sein«, sagte ich, und Joan lächelte; ich spürte die tiefe Verbundenheit zwischen uns, unser stilles Einvernehmen.

Ich muss wohl nicht eigens erwähnen, dass der Sommer Joans liebste Jahreszeit war. Sie schwamm und tauchte mit Leidenschaft, liebte überhaupt alles, was mit Wasser zu tun hatte. Wir anderen kümmerten in der Hitze immer ein wenig vor uns hin, obwohl wir das Houstoner Klima gewöhnt waren, doch Joan schien wie dafür geschaffen.

»Sie wird die Welt sehen«, sagte Joan, und im ersten Moment wusste ich nicht, wovon sie sprach. »Daisy«, sagte sie ungeduldig. »Sie kann jetzt alles tun, wonach sie sich drei Jahre lang gesehnt hat.«

»Ich hoffe für sie, das war es wert.«

Das Shamrock Hotel war der wahr gewordene Traum in Grün des Ölsuchers Glenn McCarthy. In dreiundsechzig Schattierungen, um genau zu sein: grüner Teppichboden, grüne Stühle, grüne Tischdecken, grüne Vorhänge. Grüne Uniformen. Es stand unmittelbar neben dem Texas Medical Center, das Monroe Dunaway Anderson gegründet und in seinem Testament mit neunzehn Millionen Dollar bedacht hatte. So war das in Houston: Geld, wohin man sah, und manche Leute, wie Mr Anderson, verwendeten es für gute Taten, während andere, wie Mr McCarthy, alberne Prunkbauten damit errichteten. Mr Anderson half sicherlich mehr Menschen als Mr McCarthy, aber wo hatten wir mehr Spaß?

Der Rest der Nation machte sich Sorgen wegen der Russen, wegen der Kommunisten mitten unter uns, wegen der Koreaner. Aber in Houston hatte das Öl alle Sorgen weggespült. Houston war der Ort, an dem sich ein wohlhabender Junggeselle einen Geparden zulegte und ihn auf seiner Terrasse herumlaufen und in seinem Pool schwimmen ließ; an dem ein verrückter Witwer einmal im Monat Kaviar und Wodka einfliegen ließ und wilde Soireen veranstaltete, auf denen alle Gäste mit russischem Akzent sprechen mussten; an dem Silver Dollar Jim West Silbermünzen aus dem Fenster einer von einem Chauffeur gesteuerten Limousine warf und dann vom Straßenrand aus zusah, wie sich die Menge darum balgte. Die Armaturen auf der Toilette des Petroleum Club waren mit vierundzwanzigkarätigem Gold überzogen. Auf der Welt gab es nur einen begrenzten Vorrat an Gold, es würde nichts nachwachsen. Und der größte Teil davon befand sich nach meiner Überzeugung in Houston.

Wir überließen unseren Wagen einem Bediensteten und gingen schnurstracks in den Cork Club; unser grauhaariger irischer Barkeeper Louis hatte Dienst und servierte mir ein Glas Champagner, Joan einen Gin Martini ohne Eis und Ray einen Gin Tonic.

»Danke, Schätzchen«, sagte Joan, und Ray schob ein paar zusammengerollte Geldscheine über den Tresen.

An diesem Abend waren alle da: besagte Darlene in einem lavendelblauen Kleid mit einem, wie ich zugeben musste, entzückenden Herzausschnitt; Kenna, Darlenes beste Freundin und ebenso nett wie langweilig; und Graciela, kurz Ciela genannt. Cielas Geburt war ein Skandal gewesen, Ergebnis der Affäre ihres Vaters mit einer hübschen jungen Mexikanerin, die er in Tampico kennengelernt hatte, als er dort in den Ölraffinerien arbeitete. Seine Exfrau war für seinen Fehltritt reich belohnt worden – sie hatte die bis dahin höchste Abfindung in der texanischen Geschichte kassiert. Das alles war längst Schnee von gestern. Seither hatte es höhere Abfindungen gegeben, wesentlich höhere. Das war eben Texas: Alles wurde ständig noch größer.

Cielas Vater hatte die Señorita geheiratet, war immer noch mit ihr zusammen, was vermutlich ein noch größerer Skandal gewesen wäre, wäre er nicht bereits ein so mächtiger Mann gewesen. Das hatten wir alle gemeinsam, außer mir: mächtige Väter. Und Ehemänner, die eines Tages mächtig sein würden. Und wir würden sie auf dem Weg nach oben begleiten.

Darlene begrüßte Joan mit einem Kuss auf jede Wange, dann wandte sie sich mir zu. »Cece, sieht man dich auch mal wieder«, sagte sie und lachte schallend über den dreifachen Zischlaut. Sie war schon ziemlich betrunken. »Du könntest glatt für Leslie Lynnton durchgehen«, erklärte sie, und obwohl ich abgesehen von den dunklen Haaren keinerlei Ähnlichkeit mit Liz Taylor hatte, war ich geschmeichelt. Wir alle hatten Giganten mindestens drei Mal gesehen und fanden es ungeheuer aufregend, dass Glenn McCarthy höchstpersönlich als Vorbild für die Figur von James Dean gedient hatte, auch wenn wir Edna Ferber und ihre Darstellung von Texas offiziell verabscheuten.

Ciela, deren Haare inzwischen so blond und so perfekt frisiert waren, dass sie einer Mexikanerin nicht ähnlicher sah als Marilyn Monroe, hing am Arm ihres Mannes, die Männer von Darlene und Kenna standen auf der gegenüberliegenden Seite des Raums und rauchten. Mein Mann stand neben mir; Ray war ruhig und ein wenig zurückhaltend und fühlte sich in meiner Nähe am wohlsten. Dabei war er nicht im eigentlichen Sinn schüchtern, er hatte vielmehr nicht das geringste Bedürfnis, im Mittelpunkt zu stehen, eine Seltenheit in unserem Kreis.

