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Robert Spaemann

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Beschreibung

Moderne Gesellschaften verfügen über den Wert des Lebens. Schon längst ist die Würde des menschlichen Lebens antastbar geworden. Ein Buch, das über wesentliche Werte nachdenken lässt, was es heißt, eine Person zu sein. Der Unterschied zwischen "etwas" und "jemand" besteht in einen "persönlichen Akt der Anerkennung", den man einem Anderen zukommen lässt. Robert Spaemann entfaltet diese Überlegung und vermittelt beeindruckend, dass Personen erst dann zu Personen werden, weil wir es ihnen zuschreiben. "Spaemanns Philosophie ist ein eindringlicher und imposanter Versuch, jeder Form der Verdinglichung von lebendigen Menschen, die für ihn sämtlich als Personen zu gelten haben, entgegenzuwirken... Gerade weil Spaemann jedoch in den Auftreten von Peter Singer von Anfang an nicht allein eine ärgerliche Provokation, sondern ein zeittypisches Phänomen erblickte, hat er sich … dem argumentativen Disput nicht entzogen. In welchem Ausmaß Spaemann diese Kontroverse als geradezu epochale Herausforderung empfand, kann man jetzt bei der Lektüre seiner großen Abhandlung über Personen nachvollziehen." Andreas Kuhlmann im Merkur

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Robert Spaemann

Personen

Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹

KLETT-COTTA

GESAMMELTE SCHRIFTEN IN EINZELBÄNDEN

AUSGABE LETZTER HAND

Robert Spaemann, geboren am 5. Mai 1927 in Berlin, studierte Philosophie, Romanistik und Theologie in Münster, München und Fribourg. 1952 promovierte er bei Joachim Ritter in Münster und habilitierte sich 1962 in den Fächern Philosophie und Pädagogik. Von 1962 bis 1992 lehrte er Philosophie an den Universitäten in Stuttgart, Heidelberg und München. Spaemann hatte weltweit Gastprofessuren inne und erhielt mehrere Ehrendoktorwürden. 2001 war er Träger des Karl-Jaspers-Preises. Spaemanns Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Sie beschäftigen sich mit der Ideengeschichte der Neuzeit, mit Naturphilosophie und Anthropologie sowie Ethik, politischer Philosophie und der geistigen Situation der Kirchen. Er griff über 50 Jahre lang in öffentliche Grundsatz- und Wertedebatten ein und äußerte sich unter anderem zur Nutzung der Kernenergie, der Abtreibungs- und Euthanasiegesetzgebung sowie zu Sloterdijks Vorschlägen zur Menschenzüchtung. Kritisch stellte er in seinem Werk die »europäischen Werte« infrage. Am 10. Dezember 2018 starb Robert Spaemann, der bedeutendste konservative Philosoph im deutschsprachigen Raum.

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Neuausgabe im Rahmen der »Gesammelten Schriften in Einzelbänden« von Robert Spaemann: »Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹.«

1. Auflage im Verlag Klett-Cotta, Stuttgart

© 1996, 2006, 2019 by J.G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96222-2

E-Book: 978-3-608-11547-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

Warum wir von Personen sprechen

Warum wir Personen »Personen« nennen

Über das Identifizieren von Personen

Das Negative

Intentionalität

Transzendenz

Fiktion

Religion

Zeit

Tod und futurum exactum

Kontextunabhängigkeit

Das Sein von Subjekten

Seelen

Gewissen

Anerkennung

Freiheit

Versprechen und Verzeihen

Sind alle Menschen Personen?

Anhang

Anmerkungen

Personenregister

Dem Andenken an Karl König

Einleitung

Unter allem, was existiert, haben Personen eine Sonderstellung. Personen bilden nicht miteinander eine natürliche Art. Wir müssen schon wissen, um welche Art von Wesen es sich handelt, um zu wissen, ob wir es mit »etwas« oder mit »jemandem« zu tun haben. Was meinen wir, wenn wir von »jemandem«, also von einer Person, sprechen und ihm damit den Anspruch auf einen einzigartigen Status einräumen? Seit der berühmten Definition des Boethius(1), nach der eine Person »das individuelle Dasein einer vernünftigen Natur« ist,[1] hat die Philosophie die Merkmale zu differenzieren versucht, aufgrund derer wir bestimmte Wesen »Personen« nennen.

Diese Versuche gehen in zwei Richtungen. Einmal zielen sieauf eine Präzisierung dessen, was bei Boethius »rationabilis«, »vernünftig« heißt. Vor allem das angelsächsische Denken von Locke(1) bis zur sprachanalytischen Philosophie der Gegenwart hat eine Reihe von Prädikaten herausgearbeitet, durch die Personen definiert werden sollen. Strawson(1) sieht es als wesentlich an, dass Personen Träger mentaler und physischer Prädikate zugleich sind, also nicht bloß »denkende Dinge« im Sinne Descartes(1)’.[2] Zur Unterscheidung einer Philosophie der Person von Theorien der Subjektivität oder des Bewusstseins ist das zweifellos wichtig. Aber wenn der Ausdruck »mentale Prädikate« jede Art von subjektivem Erleben bezeichnet, dann ist Strawsons(2) Definition zu weit. Auch Rotkehlchen haben vermutlich eine »Innenseite«. Andere Autoren haben deshalb personale Merkmale dieser Innenseite zu bestimmen gesucht: Selbstbewusstsein, Erinnerung, ein Verhältnis zum eigenen Leben als Ganzem, ein Interesse an diesem Leben. Schon früher hat Max Scheler(1) Personen als Subjekte verschiedener Arten intentionaler Akte definiert.[3]

In der anderen Richtung der Verständigung über den Personbegriff wird der soziale Charakter des Personseins in den Mittelpunkt gestellt. Personen gibt es nur im Plural. Das gegenseitige Anerkennungsverhältnis ist für Personen konstitutiv. Personen sind nicht aufgrund bloßer Artmerkmale Personen, Personsein ist ein Status, der sich einem Kommunikationsgeschehen verdankt. Es ist leicht, Fichte(1) und Hegel(1) als Väter dieses Gedankens zu erkennen. Da aber Hegel diesen Status schließlich in einem übergreifenden vernünftigen Allgemeinen wieder aufhob, gewann der sogenannte Personalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erst in der Abkehr von Hegel(2) sein eigenes Profil.

Die gedanklichen Bemühungen um den Personbegriff schienen bisher von einem eher theoretisch-akademischen Interesse zu sein. Das hat sich im Lauf der letzten Jahre auf unerwartete Weise geändert. Seit Boethius(2) hatte »Person« als ein nomen dignitatis, also als ein Begriff mit axiologischen Konnotationen gegolten. Seit Kant(1) wurde er zum zentralen Begriff bei der Begründung von Menschenrechten.

In den letzten Jahren aber hat sich seine Funktion umgekehrt. Der Personbegriff spielt plötzlich eine Schlüsselrolle bei der Destruktion des Gedankens, Menschen hätten, weil sie Menschen sind, gegenüber ihresgleichen so etwas wie Rechte. Nicht als Menschen sollen Menschen Rechte haben, sondern nur, soweit sie Personen sind. Nicht alle Menschen aber und nicht Menschen in jedem Stadium ihres Lebens und in jeder Verfassung ihres Bewusstseins sind, so wird uns gesagt, Personen. Sie sind es zum Beispiel nicht, wenn ihnen von Anfang an die Aufnahme in die Anerkennungsgemeinschaft verweigert wurde, durch die Menschen erst zu Personen werden. Und sie sind es nicht, wenn ihnen als Individuen die Merkmale fehlen, derentwegen wir Menschen im allgemeinen Personen nennen, das heißt, wenn sie noch nicht, nicht mehr, vorübergehend oder lebenslänglich nicht über diese Merkmale verfügen. Kleine Kinder zum Beispiel, schwer Debile, auch Altersdebile, sind keine Personen, und nach Derek Parfit(1), dem bei weitem gründlichsten Denker dieser Richtung, sind es auch Schlafende und vorübergehend Bewusstlose nicht.[4] Es gibt keinen Grund, diesen Menschen einen Rechtsanspruch etwa auf Leben zuzugestehen; dies wäre sogar eine unmoralische Parteilichkeit zugunsten der eigenen Spezies, »Speziesismus«, wie der diskriminierende Ausdruck des australischen Tierschutzphilosophen und Ethikers Peter Singer(1) lautet.[5]

Ein gewisses öffentliches Erschrecken, das durch diese Thesen ausgelöst wurde, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine theoretische Verlegenheit entstand. Das ist nicht ungewöhnlich in Fällen, wo kulturelle Selbstverständlichkeiten, die bisher keiner Erklärung zu bedürfen schienen, plötzlich infrage gestellt werden. Verblüffungsresistenz (Hermann Lübbe(1)) ist zwar das erste, was man in solchen Fällen braucht. Aber Verblüffungsresistenz kann nicht das Nachdenken ersetzen. Auch das Selbstverständliche bedarf, auf die Länge, der Begründung, wenn es bestritten wird. Aristoteles(1), der Hermeneutiker des griechischen way of life, meinte zwar, dass jemand, der sagt, man dürfe die eigene Mutter töten, nicht Argumente, sondern Zurechtweisung verdiene. Sokrates(1) aber wusste denen Dank, die durch ihre Provokation eine tiefere Begründung intuitiver Gewissheiten erzwangen. Manche Selbstverständlichkeiten erweisen sich in solchen Situationen als unbegründet und büßen dann ihren Status ein.

