Reflexion und Spontaneität - Robert Spaemann - E-Book

Reflexion und Spontaneität E-Book

Robert Spaemann

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Beschreibung

Der Theologenstreit um die reine Liebe zog am Ende des 17. Jahrhunderts ganz Europa in seinen Bann. Im Mittelpunkt standen die beiden Schriftsteller und Bischöfe François Fénelon und Jacques B. Bossuet. Historisch ging Fénelon als Verlierer, moralisch aber als Sieger aus dem Streit hervor. Kann sich der Mensch übersteigen? Ist er zu reiner Liebe fähig? Oder muss und kann Liebe nur als aufgeklärte, sublimitierte Selbstliebe existieren? Fénelon vertritt die Ansicht, es gebe die uneigennützige, bedingungslose (Gottes-)Liebe, den amour pur. Fénelons Position wird von der Kirche, vom Papst und von Ludwig XIV. nach massiver Beeinflussung durch Bossuet als »Schimäre« zurückgewiesen. Mit der Entscheidung ist aber das eigentliche Problem nur verschoben, nicht geklärt. Die reine Gottesliebe zurückzuweisen, bedeutet eine bürgerliche Anthropologie zu etablieren und die klassische Teleologie in Funktionalismus umzukehren: Nicht mehr Selbsttranszendenz, wie in der klassischen Philosophie, sondern Selbsterhaltung und Selbstbehauptung werden zum Paradigma der Neuzeit und der bürgerlichen Moderne.

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Seitenzahl: 735

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Robert Spaemann

Reflexion und Spontaneität

Studien über Fénelon

Gesammelte Schriften in Einzelbänden

Ausgabe letzter Hand

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Reflexion und Spontaneität:

Studien über Fénelon/Robert Spaemann.

1. Aufl. im Verl. Kohlhammer, Stuttgart

Zugl.: Münster, Univ., Habil.-Schr. 1963

2., erw. Aufl. – Stuttgart: Klett-Cotta, 1990.

© 1963, 1990, 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96221-5

E-Book: ISBN 978-3-608-11549-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort zur zweiten Auflage

Einleitung

Fénelons Theorie der reinen Liebe nach der Dissertatio de amore puro

Voraussetzungen: Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie

Psychologie und Ontologie

Die Lehre des heiligen Thomas von Aquin über den amor perfectus

Fénelons Argument der Wette

Unschuld und Reflexion

Der »Geist der Kindheit« und die Entdeckung des Kindes

Fanatismus und Gehorsam

Leibniz’ Stellungnahme zum Streit um die reine Gottesliebe

Die Lehre von der reinen Liebe als pädagogische Theorie

Anhang I: Fénelon und Jean Paul

Anhang II: Schopenhauer und der Quietismus

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Meinem Vater

»Was für ein dummer Wicht du bist, Sancho!« versetzte Don Quixote; »weißt du nicht, dass es nach Ritterbrauch einer Dame große Ehre bringt, wenn ihr viele fahrende Ritter dienen, die sonst keinen Wunsch haben, als ihr um ihrer selbst willen zu dienen und keinen anderen Lohn für ihr ausdauerndes Streben fordern, als die Erlaubnis, ihr Ritter zu sein?«

»Das ist ja genau so, wie ich es habe predigen hören«, sprach Sancho Pansa; »unsern Herrgott soll man auch um seiner selbst willen lieb haben, ohne an Himmel und Hölle zu denken; und dabei möchte ich ihn doch viel lieber um dessen willen lieben und ihm dienen, was er zu tun vermag.«

Cervantes, Der scharfsinnige Ritter Don Quixote von der Mancha, 1. Teil, 31. Kapitel

Vorwort zur zweiten Auflage

Für Leibniz(1) war er der »unvergleichliche Fénelon«, für die Nachwelt, Katholiken und Protestanten, Aufklärer und Romantiker, Revolutionäre und Konterrevolutionäre eine Lichtgestalt. Seine Kontroverse mit Bossuet(1), die im Mittelpunkt dieses Buches steht, wurde zur cause célèbre für das gebildete Europa, darüber hinaus zur Haupt- und Staatsaktion durch die Intervention Ludwigs XIV. (1)»Endlich schreiben die Journale wieder von etwas anderem«, bemerkte wiederum Leibniz(2), als der Streit 1690 durch römischen Machtspruch mit einem Kompromiss beendet wurde. Es war um die Frage gegangen, ob Liebe zu Gott, zum Nächsten, zum Gemeinwohl ausnahmslos als Funktion von Selbstliebe – aufgeklärter, sublimierter Selbstliebe – begriffen werden müsse und könne oder nicht. Der amour pur-Streit war für mich vor 30 Jahren Probierstein der These, neuzeitliche, »bürgerliche« Ontologie und Anthropologie seien gekennzeichnet durch eine Inversion der Teleologie. Selbsterhaltung, Selbstbehauptung, nicht Selbsttranszendenz sei deren neues Paradigma. In dessen Rahmen wird, das zeigt die Kontroverse, Wohlwollen unbegreiflich, wenn es nicht als Funktion des selfish system begriffen wird. »Reine Liebe« ist nicht mehr Vollendung der menschlichen Natur, sondern das, was in ihrem Kontext gar nicht gedacht werden kann, das schlechthin Andere, »Tod der Natur«. Die religiöse Antithese zu dieser Mystik »reinen guten Willens« als eines unableitbaren »Faktums« war zunächst, bei Bossuet(2), ein trotzig-frommer religiöser Eudämonismus, schließlich dann, in unserem Jahrhundert, systemtheoretische, biologische, psychologische, soziologische Funktionalisierung der Religion. Schon Ludwig XIV. (2)hatte freilich an deren staatstragende Bedeutung gedacht, die ihm durch Hoffnung und Furcht zuverlässiger gewährleistet schien als durch die »Schimäre« reiner Liebe.

In verwandelter Form geht die Kontroverse weiter. Inzwischen fordert Emmanuel Levinas(1) mit einer jüdischen Variante des amour pur systemtheoretische Ontologie, naturalistische Philosophie des Geistes und die im Begriff der Sorge kulminierende Daseinsanalyse heraus. Seine These von der theoretischen Uneinholbarkeit des Anderen und vom radikalen Primat der Ethik vor der Ontologie setzt in kritischer Absicht das gleiche Paradigma der Selbstbehauptung voraus, von dem nun gesagt wird, es liege aller europäischen Ontologie zugrunde. Wenn es sich so verhält, dann wäre es in der Tat besser, die Wahrheit au-delà de l’être zu suchen. Mein Vorschlag, die Prämisse infrage zu stellen und den Gedanken der Teleologie auf anfänglichere, nicht »invertierte« Weise neu zu denken, ist bisher überwiegend auf höfliche Skepsis gestoßen. Ich sehe zwar nicht, wie ohne einen solchen Neuanfang die Dialektik der zwei Kulturen, die eskalierende Dialektik von Naturalismus und Spiritualismus zum Stehen gebracht werden kann, die die Humanität unserer Zivilisation in der Tiefe bedroht. Aber noch übertrifft offenbar der Schrecken vor den theoretischen und praktischen Folgelasten einer solchen Revision die Sorge vor dem, was von selbst geschieht, wenn weiter gedacht wird wie bisher.

Dieses Buch betrachtet den amour pur-Streit zunächst als Symptom, als Indiz eines von den Zeitgenossen selbst unbegriffenen Wandels in der Stellung des Gedankens sowie dessen sozialgeschichtlichen Hintergrund. Darüber hinaus geht es Fénelons ethischer, religiöser, religionsphilosophischer und literarischer Wirkungsgeschichte nach. Tatsächlich wurde damals eine Weiche für das Bewusstsein des folgenden Jahrhunderts gestellt. Die Entdeckung des Kindes aus dem Geist eines mystischen Anticartesianismus war eines der mich selbst überraschenden Ergebnisse. Aber der Umweg über historische Verfremdung, Relativierung und Funktionalisierung von Texten großer Lehrer geistigen Lebens ist für uns zugleich der kürzestmögliche Weg, uns solche Lehrer wieder als Lehrer, das heißt unmittelbar gegenwärtig werden zu lassen. Mit dem Verblassen der Gestalt Fénelons im europäischen Bewusstsein verblasst etwas Unersetzliches mit. Die Absolutismuskritik und die »Education des filles« mögen ihre Zeit gehabt haben und der »Telemach« nur noch in Mozarts(1) »Idomeneo« weiterleben. Die Sache, um die es im amour pur-Streit ging, ist seit Platon für das Denken da. Wie sie zu Leben werden kann, zeigen Fénelons subtile Briefe der Seelenführung, die Matthias Claudius(1) großenteils ins Deutsche übersetzt hat. Veralten kann an ihnen nur ein sehr oberflächlicher Firnis. Es mag verwundern, dass zwei der Größten des achtzehnten Jahrhunderts über diese Sache unter öffentlicher Anteilnahme mit solcher Erbitterung stritten. Die Erklärung ist sehr einfach: An dem, worüber Menschen erbittert streiten, sieht man, was ihnen wichtig ist. Wenn man das bedenkt, wird es zweifelhaft, ob unsere öffentlichen Kontroversen Grund geben, als jenen überlegen zu gelten.