Auf uns Ehefrauen warteten inzwischen keine verheißungsvollen Abende mehr, wie es früher gewesen war, wie es für Joan immer noch sein musste. Aber der Champagner war kalt und prickelnd, die Männer waren attraktiv und stark, und die Musik brachte uns in Schwung. Ich trug ein wunderbares silberfarbenes Kleid, schulterfrei und mit schmaler Taille. – Ray verdiente gut bei Shell, aber meine Mutter hatte mir ein kleines Vermögen hinterlassen, das es mir erlaubte, ausgefallene Kleider zu tragen. Meine einzige Extravaganz. Meine Mutter hatte sich stets geweigert, dieses Geld anzurühren, sie war der Meinung gewesen, mein Vater müsste mehr verdienen. Und deshalb gehörte es jetzt mir, ein verbittertes Vermächtnis anstelle elterlicher Fürsorge. Ich war entschlossen, es bis auf den letzten Cent auszugeben. – Um mein Handgelenk lag das Geschenk zu meinem vierzehnten Geburtstag, eine zierliche Diamantarmbanduhr, die ich nur trug, wenn ich mir etwas von dem Abend erwartete. Später würden wir vielleicht nach draußen gehen, an den Swimmingpool des Shamrock, der zufällig der größte Außenpool der Welt war und sogar Wasserskivorführungen erlaubte. Joan liebte es, vom Sprungturm zu springen, sie sagte immer, es sei wie Fliegen. Vielleicht würden wir aber auch in den Emerald Room gehen, den Nachtclub des Shamrock.

Ich unterhielt mich mit Ciela, deren Tochter Tina im gleichen Alter wie Tommy war, darüber, ob wir unsere Kinder im Herbst in den Kindergarten schicken würden oder nicht – ich nicht, ich konnte mir nicht vorstellen, Tommy den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen –, während ich beobachtete, wie Joan nur ein paar Meter von uns entfernt Hof hielt, lachte und lächelte und den Eindruck erweckte, als würde ihr alles zufliegen. Was der Fall war. Ray stand neben mir und sah ebenfalls zu ihr, und ich fragte mich, was er hinter seiner unerschütterlichen äußeren Gelassenheit wirklich von Joan Fortier hielt.

»Was meinst du, worüber sie redet?«, fragte Ciela, die meinem Blick gefolgt war. Ihr Duft war eine Mischung aus Chanel No. 5, das jede von uns einmal im Jahr am Valentinstag von ihrem Ehemann geschenkt bekam, und Haarspray. Ich bin sicher, dass ich mehr oder weniger genauso roch, dazu ein Hauch von Tommys Schaumbad. Cielas Ehemann JJ, ein groß gewachsener, geselliger Mann aus Lubbock, für meinen Geschmack etwas zu forsch, stand an der Bar und bestellte einen Drink.

Ich fand, dass Joan heute Abend ein bisschen zu munter war. Ein bisschen zu aufgekratzt, ein bisschen zu knapp davor, die Kontrolle zu verlieren.

»Wer weiß das schon bei Joan«, sagte ich und nippte an meinem Glas.

JJ trat hinter Ciela und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie tat überrascht, als wäre er plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Ich lächelte, erlaubte JJ, mir die Hand zu küssen; dann spürte ich Rays Arm um meine Taille, und er zog mich in Richtung Tanzfläche. Ray würde niemals einer Frau die Hand küssen. Das war eins der Dinge, die ich an ihm mochte: Mit solchem Gehabe hatte er nichts am Hut.

»Möchtest du tanzen?«, fragte er, und ich lächelte und ließ mich von ihm auf das glänzende Parkett führen. Er versetzte mich sofort in bessere Laune. Ein Quartett spielte irgendetwas Langsames; ich kannte das Stück nicht, aber darauf kam es nicht an. Ich leerte mein Glas und stellte es im Vorbeigehen auf das Silbertablett, das auf der weiß behandschuhten Hand eines farbigen Kellners balanciert wurde.

Ray war ein leidenschaftlicher Tänzer. Das war der Grund, warum er mit uns ausging. Wäre das Tanzen nicht gewesen, wäre er lieber zu Hause geblieben und hätte es sich mit einem guten Scotch und einer seiner Präsidenten-Biografien gemütlich gemacht. Aber auf der Tanzfläche war er wie ausgewechselt. In seinen Armen kam ich mir klein vor, obwohl ich fast so groß wie Joan mit ihren eins siebzig war; aber Ray war eins achtundachtzig und kräftig gebaut. Ich schmiegte mich in seine Arme. Ich sah gut aus, aber ich war nicht schön, und ich war mir selbst gegenüber ehrlich genug, mir das einzugestehen. Ich war nach wie vor schlank, allerdings hatte die Schwangerschaft meine Formen etwas runder werden lassen, mein Gesicht voller, sie hatte mir zu mehr Gewicht und Statur verholfen, mich in der Welt verankert. Mit meinen Haaren befand ich mich in einem dauernden Kampf, weil sie sich durch die hohe Luftfeuchtigkeit ständig kräuselten, aber dank beheizbarer Lockenwickler und eines wöchentlichen Friseurbesuchs umrahmten sie mein Gesicht für gewöhnlich auf vorteilhafte Weise. Das Beste an mir waren meine dunkelbraunen Augen, mandelförmig und glänzend: Ciela hatte einmal gesagt, alle würden mich darum beneiden, und ich hatte es nicht vergessen, auch wenn sie damals betrunken gewesen war und sich wahrscheinlich nicht mehr daran erinnerte.

»Das macht Spaß«, sagte ich, und Ray legte seinen Arm etwas fester um mich. Der Cork Club füllte sich, manche der Gäste kannten wir, andere nicht.

Das machte den Reiz des Clubs aus: Nur die Reichsten und Schönsten hatten Zutritt, und man wusste nie, wen man treffen würde.