Sind alle Menschen Personen? Es zeigt sich, dass die bejahende Antwort Voraussetzungen hat. Sie setzt voraus, dass Personen zwar a priori in einer auf Anerkennung basierenden wechselseitigen Beziehung stehen, aber dass diese Anerkennung nicht dem Personsein als dessen Bedingung vorausgeht, sondern auf einen Anspruch antwortet, der von jemandem ausgeht. Sie setzt ferner voraus, dass wir diesen Anspruch zwar aufgrund gewisser Artmerkmale zuerkennen, dass es aber für die Anerkennung als Person nicht auf das tatsächliche Vorhandensein dieser Merkmale ankommt, sondern nur auf die Zugehörigkeit zu einer Art, deren typische Exemplare über diese Merkmale verfügen. Und dies, obwohl oder weil Personen sich zu der Art, der sie angehören, auf andere Weise verhalten als Exemplare anderer Spezies. Personen sind in einem unvergleichlichen Sinn Individuen. Gerade deshalb kommt es für ihre Anerkennung als Personen nicht auf das individuelle Auftreten bestimmter Artmerkmale an, sondern nur auf die Zugehörigkeit zur Art. Dieses Paradox ist eines der Resultate der Überlegungen, die in diesem Buch entwickelt werden. Wenn sie auch angeregt wurden durch die genannte Herausforderung unserer kulturellen Tradition mit ihrem gewachsenen Verständnis von Humanität und Menschenrechten, so sind sie doch nicht als Apologetik dieser Tradition zu verstehen. Gerade diese Tradition nämlich hat auch die Voraussetzung für ihre eigene Destruktion ausgebildet, besonders dadurch, dass sie Bewusstsein und Subjektivität vom Begriff des Lebens ablöste und isolierte. Nun ist Leben nicht ein Merkmal oder eine Eigenschaft, die einem Seienden fallweise zukommen oder nicht zukommen. Leben ist vielmehr, wie Aristoteles(2) schrieb, »das Sein des Lebendigen«.[6]

Personen sind Lebewesen. Ihr Sein und ihre Identitätsbedingungen sind die von Lebewesen jeweils einer bestimmten Art. Wir ordnen sie aber nicht nur einer Art oder Gattung, sondern einer Gemeinschaft zu, die nicht prinzipiell auf die Angehörigen einer einzigen Art beschränkt ist, in der aber jeder, der ihr angehört, einen einmaligen, einzigartigen und genau durch ihn definierten Platz einnimmt. Wer ihn einnimmt, ist nicht »etwas«, sondern »jemand«. Was meinen wir, wenn wir von »jemandem« sprechen? Wie entstand die Rede von »Personen«? Was setzt sie voraus, was impliziert sie, und was schließt sie aus?

Um diese Fragen sollen die folgenden Überlegungen kreisen. Personen sind nicht etwas, was es gibt. Was es gibt, sind Dinge, Pflanzen, Tiere, Menschen. Dass Menschen mit allem, was es gibt, auf eine tiefere Weise verbunden sind als alles andere, was es gibt, untereinander verbunden ist, das heißt, dass sie Personen sind.

Warum wir von Personen sprechen

I

Der Sinn des Wortes »Person« ist wie der kaum eines anderen Wortes vom Kontext abhängig. Meistens meinen wir mit Personen Menschen. »Wir rechnen heute mit acht Personen zum Abendessen«: In diesem Satz ist »Personen« keineswegs ein emphatischer Ausdruck. Im Gegenteil. »Wir erwarten acht Menschen« klingt gewählter und ein bisschen feierlicher. »Acht Personen«, das klingt dagegen abstrakter, unpersönlicher. Von Personen spricht man, wenn man aufs rein Numerische abhebt. Es erschiene uns nicht etwa herabsetzend, sondern eher geschwollen, wenn jemand statt von »Personenzügen« von »Menschenzügen« spräche. Und wenn wir sagen »diese Person«, dann ist das wiederum besonders unpersönlich. Wenn es nicht eine amtliche Redeweise ist, dann ist es eine abfällige.

In anderen Zusammenhängen aber gilt genau das Umgekehrte; und zwar dann, wenn das Wort »Person« prädikativ gebraucht, wenn also von einem bereits anderweitig identifizierten Wesen ausdrücklich gesagt wird, es sei eine Person. Wenn nun neuerdings der Vorschlag gemacht wurde, das Wort »Menschenrechte« durch »Personenrechte« zu ersetzen, dann aufgrund eines Sprachgebrauchs, nach dem Personen nur diejenigen Menschen sind, die sich durch bestimmte Qualitäten auszeichnen. Und wer demgegenüber darauf besteht, dass alle Menschen Personen sind, der benutzt ebenfalls »Person« als nomen dignitatis. Jemanden nicht nur im Personenstandsregister zu führen, sondern ihm ausdrücklich »Personsein« zuzuschreiben, heißt, ihn als jemanden anzuerkennen, der beanspruchen kann, dass man auf eine bestimmte Weise mit ihm umgeht.

Als Relikt einer älteren, ganz anderen Verwendung finden wir das Wort auf unseren Theaterzetteln, wo »Personen« gerade nicht Personen, also Menschen sind, sondern Rollen, die von ihren »Darstellern« unterschieden werden. Ungefähr den gleichen Sinn hatte es, wenn Paulus(1) schrieb: »Gott sieht nicht auf die Person«.[1] Würden wir zurückfragen, worauf Gott dann sieht, so wäre die Antwort: er sieht auf eben das, was wir heute die »Person« nennen. Schließlich, und nicht nur der Vollständigkeit halber, muss noch der grammatische Ausdruck von »erster, zweiter, dritter Person« gedacht werden, der auf Umwegen für unseren heutigen Personbegriff von entscheidender Bedeutung geworden ist.

Im Folgenden soll zunächst von derjenigen Bedeutung des Wortes »Person« die Rede sein, mit der wir es immer dann zu tun haben, wenn das Wort thematisch als Prädikat benutzt, wenn also gesagt wird, dieses oder dieses Wesen sei »Person«. Von daher wird dann auch ein Licht auf die Möglichkeiten fallen, das Wort für eine ganz »unpersönliche«, rein numerische Identifikation zu verwenden.

Das Wort »Person« ist kein sortaler Ausdruck, mit dem wir etwas als ein So-und-so kennzeichnen und dadurch identifizierbar machen. Auf die Frage: »Was ist das?« antworten wir nicht: »Das ist eine Person«, so wie wir sagen würden: »Das ist ein Mensch« oder »Das ist eine Lampe«. Wir müssen vielmehr schon zuvor wissen, ob dies ein Mensch oder eine Lampe ist, um wissen zu können, ob es eine Person ist. Der Begriff der Person dient nicht der Identifikation von etwas als etwas, sondern sagt etwas aus über ein bereits als ein So-und-so Bestimmtes. Es handelt sich aber andererseits auch nicht um ein Prädikat, das dem bereits in seiner Art Qualifizierten eine bestimmte zusätzliche Eigenschaft zuspricht. Es gibt keine Eigenschaft, die »Personsein« hieße. Es ist vielmehr so, dass wir von Wesen aufgrund bestimmter Eigenschaften, die wir zuvor identifiziert haben, sagen, sie seien Personen.

Welches sind diese Eigenschaften und was fügt die Prädikation des Personseins der Feststellung dieser Eigenschaften hinzu? Ich beginne mit einer vorläufigen und unsystematischen Aufsammlung von Hinweisen. Welcher Vorbegriff kann uns bei einer solchen anfänglichen Suche leiten? Und wonach sollen wir eigentlich suchen? Die Antwort ergibt sich aus dem, was wir bereits gefunden haben: aus der Eigentümlichkeit der Verwendung des Wortes. Einerseits sprechen wir dem, den wir so nennen, eine besondere Würde zu, andererseits dient das Wort zu einer rein numerischen, von aller weiteren Bestimmtheit abstrahierenden Bezeichnung. Einerseits ist es kein sortaler Ausdruck, mit dem wir etwas als etwas von der und der Art identifizierbar machen, andererseits aber auch keine Eigenschaft. Es bezeichnet vielmehr den Träger bestimmter Eigenschaften. Wenn wir nun diese beiden Verwendungsweisen nicht als bloße Äquivokation nehmen, sondern auf ihre Zusammengehörigkeit achten, dann erhalten wir schon einen ersten Hinweis auf die Richtung, in der wir zu suchen haben. Person wäre dann jemand, der das, was er ist, auf andere Weise ist, als andere Dinge oder Lebewesen sind, was sie sind.

