Nach uns die Kernschmelze - Robert Spaemann - E-Book

Nach uns die Kernschmelze E-Book

Robert Spaemann

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Beschreibung

Seit über 50 Jahren spricht sich der Philosoph Robert Spaemann ausdrücklich gegen die Nutzung der Atomenergie aus. Als einer der führenden Skeptiker in dieser Debatte fühlt sich Robert Spaemann weniger durch politische Programme zu seiner Stellungnahme veranlasst, als vielmehr – philosophisch und theologisch – aus ethischen Gründen verpflichtet. Er erhebt Einspruch gegen die menschliche Hybris im atomaren Zeitalter: Woher nehmen wir die Gewissheit, eine Technologie handhaben zu können, bei der jeder Fehler, auch der kleinste, unabsehbare Folgen nach sich ziehen kann? "Dieser kleine Planet ist uns zu treuen Händen übergeben; es gibt kein größeres Verbrechen, als einen ganzen Lebensraum unbewohnbar zu machen." Robert Spaemann

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Robert Spaemann

Nach uns die

Kernschmelze

Hybris im atomaren Zeitalter

Klett-Cotta

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Besuchen Sie uns im Internet: www.klett-cotta.de Klett-Cotta © 2011 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Cover: Rothfos & Gabler Datenkonvertierung E-Book: Dörlemann Satz, Lemförde Printausgabe: ISBN 978-3-608-94754-0 E-Book: ISBN 978-3-608-10244-4

Cover

Titelseite

Impressum

Vorwort

1. Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik (1979)

Vorbemerkung

I – Zumutbarkeit von Nebenwirkungen

II – Gesichtspunkte zur Beurteilung

2. Ethische Aspekte der Energiepolitik (1980)

Der Ideologieverdacht der Christen

Das Spezifikum des Moralischen

Die Moral in der Energiepolitik

Ethische Schlussfolgerungen für die Energiepolitik

3. »Ich plädiere für die Rückkehr zu einem Fortschritt im Plural« (1988)

4. Nach uns die Kernschmelze (2006)

5. »Wo war Gott in Japan?« (2011)

6. »Die Vernunft, das Atom und der Glaube« (2011)

Über entfesselte Wissenschaft, frivole Wachstumspolitik und das verdrängte Restrisiko

Über den Autor

Vorwort

Recht behalten zu haben ist eine kümmerliche Befriedigung. Der Warner vor einem großen Unglück würde es ja vorziehen, ganz und gar widerlegt zu werden. Three Miles Island – Tschernobyl – Fukushima: Immer waren es unglückliche Zufälle, aus denen man, zum Beispiel in Russland, offenbar nichts lernen kann und zu lernen braucht – jedenfalls nicht zu lernen, dass man aus dieser Technologie aussteigen muss.

Stattdessen planen wir einzelne zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen, die die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe vermindern sollen. Die Katastrophe – auch für den schlimmsten Fall – gänzlich und definitiv auszuschließen hieße, auf die Technik der Kernspaltung zu verzichten. Wir gehen in unserem Leben ständig Risiken ein, manchmal riskieren wir sogar unser Leben. Wir steigen in Flugzeuge, obwohl die Wahrscheinlichkeit abzustürzen nicht gleich Null ist. Es kommt darauf an, einzusehen, dass die Sache hier anders liegt: Keine noch so weitgehende Minimierung des Risikos kann uns berechtigen, sukzessiv ganze Regionen unseres kleinen Planeten in No-Go-Areas oder in Todeszonen zu verwandeln.

Man sagt uns, diese Technologie sei im Augenblick ohne Alternative. Wäre dem so, hieße das, eine unsichtbare, intelligente Hand würde die Entwicklung von Wissenschaft und Technik so steuern, dass immer dann, wenn die Menschheit mit ihrem Überleben und ihrem materiellen Fortschritt in einen Engpass gerät, plötzlich genau die Entdeckung bei der Hand wäre, die allein ermögliche, dass es weitergeht mit dem Menschen. Kein Vertreter des Intelligent Design in der Evolutionstheorie wagt eine vergleichbar fantastische Annahme. Rettende Lösungen existentiell bedeutsamer Krisen werden allerdings in der Regel nur dann gefunden, wenn die Menschheit mit dem Rücken zur Wand steht. Solange das Ausweichen auf Atomenergie als Option zur Verfügung steht, ist diese Dringlichkeit nicht gegeben, die uns zu alternativen Lösungen führt. Dabei zeichnen sich inzwischen ja schon die Alternativen ab, und man spricht von der Atomenergienutzung als »Brückentechnologie«. Aber diese Brücke muss man so schnell wie möglich überqueren, und das auch unter einschneidenden Opfern an Geld und Wohlstand. Wenn ein Mensch in einer existenzbedrohenden Not das Leben seines Kindes verwettet, handelt er auch unverantwortlich, selbst wenn die Gewinnchancen bei dieser Wette für ihn 99:1 stehen. Niemand kann ja wissen, ob das Unwahrscheinliche gerade morgen geschieht.