Die Band setzte zu einem schnellen Stück an, Ray wirbelte mich am ausgestreckten Arm über die Tanzfläche und in dem Moment, in dem er mich wieder an sich zog, sah ich aus dem Augenwinkel Joan. Joan mit einem Mann, den ich nicht kannte. Ich legte mein Kinn auf Rays Schulter und beobachtete die beiden. Joan hatte dem Raum den Rücken zugedreht, was gegen ihre sonstige Gewohnheit war. Es hatte den Anschein, als wollte sie ihren Begleiter verstecken.

Der Rest von uns sehnte sich nach wahrer Liebe und einem Ehemann, und wenn es mit der wahren Liebe nicht klappte, tat es auch der Ehemann, Joan dagegen hatte es immer gereicht, von einem Mann zum nächsten zu wechseln. Die Zeitungen vergötterten Joan: Sie tauchte regelmäßig in den Klatschspalten der Houston Press und des Chronicle auf – für gewöhnlich zusammen mit einem Mann auf einem Foto. Aber mit diesen Männern verband sie nichts Ernstes, und sie waren keine Fremden.

»Hör auf, Joan anzustarren«, flüsterte Ray mir ins Ohr, also wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder ihm zu. Um ehrlich zu sein, sorgte Joan für leichte Spannungen in unserer Ehe, meistens unausgesprochen.

»Den Rest des Abends werde ich nur noch dich ansehen«, sagte ich.

»Na, das ist doch ein Wort«, sagte Ray und wirbelte mich zur Bekräftigung ein weiteres Mal über die Tanzfläche.

Am Abend unserer Verlobung hatte Ray mir versprochen, dass er mich niemals verlassen würde. Und er hatte mich gebeten, ihm dasselbe Versprechen zu geben, was ich absurd fand. Männer verließen ihre Frauen; aber Frauen verließen niemals ihre Männer, es sei denn, sie waren dumm, und ich war nicht dumm.

Jetzt drehte er mich und grinste ein bisschen schief, wie immer, wenn er etwas getrunken hatte; seine Hand um meine fühlte sich warm und fest an. Dabei musterte er weiter mein Gesicht. Ray überraschte mich immer wieder damit, was er alles registrierte. Er war auf eine Art und Weise aufmerksam, an die ich mich erst gewöhnen musste. Wenn er einen Raum betrat, wusste er nach einer Sekunde, was mit mir los war. Nach einer halben.

»Cee«, fragte er jetzt, »bist du noch da?«

»Ja«, sagte ich und schmiegte mich enger an ihn, sodass ich meine Freundin beobachten konnte, ohne dass er es mitbekam. Irgendetwas stimmte heute Abend nicht mit ihr, das hatte ich schon am Nachmittag gemerkt. Jetzt konnte ich den Mann besser sehen. Er war groß und massig. Und zweifellos ein Fremder. Nicht besonders attraktiv. Aber das spielte für Joan keine Rolle. »Ich bin wie Jesus«, hatte sie einmal auf meine Frage erwidert, warum sie mit Männern ausging, die ganz offensichtlich nicht zu ihr passten. »Ich liebe sie alle.«

Ein anderes Paar schob sich mit einer Drehung neben uns und versperrte mir den Blick auf Joan und den Unbekannten. Ray gab mir einen Kuss auf die Wange, und ich schloss die Augen und überließ mich einen Moment lang der Musik, unseren aneinandergeschmiegten Körpern, Ray.

Als ich die Augen wieder öffnete, war mir ein wenig schwindlig, dafür hatte ich jetzt freie Sicht und konnte sehen, wie der große Mann durch die Tür neben der Bühne ging, hinter der ein Gang durch den Keller von Club und Hotel zu einer Treppe führte, über die man zu den Zimmern des Shamrock gelangte.

Ich suchte den Raum nach Joan ab und entdeckte sie in der Nähe der Bar, sie rauchte eine Zigarette und lachte. Ich war erleichtert, dass ich mich getäuscht hatte.

Dann drückte Joan die Zigarette in einem Aschenbecher aus, ließ das Feuerzeug in ihr Handtäschchen aus Satin fallen und folgte dem Fremden durch die Tür. Ich hatte mich also doch nicht getäuscht.

Eigentlich sollte mich das Leben inzwischen gelehrt haben, dass ich Joan gegenüber machtlos war. Sie war erwachsen, eine erwachsene Frau, die es gewöhnt war, ihren Willen zu bekommen. Niemand hatte ihr jemals etwas abgeschlagen: sicher nicht ihre Eltern. Kein Lehrer. Und ganz bestimmt kein Mann. Joan Fortier machte, was sie wollte. Ich war nur ihre Freundin.

Kapitel 2

Ich war fünfzehn, als meine Mutter starb. Es war Dezember, kurz vor Weihnachten. Eine Woche nach der Beerdigung waren Joan und ich immer noch im Haus meiner Mutter, wir schwänzten die Schule, schliefen jeden Tag bis Mittag und gingen bei Sonnenaufgang ins Bett. Joan hatte mir bereits mitgeteilt, dass ich in Zukunft bei den Fortiers in Evergreen wohnen würde. Das wollte ich auch, unbedingt, aber ich glaubte ihr nicht ganz. Joan liebte mich, und ich liebte Joan, aber Mary und Furlow waren nicht meine Eltern.

Furlow war als junger Mann aus Louisiana nach Texas gekommen, um hier sein Glück zu machen, und hatte beschlossen zu bleiben. Texas konnte das mit einem Menschen machen: Man kam zu Besuch, und dann blickte man eines Tages hoch und stellte fest, dass man vergessen hatte, wieder abzureisen. Evergreen hatte er als Hochzeitsgeschenk für Mary gebaut. Ein elegantes Herrenhaus im Plantagenstil mit schwarzen Fensterläden und einer von gewaltigen Säulen flankierten Veranda, auf der überall Schaukelstühle standen. Seinen Namen verdankte es Furlows geliebten Magnolien, die zu beiden Seiten der Auffahrt wuchsen.