Was ist diese andere Weise? Ein Satz aus der »Zauberflöte(1)« kann da vielleicht weiterhelfen. Sarastros bekannte Arie »In diesen heil’gen Hallen kennt man die Rache nicht« – eine philanthropische Proklamation – endet mit einem Satz, der einerseits befremdlich und andererseits doch für jedermann verständlich ist: »Wen solche Lehren nicht erfreun, verdienet nicht ein Mensch zu sein«.[2] Menschsein erscheint hier als Privileg, als etwas, das jemand verwirken kann. Nun verstehen wir zwar, was es zum Beispiel heißt, dass ein Mensch es nicht verdient, ein Prinz zu sein. Aber wer ist jemand, der es verdienen oder nicht verdienen könnte, ein Mensch zu sein? »Mensch« ist ein sogenannter sortaler Term, durch den allererst ein Jemand identifizierbar wird, der etwas verdienen oder nicht verdienen kann. Aristoteles(3) sprach von Substanzausdrücken, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie nicht von einem Etwas prädiziert werden, sondern ein Etwas identifizierbar machen, von dem dann weiteres prädiziert wird.[3]

Wir können uns den Unterschied zwischen den beiden Ausdrücken am Beispiel eines Hundes klar machen, der manchmal ein bellendes und manchmal ein nicht bellendes Lebewesen ist. Wenn er nicht bellt, fährt er doch fort zu existieren. In dem Augenblick aber, in dem er aufhört, ein Hund zu sein, sagen wir, er ist nicht mehr. Wir könnten einwenden: Er ist nur kein Hund mehr, so wie er, wenn er aufgehört hat zu bellen, kein Bellender mehr ist. Wenn er aufhört, ein Hund zu sein, hat er sich ja nicht in nichts aufgelöst, sondern sich in etwas anderes verwandelt, in einen Kadaver, später in Blumenerde. Was bleibt, ist ein materielles Substrat, von dem man einmal das Hund-Sein, später das Blumenerde-Sein aussagt.

Genau diesen Gedanken verwirft Aristoteles(4), und mit Recht, wenn er zwei Arten des »Umschlagens« unterscheidet: Entstehen und Vergehen einerseits, Veränderung andererseits.[4] Wenn ein Mensch stirbt, dann sagen wir eben nicht, etwas habe hier seinen Zustand geändert, nämlich ein Stück raum-zeitlich lokalisierter Materie: sondern wir sagen, jemand, nämlich ein Mensch, habe aufgehört zu existieren. Wenn wir ein Ding identifizieren, von dem wir dieses und jenes aussagen, ist der sortale Term jener Begriff, mit dem wir dieses Ding überhaupt erst identifizierbar machen. Und das, woraus es besteht, ist zunächst nur als das Woraus dieses Dinges identifizierbar, aber nicht als das, worüber wir prädizieren. Wenn Sarastro sagt, »Wen solche Lehren nicht erfreun, verdienet nicht ein Mensch zu sein«, dann will er nicht von einem Stück raum-zeitlicher Materie sagen, es habe das Menschsein verwirkt, so wie der Mensch das Prinz-Sein verwirken kann. Wie sollte denn ein Stück Materie irgendetwas verdienen oder verwirken? Was Sarastro sagt, ist eben deshalb etwas Paradoxes. Der Mensch soll das Menschsein verdienen oder verwirken können. Um dies zu können, muss er aber schon Mensch sein. Wenn wir gleichwohl diesen Satz irgendwie intuitiv verstehen, dann deshalb, weil wir das Verhältnis des Menschen zu seinem Menschsein anders denken als das Verhältnis des Hundes zum Hund-Sein. Wir denken hier ein Verhältnis, also eine innere Differenz, die wir in den anderen Fällen nicht denken, wo wir ein Individuum als Exemplar einer Art identifizieren. Der Mensch ist offenbar nicht auf die gleiche Weise Mensch, wie der Hund Hund ist, nämlich als unmittelbare Instantiierung seines Artbegriffs.

Noch deutlicher wird das, wenn wir die Verwendung von Begriffen wie »menschlich« und »human« betrachten. In einem gewissen Sinn ist »menschlich« genau das, was Menschen tun: Also gerade die besonderen Scheußlichkeiten, deren kein Tier fähig ist, sind »menschlich«. Aber so verwenden wir das Wort nicht. Wir benutzen es vielmehr normativ, um bestimmte Handlungsweisen, die wir billigen, von denen zu unterscheiden, die wir missbilligen. Manchmal aber kehrt sich der Sprachgebrauch auf merkwürdige Weise um. Wir nennen Handlungsweisen »menschlich«, die wir zwar sanft missbilligen, aber entschuldigen möchten. »Irren ist menschlich«. Es handelt sich immer um Normabweichungen aus Schwäche. Wenn eine Abweichung aus Bosheit geschieht, benutzen wir das Wort »menschlich« nicht, obgleich doch gerade die Bosheit für den Menschen charakteristisch ist. Gerade die Arten von Bosheit, die besonders pervers sind, nennen wir »unmenschlich«. Das »Unmenschliche« ist also offenbar etwas spezifisch dem Menschen Zugehöriges.

II

Die bisher genannten Paradoxien enthalten erste Hinweise auf ein Phänomen, dessentwegen wir die Exemplare der Spezies homo sapiens sapiens nicht nur mit ihrem Artbegriff, also »Menschen«, nennen, sondern darüber hinaus »Personen«.

Wir unterscheiden zwar heute in der Regel Menschen und Tiere. Aber zunächst ist »Mensch« ein biologischer Artbegriff, und die antike und mittelalterliche Philosophie hat den Menschen unter die animalia, die Tiere, gerechnet. Der Mensch ist ein animal rationale. Da für uns im Deutschen das Wort »Tier«, wie das Wort »bestia« im Lateinischen, von vornherein die Konnotation des Nichtmenschlichen hat, pflegen wir für animal, wenn es ein Menschen und Tiere übergreifender Terminus sein soll, das Kunstwort »Lebewesen« zu gebrauchen und den Menschen nicht ein »vernünftiges Tier«, sondern ein »vernünftiges Lebewesen« zu nennen. Hier drückt sich wiederum das Bewusstsein davon aus, dass die Weise, wie der Mensch Exemplar seiner Spezies ist, sich unterscheidet von der Art, wie andere Individuen Exemplare ihrer Art sind.

Diese Besonderheit lässt sich daran verdeutlichen, wie wir uns mit Hilfe des Personalpronomens »Ich« auf uns selbst beziehen. »Ich« ist ein referentieller Ausdruck. »Ich« sagend, meinen wir nicht etwa so etwas wie »ein Ich« – eine Philosophenerfindung –, sondern ein bestimmtes Lebewesen, einen bestimmten Menschen in der Welt: denselben Menschen, den andere mit einem bestimmten Eigennamen nennen. Und zwar bezeichnet jeder mit »ich« den Menschen, der er, der Sprecher, selbst ist. Dennoch hat es mit diesem Personalpronomen mindestens in zweifacher Hinsicht eine besondere Bewandtnis.

Erstens kann kein Zweifel sein, dass dieser Ausdruck sich tatsächlich auf etwas Wirkliches bezieht, was für die Ausdrücke »er«, »sie«, »es«, »dieser«, »dies da«, ja sogar »du« nicht gilt. Diese können alle im Einzelfall auf imaginäre Gegenstände hinweisen. Wer »ich« sagt, den gibt es. Darauf beruht das berühmte cartesische(2) »Cogito, sum«.

Aber was heißt das: den gibt es? Wer ist der, der »ich« sagt und den es gibt, und was für einer ist er? Es ist denkbar, dass der, der »ich« sagt, dies nicht weiß oder sich darüber täuscht. Und das ist die zweite Besonderheit dieses Personalpronomens. Etwas, so sahen wir bereits, kann nur identifiziert werden, wenn es als ein So-und-so, als ein qualitativ Bestimmtes identifiziert wird: als ein solches, das mittels eines sortalen Ausdrucks einer bestimmten Art zugeordnet wird. Das gerade gilt nun für die Identifikation durch das Personalpronomen »ich« nicht. Jemand kann sich sehr wohl darüber täuschen, wer und was für einer er ist. Er kann sich auch über seine räumliche und zeitliche Lage in Unkenntnis befinden. Nach einem Unfall, bei dem er zugleich Gedächtnis und Augenlicht eingebüßt hat, kann er fragen: »Wer bin ich?«, »Wo bin ich?«. Er kann sogar vergessen haben, dass er ein Mensch ist. Dennoch haftet der Referenz des »Ich« keine Unbestimmtheit an. Denn diese Referenz ist eine rein numerische, von allen qualitativen Bestimmungen unabhängige. »Ich« bezieht sich auf den, der »ich« sagt, unabhängig von allem, was er sonst noch ist.