Bei diesem Buch handelt es sich um die Neuausgabe meiner Habilitationsschrift, die 1963 in erster Auflage erschien. Unterdessen wurden an verschiedenen Orten die Kapitel über Jean Paul(1), über Schopenhauer(1) und über bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie abgedruckt. Das letztgenannte, dessen zentrale These ich rudimentär erstmals 1952 in einer Arbeit über de Bonald(1) und den Ursprung der Soziologie entwickelt hatte, stieß eine Debatte an, die Hans Ebeling in einem Band unter dem Titel »Subjektivität und Selbsterhaltung« (Frankfurt 1976) dokumentiert hat.

Einem vielfach geäußerten Wunsch entsprechend sind in dieser Neuausgabe die zahlreichen lateinischen, französischen und auch italienischen Zitate ins Deutsche übersetzt, die wichtigsten Originaltexte in den Anmerkungsteil verbannt worden, was im Interesse der Lesbarkeit zu einer Zweiteilung in Fußnoten und Anmerkungen geführt hat. Für die damit verbundenen Arbeiten danke ich herzlich Peter Nickel M. A.

Ostern 1990 Robert Spaemann

Einleitung

Studien über Fénelon können nicht die Absicht verfolgen, einen zu Recht oder Unrecht Vergessenen in Erinnerung zu bringen. Fénelon ist nicht ein verschollenes Bindeglied der europäischen Geistesgeschichte, und er gehört nicht zu jenen »Obskuren«, die man – nach Grillparzers(1) Wort[1] – durchgefühlt haben muss, um die Großen zu verstehen. Der Lehrer des »Kleinwerdens« hat immer als ein Großer gegolten, der Theologe der »Dunkelheit des reinen Glaubens« nie im Dunkeln gestanden. »M. l’Abbé, vous voulez être oublié, vous le serez«[2] – Sie wollen vergessen sein, Sie werden es auch sein –, hatte Harlay(1), der Erzbischof von Paris, den jungen Abbé Fénelon wissen lassen. Man kennt Harlay(2) nur noch als den, der dies zu Fénelon gesagt hat. Königliche Ungnade, Verbannung vom Hof in Versailles konnten seinen Ruhm im zivilisierten Europa nur steigern. Cambrai, der Sitz des Erzbischofs, nimmt den Platz ein, an den fünfzig Jahre später Fernay, die Residenz Voltaire(1)s, rückt. Der Erzbischof von Köln lässt sich von Fénelon weihen, Prinz Eugen(1) rechnet es sich zur Ehre an, mit ihm zu korrespondieren, Leibniz nennt ihn »den unvergleichlichen Fénelon«[3].

Aus dem Streit mit Bossuet(3), dem letzten theologischen Streit, der im gebildeten Europa allgemein Anteilnahme findet1, geht Fénelon politisch als Verlierer, moralisch aber als unbestrittener Sieger hervor. Im 18. Jahrhundert aber wird das Moralische das Politikum schlechthin[5]. »Ich besinge Fénelon: Ich besinge die Tugend«2, heißt es in einer Ode auf Fénelon aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ganz aus diesem Geiste ist es gedacht, wenn Rousseau(1) der Meinung ist: »Kriege und Siege beiseitelassend hätte man eher vom Jahrhundert Fénelons als vom Jahrhundert Ludwigs XIV. (3)gesprochen.«[8]

Papst Innozenz(1)XII. selbst, der die »Maximen der Heiligen« auf den Druck von Versailles hin verurteilte, formulierte es privat so: »Erravit Cameracensis excessu amoris Dei, peccavit Meldensis defectu amoris proximi«[9]3und ließ den Zensurierten seiner speziellen Sympathie versichern. Der Nachfolger des Papstes, Clemens XI.(2), hatte als Kardinal Giovanni Francesco Albani(1) mit anderen gegen die Verurteilung gestimmt.

Trug diese zum Ansehen Fénelons in den Augen von Protestanten und »Libertinisten« bei, so vollendete die vornehme und einfache Art seiner unverzüglichen Unterwerfung seinen Ruhm in den Augen der Katholiken, ohne seine Aufrichtigkeit zu diskreditieren[11]. Fénelon hatte sein Buch als misslungene Darstellung seiner Lehre, nicht diese selbst preisgegeben. Rom billigte stillschweigend diese Version, indem es Fénelons Schriften zur Verteidigung der »Maximen« trotz Bossuets(4) Vorstellungen nicht mitzensurierte.

Indessen war nun doch die Wirkung der praktischen Theologie Fénelons für die katholische Welt und darüber hinaus auf etwa hundert Jahre blockiert. Dass Fénelons Lehre von der uneigennützigen Liebe ein »edler Irrtum« sei, wurde zum Gemeinplatz der Aufklärung, die darin das jansenistische Schlagwort von den »schimärischen Prinzipien«[12] übernimmt. »Ich weiß nicht«, schreibt d’Alembert(1), »ob Fénelon Häretiker war, indem er versicherte, daß Gott es verdient, um seiner selbst willen geliebt zu werden; aber ich weiß, dass Fénelon es verdient, auf diese Weise geliebt zu werden«[13].

Für das 18. Jahrhundert war er der Verfasser des »Telemach«, des verbreitetsten Werkes der Weltliteratur im 18. Jahrhundert[14]. Cherel(1) hat der Wirkung Fénelons im Frankreich dieses Jahrhunderts ein umfangreiches Werk gewidmet[15]. Für Deutschland liegt noch keine ähnliche Arbeit vor. Eine erste Skizze hat Leo Just(1) gegeben, wo es zusammenfassend heißt: »Kein französischer Autor vor Voltaire hat eine solche Breiten- und Tiefenwirkung außerhalb Frankreichs erzielt wie der Erzbischof von Cambrai.«4[16] Friedrich der Große(1) besaß als Kronprinz allein drei Ausgaben des »Traité de l’existence de Dieu«. Der Antimachiavell ist offensichtlich vom Verfasser des »Telemach« beeinflusst5. Robespierre(1) aber kleidete der Legende nach seinen Absichten in die Worte: »Wir wollen Salente gründen.«[19] Dem Erfinder von Salente verweigerte er allerdings die Aufnahme ins Pantheon: der rücksichtslose Kritiker des Sonnenkönigs war trotz allem ein Royalist gewesen.

Für das 18. Jahrhundert ist Fénelon vor allem jener Herold einer toleranten Humanität, als den ihn M.-J. B. Chénier(1) in dem rührseligen Drama »Fénelon ou les Religieuses de Cambrai«[20] schildert. Der Chevalier Ramsay(1), den Fénelon zum Katholizismus bekehrt hatte, steht am Ursprung dieses Fénelonbildes; durch ihn werden Fénelons politische Ideen, die zunächst durchaus aus feudalen Gedankengängen hervorgehen, in die Bahnen der Freimaurerei geleitet. Der Abbé Terrasson(1), Verfasser des »Sethos«, der seinerseits den Verfasser der Zauberflöte inspiriert hat, schreibt: »Wenn das Glück der menschlichen Gattung aus einem Gedicht hervorgehen könnte, ginge es aus dem ›Telemach‹ hervor.«[21] Es ist dieses Bild Fénelons, das dann im Gegenzug in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Kritik an dem »sentimentalen«, »romantischen«, subtilen, morbiden Fénelon herausforderte, die sich auf das Wort Ludwigs XIV. beruft: »Der Herr Erzbischof von Cambrai ist der schimärischste von allen Schöngeistern in meinem Königreich.«

Nisard(1), Cousin(1), Brunetière(1), Lemaître(1), Crouslé(1), Doumic(1), schließlich die Schule von Maurras(1) machten die Parteinahme für Bossuet(5) zu einer Art nationalem Schibboleth, übrigens meistens in weitgehender Unkenntnis der Hintergründe der theologischen und philosophischen Fragen, um die es in Fénelons und Bossuets(6) Schriften ging. Ausgerechnet jener Fénelon wird vom Baron Seillière des Sentimentalismus bezichtigt[22], dem Bossuet(7) vorgeworfen hatte, jedes religiöse Gefühl zugunsten einer trockenen Vernunft- und Willensreligion abzutöten. Ausgerechnet über Fénelon, der geschrieben hatte: »O, wie häßlich ist es, zwei, drei, vier usw. zu sein! Man soll nur einer sein«[23], und dessen Denken um die Aufhebung des Selbst kreisten, über Fénelon, der eine jahrtausendealte Lehrtradition über die Natur der Gottesliebe gegen eine persönliche Interpretation Bossuets(8) verteidigte, schreibt Nisard(2) Gemeinplätze wie diesen: »Das Grundprinzip Bossuets(9) ist die Tradition, das Katholische, das Allgemeine, das Wir. Das Prinzip Fénelons ist der Einzelne, und, falls überhaupt Tradition, dann höchstens eine Tradition von gestern; es ist die persönliche Erfahrung, das Ich. Fénelon geht vom individuellen Urteil aus, Boussuet vom allgemeinen Menschenverstand.«[24]