Furlow und Mary wollten, dass ich bei ihnen wohnte, weil ich mich um Joan kümmerte. Ich hatte Zugang zu Bereichen, die ihnen verwehrt waren. Aber das wusste ich damals noch nicht. Damals wurde es mir zur Gewohnheit, mich auf Partys an Joans Fersen zu heften, dafür zu sorgen, dass sie zur vereinbarten Zeit wieder zu Hause war, Bilder von Kleidern, von denen ich fand, sie würden ihr stehen, aus Harper’s Bazaar auszuschneiden und sie Mary zu geben, damit sie sie bestellte.

Ich lag in dem Haus, das ich seit meiner Geburt kannte, im Bett und schlief, Joan leise schnarchend neben mir – man würde nicht glauben, dass ein Mädchen wie Joan schnarchte, aber sie tat es –, als es an der Tür läutete. Im ersten Moment dachte ich, es wäre meine Mutter. Ich setzte mich auf, orientierungslos, mein Mund trocken von dem süßen Wein, den wir am Abend zuvor getrunken hatten. Eine Zeile aus dem Lied, das wir den Herbst über ununterbrochen gehört hatten, ging mir im Kopf herum: That’s when I’ll be there always, not for just an hour, not for just a day.

Natürlich war es nicht meine Mutter. Meine Mutter war tot.

»Cece?« Neben mir setzte Joan sich auf. Ihre Stimme klang verschlafen. Sie lehnte ihre warme Wange gegen meine Schulter, und einen Augenblick lang saßen wir reglos so da. Es läutete erneut, aber ich rührte mich immer noch nicht vom Fleck. Es gab auf der ganzen Welt niemanden, den ich sehen wollte. Ich wollte einfach nur so dasitzen, Joan neben mir, und nicht daran denken, was mich erwartete. Der Anwalt meiner Mutter hatte angerufen, um einen Termin zu vereinbaren. Da waren ihre Sachen – Unmengen von Sachen, Porzellandosen und alte Parfümfläschchen und eine umfangreiche Garderobe –, die durchgesehen werden mussten. Mein Vater hätte ebenso gut in der Schweiz wohnen können wie in seinem Dauerzimmer im Warwick Hotel. Ich wusste, dass er mit seiner Geliebten zusammen war. Eine Frau namens Melane, die er heiraten und mit nach Oklahoma nehmen würde, kaum dass die Tinte auf der Sterbeurkunde meiner Mutter trocken war. Ich machte ihm keinen Vorwurf, aber ich wollte ihn auch nicht sehen.

Beim dritten Läuten stand Joan auf. »Ich geh schon«, sagte sie und klaubte ihren Morgenmantel vom Boden.

Gleich darauf kam sie mit Mary zurück, die sich im Zimmer umsah, bei meinem Schreibtisch innehielt, die leere Weinflasche hochhob und das Gesicht verzog. Joan, die außerhalb von Marys Blickfeld stand, äffte sie nach, und ich musste ein Lachen unterdrücken.

Mary war inzwischen die Schriftführerin der Junior League; nächstes Jahr würde sie Präsidentin werden, hatte meine Mutter gesagt. Meine Mutter verstand Mary Fortier nicht: Mary war nicht schön, kam nicht aus einer wohlhabenden Familie, und dennoch hatte sie großen Einfluss. Eine Frau wie Mary passte nicht ins Weltbild meiner Mutter. Mary hätte von Unsicherheit und Zweifeln geplagt sein müssen.

»Es ist an der Zeit«, sagte Mary.

Natürlich nannte ich sie nicht Mary. Nachdem ich einige Wochen bei ihnen gewohnt hatte, forderte sie mich auf, sie beim Vornamen zu nennen, und erklärte, wir müssten nicht länger so förmlich sein. Aber mir kam dieses Angebot nicht ganz aufrichtig vor, deshalb vermied ich jede Anrede.

Ich saß wie ein Kind im Bett und sah zu, wie die beiden in meinen Sachen kramten, nickte oder schüttelte den Kopf, wenn Joan eine Handtasche, eine Bluse, ein Paar flache Schuhe in die Höhe hielt.

»Selbstverständlich kommen wir später noch einmal her, um den Rest zu packen«, sagte Mary, »aber für den Augenblick reicht das.«

Ich wusste, dass ich niemals in dieses Haus zurückkehren würde. Fremde würden meine restlichen Habseligkeiten in Kartons packen und sie mir bringen; alles andere, außer der Familienbibel und dem Schmuck meiner Mutter, würde bei der Haushaltsauflösung verkauft werden.

»Fred hat heute seinen freien Tag«, sagte Mary, als sie die Fahrertür öffnete, ihr Standardsatz, wenn sie fuhr. Vielleicht stimmte es sogar.

Mary fuhr gern Auto, auch wenn es für eine Frau ihres gesellschaftlichen Rangs angemessener gewesen wäre, sich chauffieren zu lassen.

Ich nahm auf dem Rücksitz Platz, und Joan setzte sich neben mich statt auf den Beifahrersitz neben ihre Mutter. Ich schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als Joan mein Knie berührte.

Wir bogen gerade in die Einfahrt von Evergreen; ich hörte den roten Kies unter den Reifen knirschen.

»Dein neues Leben«, sagte Joan.

»Ja«, sagte ich. »Danke.«

Joan lachte, aber als sie antwortete, klang ihre Stimme ernst. »Du musst dich niemals bei mir bedanken, Cee.«

Eine Woche später überredete mich Joan auszugehen. Monatelang war ich mit niemand Gleichaltrigem außer ihr zusammen gewesen. Darlene, Kenna und Ciela waren zur Beerdigung meiner Mutter gekommen, aber ich hatte kaum ein Wort mit ihnen gewechselt.