Das darf nun nicht so verstanden werden, als beziehe sich »ich« auf eine reine res cogitans oder auf eine wesenlose Existenz, die sich erst, sozusagen aus nichts, zu etwas Bestimmtem, Wesenhaftem zu machen habe. Das ist eine falsche Interpretation des Phänomens. Nicht von ungefähr fragt der von Amnesie Befallene: »Wer bin ich? Wo bin ich?« Er setzt voraus, dass er nicht »ein Ich«, sondern ein so und so beschaffener Jemand ist, der sich irgendwo in der Welt befindet. Sobald er überhaupt Bewusstsein hat, weiß er, dass er nicht nur Bewusstsein ist. Aber sein Wissen, dass er ist, geht der Kenntnis des Wer und Wo voraus. Seine Selbstidentifikation ist nicht durch irgendeine qualitative Bestimmung vermittelt. Ich weiß, dass ich ein irgendwie bestimmtes, so und so beschaffenes Wesen habe. Aber ich bin nicht unmittelbar dieses Wesen, und der Ausdruck »Ich bin« ist nicht gleichbedeutend mit der Lokalisierung an einer bestimmten Raum-Zeitstelle, sondern er verlangt nach einer solchen Lokalisierung. Der Mensch ist nicht, was er ist, auf die gleiche Weise, wie alles, was uns sonst begegnet. Die Rede von »Personen« hat etwas mit diesem Phänomen zu tun.

In die gleiche Richtung führt die in der ganzen Menschheit verbreitete Idee der Metamorphose. In Kafkas(1) Novelle »Die Verwandlung« wird ein Mensch in ein riesiges Insekt verwandelt. Märchen und Mythen sind voller Verwandlungsgeschichten, wie sie uns als »Froschkönig« oder als »Brüderchen und Schwesterchen« bekannt sind. Ovid(1) reiht in seinen »Metamorphosen« Verwandlungsmythen aneinander. Aus der neueren Literatur sei besonders die Erzählung »Mein Onkel, der Jaguar« von João Guimarães Rosa(1), erwähnt, ein Monolog, der die allmähliche Verwandlung des Sprechers in einen Jaguar aus der Innenperspektive des Jaguars miterleben lässt. Was findet in diesen Geschichten statt?

Es handelt sich nicht um das, was Aristoteles(5) Substanzwandel durch Vergehen und Entstehen nennt. Solcher Substanzwandel besteht darin, dass ein Ding aufhört zu sein und dass aus seinem materiellen Substrat etwas anderes entsteht. Eines ist zugrunde gegangen, ein anderes ist entstanden. Das Kontinuum zwischen beiden nennt Aristoteles(6) »hyle«, Materie. Nur sie, das Woraus der beiden sukzessiven Substanzen, ist das, was bleibt. Solchen Wandel erleben wir in der Natur ständig. Der Organismus zerfällt, wird zu Humus, welcher wieder zum Material neuer Organismen wird. Dies ist kein Gegenstand von Alpträumen, Mythen oder literarischen Fiktionen.

Dagegen besteht das Eigentümliche der Metamorphosen darin, dass das sich im Wandel Durchhaltende nicht ein materielles Substrat ist, sondern das Subjekt selbst, das zunächst als Mensch existiert und »ich« sagt. Es existiert anschließend als Insekt, als Frosch, als Reh oder Jaguar oder, wie bei Ovid(2), sogar als Baum. Und nun ist es interessant, dass es immer nur Menschen sind, deren numerische Identität solche Metamorphosen des Artwesens überdauert und die dann gelegentlich auch wieder zurückverwandelt, »erlöst« werden können. Nie werden Tiere in Menschen verwandelt, die nicht zuvor schon Menschen gewesen sind. Solche abstrakte numerische Identität kommt auch in Träumen vor, in denen wir einem Menschen begegnen, von dem wir wissen, dass er der und der ist, obgleich er mit diesem, wie er uns bekannt ist, überhaupt keine Ähnlichkeit hat. Wir wissen nur: es ist dieser. Aber was ist es, was wir da wissen? Was heißt: es ist dieser, den wir mit Namen kennen und mit dem das Traumbild doch offenbar nichts gemeinsam hat? Auch hier abstrahieren wir die numerische Identität von jeder qualitativen Ähnlichkeit. Es tut nichts zur Sache, dass es sich in all diesen Beispielen um Fiktionen handelt. Worauf es ankommt, ist, dass wir personale Identität nicht durch qualitative Merkmale definieren, wenngleich es qualitative Merkmale der Spezies Mensch sind, die uns diese Abstraktion möglich machen. Wer wir sind, ist offenbar nicht einfachhin identisch mit dem, was wir sind.

Übrigens ist die gleiche Vorstellung der Metamorphose in allen Reinkarnationsgedanken leitend, am stärksten natürlich in jenen, wo Menschen als Tiere wiedergeboren werden. In den westlichen Wiederverkörperungsslehren wird der Mensch nur wiedergeboren als anderer Mensch, der eben jene Merkmale weiterhin besitzt, aufgrund deren wir numerische von qualitativer Identität ablösen können, während in indischen Lehren der Satz des Sarastro tatsächlich wörtlich verstanden wird: jemand verdient es nicht, wieder ein Mensch zu sein, er wird etwas anderes als ein Mensch und hört doch nicht auf derselbe zu sein.

III

Schließlich möchte ich mich dem Phänomen jener inneren Differenz des Menschen von sich selbst noch von einer dritten Seite her nähern.

Eine natürliche Entität zeigt, was sie ist, durch das, was sie tut, durch die Weise, wie sie sich äußert. »Agere sequitur esse«, sagt ein scholastisches Adagium.[5] Das trifft jedoch im strikten Sinn nur für die physikalische Wirklichkeit zu. Schon bei Pflanzen und Tieren gibt es das, was wir »aus der Art schlagen« nennen. Schon Tiere sind nicht einfachhin, was sie sind. Sie können, was sie sind, bis zu einem gewissen Grad verfehlen. Denn das, was sie sind, geht nicht in dem auf, als was sie sich zeigen. Es ist vielmehr wesentlich bestimmt als ein »Innen« im Sinn eines Ausseins-auf. Nur wenn wir es so interpretieren, nehmen wir es überhaupt als Lebewesen wahr. Für gewöhnlich interpretieren wir dieses Aussein-auf als Trieb der Selbst- und Arterhaltung. Nicht, als ob diese Ziele tatsächlich in dem Tier als Vorstellung präsent wären. Als Vorstellung ist in ihm präsent das Futter, der Geschlechtspartner, die Beute, die Gefahr. Wir, die Beobachter, sind es, die diese »Triebe« systemfunktional deuten und evolutionstheoretisch erklären. Aber wie immer es mit dieser Deutung bestellt sein mag, wo es ein Aussein-auf, eine teleologische Verfasstheit gibt, da gibt es auch ihr mögliches Verfehlen.

Im Bereich des Physikalischen gibt es nicht so etwas wie Fehler, außer denen, die der Physiker macht. Die Natur macht in diesem Bereich keine Fehler. Nur, was auf etwas aus ist, kann das, worauf es aus ist, verfehlen. Deshalb ist ein dreibeiniger Hase ein missgebildeter oder ein verunglückter Hase. Er weicht nicht nur statistisch von der Mehrzahl der Hasen ab, sondern diese Abweichung bedeutet, dass der Hase in seine ökologische Nische schlechter passt als ein vierbeiniger; es bedeutet, dass er sich weniger wohl befindet und dass seine Überlebenschancen geringer sind. Auf etwas aus sein, sich wohl befinden, sich schlecht befinden: das alles sind Ausdrücke, die eine solche innere Differenz bezeichnen zwischen dem, was ein Lebewesen »eigentlich«, und dem, was es faktisch ist. Menschen, sofern sie Lebewesen sind, stehen auch in dieser Differenz, von der Aristoteles(7) sagt, dass sie für alle höheren Lebewesen charakteristisch ist: der Differenz von zen und eu zen, von Leben und gutem Leben.[6]

Menschen sind sich wahrscheinlich als einzige dieser Differenz als Differenz bewusst. Über Tiere können wir ja immer nur entweder in Analogie zu menschlicher Selbsterfahrung oder in Analogie zu Maschinen sprechen, also zu Systemen, die nur für uns Systeme sind. Das heißt: das Phänomen des Ausseins-auf mit der ihm eigentümlichen Differenz, die durch den Trieb konstituiert wird, erschließt sich nur demjenigen Wesen, das noch über dieser Differenz steht und sich zu ihr, das heißt zur Form der eigenen Lebendigkeit, noch einmal verhalten kann. Im Schmerz zum Beispiel können Menschen etwas anderes sehen als eine bloße Beeinträchtigung des Lebens. Abwehr oder Vermeidungsstrategie sind nicht ihre einzig möglichen Reaktionen. Sie können sich dem Schmerz bewusst aussetzen, oder sie können das Leben selbst als Bedingung des Leidens betrachten und negieren. Sie können sich schließlich in einer Art »bestimmter Negation« von gewissen Eigenschaften, Wünschen, Trieben distanzieren. Sie können bedauern, so zu sein, wie sie sind. Sie können sich selbst ändern wollen.