So belanglos für sich genommen solche die französische Universität lange Zeit beherrschenden Äußerungen sind, so ist doch das fortdauernde nationale Engagement in diesem verjährten Theologenstreit bezeichnend dafür, dass das, was bei den Fragen, die in ihm verhandelt wurden, auf dem Spiel stand, für die moderne Welt noch nicht belanglos geworden war. Wenn Madame de Grignan(1), die Tochter der Madame de Sévigné(1), anlässlich des Streites um die »Maximen« schrieb: »Der Bischof von Cambrai vertritt gut die Sache Gottes, aber der Bischof von Meaux(10) besser die Sache der Religion; er muß in Rom gewinnen«[25], so mochte dem Kardinal de Bausset(1) ein solches Wort noch preziös und rätselhaft erscheinen[26]; nachdem Comte das traditionalistische Programm einer Religion ohne Gott entworfen und nachdem Maurras(2) es mit einem nationalen Katholizismus ohne Christentum zu realisieren versucht hat[27], vermögen wir ein solches Wort mit einem sehr genauen Inhalt zu füllen. Die Worte Nisards(3) von dem traditionslosen und subjektivistischen Fénelon erhalten plötzlich einen präzisen Sinn, und es fällt gleichzeitig ein neues Licht auf das, worum es in jenem alten Streit tatsächlich ging. Wenn Max Wieser(1) in seinem pamphletartigen Buch über »Deutsche und romanische Religiosität«6[28] Fénelon zum Prototyp einer romanisch sentimentalen Religiosität macht und ihn als solchen einem »Luther(1) oder Moltke« (!) gegenüberstellt oder wenn der französische nationalistische Klassizismus der Jahrhundertwende ihn umgekehrt für unfranzösisch erklärt, dann sind solche Urteile weniger von inhaltlichem als von symptomatischem Interesse: In beiden Fällen erscheint Fénelon als Gefahr für das, was Bergson(1) eine »religion close« genannt hat, als Gefahr für die Konzeption einer geschlossenen Gesellschaft7[29].

Weil er vielleicht als erster Theologe jenes Problem gesehen und auf sich genommen hat, das wir heute das der Säkularisierung, der Profanität oder der Entfremdung zu nennen gewohnt sind, und weil er die Frage nach der Möglichkeit christlicher Existenz unter den Bedingungen der Entfremdung gestellt hat, darum wird er für den Vorgang der Entfremdung selbst von jenen verantwortlich gemacht, denen es um eine ästhetische oder politische Verdeckung der »Krise des europäischen Geistes« geht und die zu diesem Zweck die »Seele der Nation« beschwören, welche durch Fénelon Gefahr laufe, ihre Kraft zu verlieren[30].

Brunschvicg(1) hat Bossuet(11) dafür verantwortlich gemacht, dass alle Ansätze einer Bewältigung der Entzweiung von Glaube und rationaler Humanität im 17. und 18. Jahrhundert stecken geblieben und in Misskredit gebracht worden seien8[31].

Den ersten wahrhaft epochemachenden Angriff gegen die offizielle, auch von den Theologen nach und nach übernommene Fénelonkarikatur eröffnete im Jahre 1910 der Abbé Bremond(1) mit vier Artikeln in den Annales de Philosophie chrétienne, die den schlichten und kampflustigen Titel tragen: »Pro Fénelone«. Es folgte die »Apologie pour Fénelon«[32], die ihrerseits nur der Auftakt zur groß angelegten Behandlung Fénelons in der »Histoire du sentiment religieux en France« sein sollte, vor deren Vollendung Bremond(2) starb. Bremonds Apologie, die durch ihren passionierten Stil die Gründlichkeit des ihr zugrunde liegenden Studiums verdeckt, stieß zunächst auf manche entrüstete Ablehnung. Ihre Deutung aber liegt tatsächlich allen späteren und heutigen Interpretationen zugrunde. Sie hat zunächst ganz einfach den Vorzug, von einem Gelehrten geschrieben zu sein, der den Gegenstand der großen Querelle, die Mystik und ihre Geschichte in Frankreich, kennt, zweitens von einem Mann, der als Theologe und mehr noch als Humanist das offizielle Vorurteil zugunsten von Port Royal nicht teilte. Bossuet(13) aber ist für Bremond(3) so etwas wie Jansenist in den Grenzen der Orthodoxie. Er selbst gibt am Ende der Apologie dies als den tiefsten Grund seiner Option für Fénelon an: »Der tiefste Grund ist der, daß ich mich mit allen Kräften gegen eine gewisse Auffassung des Augustinismus auflehne, diejenige des Jansenius(1), welche, die fünf Sätze ausgenommen, mir diejenige des Bischofs von Meaux(14) zu sein scheint.«[33]

Bremonds(4) Hypothese einer jansenistischen »Verschwörung« als Grund der Ungnade, in die Fénelon geriet, hat übrigens eine Stützung erfahren durch das umfangreiche Buch von Raymond Schmittlein(1) »L’aspect politique du différend Bossuet-Fénelon(15)«9. Es ist unmöglich, hier auf die Fülle der Arbeiten, die seit Bremonds(5) Vorstoß über Fénelon erschienen sind, einzugehen, Einzeluntersuchungen, die etwa der ökonomischen Theorie Fénelons gewidmet sind[35], einzelne seiner zentralen Begriffe wie den der Gelassenheit (»indifférence«) in ihrer historischen Herkunft ins Licht rücken[36] oder das Verhältnis Fénelons zu Johannes vom Kreuz(1) zum Gegenstand haben[37]. Daneben treten Gesamtdarstellungen, die vor allem immer wieder psychologisch die ungemeine Differenziertheit der Persönlichkeit Fénelons aufzuhellen versuchen, jenes Fénelon, der von sich selbst schreibt: »Ich bin mir selbst eine ganze Diözese und komplizierter als die große.«[38] Den meisten dieser Werke gelingt es allerdings nicht, bzw. es ist ihnen nicht darum zu tun, die allgemeine Bedeutung Fénelons sichtbar zu machen, die ihn zu jenem Großen macht, als der er für anderthalb Jahrhunderte gegolten hat. Am nächsten kommt diesem Postulat wohl François(1) Varillon in zwei kleinen Schriften: »Fénelon et le pur amour«, das 1957 in der Reihe »Maîtres spirituel« erschien, und in der ausführlichen Einleitung zu den »Œuvres spirituelles« Fénelons, die er 1954 in der Kollektion »Les maîtres de la spiritualité chrétienne« herausgab[39]. Das intime Verständnis der subjektiven Antriebe Fénelonschen Denkens verbindet sich hier mit einer ebenso bemerkenswerten Kraft der systematischen Durchdringung jener Dialektik von Verzweiflung und Hoffnung, die die Gedanken Fénelons so außerordentlich aktuell für das moderne Bewusstsein macht. »Fénelon était un sensible à qui Dieu n’était pas sensible«[40] – in diesen Worten, die offenbar bewusst im Kontrast zu Pascals(1) »Dieu sensible au cœur« (»Gott dem Herzen wahrnehmbar«) formuliert sind, ist vielleicht am besten Varillons(2) Deutung des Ausgangspunktes der Lehre vom pur amour bezeichnet. Von da wäre es nur noch ein Schritt, um das persönliche Problem Fénelons als das allgemeine und geschichtliche der Entzweiung und »Säkularisierung« sichtbar zu machen. Dazu genügt es allerdings nicht, sich, wie es auch noch Varillon(3) tut, in der Deutung der theologischen Gedankengänge Fénelons auf den Bezug zur vorgegebenen innertheologischen Problematik zu beziehen und deren spezielle Akzentuierung aus Fénelons Individualität herzuleiten. Wenn die Lehre von der Caritas, die in der katholischen Schultheologie bereits eine außerordentlich differenzierte Ausbildung seit Jahrhunderten besaß, plötzlich zum Anlass eines Europa bewegenden Streites wurde, so kann der Grund dafür nur gefunden werden, wenn man fragt, inwiefern das allgemeine philosophische Denken der Zeit und ihr Lebensgefühl Wandlungen erfahren hat, in Anbetracht deren bestimmte alte Antworten nicht mehr als Antworten auf die eigenen Fragen erscheinen. Dazu muss aber Fénelon in einem geistigen Zusammenhang gesehen werden, der nicht mit dem der zeitgenössischen Theologie oder gar nur der katholischen zusammenfällt. Theologische Meinungsverschiedenheiten pflegen ihren Grund nicht in der Theologie selbst zu haben. In die Richtung einer solchen Fragestellung weist etwa die Arbeit von Sanson(1)[41], der die Meinungsverschiedenheit Fénelon-Bossuet(16) darauf zurückführt, dass beide, wenn sie Johannes vom Kreuz(2) interpretieren, eine von Johannes vom Kreuz verschiedene Psychologie als Ausgangspunkt haben. Wenn Sanson(2) freilich das Problem, das hier auftaucht, dadurch lösen zu können glaubt, dass er kurzerhand die Rückkehr zur Psychologie des heiligen Johannes vom Kreuz(3) nahelegt, so mag die inhaltliche Richtigkeit dieser Empfehlung dahingestellt sein, sie trägt nichts mehr bei zum Verständnis dessen, was sich in diesem Wandel vollzog. Sie muss auch die Rolle Fénelons in der Geistesgeschichte verdecken. Wir haben demgegenüber Fénelon als den Theologen, Philosophen, Pädagogen, Schriftsteller ins Auge zu fassen, der das Problem christlicher Existenz auf dem Boden der Moderne, auf dem Boden der Entzweiung gestellt hat, einer Entzweiung, die sich methodologisch z. B. in dem Auseinandertreten von Ontologie und Psychologie darstellt und die psychologisch zum Problem der unendlichen Reflexion wird. Von einer solchen Sicht her könnte dann einiges Licht fallen auf Fénelons Schlüsselstellung innerhalb der Geschichte der geistigen Bewältigung des Problems der Entfremdung. Nur wenige Hinweise existieren bisher in dieser Richtung. Cherel(2) hat vor allem auf die literarischen Wirkungen Fénelons im Frankreich des 18. Jahrhunderts den Akzent gelegt. Einige weiterführende Bemerkungen finden sich bei Leon Brunschvicg(2)[42] und Vladimir Jankélévitch(2)[43]. Dem Einfluss der Madame Guyon(1) auf die protestantische Mystik und den deutschen Pietismus ist in einigen Einzeluntersuchungen nachgegangen worden. Schon Francke(1) hat ja Fénelons Schrift über die Mädchenerziehung übersetzt. Aber die Beschränktheit der bisherigen Fragestellung hat es lange Zeit nicht erlaubt, die Auseinandersetzung Leibniz’[44] mit Fénelon und die auffallende Beziehung Fénelonscher Gedanken zu Kant(2), zu Hegel(1), zu Herder(2), Jean Paul(2) oder zu Schopenhauer(2) thematisch zu erörtern. All das wäre Gegenstand eigener Untersuchungen, deren im Folgenden nur wenige ausgeführt werden können, deren Richtung im Übrigen nur skizziert werden soll.