»Es wird dir guttun«, sagte Joan und legte einen Hauch Lippenstift auf – es durfte nicht zu viel sein, damit Mary es nicht bemerkte.

Joan besuchte damals die zehnte Klasse der Lamar High School, war aber bereits aufgefordert worden, am Homecoming Court teilzunehmen. Außerdem war sie Cheerleader, neben einem anderen Mädchen die Einzige aus den unteren Klassen. Beim Essen in der Mensa saß sie an einem der Tische in der Mitte, umringt von der Footballmannschaft. Sie wurde zu jeder Party, zu jeder Tanzveranstaltung eingeladen. Ohne Joan wäre ich ein Niemand gewesen, ein Mädchen, das nur deshalb nicht ausgeschlossen wurde, weil seine Familie Geld hatte, weil es in River Oaks wohnte; ein Mädchen, dessen Gesicht und dessen Namen man schnell wieder vergaß. Dass ich Joans beste Freundin war, bewahrte mich vor diesem Schicksal. Ich aß mit ihr zu Mittag, ging mit ihr auf Partys und profitierte auch sonst von dem Platz an ihrer Seite. Ich hätte eifersüchtig auf sie sein können, aber mir lag gar nichts daran, im Rampenlicht zu stehen, ich brauchte es nicht. Ich brauchte Joan, und ich hatte sie.

Manche Mädchen wurden in der Pubertät von einem Moment auf den anderen zur Frau. Mit vierzehn, in der neunten Klasse, waren Joans Brüste so groß wie Melonen. Das hörte ich eines Tages nach der Schule einen Jungen sagen. Nicht genug damit, dass sie bereits die Schönste, die Reichste, die Bezauberndste, die Tollste überhaupt war. Jetzt hatte sie auch noch eine Figur wie Carole Landis. Eine Figur, von der die meisten von uns nur würden träumen können, das war uns bereits damals klar.

Joan hatte keine Probleme mit ihrem neuen Körper. Andere früh entwickelte Mädchen zogen die Schultern ein, hielten sich Bücher vor die Brust, aber Joan? Am ersten Tag in der Highschool trug Joan einen BH mit spitzen Körbchen, so wie die Filmstars. Sie versteckte ihn in ihrer Tasche und zog sich auf der Toilette um.

An diesem speziellen Abend trug sie ein Kleid, in dem ich sie schon oft gesehen hatte, hellblau mit ausgestelltem Rock. Die Halskette dagegen hatte ich noch nie vorher gesehen. Der Anhänger hatte die Form eines winzigen goldenen Sterns mit einem Diamantsplitter in der Mitte, der in der Kuhle zwischen ihren Schlüsselbeinen schimmerte.

An der Tür des Hauses in Tanglewood, vor dem Fred uns abgesetzt hatte, tippte ich mit dem Finger darauf.

»Woher hast du die?«, fragte ich.

»Ach«, sagte sie. »Die hat mir Daddy geschenkt.«

»Wofür?«

Sie zuckte mit den Schultern, und ich begriff, dass es ihr peinlich war, einen Vater zu haben, der ihr ohne besonderen Grund – einfach nur, weil sie Joan war – Geschenke machte, während es meinen Vater im Grunde ebenso gut auch gar nicht hätte geben können.

Joan läutete. Als niemand aufmachte, öffnete sie die Tür schließlich selbst. Im Haus drängten sich jede Menge Leute von der Highschool. Ein Junge namens Fitz, mit dem Joan sich ein paarmal getroffen hatte, packte ihre Hand, kaum dass wir das Haus betreten hatten, und die beiden verschwanden im oberen Stock, während ich neben der Bowleschüssel herumstand, bis ich glücklicherweise Ciela entdeckte. Wir redeten über belangloses Zeug und taten so, als würden wir uns nicht dauernd umsehen, um festzustellen, wer zu uns hersah.

»Joan ist schon ganz schön lange oben«, sagte Ciela. Sie trug ein kurzärmeliges kariertes Kleid mit Kragen. Es sah aus wie eine Schuluniform, nur dass es hauteng war. Ciela zog sich verführerisch an, erlaubte aber nicht einmal ihrem Freund, einem Jungen aus der Abschlussklasse, die Hand unter ihren BH zu schieben. Ich spürte einen Anflug von Neid – heute Abend sah sie wie Lana Turner aus.

Ich war betrunken von Grenadine und Whiskey; das Haus, in dem die Party stattfand, war funkelnagelneu und protzig. Man konnte förmlich spüren, wie der hellblaue Teppichboden unter unseren Füßen verdreckte.

»Sie unterhält sich mit Fitzy«, sagte ich.

Ciela sah mich an. »Sag bloß, du weißt nicht, was die da oben machen.«

»Sie machen, was sie wollen«, antwortete ich. »Joan macht, was sie will.« Joan zu verteidigen, war ein Reflex.

Ciela nickte und trank langsam einen Schluck von ihrer Bowle. »Klar doch«, sagte sie schließlich. Sie lächelte mir zu. »Klar tut sie das.«

In diesem Moment tauchte Fitz oben am Treppenabsatz auf und winkte mich zu sich; ich ließ Ciela stehen, als wären wir nicht gerade mitten in einer Unterhaltung.

»Joanie geht’s nicht so gut«, sagte er, als ich bei ihm ankam. Ich griff Halt suchend nach dem Treppengeländer – ich war betrunkener, als ich gedacht hatte – und sah zu, wie Fitz mit der Hand über seine dichten schwarzen Haare strich, sich mit der Zunge über die aufgesprungenen Lippen fuhr. Ich stand so dicht vor ihm, dass ich die kleinen Fetzen abgestorbener Haut sehen konnte, die daran klebten.