Es ist nicht von ungefähr, dass die erste Nutzung der Kernenergie ein Massenmord war, der Massenmord an den Bewohnern von Hiroshima und Nagasaki. »It was technologically so sweet«, gestand Robert Oppenheimer, um sein Engagement für die Herstellung der Bombe zu erklären, gegen die er sich später ausprach. Und Carl Friedrich von Weizsäcker erzählte, was er und mit ihm das Forscherteam, das an der Bombe arbeitete, spontan äußerte, als die Nachricht von der Vernichtung Hiroshimas bekannt wurde: »Also, es klappt tatsächlich!« So sind Wissenschaftler, wenn sie ausschließlich Wissenschaftler sind. Aber als es dann später um die atomare Bewaffnung der Bundeswehr ging, wussten wir – die Gegner dieser Bewaffnung – denselben Carl von Weizsäcker auf unserer Seite. Auch damals hörten wir das Argument, es gebe keine Alternative. Ohne diese Waffe wäre der Westen angeblich gegenüber der sowjetischen – bis dahin noch nicht nuklearen – Bedrohung wehrlos, was natürlich nur dann zutraf, wenn man die Alternative höherer Rüstungsausgaben und höherer Militärstärken nicht in Betracht zu ziehen bereit war. Es war übrigens interessant, dass unsere fairsten Kritiker und Gesprächspartner führende Militärs waren und dass es die Zeitschrift Militärseelsorge war, die diese Kontroverse veröffentlichte.

Viele Jahre später, als es dann um die Nachrüstung ging, wurde ich zum Gegner der sogenannten Friedensbewegung. (Ich habe das in einem Brief an Heinrich Böll erklärt, der jetzt in dem Band »Grenzen« dokumentiert ist.) Hier ging es nämlich nicht mehr um die Frage eines Ja oder Nein zur atomaren Bewaffnung. Diese Bewaffnung hatte ja längst stattgefunden, sondern es ging darum, das Kriegsrisiko zu senken: Das Gleichgewicht des Schreckens wollte der Westen immer wieder in dem Maße sichern, in dem die Sowjetunion dieses Gleichgewichts gefährdete. Ein amerikanisches Monopol auf Atomwaffen hielt ich damals für genauso gefährlich wie ein sowjetisches. So sah es übrigens auch Sacharow.

Inzwischen ist die Zahl der Atomwaffen in der Welt ins Absurde gestiegen, sie einzusetzen aber, das heißt der atomare Erstschlag, völkerrechtlich verboten, was immer das im Ernstfall bedeuten mag. Stattdessen haben wir nun also die »friedliche Nutzung«, die wiederum angeblich alternativlos ist. Ich will hier nicht die öffentliche Debatte in Deutschland neu aufrollen, sondern nur dem bisher Geschriebenen und Gesagten einen Gedanken hinzufügen: Dass die erste Nutzung dieser Technologie die Atombombe war, ist kein Zufall. Die Entfesselung dieser Art von Energie ist selbst schon der Anfang des Unfriedlichen, wie wir zu lernen beginnen. Christliche Apologeten äußern gelegentlich, Gott habe doch diese Energie dem Menschen zur Verfügung gestellt. Aber da stimmt etwas nicht. Diese Kraft dient in der Natur dem Zusammenhalt der materiellen Welt. Wenn wir an einem windstillen, sonnigen Maimorgen durch die frühlingshafte Landschaft wandern, sind wir uns in der Regel nicht der ungeheuren Energie bewusst, die diese friedliche Gestalt ermöglicht. Wer am Rheinfall von Schaffhausen steht, kann beobachten, wie eine ruhige, fast unbewegte Wasserfläche dort, wo das Gefälle beginnt, sich im Herabstürzen in ein wildes Tosen verwandelt, um, unten aufgeprallt, dann rasch wieder zur Ruhe zu kommen, als wäre nichts gewesen. Zersprengte Atome kommen jedoch so schnell nicht wieder zur Ruhe. Genauer gesagt, sie kommen vielleicht in etwa 25000 Jahren zur Ruhe. Es grenzt schon an Frivolität zu behaupten, Gott habe gewollt, dass wir die Bewohnbarkeit von Teilen unseres Planeten für Jahrtausende verwetten, um jetzt unseren Lebensstandard zu erhalten.