Und wenn wir sagen, man müsse lernen, sich selbst zu akzeptieren, so ist damit nicht die Zuschüttung dieser Differenz und die dumpfe Selbstaffirmation gemeint, also nicht die freche Antwort: »So bin ich eben« dessen, dem ein rücksichtsloses Verhalten vorgeworfen wird. Dieses »So bin ich eben« ist das Pendant zu dem erbarmungslosen »So bist du eben«, mit dem der andere auf sein Sosein, das sich in seinem Verhalten gezeigt hat, festgenagelt und ihm die Möglichkeit genommen wird, sich als ein anderer zu zeigen: eine Möglichkeit, die durch Verzeihung eröffnet wird. Niemand ist einfach und schlechthin das, was er ist. Selbstannahme ist ein Prozess, der Nichtidentität voraussetzt und als bewusste Aneignung des Nichtidentischen, als »Integration« (Carl Gustav Jung(1)) verstanden werden muss.

Harry Frankfurt(1) hat in seinem Aufsatz »Willensfreiheit und der Begriff der Person«[7] einen ähnlichen Gedanken entwickelt, wenn er von »Volitionen zweiter Stufe« spricht. Es handelt sich um das Phänomen, dass wir uns zu unseren Wünschen und Willensakten noch einmal verhalten können. Wir können wünschen, bestimmte Wünsche zu haben oder nicht zu haben. Wir bewerten nicht nur die Dinge entsprechend unseren Wünschen, sondern wir bewerten unsere Wünsche. Wenn es uns gelingt, unsere Wünsche mit dieser Bewertung in Einklang zu bringen, fühlen wir uns frei, wenn nicht, erleben wir uns als ohnmächtig, so wie Süchtige oder Triebtäter, die nicht wollen, was sie wollen. Man kann sogar wünschen, einen bestimmten Wunsch zu haben, um die Erfahrung dieses Wünschens zu machen, ohne aber seine Erfüllung zu wollen. Odysseus trifft sorgfältige Vorkehrungen, um einerseits die Sirenen zu hören und die Sehnsucht zu erleben, die ihr Gesang weckt, und doch nicht Opfer dieser Sehnsucht zu werden. Er lässt sich von den Gefährten, denen er die Ohren verstopft hat, mit offenen Ohren an den Schiffsmast fesseln.[8]

Platon(1) schlägt in den »Gesetzen« vor, jungen Menschen, wenn es möglich sei, Angst erzeugende Drogen zu verabreichen, damit sie sich in Tapferkeit üben können, das heißt, in der Fähigkeit, ohne Rücksicht auf Angst das zu tun, was man als das Schöne und Richtige erkannt hat.[9] Die »Volitionen zweiter Stufe« sind nicht einfach die jeweils stärkeren Antriebe, die sich in einem Parallelogramm der Motive durchsetzen. Sie setzen sich ja gar nicht immer durch. In diesem Fall können wir versuchen, das Parallelogramm selbst zu manipulieren, indem wir ein System von Belohnungen und Bestrafungen unserer selbst organisieren und so für den Konfliktfall dafür sorgen, dass der erwünschte, aber zu schwache Primärantrieb durch einen anderen Primärantrieb verstärkt wird. Die Schädigung der Gesundheit durch Rauchen reicht oft als Motiv nicht aus, um den aktuellen Wunsch zu rauchen zu entkräften. Stattdessen ist es aber möglich, ein Arrangement zu treffen, das den Rauchverzicht durch eine Belohnung prämiert, eine Belohnung, durch deren Vorstellung der Rauchverzicht tatsächlich erreicht wird. Wir gehen in diesem Fall mit uns selbst um wie mit einem anderen Menschen, den wir zu manipulieren suchen.

Allerdings stoßen wir dabei auf eine unhintergehbare Grenze. Die fundamentale Richtung dieser Selbstbeeinflussung ist nicht noch einmal unserem Zugriff zugänglich. Andernfalls ergäbe sich das Problem einer unendlichen Iteration des Wollen-Wollens. Was es mit diesem ersten, spontanen, nicht mehr zu vergegenständlichenden Antrieb auf sich hat, kann uns in diesem Stadium anfänglicher Überlegungen noch nicht beschäftigen. Worauf es zunächst ankommt, ist der Aufweis jener inneren Differenz des Menschen zu seinem eigenen Sosein, der, wie es scheint, unserer Rede von Personen zugrunde liegt.

Diese Differenz ist uns geläufig unter dem Titel der »Reflexion«. Aber Reflexion ist nur eine ihrer Erscheinungsformen. Die Differenz bestimmt unser Dasein, auch wenn wir nicht reflektieren. Sie ermöglicht die Reflexion, sie beruht nicht auf ihr. Reflexion ist ein In-sich-Gehen. Aber die Differenz kann ebenso als ein Aus-sich-Heraustreten beschrieben werden, als »exzentrische Position«, wie Helmuth Plessner(1) sie genannt hat.[10] Für diese Position ist nicht so sehr das Ich-Sagen bezeichnend, als vielmehr das Sprechen von sich selbst in der dritten Person. Kleine Kinder sprechen so für gewöhnlich von sich selbst, was in gewisser Weise erstaunlicher ist als das Ich-Sagen. Von sich selbst in der dritten Person sprechend, tritt der Mensch aus der Zentralstellung hinaus, die jedes natürliche Lebewesen im Verhältnis zu seiner Umwelt einnimmt, und sieht sich mit den Augen der anderen als ein Ereignis in der Welt.[11] Um sich so zu sehen, muss er einen Standpunkt außerhalb seiner selbst, außerhalb seiner organischen Mitte einnehmen. Moralität ist nur aufgrund dieser Fähigkeit der Selbstobjektivierung und damit der Selbstrelativierung möglich. Und nur so ist Sprache möglich. Sprechen unterscheidet sich ja von natürlichen Lebensäußerungen dadurch, dass der Standpunkt des Adressaten, sein Hören des gesprochenen Wortes, im Sprechen schon antizipiert wird. Wenn jemand sagt: »Ich habe Schmerzen«, dann ist dieser Satz keine Fortsetzung des Schreiens mit anderen Mitteln. Man muss vielmehr zunächst den unmittelbaren Ausdruck des Schmerzes unterdrücken, um vom eigenen Schmerz als einem Ereignis in der Welt Mitteilung zu machen, und zwar so, dass der andere die Mitteilung verstehen kann. Hierzu müssen wir uns, statt uns unmittelbar »auszudrücken«, auf ein vorgegebenes Regelsystem einlassen, das allein eine solche Verständigung möglich macht. Und es ist nun umgekehrt gerade dieses System, es ist die Sprache, die in uns erst jene Differenz, jene Selbstdistanz entstehen lässt, aufgrund deren wir von Personen sprechen.

Der Mensch fühlt den Blick des Anderen, den Blick aller anderen, den Blick aller möglichen anderen, den Blick von nirgendwo auf sich gerichtet. Dass der Mensch diese Blicke erlebt, von ihnen weiß oder zu wissen glaubt, das macht es unmöglich, ihn als bloßes organisches System zu verstehen, das eine Umwelt konstituiert, in der alles Begegnende mit Bedeutsamkeit relativ auf die eigenen Systembedürfnisse ausgestattet ist. Herausgetreten aus ihrer organischen Mitte, stehen Menschen in einer Dimension, in der über das, was Bedeutsamkeit hat, und das, worin sie besteht, nicht schon »von Natur« entschieden ist. Bereits das Medium der Verständigung hierüber ist kein natürliches. Es gibt keine natürliche menschliche Sprache. Aber wir erfinden auch die Sprache nicht. Sie ist immer schon vorausgesetzt, wenn Menschen in jenes Kommunikationsgeschehen eintreten, durch das sie sich als das realisieren, was sie sind, als Personen. Warum »Personen«?

Warum wir Personen »Personen« nennen

I

Wir haben in einem ersten Anlauf einige Eigentümlichkeiten zusammengetragen, die verständlich machen sollen, warum wir den Menschen, also das Wesen, das wir selbst sind, nicht nur einer bestimmten biologischen Art von Säugetieren zuordnen, sondern noch einer Klasse ganz anderer Art, der Klasse der Personen.