»Wo ist sie?«, fragte ich.

Er deutete mit dem Kopf zu einer geschlossenen Tür am Ende der Treppe, hinter der sich ein Badezimmer verbarg.

Joan saß auf dem Wannenrand. Auf der Ablage über dem Waschbecken stand eine brennende Kerze und verbreitete einen unangenehm süßlichen Geruch. Bis auf die Kerzenflamme war es dunkel im Bad, und dennoch wusste ich, dass es Joan war, die schweigend dasaß. Seit dem Tod meiner Mutter machte mich Dunkelheit nervös.

Ich schaltete das Licht ein, und Joan wandte das Gesicht von mir ab, eine ungewohnte, fast erschreckende Geste. Mir fiel sofort auf, dass ihre Halskette weg war.

»Was ist passiert?«

Sie zuckte mit den Schultern. Es wirkte übertrieben gleichgültig und dennoch irgendwie elegant. Sie war ebenfalls betrunken.

»Nichts«, sagte sie.

Ich setzte mich auf dem geschlossenen Toilettendeckel so dicht neben sie, dass sich unsere nackten Waden berührten.

»Du hast deine Kette verloren.« Ich tippte auf die Stelle zwischen ihren Schlüsselbeinen, wo vorher der diamantbesetzte Stern gehangen hatte, und sie zuckte zusammen. Als sie mich ansah, war ihr Blick verschwommen.

»Wo warst du zuletzt?« Sie antwortete nicht gleich, tat so, als hätte sie mich nicht gehört.

»In dem Zimmer am Ende des Flurs«, sagte sie nach einer Weile. »Sieht aus wie das Zimmer des kleinen Bruders von jemandem.«

Es war das Zimmer des kleinen Bruders von jemandem, der, den Kissen in Form von Pferden auf dem Stockbett nach zu urteilen, offenbar ein Faible für den Wilden Westen hatte. Das untere Bett war zerwühlt, das restliche Zimmer dagegen picobello aufgeräumt. Ich entdeckte Joans Kette auf dem Kissen, der Verschluss war kaputt.

Ich ging zurück ins Bad, kniete mich vor sie, fasste sie mit Zeigefinger und Daumen am Kinn und zwang sie, mich anzusehen.

»Hat er dir wehgetan?«, fragte ich.

Einen Moment lang sah es so aus, als wäre sie kurz davor, es mir zu sagen. Doch dann schüttelte sie den Kopf. Lächelte.

»Fitzy? Ach, Blödsinn. Ich bin einfach nur müde und blau. Hilf mir hoch.« Sie streckte die Hände aus, und ich zog sie hoch; als sie stand, drückte ich ihr die Kette in die Hand. Ich sah sie nie wieder an ihr.

An diesem Abend wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass Joan Geheimnisse vor mir hatte. Anfangs erzählte mir Joan intime Dinge: mit welchen Jungs sie herumknutschte; wie sie sich in der achten Klasse das erste Mal von einem Jungen an den BH hatte fassen lassen. Wie Fitz unter ihrer Berührung steif geworden war. Aber je älter wir wurden, desto weniger erzählte sie mir. Sex wurde zu Joans Rückzugsgebiet.

In dieser Nacht schlief ich wie immer zu dem vertrauten Geräusch von Joans Atem ein. Mitten in der Nacht wurde ich wach und setzte mich im Bett auf. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Joan im Zimmer des kleinen Jungen etwas Schreckliches widerfahren war, etwas, das sie vor mir geheim hielt.

»Schlaf weiter«, hörte ich ihre schläfrige Stimme aus dem Bett neben mir. »Es wird schon wieder, Cee. Es wird schon wieder.«

Ich gewöhnte mich an das Leben in Evergreen. Anfangs kam es mir seltsam vor, aber nach einem Monat war es mein Zuhause geworden. Wie schnell man vergisst, wenn man jung ist. Ich gewann Mary und Furlow lieb, auch wenn ich mich nie wie ihre Tochter fühlte. Ich denke, dass sie mich ebenfalls lieb gewannen.

Kapitel 3

Joan machte, was sie wollte, das hatte sie immer getan. Als sie jünger war, hatte es sich mit dem gedeckt, was Mary wollte: Joan war nicht aufsässig. Und Mary war nicht prüde. Wir durften lange ausgehen. Wir durften so viele Verabredungen haben, wie wir wollten, zu so vielen Tanzveranstaltungen und Partys gehen, wie wir wollten. Mary kontrollierte nicht jeden von Joans Schritten, wie es meine Mutter bei mir getan hatte. Wir kamen und gingen, wie es uns gefiel, Fred fuhr uns, Furlow zahlte. Mary hatte Kundenkonten in den Restaurants und Geschäften, die wir aufsuchten, und alles, was wir kauften, wurde abgebucht. Mehr bekamen wir davon nicht mit.

Doch dann, in unserem Abschlussjahr an der Highschool, begann Joan sich zu verändern. Sie erzählte mir weniger. Sie schlich sich immer öfter aus unserem gemeinsamen Zimmer, nachdem ich eingeschlafen war. Ich werde nie das Gefühl vergessen, wenn ich in der Nacht aufwachte und allein war, das schreckliche Gefühl von Panik und Verlassensein, wenn ich begriff, dass ihr Bett leer war.

Schließlich nahte der Debütantinnenball. Wir alle hatten diesem Ereignis seit Jahren entgegengefiebert. Als wir im Sommer vorher mit den Vorbereitungen begonnen hatten, war Joan noch genauso aufgeregt gewesen wie wir.

»Dieses Kleid …«, sagte sie während einer ihrer Anproben und ließ den weißen Satin durch ihre Finger gleiten.

»Was ist mit dem Kleid?«, fragte Ciela.