Vermutlich wird es schon in 10000 Jahren keine Menschen mehr geben, jedenfalls aber keine wissenschaftlich-technische Zivilisation mehr, in der überhaupt noch bekannt ist, worum es sich bei diesen Gefahrenquellen handelt. Die letzte große Völkerwanderung hat das Wissen der griechisch-römischen Kultur weitgehend in Vergessenheit geraten lassen. Wie es menschenmöglich war, die gewaltigen Steine in Stonehenge aufeinanderzutürmen, ist uns bis heute unbekannt. Man konnte dieses Wissen nicht über so lange Zeiträume weitergeben. Und hier handelt es sich nur um wenige Jahrtausende. Wenn es aber noch Menschen geben wird, dann tragen wir zwar für sie Verantwortung, aber keine positive Verantwortung; für ihr Glück müssen sie schon selbst sorgen. Wir haben aber die Pflicht, ihnen die elementaren Ressourcen des Lebens ungeschmälert zu übergeben. Wir müssen nicht über einen verborgenen Ratschluss Gottes spekulieren – »Du hast mir die Wege des Lebens bekanntgemacht«, heißt es im Psalm. Es genügt, unsere Vernunft zu gebrauchen, um zu wissen, was gut und was schlecht ist.

1.  

Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik (1979)1

Vorbemerkung

Moderne Technologien auf physikalischem und biologischem Gebiet, insbesondere Atomspaltung und genetische Manipulation, werfen moralische Probleme auf, für deren Lösung traditionelle philosophische und theologische Argumentationen nur dann Hilfe bieten, wenn wir sie in ihrer abstraktesten und allgemeinsten Form heranziehen. Dies gilt insbesondere dort, wo die moralischen Probleme sich mit den politisch-rechtlichen überschneiden, das heißt mit der Frage nach der Verantwortlichkeit des Staates für die möglichen Folgen und Nebenfolgen der Anwendung dieser Technologien. Um hier zu Ergebnissen zu gelangen, die allgemeine Einsichtigkeit beanspruchen können, ist es deshalb erforderlich, sich der Grundlagen der Argumentation Schritt für Schritt zu versichern. Ich beginne daher mit einer Erörterung des allgemeinen moralphilosophischen Problems der Zumutbarkeit von Nebenwirkungen, um in einem zweiten Teil Gesichtspunkte zur Beurteilung technischer Eingriffe in die natürliche Umwelt zu entwickeln.

I – Zumutbarkeit von Nebenwirkungen

Es liegt im Wesen menschlicher Handlungen, dass sie Nebenwirkungen hervorbringen. Dieser Satz ist nur die Kehrseite des anderen, dass Handeln auf Zwecke gerichtet ist. »Zweck« heißt jene Folge, die der Handelnde aus der Gesamtheit der Handlungsfolgen intentional heraushebt und im Verhältnis zu welcher er alle anderen Folgen zu Nebenfolgen, zu Mitteln oder zu Kosten herabsetzt. Nur durch solche Selektion wird Handeln überhaupt möglich, und nur durch sie wird es von »blinden« Naturereignissen unterscheidbar. Der Unterschied zwischen »Mitteln« und »Nebenwirkungen« liegt darin, dass Mittel selbst als diese gewollt werden müssen, also Unterzwecke sind, während Nebenwirkungen nicht gewusst, gewollt und herbeigeführt, sondern nur »in Kauf genommen« werden. So etwa ist die Zerstörung einer Kaserne im Krieg ein Mittel zur Erreichung des Kriegszieles, die Zerstörung der benachbarten Wohnhäuser aber eine Nebenwirkung, die mangels ausreichender Begrenzungsmöglichkeit der Sprengwirkung einer Bombe »in Kauf genommen« wird. Allerdings kann der Terroreffekt von Angriffen auf zivile Objekte auch selbst als Kriegsmittel beabsichtigt sein.