Fénelon ist Theologe. Es wäre eine verfälschende Abstraktion, seine pädagogischen, philosophischen und literarischen Gedanken zu isolieren, wenngleich man nicht mit Cherel(3) unbedingt alle seine Äußerungen etwa zu literarischen Problemen aus der Lehre vom pur amour deduzieren muss[45]. Wenn die verdienstliche Arbeit von J. L. Goré(1)[46] uns den Humanisten Fénelon vor Augen stellt, so ändert dies doch nichts daran, dass er, obgleich selbst kein Mystiker, vor allem der Freund der Mystik ist. Als dieser hat er gewirkt, als dieser nennt ihn Claudius(2) den »Bernhard des 18. Jahrhunderts«[47], Sailer(1) den »Augustinus der neueren Zeit«[48] und Jean Paul(3) kurzerhand den »heiligen Fénelon«[49]. So sehr wir über den Bildungsgang Fénelons, seine philosophischen Lehrer usw. bis heute im Dunkeln tappen und so wenig es andererseits richtig ist, ihn als »Schüler der Madame Guyon(2)« – oder gar »den Mann dieser Frau«, wie Bossuet(17) es auszudrücken für gut fand – zu bezeichnen, so sind wir doch in der glücklichen Lage, diejenigen zu kennen, die er nach der Begegnung mit Madame Guyon(3) zu seinen Lehrern gemacht hat; jene Kette von Lehrern der mystischen Theologie, angefangen von Clemens von Alexandrien(1) über Cassian(1) bis zu Ruysbroeck(1), Tauler(1), Teresa von Avila(1) und Johannes vom Kreuz(4). J. L. Goré(2) hat in der erwähnten Monographie einmal die Geschichte eines Zentralbegriffs der Lehre Fénelons durch diese Kette hindurch verfolgt, den Begriff der indifférence, der schließlich auf die stoische apatheia-Lehre zurückgeht. Was aber wiederum Fénelon in diesem Zusammenhang interessant macht, ist das Gleiche, was den Streit der Zeitgenossen entfachte: dass mit Fénelon die Mystik aufhört, ein esoterisches, neben dem allgemeinen Geistesleben hergehendes Phänomen zu sein, dass sie einmündet in jenes. In dem subtilen Streit um das Problem der contemplatio infusa oder acquisita, der »eingegossenen« oder der »erworbenen« Betrachtung, wird im Grunde nichts anderes ausgetragen als die Frage, ob der mystischen Kontemplation eine allgemeine ethische Bedeutung zuzukommen vermag und ob der amour pur, die reine Liebe, die Fénelon mit der contemplatio identifiziert, Ziel einer pädagogischen Bemühung sein kann oder nicht. Bossuet(18), der die allgemeine Bedeutung der Mystik abzuschwächen suchte, hat sie »hinaufgelobt«, den »eingegossenen« und absolut mirakulösen Charakter der mystischen Beschauung betont und in Bezug auf Fénelon von einer »Profanation« gesprochen. Uns ist heute der Begriff der Säkularisation geläufiger. Aber gerade Fénelon ist imstande, den positiven Sinn des Säkularisationsvorganges deutlich zu machen. Nicht Bossuets(19) Lyrismus und nicht Pascals(2) »Freude« und »Gewißheit« sind es, die die Erfahrung der Abwesenheit Gottes für Gefühl und Reflexion theologisch zu bewältigen vermögen. Bossuets(20) Verdeckung der Entfremdung, seine Identifizierung Ludwigs(4)XIV. mit Konstantin und seiner selbst mit einem Kirchenvater mussten schließlich zu jener Verzweiflung führen, die Fénelons Ausgangspunkt ist. Verzweiflung konnte nur das Ergebnis der Lehre des Jansenisten und Bundesgenossen Bossuets(21) Nicole(1) sein, der in seinem »Traité de l’oraison« den Zustand der Abwesenheit Gottes für Erfahrung und Reflexion mit seiner tatsächlichen Abwesenheit identifizierte: »in der Abwesenheit der Gnade, d. h. im Zustand der Dürre«10.

Wenn Fénelon stattdessen jene »reflektierte Überzeugung« von der »Abwesenheit der Gnade« selbst noch als eine Weise der Gottnähe zu begreifen vermag, dann deshalb, weil die Mystik jene Erfahrungskategorien bereit hielt, die ein solches Begreifen ermöglichten. Das konnte natürlich nicht gesehen werden, solange die Auffassung Cousins(2) herrschend war, dass die Mystik sich mit Gott durchs Gefühl vereinigen will, bzw. die Vernunft dem Gefühl unterordnet. An dieser Auffassung wäre das Interessanteste ihre Genealogie. Tatsächlich ist das Gegenteil richtig. Die »dunkle Nacht« des Johannes vom Kreuz(5) bedeutet die Einigung mit Gott in der Abwesenheit jeder gefühlsmäßigen Erfahrung. Mystik ist seit Dionysius(1) gleichbedeutend mit Theologia negativa. Und in eben diesem Sinne kann Fénelon schreiben: »Man ist nie stärker mit Jesus Christus vereint, als wenn man oft seiner aus reinem Gehorsam beraubt ist …«[51]

Welche Funktion die Mystik für Fénelon gewinnt, können wir noch genauer bestimmen, wenn wir uns einer der seltenen Interpretationen zuwenden, in der Fénelon auf das Entfremdungsproblem hin gedeutet, in der aber zugleich die zentrale Bedeutung der mystischen Tradition zur Bewältigung dieses Problems nicht gesehen wird. So schreibt Charles Journet(1): »Fénelon hat den Bruch zwischen dem Christentum und der Kultur, der sich seit dem Auseinanderfallen der mittelalterlichen Christenheit, d. h. seit dem 13. Jahrhundert, vollzogen hat, konstatiert. Was seine Seele, seinen tiefen Glauben, seine Liebe betrifft, gehören sie dem Reich Gottes an. Aber was seine kulturellen und politischen Wertungen angeht, passen sie sich in der Hoffnung, sie besser zu lenken, der Auffassung dieser Welt an. Man lese seine Totengespräche. Sie trübten Voltaire(2) den Blick. Bossuet(22) stellt denselben Bruch fest. Aber er hat sich nicht damit abgefunden. Er denkt, dass das Christentum weiterhin jegliche politische und kulturelle Ordnung von oben her leiten soll. Und aus diesem Grunde sind unsere tiefsten Sympathien mit ihm. Aber er sieht nicht, dass die mittelalterliche und sakrale Christenheit zu Ende gegangen ist, dass sie sich unheilbar auflöst, dass sie durch eine andere Christenheit profaner Art ersetzt werden muss. Er versucht hartnäckig, sie gewaltsam festzuhalten, und hierin scheiden sich unsere Wege.«[52] Hinter dieser Deutung, die wie fast alle französischen Fénelonarbeiten zugleich Anteilnehmen an einer als gegenwärtig betrachteten Fragestellung ist, steht Maritains(1) Konzeption einer profanen christlichen Gesellschaft, wie sie in seinem »Humanisme intégral«[53] entwickelt wird.