»Es sieht aus wie ein Hochzeitskleid. Als würde man uns vor allen infrage kommenden Junggesellen in Houston aufmarschieren lassen, damit die sich eine von uns aussuchen können.«

»So ist es ja auch«, sagte Ciela und lachte, aber mir fiel auf, dass ihre Stimme angespannt klang.

Es war der Sinn der Sache und auch wieder nicht. Natürlich würde man uns aufmarschieren lassen, aber selbst wenn ein gut aussehender junger Mann ein Auge auf eine von uns werfen sollte, würde es bis zur Hochzeit noch drei oder vier Jahre dauern. Auf jeden Fall zwei.

Wir alle machten ein Riesentamtam um unsere weißen Kleider und verbrachten Stunden bei der Schneiderin, die wahre Wunder vollbrachte; immer wieder übten wir unseren Knicks, den »Texas Dip«, bis uns die Bewegung am Ende so in Fleisch und Blut übergegangen war, dass wir im Schlaf vor dem Präsidenten höchstpersönlich hätten knicksen können.

Joan ging – natürlich – mit dem Kapitän der Footballmannschaft, einem dunkelhaarigen Jungen namens John. In diesem Herbst verbrachte sie immer mehr Zeit mit ihm und immer weniger mit mir und den anderen Mädchen. Joan langweile sich offenbar mit uns, hatte Ciela eine Woche zuvor in der Mensa gesagt, als wir auf unseren Tellern herumstocherten. Immer öfter verschwand Joan während des Essens von unserem Tisch – um sich mit John zu treffen, nahm ich an, genau wusste ich es allerdings nicht. Ich hatte Ciela wütend angestarrt, bis sie schließlich kapitulierend die Hände hob und sich halbherzig entschuldigte, aber mir ging unwillkürlich der Gedanke durch den Kopf, dass sie vielleicht recht hatte.

»Die Wirkung wird umwerfend sein«, hörte ich Mary eines Morgens zu Joan sagen, als ich zum Frühstück nach unten kam. Es war noch ein Monat bis zum Ball, der im Dezember im River Oaks Country Club stattfinden würde. Abends aßen wir im offiziellen Speisezimmer, morgens an einem kleinen Holztisch im Frühstücksraum, der durch eine schmale Schwingtür von der Küche abgetrennt war.

»Du wirst geradezu ätherisch aussehen«, fuhr Mary fort. »Wie ein blonder Engel.« Wie immer war sie schon seit Stunden auf und trank Kaffee, während sie mit dem Frühstück auf uns wartete.

Joan murmelte irgendetwas und beugte sich über die Scheibe Toast auf ihrem Teller. Als sie mich hereinkommen sah, verdrehte sie die Augen.

»Guten Morgen«, sagte Mary und taxierte meine Garderobe. Wenn sie fand, dass unser Rock zu kurz war oder die Bluse zu dünn, schickte sie uns zum Umziehen nach oben. Zufrieden mit dem, was sie sah, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Tochter zu, während Dorie, die inzwischen als Hausmädchen für die Furlows arbeitete, wortlos und mit abgewandtem Blick eine Schüssel Porridge, ein Schälchen Rosinen und ein Glas Milch vor mir auf den Tisch stellte.

Idie war sieben Jahre jünger als ihre Schwester, und sie war hübsch und zierlich, Dorie hingegen war dick und kräftig und hatte ein kantiges Kinn. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, die bessere der beiden Schwestern erwischt zu haben.

Dorie hatte mich noch nie besonders gemocht, und nachdem meine Mutter gestorben war und Idie nicht mehr für meine Familie arbeitete, mochte sie mich noch weniger. Trotzdem empfand ich eine gewisse Zuneigung zu ihr. Ich wusste, dass sie Idie vermisste, genau wie ich.

»Sitz gerade, Joan«, sagte Mary. »Du wirst noch einen Buckel bekommen, wenn du immer so krumm dasitzt. Ein Rückgrat verformt sich leicht.« Sie lächelte mir zu, während ich mich setzte. »Joan und ich haben gerade eine kleine Meinungsverschiedenheit.«

»Ach?« Ich blickte zu Joan. Es war Freitag und Footballsaison, deshalb trug sie ihre dunkelblaue Cheerleader-Uniform mit dem roten L auf dem blauen Pullover; ihr wippender Pferdeschwanz war mit einer roten Schleife zusammengebunden. Sie wirkte kein bisschen ätherisch – dafür war sie viel zu robust –, aber sie sah tatsächlich wie ein blonder Engel aus. Ein braun gebrannter blonder Engel.

»Ja, leider ist es so. Joan hat beschlossen, nicht zu dem Debütantinnenball zu gehen. Offenbar will sie nichts damit zu tun haben.«

Ich verschluckte mich an meinem Haferbrei, und Joan warf mir kurz einen finsteren Blick zu, kaum wahrnehmbar. Aber ich hatte schließlich keine Ahnung gehabt: Wie sollte ich Joan verteidigen, wenn sie mich mit solchen Entscheidungen überraschte?

»Der Ball ist albern«, sagte Joan, drückte den Rücken durch und zog ihren Pferdeschwanz zurecht. Dass sie wütend war, konnte man nur daran erkennen, wie sie ihr Messer packte.

Ich war verletzt. Natürlich war ich verletzt. Seit wir kleine Mädchen waren, hatten wir über diesen Debütantinnenball gesprochen. In den vergangenen Monaten hatte es für uns kaum ein anderes Thema gegeben: Kleider, Einladungen, Begleitung. Welche Frisur wir tragen würden. Und jetzt wollte Joan nichts mehr davon wissen.

»Albern?«, sagte Mary. Ihre Stimme klang schrill, ihre Wangen waren gerötet. So aufgelöst sah man sie selten.

Joan gab einen merkwürdigen, erstickten Laut von sich, doch gleich darauf beschloss sie offenbar, sich zusammenzureißen. Sie wedelte mit der Hand. »Schon gut«, sagte sie. »Ich gehe hin.«

»Du solltest –«, setzte Mary an, aber Joan fiel ihr ins Wort.