Dass der Handelnde in der Wahl der Mittel nicht frei ist, dass also nicht »der Zweck jedes Mittel heiligt«, ergibt sich aus einer einfachen Überlegung. Die Zwecke der Menschen sind verschieden. Die Mittelwahl des einen kann für den anderen Vereitelung seines Zweckes sein. Das Recht eines jeden, jeden anderen in seiner Zweckverfolgung nach Maßgabe der eigenen Zwecke beliebig zu behindern, würde den Begriff des Rechts selbst unmittelbar aufheben. Eine solche Befugnis wäre gleichbedeutend mit dem Ende einer Rechtsordnung überhaupt. Andererseits heißt »Mittel anwenden«, oder »Kosten aufwenden« immer: die Möglichkeit der Verfolgung anderer Zwecke einschränken. Diese anderen Zwecke können sowohl die des Handelnden selbst als auch die Zwecke anderer sein. Die Kosten einer Ferienreise können den Bau eines Hauses verzögern. Und in einem sehr allgemeinen Sinne behindert auch jede Zielverfolgung eines Menschen mögliche Zielerreichungen eines anderen. Wenn die Ressourcen knapp sind, steht das Verbrauchte nicht mehr zur Verfügung, weder für den Verbraucher selbst noch für einen anderen.

In beiden Fällen kann sich ein moralisches Problem stellen. Es gibt Pflichten des Menschen gegen sich selbst. Wer für einen Augenblicksgenuss seine Gesundheit ruiniert, verletzt eine solche Pflicht. Dies zu begründen würde über unser Thema hinausführen. Den Pflichten gegen sich selbst korrespondieren nämlich keine einklagbaren Rechte. Das Verhältnis zu sich selbst ist kein durch Regeln der Gerechtigkeit normiertes Verhältnis. Volenti non fit iniuria. (Dem, der bekommt, was er will, geschieht kein Unrecht.) Wo es hingegen um das Verhältnis des Handelnden zu Betroffenen geht, die mit ihm nicht identisch sind, da entsteht das Problem der Gerechtigkeit, das heißt der Zumutbarkeit der Nebenfolgen des Handelns, und zwar stellen sich in diesem Zusammenhang vor allem zwei Fragen:

1. 

Welches sind die Kriterien der Zumutbarkeit?

2. 

Wer trägt die Verantwortung für die Zumutung von Handlungsnebenfolgen?

Kriterien der Zumutbarkeit: Hinsichtlich der Frage der Zumutbarkeit gibt es zwei extreme Auffassungen. Die erste ist die anarchistische. Sie geht davon aus, dass es kein anderes Kriterium für Zumutbarkeit gibt als die wirkliche Zustimmung der Betroffenen. Dahinter steht folgende richtige Erkenntnis: Die Freiheit des Menschen besteht gerade darin, dass nicht andere über den Wert und Rang seiner Wünsche und Interessen zu entscheiden haben. Zur Freiheit gehört, dass ich den Dingen für mich die Bedeutung geben kann, die ich selbst ihnen zu geben wünsche. Der Bereich, in dem die individuellen Präferenzen ohne Bevormundung den Ausschlag geben, ist der freie Markt.

Als Lösung des Gerechtigkeitsproblems stößt der Anarchismus jedoch auf einige grundsätzliche Schwierigkeiten:

a) Da jedes Handeln Nebenfolgen zeitigt, durch welche andere in Mitleidenschaft gezogen werden, würde jedes Handeln vereitelt werden können, wenn nur einer der auch noch so entfernt in Mitleidenschaft Gezogenen Widerspruch erhöbe. Niemand könnte mehr bauen, wenn jeder die Beeinträchtigung seines subjektiven Wohlbefindens durch den Bau des anderen geltend machen könnte, ohne die Unzumutbarkeit dieser Beeinträchtigung nach allgemeinen Kriterien für Zumutbarkeit aufzeigen zu müssen. Unterlassung jeden Handelns aber ist erst recht unzumutbar für ein freies Wesen.