Fénelon erscheint also hier als jener Theologe, der die Entfremdung sieht, aber ihr insofern zum Opfer fällt, als er selbst sich von jenem Dualismus: Glaube – profane Kultur ergreifen lässt. Aber kann man sagen, es heiße einem Dualismus verfallen, solange dieser Dualismus als Leiden, ja als Verzweiflung erfahren wird? Einen »Lehrer der Verzweiflung« hat Bossuet(23) Fénelon genannt. Aber diese Verzweiflung selbst ist für Fénelon die äußerste Gestalt des Kreuzes.

Im Mittelpunkt seiner Frömmigkeit steht für ihn das Wort Jesu am Kreuz: »Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?« Und hier eben liegt die Bedeutung, die die Mystik für die Bewältigung des Entfremdungsproblems gewinnt. Die spanischen Mystiker vor allem hatten gelehrt, die »Trockenheit«, die Abwesenheit religiöser Empfindung, den scheinbaren Tod Gottes, für gläubige Gemüter als Reinigung des Geistes, als Stufe auf dem Wege zur bildlosen Einigung mit Gott zu begreifen. Nicht die Auflehnung gegen die Entzweiung, sondern ihre gehorsame Annahme, die Nonresistenz sogar gegen die reflektierte und gerade deshalb irrige Überzeugung von der eigenen Verdammnis, das sind für Fénelon die Stadien auf dem Wege zu jenem amour pur, der Gehorsam und Emanzipation zugleich bedeutet.

»En perdant l’espérance

On retrouve la paix.

L’amour sans confiance

Ni défiance

Est la seule assurance

Pour un jamais.«[54]

Indem Fénelon mystische Tradition in einem allgemeinen Sinn ethisch relevant und zur Bewältigung spezifisch moderner Lebensprobleme fruchtbar zu machen verstand, ist er in der neueren Interpretation unvermeidlich dem Vorwurf der »Säkularisierung« ausgesetzt. Schon Zeitgenossen wie Godet des Marais(1), der Bischof von Chartres, haben den Vorwurf erhoben, Fénelon ziehe zu Unrecht ans Licht der Öffentlichkeit, was bisher Vorrecht einzelner bevorzugter Seelen gewesen sei, er nehme der Mystik ihren esoterischen Charakter. Fénelon hatte dagegen schon im Vorwort zu den »Maximen der Heiligen« erklärt, dass diese öffentliche Erörterung der höchsten Stufen christlichen Lebens von ihm nicht aus einer indiskreten Willkür hervorgehe. Nicht er selbst habe das Schweigen gebrochen, sondern längst sei es gebrochen worden. Fragen der mystischen Kontemplation seien in einer verhängnisvoll popularisierenden und verfälschenden Weise vor einem breiten Publikum erörtert worden. Dies habe wiederum eine nicht minder verhängnisvolle Reaktion zur Folge gehabt: Mit jenen heterodoxen Sätzen neuerer Autoren drohe die große mystische Tradition, die seit jeher zur Kirche gehöre, drohe die klassische Lehre von der Gottesliebe (caritas) als Kindesliebe (amor filialis) und Freundesliebe (amor amicitiae) in Verruf zu geraten, die »Maximen der Heiligen« selbst, ja schließlich der Herr des Christentums werde für viele Theologen suspekt, und in dieser Situation sei es allerdings notwendig, die nötigen Distinktionen zu machen, die den Weg der reinen Gottesliebe offenhielten für alle, die berufen seien, ihn zu gehen. Fénelons Feststellung: »dieser Vorwitz ist allgemein«[55] weist darauf hin, dass die »mystische Invasion« im 17. Jahrhundert zu einem Faktum geworden ist, das wegen seines allgemeinen Charakters berechtigterweise zum Gegenstand soziologischer und geschichtsphilosophischer Erörterungen gemacht werden und mit sozialgeschichtlichen Kategorien gedeutet werden kann.

Dass in diesem Prozess des Heraustretens aus dem esoterischen Bereich der mystische Weg tief greifende Wandlungen erfahren musste, liegt auf der Hand. Diese Wandlungen waren unter dem Titel des »Quietismus« von der katholischen Kirche anlässlich der Zensurierung des Guida spirituale von Molinos(1) in ähnlicher Weise verurteilt worden wie früher bereits die Bewegung der Begarden oder die der spanischen Alumbrados. Zwei Dinge vor allem waren es, die solche Bedenken wachriefen: erstens eine gewisse für die Mystik immer naheliegende Tendenz, die Bedeutung der kultischen Frömmigkeit, des mündlichen Gebets, der Vergegenwärtigung der Menschheit Jesu für das Gottverhältnis zu relativieren, zweitens die Tendenz, jene gelassene »Ruhe«, die für die großen Mystiker am Ende eines langen, entsagungsvollen »Aufstiegs« steht, als ein allen zugängliches, leicht erreichbares Ziel hinzustellen und so alle ethische und aszetische Bemühung für überflüssig zu erklären. Quietismus ist für die Zeitgenossen Fénelons ein Wort, das den Gedanken libertinistischer Ausschweifungen oder mindestens den einer faulen Indolenz nahelegt.

Fénelons »Maximen der Heiligen« verfolgen die Absicht, den wahren Sinn der Aussagen der Mystiker von den quietistischen Missdeutungen zu unterscheiden und sie durch eine orthodoxe Interpretation zu »retten«. Bezeichnend für seine Tendenz, die Mystik in die Welt des 17. Jahrhunderts so zu transponieren, dass ihre Aussagen als Antworten auf die Problematik der Zeit brauchbar wurden, ist es, dass Fénelon ausdrücklich bestrebt ist, die Mystik nicht nur orthodox, sondern auch rational im cartesischen Sinne zu interpretieren. »Ich habe mich vor allem bemüht, ihre Ausdrücke auf klare, präzise und von der Tradition autorisierte Ideen zurückzuführen, ohne den Kern der Dinge abzuschwächen.«[56] Ob Fénelon den »Kern der Dinge« abgeschwächt hat oder nicht, darüber waren die Ansichten geteilt. Bossuet(24) war der gegenteiligen Auffassung, Fénelon habe den Popanz eines Superquietismus erfunden, um ihn als imaginären Gegner zu erledigen, in Wirklichkeit aber dann quietistische Thesen als »Maximen der Heiligen« hinzustellen. Fénelon hat darauf erwidert, indem er für seine Sätze Belegstellen aus anerkannten Autoren von Clemens von Alexandrien(2) bis Teresa von Avila(2) beibrachte, die alle stärker in der Formulierung sind als die seinen. Dieses Verfahren war insofern vollkommen berechtigt, als Fénelon in der Tat Auffassungen vertrat, die an Kühnheit zunächst einmal ganz einfach hinter Autoren wie Johannes vom Kreuz(6) weit zurückbleiben.