Aber bilden Personen eine Klasse? Die Frage ist verwirrend. Sie ist deshalb verwirrend, weil ja einerseits der Personbegriff wie alle anderen Begriffe funktioniert, durch die wir Einzelnes einer Klasse zuordnen. Wir können fragen, welche Individuen aufgrund welcher Merkmale zur Klasse der Personen gehören, ob Menschen die einzigen Elemente dieser Klasse sind, und ebenso, ob alle Menschen ihr angehören. Andererseits ist es nicht angemessen, von einer Klasse der Personen zu reden, und zwar aus zwei Gründen.

Erstens: wenn wir bestimmte Individuen als »Personen« bezeichnen, dann gerade nicht, sofern sie einer bestimmten Klasse angehören oder Instantiierungen eines allgemeinen Begriffs sind. Vielmehr meinen wir mit diesem Wort, dass sie sich zu dem, was sie sind, beziehungsweise zu der Klasse oder Art, der sie angehören, auf andere Weise verhalten, als sich normalerweise Elemente einer Klasse zu dieser ihrer Klasse verhalten: nämlich so, dass sie darunter fallen. Personen gehören immer irgendeiner natürlichen Art an, aber sie gehören ihr anders an, als andere Individuen ihrer Art angehören.

Der zweite Grund, warum die Rede von einer Klasse der Personen, obgleich logisch einwandfrei, doch ontologisch unangemessen ist, ist die Tatsache, dass wir mit der Anwendung des Personbegriffs auf Individuen diesen einen bestimmten Status zuerkennen, den Status der »Unantastbarkeit«. Mit der Zuerkennung dieses Status wird zugleich eine Verpflichtung zur Anerkennung seiner Relevanz eingegangen. Wir können von jemandem sagen, er sei König oder Ehrenbürger oder Offizier, gleichzeitig aber gegen Könige und Offiziere sein und den Titel des Ehrenbürgers für abschaffungswürdig halten. Wer hingegen Menschen nicht als Personen respektieren möchte, der spricht ihnen entweder den Titel der Person ab, oder er hält den Personbegriff überhaupt für gegenstandslos und für ungeeignet, irgend etwas zu charakterisieren. Die Verwendung des Begriffs »Person« ist gleichbedeutend mit einem Akt der Anerkennung bestimmter Verpflichtungen gegen denjenigen, den man so bezeichnet. Die Auswahl derer, die wir so bezeichnen, ist zwar abhängig von bestimmten deskriptiv definierbaren Merkmalen, Personalität korreliert mit solchen Merkmalen, ist aber selbst nicht ein Artmerkmal, sondern ein Status, und zwar der einzige Status, der niemandem von anderen verliehen wird, sondern der jemandem natürlicherweise zukommt. Das heißt nicht, dass er etwas »Natürliches« ist. So ist auch der Mensch zwar »von Natur« ein sprechendes Wesen, die Sprache aber nichts »Natürliches«.

Da »Person« kein deskriptiver Ausdruck ist, kann er weder ostensiv definiert werden, also durch Hinweis auf eine einfache Qualität wie eine Farbe, noch narrativ, also durch das Erzählen einer Geschichte dessen, was durch einen Ausdruck, wie zum Beispiel »Hermannsschlacht«, bezeichnet wird. Dieser Ausdruck enthält eine ganze Geschichte, und ob er überhaupt etwas Reales bedeutet, hängt davon ab, ob diese Geschichte wahr ist. Für natürliche Arten gilt im Prinzip das gleiche. Auch hinter ihnen steht eine Geschichte. Die Evolutionstheorie zum Beispiel ist ein Versuch, diese Geschichte zu erzählen. Anders ist es mit Begriffen, die einen normativen Anspruch enthalten. Auch hier müssen wir, um ihren Sinn zu verstehen, eine Geschichte erzählen, aber nicht die Geschichte des Gegenstandes, den dieser Begriff meint, sondern die Geschichte des Begriffs selbst.

Aufgrund der bisherigen Überlegungen liegt es nahe, den Personbegriff solchen normativen Begriffen zuzuordnen. Tatsächlich gehört er, wie wir später sehen werden, zu einer dritten Art von Begriffen. Aber für den Augenblick genügt es festzustellen, dass die Verwendung dieses Begriffs eine normative Implikation hat. Die Verwendung des Begriffs in dem ausdrücklichen und thematischen Sinn, von dem wir hier sprechen, ist mehr als die Feststellung, dass etwas der Fall ist. Es ist die Erhebung eines Anspruchs. Und um diesen Anspruch zu verstehen, müssen wir sehen, wie er zustande kam.

Die Geschichte des Personbegriffs ist die Geschichte eines Umwegs, dessen Vergegenwärtigung uns für eine Weile in den Kern der christlichen Theologie führt. Was wir heute »Person« nennen, wäre ohne die christliche Theologie unbenennbar geblieben und – da Personen ja nicht einfach natürliche Vorkommnisse sind – nicht in der Welt. Das heißt nicht, dass seine Verwendung nur unter bestimmten theologischen Voraussetzungen sinnvoll ist, wenngleich es denkbar ist, dass das Verschwinden der theologischen Dimension auf die Länge auch den Personbegriff wieder zum Verschwinden bringen würde.

Nicht einmal Platon(2) dachte das, was wir mit diesem Begriff denken. Zwar ist für ihn der Mensch nicht mehr, wie bei Homer(1), Schauplatz eines Wirkens von Mächten, über die er selbst nichts vermag. Gerade diese Sicht ist es ja, derentwegen Homer in der Platonischen Stadt seinen Platz als Erzieher räumen muss. Aber auch der Kampf des Platonischen Sokrates(2) gegen die Rhetorik ist ein Kampf für die Autonomie des Menschen. Gorgias hatte im »Lob der Helena« diese Autonomie und damit den Gedanken der Verantwortung bestritten. Nicht mehr übermenschliche Mächte haben von Helena Besitz ergriffen, wohl aber Worte, die unwiderstehlichen Reden des Paris. Es lag nicht in der Freiheit der Helena, ihnen zu folgen oder nicht zu folgen.[1] Auch Platon kennt Reden, denen man nur folgen kann, aber das sind die Reden, die wissend machen. Wer ihnen folgt, folgt nicht dem Redner, sondern derselben Wahrheit, der auch der Redner folgt. Und für diese Wahrheit gilt, dass sie frei macht. Wer ihr folgt, tut, was er will. Die Rhetorik ist die Kunst, den Schein von Wahrheit zu erzeugen und damit Menschen zu dem zu bewegen, was sie nicht wollen würden, wenn sie die Wahrheit wüssten, zu dem also, was sie nicht wirklich wollen. Nur, wer weiß, was er tut, tut, was er will. Und wenn Platon aus seiner Stadt auch die gottbegeisterten Dichter vertreibt, so deshalb, weil sie, auch wenn sie die Wahrheit sagen, nicht als Wissende reden, sondern weil sie von einer Macht ergriffen wurden. Sie selbst verfügen über kein Kriterium, um zu beurteilen, wohin diese Macht sie führt. Weil das, was sie sagen, nicht ihre Rede ist, können sie diese Rede auch nicht dem Scheidewasser des sokratischen Dialogs aussetzen, der die Reden auf ihre Wahrheit hin prüft.

Frei ist also für Platon(3) der Wissende. Denn nur er tut, was er will, und zwar nicht zufällig, sondern so, dass er selbst Grund seines Handelns ist. Was heißt das: »er selbst«?

Zweifellos handelt es sich hier um einen Weg des Denkens auf den Gedanken der Person hin. Aber ebenso klar ist, dass das Spezifische dieses Gedankens bei Platon(4) noch nicht gedacht wird. Dass der Mensch »sich selbst« regiert, heißt bei Platon, dass derjenige Seelenteil in ihm regiert, der allein ihn belehren, also wissend machen kann mit Bezug auf das für jeden Menschen Wünschenswerte. Dieser Seelenteil ist die Vernunft. Autonomie heißt Vernunftherrschaft. Die Vernunft aber ist das Gemeinsame, sie ist das Organ der allen gemeinsamen Wahrheit. Das Einzelne, das Partikulare – insofern es dem Allgemeinen, der Idee entgegengesetzt ist –, ist das Unwesentliche, Nichtige. Es existiert, um das Wesentliche, die Idee, zu verwirklichen und darzustellen. So sind es im Staat nur die unteren Stände, die ihre Individualität zum Ziel haben: Ehe, Besitz, Genuss. Sie haben Teil an der Wahrheit, indem sie sich regieren lassen von jenen, die alles Individuelle hinter sich gelassen und nur das Allgemeine im Auge haben, ohne persönliche Bindung, ohne Familie, ohne Besitz, nur darauf bedacht, die Idee der Gerechtigkeit im Staat zur Darstellung zu bringen. Die Forderung der Herrschaft der Philosophen im Staat ist ja bei Platon gleichbedeutend mit der Ablehnung jeder Herrschaft von Menschen über Menschen. Herrschaft der Philosophen ist nicht Herrschaft von Menschen, sondern Herrschaft der Idee, so wie wir ja auch nicht finden, dass es persönliche Herrschaft des Pythagoras ist, wenn alle Menschen sich dem Satz des Pythagoras beugen.