»Ich hab doch gesagt, ich geh hin«, sagte sie aufgesetzt fröhlich, und ich begriff, dass sie es noch schlimmer machte, indem sie Mary diesen Kampf nicht ausfechten ließ.

»In Littlefield«, sagte Mary leise, »wusste ich nicht einmal, was ein Debütantinnenball ist.« Sie lachte und sah Joan hoffnungsvoll an. Mary zeigte ihre verletzliche Seite, was nur sehr selten geschah.

Joan wandte sich mir zu und verdrehte erneut die Augen.

Natürlich bekam Mary es mit. Sie sollte es mitbekommen. Binnen einer Sekunde fiel alles Weiche von ihr ab.

»Selbstverständlich gehst du hin«, sagte sie entschieden. »Du gehst hin und wirst dich amüsieren. Oder auch nicht. Auf jeden Fall wirst du dich benehmen.«

Ich hätte an Joans Stelle im Boden versinken können. Mary sprach mit ihr, als wäre sie zehn Jahre alt. Joan starrte auf ihren Teller. Ich konnte nicht sagen, ob sie gleich in Tränen ausbrechen oder einen Wutanfall bekommen würde. In diesem Moment erschien Furlow in der Tür, und ich war teils froh über die Ablenkung, teils enttäuscht, weil ich jetzt nicht mitbekommen würde, wie die Sache zwischen Mary und Joan ausging. Ich musste gegen den unpassenden Impuls zu kichern ankämpfen, während Furlow sich setzte und sich über das Steak mit Spiegelei hermachte, das Dorie soeben vor ihn gestellt hatte.

»Joanie«, sagte er, nachdem er ein Stück von dem Steak abgeschnitten und es in das flüssige Eigelb getaucht hatte. Furlows Art zu frühstücken hatte ich von Anfang an abstoßend gefunden. »Lonny hätte gern, dass du bei der Houston Fat einen Preis verleihst. Für das schönste Kalb oder so was Ähnliches. Du musst dir was Schickes zum Anziehen aussuchen.« Er lachte und zwinkerte mir zu, als er merkte, dass ich die Einzige war, die ihn ansah. Joan und Mary starrten auf ihre Platzdeckchen.

Furlow war nett zu mir, er behandelte mich so, wie er jeden behandelte: als jemanden, mit dem er sich nicht allzu viel befassen musste. Er bewegte sich durch die Welt wie ein Mann, dem ein großes Stück davon gehörte. Sein Name stand seit mehr als zehn Jahren in Folge auf der Liste der fünfzig reichsten Männer in Texas.

Die Houston Fat, eine große Viehausstellung mit Rodeo, fand jeden Februar statt und war das wichtigste Ereignis in Houston, das sich keiner entgehen ließ. Bei der Neuigkeit, dass Joan ausgewählt worden war, um einen Preis zu überreichen, begannen meine Ohren leicht zu glühen. Wie eine Prinzessin würde sie durch die staubige Arena schweben, und jeder würde ihr dabei zusehen und sie bewundern.

»Oh«, sagte Mary. »Für so was interessiert Joan sich nicht. Sie findet solche Veranstaltungen …«, sie wedelte mit der Hand in der Luft herum, als würde sie eine Fliege verscheuchen, »… albern.«

Furlow legte seine Gabel beiseite und ließ den Blick zwischen seiner Frau und seiner Tochter hin- und herwandern. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Joan kam ihm zuvor.

»Daddy«, sagte sie zuckersüß. »Das mache ich sehr gerne.«

Furlows breite Stirn glättete sich wieder, und er lächelte Mary zu. Ich verstand nicht ganz, was da gerade zwischen den dreien vor sich ging, aber die Rollenverteilung war mir klar, Joan und Furlow gegen Mary.

Mary erhob sich. »Natürlich machst du es.«

Joan sah ihr mit ausdrucksloser Miene hinterher. Furlow beendete schweigend sein Frühstück. Dabei ließ er seine Tochter keine Sekunde aus den Augen.

Ich begriff, dass Furlow seiner Frau hätte folgen müssen. Dass er sich für Joan entschied, indem er sitzen blieb.

Später fuhr uns Fred in dem silbernen Packard zur Schule. Joan saß neben mir auf dem Rücksitz und sagte kein Wort. Sie war nicht oft wütend – warum sollte sie auch? Für sie war alles so einfach. Sie bewegte sich mühelos durchs Leben. Aber wenn sie wütend war, wurde sie still.

»Ich wusste gar nicht, dass du nicht zum Ball gehen willst.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Dieser blöde Ball interessiert mich nicht die Bohne.«

Ich wartete einen Moment. »Und was interessiert dich?«

Sie sah mich an. »Manchmal hasse ich sie.« Sie wandte den Blick ab. »Tut mir leid. Du hast ja …« Ihre Stimme verlor sich.

»Keine Mutter?« Ich war verblüfft: Joan entschuldigte sich sonst nie. »Nein«, sagte ich. »Aber darum geht’s nicht. Komm, erzähl schon.« Das war alles, was ich jemals wirklich wollte, dass Joan mir etwas erzählte, alles.

Ich konnte sehen, dass Joan überlegte, ob sie mehr sagen sollte oder nicht. Ich dachte schon, sie würde es nicht tun, und ließ mich enttäuscht auf meinem Sitz zurücksinken. Doch dann fing sie an zu sprechen.

»Ich hasse das Leben, das sie führt. Präsidentin der Junior League, Schatzmeisterin des Garden Club.« Sie hielt kurz inne und sah aus dem Fenster. »Die blödeste Kuh in ganz River Oaks.«

»Joan!« Noch nie hatte ich Joan so von ihrer Mutter sprechen hören.