Matter hat darauf bereits hingewiesen und die Frage gestellt, warum Fénelon sich nicht zur Höhe eines Johannes vom Kreuz(7) oder Franz von Sales(2) erhoben habe, sondern bei einer »kleinen Mystik« stehen geblieben sei[57]. Er lässt die Alternative offen, ob die »große Mystik« der »unausgesprochene Gedanke« Fénelons gewesen sei, dessen Unterdrückung man mit Fénelons eingeschüchterter Verfassung erklären müsse, oder ob Fénelons Geist einfach zu eng war, um sich zu solchen Höhen zu erheben. Diese Alternative scheint mir falsch gestellt zu sein, obgleich beide Gründe nicht völlig abwegig sind. Fénelon bezeichnet sich selbst als von Natur vorsichtig – »Je suis naturellement serré et précautionné« –, und in dem Bestreben, den Vorwurf des Quietismus von sich und seinen Freunden abzuweisen, musste ihm daran liegen, sich auf die Verteidigung jener Elemente der Mystik zu beschränken, die ihm als zentrale Inhalte des Christentums erschienen, als puncta stantis et cadentis ecclesiae. Das zweite aber ist, dass Fénelon selbst kein Mystiker im traditionellen engeren Sinne des Wortes war. Er weiß sich als Theoretiker der Mystik, der nicht selbst aus mystischer Erfahrung spricht, sondern die oft ungenau artikulierten Erfahrungsaussagen der Mystiker diesen selbst und der Mitwelt in einem am Ideal der Orthodoxie und der »klaren Idee« orientierten Sinne interpretiert. Sein persönlicher Zugang zur Welt der Mystik aber zeigt, dass hinter dieser systematischen Theorie der Versuch steht, den mystischen Weg eben durch seine »Reduktion« für sich und andere begehbar zu machen. Die daraus resultierende »kleine Mystik« ist in der Tat etwas Neues. Sie ist z. B. durch eine tief greifende, wenn auch lange vorbereitete Wandlung des Contemplatio-Begriffs charakterisiert, der von Fénelon schlechthin mit dem Begriff des amour désintéressé, der selbstlosen Liebe, gleichgesetzt wird. Das bedeutet ein konsequentes Ausscheiden alles theoretischen und spekulativen Inhaltes aus der Mystik.

Kants(3) Verlagerung des Gewichts von der theoretischen auf die praktische Vernunft ist in der daraus resultierenden Ethik des Désintéressements ebenso vorgebildet wie der für die katholische Frömmigkeit des 20. Jahrhunderts so entscheidende und zentrale »kleine Weg« der heiligen Thérèse von Lisieux(1), in dem die »kleine Mystik« sich auf eine Weise realisiert, die Fénelons Vorstellungen sehr viel genauer entspricht als das Leben der Madame Guyon(4), an dessen prophetisierenden und mirakulösen Zügen er sich so augenscheinlich desinteressierte[58].

Wir werden in dieser Arbeit mehrfach auf die Bedeutung der Reduktion und Expansion der Mystik zurückkommen, die sich bei Fénelon vollzieht; der Begriff der Säkularisation wäre für diesen Vorgang zu oberflächlich und würde das eigentliche Problem nur verstellen. Wenn hier zu Beginn bereits gesagt werden soll, worum es sich bei diesem Vorgang handelt, so wären vor allem zwei Gesichtspunkte zu nennen, deren einer die systematische Seite der Sache, die »Grundlegung der Ethik«, deren anderer ihre pädagogische betrifft.

Indem Fénelon den mystischen Begriff der Kontemplation auf den des amour pur, der reinen Liebe, reduziert und diesen als Selbstlosigkeit (désintéressement) interpretiert, wird für ihn die mystische Tradition zu einer unmittelbaren Antwort auf die bürgerliche Ethik des 16. und 17. Jahrhunderts, die sowohl in ihrer stoischen wie in ihrer epikuräischen(1) Variante eine individualistisch-egozentrische Ethik ist und das Sittliche aus dem Streben nach Selbsterhaltung oder nach Lustgewinn herleitet.

Die Lehre vom amour pur ist demgegenüber eine Ethik des »reinen guten Willens«, wie sie später von Kant(4) im Gegensatz zum Eudämonismus der Aufklärung und der Orthodoxie entwickelt wurde. Dass die Religion die uneigennützige Liebe »desavouiere«, war ja – aufgrund der Querelle um Fénelon – schon für d’Alembert(2) eine nicht mehr diskutierte Tatsache[59].

Wenn hier von bürgerlicher Ethik die Rede ist, so widerspricht dem nicht, dass es gerade die hocharistokratischen Moralisten des 17. Jahrhunderts waren, die die in allem menschlichen Handeln verborgene Eigenliebe aufgespürt hatten. La Rochefoucaulds(1) Maximen und Reflexionen sind nicht optimistische Grundlegung einer neuen, aufs »wohlverstandene Interesse« gegründeten Ethik, sondern skeptische Entlarvung, hinter deren resigniertem Gestus immer noch ein ganz unbürgerliches Ideal von Uneigennützigkeit steht, an dem gemessen die meisten menschlichen Verhaltensweisen als wahrhaft gut nicht bestehen können11. Fénelon steht in der Linie dieser Tradition[61]. Er geht von jener Resignation aus, aber er treibt sie dialektisch noch einen Schritt weiter, indem er die Reflexion, die immer nur Selbstliebe, »Interesse« zu finden vermag, selbst als Manifestation des gleichen Interesses deutet, das sich folglich im Zirkel der Reflexion immer nur selbst wiederfinden kann. Das Problem der Reinheit wird so zum Problem der Überwindung der Reflexion. Damit aber wird das ethische Problem unmittelbar und wesentlich zum pädagogischen, die in der Mystik wurzelnde Ethik der reinen Liebe zur Therapie[62].

Die Funktion der Theorie, die uns aus Fénelons unvergleichlicher Korrespondenz der »Seelenführung« entgegentritt, ist in erster Linie eine therapeutische. Der Rückgriff auf die mystische Tradition wird zur Therapie für jene zeitgenössische »Neurasthenie«, die vor allem in übersteigerter Selbstreflexion und damit gleichzeitig einer wachsenden Handlungslähmung sich kundtut, und zwar vor allem in jener Klasse der Hocharistokratie, die durch den Absolutismus ihrer eigentlichen Funktionen und damit ihrer Existenzberechtigung beraubt war. (Insofern steht Fénelons scharfe Kritik des Absolutismus Ludwigs(5)XIV. in einem strengen inneren Zusammenhang mit den Intentionen seiner Seelenführung.) Gerade in dieser Hocharistokratie aber entwickelt sich auch das neue Gegenbild einer Naivität und Spontaneität, als deren Prototyp das Kind erscheint. Fénelons Begriff des amour pur identifiziert diesen mit dem Geist der Kindheit, der seit Bérulle(1) in der Spiritualität der école française eine besondere Stellung einnimmt und der sogenannten Entdeckung des Kindes bei Rousseau(2) vorangeht. Aber die Freisetzung menschlicher Spontaneität, um die es Fénelon geht, ist kein einfaches »retour à la nature«, sondern ein Prozess, der durch die Reflexion notwendig hindurchgehen muss und in dem die pädagogische und geschichtsphilosophische Dialektik des deutschen Idealismus strukturell und inhaltlich vorgebildet ist. Fénelon kennt nicht die Verklärung der bloßen Unmittelbarkeit, die für Rousseau(3) so charakteristisch ist, wenn er in den Confessions immer dort für seine »Unschuld« prädiert, wo seine Handlungen – mochten sie sonst sein wie sie wollten – »spontan« waren12, und der damit einen epochemachenden modernen Begriff von Reinheit kreierte. Für Fénelon gibt es keine reine Spontaneität – und das heißt für ihn »reine Liebe« – als die, die aus dem geistlichen Tod, der Selbstaufhebung der zu Ende geführten Selbstreflexion hindurchgegangen ist13.

Das Thema, das hier angeschlagen wird, ist jenes, das uns wieder begegnet in Kleists(1) »Marionettentheater«. Wie in diesem sind in ihr das pädagogische und das geschichtsphilosophische Motiv noch nicht voneinander geschieden, sondern zusammengehalten von der theologischen Perspektive, wie sie Kleist(2) in der Alternative vom »Gliedermann« oder dem Gott aufscheinen lässt[64].

Pädagogik und Geschichtsphilosophie haben ja – in Entgegensetzung zu allem abstrakten Moralismus – gemeinsam die Entschlossenheit zu einem unbedingten Ziel in Verbindung mit ebenso unbedingter Gelassenheit – »indifférence« – gegenüber seiner tatsächlichen Realisierung, gegenüber dem, was in der Situation tatsächlich möglich und am Werk ist. Der theologische Ursprung dieser Haltung ist bei Fénelon exemplarisch greifbar in der Überzeugung, dass der gleiche Gott, der befiehlt, auch der ist, der das Vollbringen gibt oder versagt, eine Überzeugung, die im 17. Jahrhundert die schulmäßige Gestalt einer Lehre von den zwei Willen Gottes annimmt, dem »Gebotswillen« und dem »Geschichtswillen«, welchem letzteren sich unerlaubt zu überlassen einer der Vorwürfe gegen den Quietismus vor. Von Fénelons praktischer Überwindung der hier liegenden Autonomie wird zu sprechen sein[65].