II

Der Gegensatz Allgemeinheit – Individualität oder auch Klasse – Element lässt zwar bei Platon(5) für einen individuellen Menschen die Möglichkeit offen, sich über seine bloße Individualität, sein bloßes »Element-einer-Klasse-sein« zu erheben. Er kann das Wesen, das Allgemeine selbst denken und so seine Partikularität überwinden. Was Platon nicht denkt, ist, dass derjenige, der sich selbst »allgemein macht«, damit zu einer höheren Weise des Seins kommt, als es das Allgemeine selbst ist. Die in einem gerechten Menschen realisierte und konkretisierte Gerechtigkeit ist mehr als die Idee der Gerechtigkeit, und der Mensch, der für sein Vaterland stirbt, ist mehr als sein Vaterland. Als Individuum ist er nur Teil seines Volkes. Aber indem er dieses Teilsein realisiert, ist er eine Totalität, der gegenüber das Volk nur eine Abstraktion ist. Hegel(3) hat hierfür den Begriff des »Einzelnen« bereitgestellt, der, weil er das Allgemeine als solches in sich aufgenommen hat und realisiert, über dem Gegensatz von Besonderem und Allgemeinem steht. Personen sind Individuen. Aber nicht so, dass sie »Fälle« eines Allgemeinen sind, sondern so, dass sie als die jeweiligen Individuen, die sie sind, auf individuelle, unverwechselbare Weise das Allgemeine selbst sind. Sie sind nicht Teile einer übergreifenden Ganzheit, sondern selbst Totalitäten, im Verhältnis zu denen alles Teil ist.

Selbstbestimmung heißt für Personen deshalb nicht, dass das Wahre in seiner überindividuellen Geltung sich in ihnen als das Wesentliche gegen die unwesentliche, nur sinnlich definierte Individualität durchsetzt. So erscheint es bei Platon(6). Die Vernunft ist das Organ des Allgemeinen. Wo sie regiert, ist der Mensch frei. Aber warum regiert sie in vielen Menschen nicht? Sie ist doch zum Regieren da. Die Antwort: »Weil der Mensch nicht will«, ist bei Platon sinnlos. Jeder Mensch will das für ihn Gute. Und das für den Menschen Gute ist nur das »Gute selbst«. Wenn er dies nicht will, dann nur, weil er es nicht kennt. Warum kennt er es nicht? Hier beginnt sich die antike Philosophie im Kreis zu drehen.

Die Antwort des Neuen Testamentes wird lauten: er kennt es nicht, weil er es nicht kennen will, weil er »die Finsternis mehr als das Licht« liebte.[2] Die erste Offenbarung des Geistes zeigt nach dem Johannesevangelium(1), dass die Sünde darin besteht, »dass sie nicht an mich glauben«.[3] Diese Redeweise ist so unsokratisch wie nur möglich. Aber genau in ihr liegt der Ursprung der Entdeckung der Person. Denn was hier gedacht wird, ist, dass es nicht Sache eines naturwüchsigen Schicksals ist, eine Sache der Gene und der Erziehung, ob der unbedingte Anspruch des Guten als des Vernünftigen sich im Menschen durchsetzt, sondern, dass der Grund hierfür noch einmal im Menschen selbst liegt. Das Neue Testament und, ihm folgend, das Christentum nennen diesen Grund »Herz«. Im Unterschied zur Vernunft, die per definitionem vernünftig, aber manchmal eben unaufgeklärt und dann zu schwach zur Herrschaft ist, regiert das Herz immer, aber es entscheidet selbst, von wem es sich regieren lassen will. Aufgrund wovon entscheidet es? Aufgrund seines Soseins, seiner »Natur«, für die es nichts kann? Nein, das Herz in diesem Verständnis ist nicht Natur. Es gibt kein Sosein, keine qualitative Bestimmtheit, die der Grund für die Abwendung vom Guten wäre, für die Liebe zur Finsternis. Das Herz ist grundloser Grund in einem Sinn, für den es in der Antike kein gedankliches und begriffliches Äquivalent gibt. Die Identität des Herzens liegt tiefer als alle qualitative Bestimmtheit. Was hier zum Ausdruck kommt, ist eine anthropologische Entdeckung, weil es einer Erfahrung entspricht. Wir sind einem Menschen ja tatsächlich dafür dankbar, dass er so ist, wie er ist, und wir werfen es einem anderen oder uns selbst vor, so zu sein, wie wir sind. Gewiss, das Böse hängt auch im Neuen Testament mit Unwissenheit eng zusammen. Aber hier ist es der Grund der Unwissenheit, während es sich für den platonischen Sokrates(3) umgekehrt verhält. Daraus erklärt sich auch der Unterschied zwischen der harten Sprache Jesu(1) gegenüber seinen Gegnern und der freundlich-ironischen Sprache des Sokrates.

Dieser Begriff des Herzens ist nun der Begriff, der dem späteren der Person zugrunde liegt. Er bedeutet so etwas wie die Entdeckung der Person. Das wird noch unterstrichen dadurch, dass die Entscheidung zwischen gut und böse, zwischen Licht und Finsternis nicht eine Entscheidung gegenüber einer Idee, sondern gegenüber einer Person ist, die als unhintergehbare Offenbarung der Wahrheit gilt, so dass der johanneische Christus(2) die eigentliche Sünde darin sieht, »dass sie nicht an mich glauben«, und an anderer Stelle sagen kann: »Wenn ich nicht gekommen wäre [. . .], so hätten sie keine Sünde.«[4] Die Erkenntnis der Wahrheit wird als personaler Akt des »Glaubens« gedacht. Die Wahrheit selbst erscheint nicht als das überindividuell Allgemeine, sondern als konkretes Antlitz eines individuell Anderen.

III

Es hat mehrere Jahrhunderte gedauert, die Erfahrung, die sich hier ausdrückt, gedanklich einzuholen und mit der antiken Begrifflichkeit in ein neues Konzept zu integrieren.

Warum gewinnt hier das lateinische Wort »persona« eine Schlüsselfunktion? Der lateinische Begriff »persona« – ebenso wie der analoge griechische Begriff »prosopon« – gehört zunächst der Welt des Theaters an und bedeutet die Rolle, im Unterschied zu dem, der sie spielt. Es ist also genau derjenige Begriff, der heute noch auf unseren Theaterzetteln Verwendung findet: »Die Personen und ihre Darsteller«. Zunächst war »persona« einfach die Maske, durch die hindurch der Schauspieler tönt; später bedeutet »persona« dann auch im übertragenen Sinn die Rolle in der Gesellschaft, den gesellschaftlichen Status. Hier finden wir bereits ein Strukturelement unseres heutigen Personbegriffs, das Moment der Nichtidentität. Der Schauspieler ist Darsteller, er ist nicht das, was er darstellt. Im Unterschied zu unserem Sprachgebrauch war aber »Person« zunächst eben nicht das, was hinter der Rolle liegt und das Spiel ermöglicht, sondern die Rolle selbst. Was hinter ihr liegt, heißt »Natur«. Die Antike kennt keinen Rückgang des Menschen hinter seine Natur, keine Objektivierung der Natur. Natur ist ein Letztes, im faktischen und im normativen Sinn.

»Persona« ist also das Sekundäre, das »Aufgesetzte«, eine sekundäre Identität und daher auch eine schwächere gegenüber der natürlichen. So kann Seneca(1) schreiben: »Nemo potest personam diu ferre. Ficta cito in naturam suam recidunt.«[5] Allerdings ist man dieser sekundären Rollenidentität etwas schuldig. Der Schauspieler hat seine Rolle ordentlich zu spielen, und die Stoiker haben die richtige Lebensführung gern mit dem guten Spiel einer Theaterrolle verglichen. Sie haben damit ein indirektes Verhältnis des Menschen zu seinen primären Zwecken gefordert. Der Mensch ist ein organisches Lebewesen und hat als solches primäre, vitale Zwecke. Aber als vernünftiges Wesen hat er den eigentlichen Zweck, das durch die Natur Vorgezeichnete auf schöne Weise, das heißt als das Vernünftige zu tun. Auch Cicero(1) spricht davon, dass wir der persona, der Rollenidentität, etwas schuldig sind.[6] Es gibt »Amtspflichten«, und in unserem Begriff der »Amtsperson« ist der alte Personbegriff ebenfalls noch präsent.