Die folgenden Studien gehen zum Teil der Genealogie zentraler Motive seiner Lehre nach, zum Teil deren zeitgenössischer oder posthumer Wirkung. Zum größeren Teil sollen sie einfach der Interpretation dienen. Diese hält sich im Allgemeinen eng an Fénelons eigene Intention, die es in ihrem sachlichen und historischen Kontext zu vergegenwärtigen gilt. Dass bisweilen kategorial über Fénelon herausgegangen und sozusagen ex post interpretiert wird, scheint mir überall dort gerechtfertigt, ja geboten, wo die beanspruchte innere Logik durch eine historische Kontinuität und Fortbildung des Gedankens bestätigt wird. Etwas anderes wäre es, ein in der Geschichte Gedachtes nicht nur vorgefassten eigenen philosophischen, pädagogischen oder theologischen Maßstäben, sondern auch Fragestellungen zu unterwerfen. Was wir in Philosophie und Pädagogik von »klassischen« Autoren etwa lernen können, sind ja nicht, wie es die sogenannte »Problemgeschichte« will, Antworten auf unsere Fragen – auf die wir schließlich immer schon bessere haben –, sondern das eigene Fragen selbst dadurch aus seinen den Bereich der Antworten im Vorhinein definierenden Beengungen zu befreien, dass wir es zeitweise suspendieren und uns der Frageweise und Problemstellung eines Autors, dem wir irgendeine Art von Kredit entgegenbringen – wenn auch nur den, dass wir ihm ein gewisses Niveau zubilligen –, wenigstens probeweise verstehend überlassen, ohne ihm durch eigene Fragen unmöglich zu machen, das zu sagen, was er etwa zu sagen hat. Dass ein Autor es lohnt, seine Gedanken zu vergegenwärtigen, sollte bis zum Erweise des Gegenteils unterstellt werden, wenn dieser Autor lange Zeit dieser Gedanken wegen als ein Großer gegolten hat, und dies bei Autoren, die uns selbst als groß gelten. Fénelon – incomparabilis Fenelonius[66] – ist ein solcher Autor.

Fénelons Theorie der reinen Liebe nach der Dissertatio de amore puro

Es liegt nahe, Fénelons »System« im Ausgang von seinen ersten Schriften, vom »Gnostique de Saint Clément d’Alexandrie«(3), den Fénelon selbst nie veröffentlicht hat, und von den berühmten »Maximes des Saints« darzustellen. Dieser Ansatz entspricht einem allgemeinen Interesse der Geistesgeschichte für Frühschriften und erste Fassungen. Solche Schriften haben den Vorzug, die Genesis eines Gedankens deutlich werden zu lassen. Sie kommen damit der geistesgeschichtlich-psychologischen Betrachtungsweise entgegen. Die Typologisierung eines Denkens im Diltheyschen Sinne ist dort am leichtesten, wo das Spezifische, das Typische und Originelle am reinsten hervortritt und als Resultat einer immanenten psychischen Struktur oder »Geistesart« verstehbar gemacht werden kann. Später eindringender Weltstoff, der zur Weiterentwicklung oder zur Korrektur des ersten Ansatzes führt, erscheint demgegenüber eher als Störungsfaktor, der die Authentizität beeinträchtigt. Wo der geistespsychologische Ausgangspunkt ontologisiert wird, erscheint dieser Gedanke dann in der Form, dass »alles ›Entspringen‹ im ontologischen Felde Degeneration«[1] sei, und legt bei späten Gestalten eines Denkens zumindest den Verdacht nahe, sie beruhten auf einem Abfall des Autors vom Niveau seiner ursprünglichen Einsicht.

Es ist gut, sich klarzumachen, dass solche Maßstäbe nicht die natürlichen sind, nicht die, mit denen natürlicherweise Bücher gelesen und beurteilt werden. Denn die nächstliegende Vermutung ist ja doch die, einem Autor, der seine Auffassung variiert, müssten all jene Gründe am besten vertraut sein, die für die »erste Fassung« sprachen, und habe er selbst diese Gründe für unzureichend angesehen, so seien sie es in der Tat. Eine Tendenz zur Bevorzugung von Frühwerken im Bereich theoretischen Denkens deutet demgegenüber auf eine intentio obliqua, die ein in der Geschichte Gedachtes auf alles befragt außer auf die Sache, die dem Autor und dem Leser gemeinsam sein und über die dieser von jenem etwa gar belehrt werden könnte.

Aber auch ohne eine solche intentio obliqua wird sich Misstrauen gegen eine Schrift richten, in der ein Bischof dem Papst sein »System« vorlegt, dessen erste Fassung der päpstlichen Zensur zum Opfer gefallen war. Schon für den Chevalier Ramsay(2) hatte die Unterwerfung Fénelons unter diese Zensur die Aufrichtigkeit Fénelons zweifelhaft gemacht. Fénelon hatte ihn beruhigen können: die Kirche habe die »reine Liebe« nie verurteilt, sondern deren unzulängliche Darstellung in den »Maximen der Heiligen«[2].

Es gibt keinen Grund, die Aufrichtigkeit dieser Deutung zu bezweifeln. Fénelon selbst war es, der im Streit um die Bulle »Unigenitus« mit ihrer Verurteilung des »Augustinus« das Recht des Apostolischen Stuhles verfochten hat, über den »sensus obvius«, den offensichtlichen Sinn eines Buches zu urteilen[3]. Nur unter dieser Voraussetzung nämlich, so argumentierte er, sei es überhaupt möglich, ein Buch zu verurteilen. Es sei also niemandem zuzubilligen, der Kirche ein fehlerhaftes Verständnis eines solchen Buches vorzuwerfen. Wenn der Autor seine Intention in der kirchlichen Interpretation nicht wiedererkenne, so liege der Fehler bei ihm, da er es nicht verstanden habe, seine Auffassung hinreichend eindeutig zum Ausdruck zu bringen. Worüber dagegen die Kirche niemals urteilen könne, sei eben dieser »sensus autoris«, d. h. der vom Autor intendierte Sinn, sodass die Kirche zwar Bücher verurteilen, aber nie befinden könne, ein Autor habe geirrt, wenn dieser erklärt, der von der Kirche verurteilte Sinn seines Buches sei nicht der, den er selbst mit ihm verbunden habe.

Aber auch wenn man die Aufrichtigkeit Fénelons im Rahmen dieser seiner Theorie unterstellt, liegt die Vermutung nahe, der kirchliche Gehorsam habe doch die ursprüngliche Kraft und Konsequenz seiner Konzeption beeinträchtigen müssen, und das Resultat sei bestenfalls ein Kompromiss. Dieser Einwand scheint Gewicht zu besitzen, zumal wenn man die große Geschichte der Konflikte zwischen kirchlicher Orthodoxie und mystischer Frömmigkeit bedenkt. Anders bei Fénelon, von dem Quesnel(1) schreiben konnte, er sei ebenso outriert in Bezug auf die Autorität der Kirche wie in Bezug auf die reine Liebe14[4]. Tatsächlich steht beides für Fénelon in einem merkwürdigen und unauflöslichen Zusammenhang. Schon in den »Maximen« selbst ging die Tendenz dahin, alle besonderen mystischen Phänomene in ihrer Bedeutung herabzusetzen und den einfachen Weg kirchlichen Gehorsams als Gipfel mystischen Entwerdens darzustellen. Diese Fénelon ganz eigentümliche Synthese von rheinisch-flämischer Mystik und gegenreformatorischer Kirchlichkeit findet ihre sozusagen existentielle paradoxe Erfüllung in Fénelons eigenem Verbot seiner »Maximen« für seine Erzdiözese. Dass man dem nichts wegnehmen kann, der nichts zu eigen haben will, ist eine der ebenso stoischen wie mystischen Grundsätze des Erzbischofs von Cambrai. Die Unterwerfung zwang ihn, die Tendenz einer rigorosen Reduktion mystischer Frömmigkeit auf den »reinen Glauben« und die »reine Liebe«, die schon in den »Maximen« leitend war, zu vollenden. Amour pur, das bedeutete: Aufhebung jeder naturhaften Unmittelbarkeit, aber auch der Reflexion, die in der Zerstörung der ersten Unmittelbarkeit selbst noch ihren Impuls aus dieser empfängt. Die Unterwerfung konnte alle bestimmten Inhalte in sich begreifen und preisgeben, nur nicht die Haltung, deren Ausdruck die Unterwerfung selbst war. Aber um diese gerade ging es Fénelon. Wenn so der Zweck der Dissertatio zunächst Misstrauen gegen die Authentizität ihrer Darlegungen erweckt, so erweist er sich im Zusammenhang der Entwicklung der Fénelonschen Lehre eher als Filter, durch den der reine Extrakt der Lehre vom amour pur heraustritt.