Auf den Begriff der Person als Rolle griff die alexandrinische Philologie zurück, wenn sie die drei Sprecherrollen der Grammatik als erstes, zweites und drittes »prosopon« bezeichnete. Das übernahmen dann wiederum die lateinischen Grammatiker, denn sie sprechen von der »triplex natura personarum«, von der Person, die spricht, von der Person, zu der gesprochen wird, und von der, über die gesprochen wird, wobei im zweiten, vor allem aber im dritten Fall auch andere Lebewesen oder Dinge an die Stelle von Personen treten können.[7] Schließlich wäre noch als Drittes der Begriff der persona in der römischen Jurisprudenz der Kaiserzeit zu nennen. Hier finden wir zuerst eine Gleichsetzung von Person und Mensch, und zwar so, dass mit »Person« der Sonderstatus entweder des Freien gegenüber dem Sklaven oder des Menschen gegenüber allen anderen Entitäten bezeichnet wird. Das Wort »homo«, Mensch, steht bei den Juristen meistens für den Sklaven, also den, der nur im biologischen Sinn der menschlichen Art angehört, dessen Status aber dadurch nicht definiert ist. Andererseits gibt es aber auch die Unterscheidung zwischen Personen und Sachen, wobei dann alle Menschen, also auch Sklaven, Personen heißen. Sklaven sind dann »personae alieno juri subjectae« im Unterschied zu den »personae sui juris«.[8]

All diesen antiken Verwendungsweisen des Wortes »Person« ist gemeinsam, dass sie sich auf Menschen beziehen, gelegentlich sogar auf alle Menschen, dass sie aber Menschen nicht als Exemplare einer Art und nicht als Instantiierungen eines Begriffs bezeichnen, sondern als Träger einer im weitesten Sinn sozialen Rolle oder als Inhaber eines rechtlichen Status. Hinter dieser Rolle steht, als deren Voraussetzung und Träger, immer eine menschliche »Natur«. In der Stoa allerdings bahnt sich ein Verständnis an, nach welchem die Verwirklichung der menschlichen Natur selbst nach Analogie eines Rollenspiels verstanden wird. Wer dabei das Subjekt dieses Spiels ist, bleibt allerdings im Dunkeln. Es scheint eigentlich gar kein Subjekt zu geben, denn der Determinismus und Fatalismus der Stoa macht es schließlich auch zu einer Sache des Schicksals, ob das Spiel gelingt oder nicht, und die Weisheit ist letzten Endes nichts anderes als die widerstandslose Annahme eben dieses universalen Geschickes.

IV

Wenn wir den Perspektivenwechsel verstehen wollen, aufgrund dessen »Person« nun eben jenes Wesen genannt wird, das sich zu seiner Natur als zu einer Rolle verhält, müssen wir uns die Funktion vergegenwärtigen, die der Personbegriff in der spekulativen Interpretation der christlichen Lehre in den ersten Jahrhunderten nach Christus(3) übernahm. Zweimal diente der Begriff nämlich dazu, Paradoxien aufzulösen, die sich bei dem Versuch ergaben, Aussagen des Neuen Testamentes und deren kirchliche Interpretation gedanklich zu durchdringen.

Die erste Paradoxie ergab sich aus dem Bemühen, den strengen jüdischen Monotheismus vereinbar zu machen mit gewissen Aussagen des Neuen Testaments, in denen Jesus(4) sich als »eins« mit dem Vater bezeichnet[9] oder zu den Jüngern sagt: »Wer mich sieht, der sieht den Vater.«[10] Der Prolog des Johannesevangeliums nennt den Logos, der in Jesus(5) Fleisch annahm, kurzerhand »Gott«. Andererseits spricht Jesus(6) von Gott als von »seinem Vater«; im Gebet ist der Vater sein Gegenüber. So verbot es sich, Jesus(7) einfach nach Analogie antiker Mythologien als Theophanie, als irdische Erscheinung des Vatergottes zu verstehen.

Darüber hinaus spricht das Neue Testament vom »pneuma« Gottes, das durch Christus(8) über die Menschen ausgegossen wird: und zwar so, dass das Pneuma, der »spiritus« als eine vom Vater und vom Sohn unterschiedene Wirklichkeit »hypostasiert« wird. Im Johannesevangelium(2) spricht Christus(9) vom »Parakleten«, vom »Geist der Wahrheit«, den der Vater in seinem – in Christi Namen – senden wird und der seine Jünger »alles lehren wird«.[11] Die frühen christlichen Theologen waren bedingungslose Monotheisten. Sie sahen sich vor der Aufgabe, die Einzigkeit Gottes so zu denken, dass sie sich mit einem solchen Unterschied von Vater, Sohn und Pneuma als einem innergöttlichen Unterschied vereinbaren ließ. Hilfen hierfür boten Worte Jesu(10) im Johannesevangelium(3), zum Beispiel: »Ehe Abraham(1) war, bin ich.«[12] Dieses »Ich« Jesu(11) wird im Prolog des gleichen Evangeliums identifiziert mit dem Logos, von dem es heißt: »Im Anfang war der Logos, der Logos war bei Gott und Gott war der Logos.«[13] Und von diesem Logos heißt es dann, er sei »Fleisch« geworden.[14]

Natürlich ist schon dieser Text selbst, jedenfalls aber seine Rezeption in der hellenistischen Welt – aber das Neue Testament gehört ja selbst der hellenistischen Welt an – im Zusammenhang mit dem Neuplatonismus zu sehen, mit Plotins(1) Lehre von den Emanationen aus dem anfänglich Einen. Ihm, dem Einen, entspringt die Vernunft, der nous, und aus diesem die Weltseele. An diesen Gedanken einer ewigen Emanation aus dem Einen knüpfen offenkundig die christlichen Denker an, vor allem die des griechischen Ostens, Origenes und die Kappadokier. Aber in immer neuen Anläufen geht die Bemühung dahin, diesen Gedanken tiefgreifend zu modifizieren, und zwar so, dass eine radikale Zäsur angesetzt wird zwischen den ersten beiden Emanationen und allen folgenden bis hin zur Materie. Diese folgenden werden nicht mehr als Emanationen verstanden, die mit logischer und ontologischer Notwendigkeit eine aus der anderen hervorgehen, sondern sie werden nun im Sinne der biblischen Genesis als »Schöpfung« bezeichnet. Sie entspringen einem freien, kontingenten Entschluss Gottes. Das Absolute, das Eine hat sich in Freiheit, wenn auch von Ewigkeit her, entschlossen. Die Metapher der Emanation, des Ausfließens aus der Gottheit, wird ersetzt durch die des Herausrufens aus dem Nichts. Die Gottheit, um als Subjekt von so etwas wie einer freien Entschließung gedacht werden zu können, darf nun andererseits nicht als ein Eines gedacht werden, das in sich keine Selbstvermittlung enthält. Sofern es so gedacht wird, geht nämlich das Andere des Einen mit Notwendigkeit unmittelbar aus diesem hervor.

Der Logos ist diese erste Emanation, die es überhaupt erlaubt, das Eine als das Eine zu wissen. Ohne sie kann das Eine sich selbst nicht wissen. Aber nach Plotin weiß sich das Eine auch gar nicht. Sein Gewusstwerden fällt bereits außerhalb seiner. Die christlichen Denker denken das Eine als Gott, das heißt, sie denken es so, dass es die Vermittlung in sich selbst hat, dass es also sich selbst weiß und sich selbst affirmiert. Das aber bedeutet, sie denken die beiden ersten Emanationen, die nicht den Charakter der freien Setzung, sondern den der notwendigen Selbstvermittlung haben, nicht als Abstieg zu jeweils geringerer Mächtigkeit, sondern als solche, in denen das Eine vollkommen bei sich bleibt, indem es das Andere seiner selbst in sich selbst hat. Logos und Pneuma sind sozusagen dasselbe Eine noch einmal, also nicht Instantiierungen des Oberbegriffs Gott, von dem es nun drei Exemplare, also drei Götter geben würde. Das würde dem biblischen Monotheismus widersprechen und den Begriff des Einen aufheben. Außerdem: die Vervielfältigungen ein und desselben setzen nach platonischer(7) und aristotelischer(8), aber auch nach neuplatonischer Auffassung immer ein Medium voraus, das von dem zu vervielfältigenden eidos unterschieden werden muss und sozusagen den Raum darstellt, in dem dasselbe sich vervielfältigen kann. (Leibniz(1), der den Gedanken einer solchen indifferenten Materie fallen ließ, leugnete auch die Möglichkeit mehrerer Individuen, die nur numerisch unterschieden, aber nicht qualitativ verschieden sind.)

Die drei »Hypostasen« der Gottheit aber, wie die Griechen sagten, sollten bloß numerisch unterschieden sein. Die unendliche Mächtigkeit des Einen erlaubt keine Vervielfältigung, sondern nur eine innere Differenzierung, aufgrund deren diese Einheit nun als Prozess der Selbstvermittlung, als ewiges Geschehen der Einigung gedacht wird, mit anderen Worten: als Leben