Fénelon richtete seine »Dissertatio de amore puro« an den Papst Clemens XI.(3), der als Kardinal im heiligen Offizium gegen Fénelons Verurteilung gestimmt und dessen Thronerhebung dieser als Anbruch einer neuen Blütezeit der Kirche begrüßt hatte – nicht ohne hinzuzufügen: hoc contra spem in spem credo[6]. Die Dissertatio ist die letzte Fassung der Fénelonschen Lehre, die im Laufe der Querelle einige Modifikationen erfahren hatte und nun ganz auf den Gesichtspunkt konzentriert wird, der schon in den »Maximes« der leitende war: den des amour pur. Fénelon bedient sich im übrigen in dieser lateinischen Abhandlung im Unterschied zu den »Maximes« einer traditionellen, scholastischen Terminologie, ohne dass die schriftstellerische Eleganz dadurch beeinträchtigt würde. Die Dissertatio ist – im Gegensatz zu den literarisch gequälten »Maximes« – ein Meisterwerk ebenso subtiler wie klarer Argumentation, das sich an wenigen Stellen zu einem vornehmen Pathos erhebt. Natürlich herrscht die Tendenz vor, die eigene Lehre als bloße Wiedergabe der patristischen und scholastischen Tradition darzustellen. Aber gerade in seiner Präzisierung dieser Tradition tritt die Eigenart der Fénelonschen Theorie so deutlich hervor, dass die Dissertatio als deren reifste Darstellung betrachtet werden muss, soweit es sich um die spekulative Seite handelt; die reifste Form der existentiellen Realisierung seiner Gedanken findet sich zweifellos in der geistlichen Korrespondenz.

Der vollständige Titel der Schrift lautet: »Dissertatio de amore puro seu Analysis Controversiae inter Archiepiscopum Cameracensem et Meldensem Episcopum habitae de charitatis natura, nec non de habituali statu puri amoris«[7]. Die Dissertatio scheint übrigens nicht abgeschickt worden zu sein, sondern eine Kurzfassung in Form zweier Briefe an den (4)Papst[8], die etwa den vierten Teil des Umfangs der Dissertatio ausmachen. Unmittelbarer Anlass der Schrift ist die »Relation sur le quiétisme«, die von Bossuet(25) im Auftrag des gallikanischen Episkopats verfasst worden war und die eine Art abschließendes offizielles Dokument über die Affäre darstellen sollte. Fénelon, der zu Beginn der Kontroverse selbst durch seinen Appell an den (5)Papst das Urteil über sein Buch dem französischen Episkopat entzogen hatte, verstand seine Unterwerfung nie als Sieg Bossuets(26), dessen theologische Doktrin er weiterhin für unorthodox hielt. Umso mehr musste ihn die Tatsache beunruhigen, dass Bossuet nun zum offiziellen Chronisten einer Affäre erhoben wurde, in der er selbst Partei gewesen war. »So war jener in einer Person gleichzeitig Akteur, Zeuge, Richter, Kommissionspräfekt und Protokollant seiner eigenen Kontroverse.«[9] Die Interpretation, die in der »Relation« gegeben wurde, war für ihn unannehmbar. In der Öffentlichkeit war ihm der Mund verschlossen. Er hatte freiwillig darauf verzichtet, zum Thema der Kontroverse noch einmal Stellung zu nehmen. Er musste es als unfair empfinden, dass die Gegenseite nun in Gestalt einer scheinbar überparteilichen Chronik ihre Polemik gegen eine Lehre fortsetzte, die Fénelon für die allein christliche, auch von Rom niemals verurteilte hielt, die aber durch seine Zensurierung ihren Anwalt verloren hatte. Die Erbitterung hierüber ist deutlich zu spüren. Schon früher einmal hatte Fénelon es als unverständlich bezeichnet, dass Malebranche(1) seine Kontroverse mit dem Pater Lamy(1) über die Prädestination fortsetzte, nachdem diesem von seinen Oberen Schweigen geboten worden war[10]. So extrem Fénelons Bejahung von Autorität und Gehorsamspflicht war, so empfindlich war sein Gefühl für das Unvornehme in einer Handlungsweise, die diesen Gehorsam zum Nachteil des Gehorchenden ausnutzt.

Letzten Endes aber waren es wohl nicht persönliche Gründe, die ihn veranlassten, in der Sache des amour pur noch einmal zur Feder zu greifen. Es war die Sache selbst, für die er als Bischof, als Lehrer der Kirche eine Verantwortung zu haben glaubte. Er sah voraus, dass die vom König erzwungene Verurteilung der »Maximen« für die Nachwelt als Verurteilung des Kernes der christlichen Ethik erscheinen würde. »Die meisten Menschen denken bei sich so: Die Lehre des Erzbischofs von Cambrai über die reine Liebe ist vom Apostolischen Stuhl verdammt worden.«[11]

So war es in der Tat. Die eudämonistische Ethik der Aufklärung ist nicht säkularisierter Fénelon, sondern Bossuet(27); der amour pur gilt Voltaire(3)[12] ebenso wie Friedrich dem Großen(3)15 und schon Leibniz[14] als »Schimäre«. Im gleichen Sinne schreibt die Enzyklopädie von 1777: »So ist es ein großer Irrtum, die Liebe zu uns selbst der Liebe zu Gott entgegenzusetzen, wenn die erstere wohlgeordnet ist: Denn was heißt das, sich selbst in der rechten Weise lieben? Es heißt Gott lieben; und was heißt das, Gott lieben? Es heißt, sich selbst in der rechten Weise lieben. Die Liebe zu Gott ist der wahre Sinn der Selbstliebe; sie ist ihr Wesen und ihre Vollendung.«[15] Wo aber bei Kant(5) eine Ethik der Désinteressements entwickelt wird, da muss sie sich als »reiner Religionsglaube« im Gegensatz zu jenem »Kirchenglauben«16[16] konstituieren, der sich mit der Preisgabe des amour pur selbst zu einer »religion close« gemacht und desjenigen Elements beraubt hatte, von dem her allein die Forderung des Offenbarungsgehorsams mit dem Postulat der Autonomie des reinen guten Willens versöhnbar geworden wäre.

Die Dissertatio gliedert sich in drei Teile, deren erster die Kontroverse mit Bossuet(28) über das Formalobjekt der Caritas und über den bedingten Verzicht auf die Seligkeit zum Inhalt hat; der zweite Teil berichtet über die Auseinandersetzung mit dem Kardinal Noailles(1) und mit Godet des Marais(2), dem Bischof von Chartres; der dritte enthält eine Darlegung der Doktrin der vom gallikanischen Episkopat mit den »Maximen« verbotenen Verteidigungsschriften Fénelons. Diese Lehre wird zunächst aus griechischen und lateinischen Vätern entwickelt und schließlich ihre Übereinstimmung mit Augustin(1) dargetan. Die entscheidenden Motive bietet der erste Teil, dessen Gedankengang hier zunächst skizziert und erörtert werden soll.

Die Exposition des Problems lässt auf den ersten Blick nicht mehr viel sichtbar werden von dem geschichtlichen und menschlichen Gewicht der spirituellen Traditionen, um deren Schicksal in der dargestellten Kontroverse gerungen wurde. Es gelingt Fénelon, das, was in seinen Briefen als sein persönlichster Lebensinhalt hervortritt und was, der Sache nach, von überaus weitreichender Konsequenz war – es ging um nichts weniger als um das »anthropologische« Selbstverständnis der christlichen Existenz –, in die Form einer akademisch wirkenden Abhandlung »de objecto formali, sive de motivo charitatis specifico« zu kleiden[17]. Die jahrelange Kontroverse selbst hatte Fénelon instand gesetzt, den Kontroverspunkt immer mehr zu präzisieren und auf etwas einzugrenzen, das schon den ferner stehenden Zeitgenossen als eine bloße akademische Nuance erschien. Aber in dem Maße, wie ihm diese formale Eingrenzung gelingt, wächst das Gefühl von der Tiefe des Bruchs zwischen ihm und seinem Gegner, als den er im vertraulichen Schreiben an den Papst(6) kurzerhand den Clerus gallicanus[18] mit Bossuet(29) an der Spitze nennt. Es ist nun nicht mehr, wie zu Beginn, von Missverständnissen die Rede. Es geht um die Substanz des Christlichen. Was, so fragt Fénelon, wäre, wenn der heilige Stuhl die Doktrin der »Relation« billigte? Die Antwort auf diese rhetorische Frage ist in der unerhörten, pathetischen Schärfe geeignet, den abstrakten Erörterungen der Dissertatio das geschichtliche und spirituelle Relief zu geben: »Actum esset de illo purissimo igne, quem dominus Jesus voluit vehementer accendi, et quem extinctum Meldensis vellet.«[19]

Einen zentralen Platz in der Erörterung Fénelons nimmt die Interpretation einer Stelle ein aus der Summa Theologica des heiligen Thomas von Aquin(1), die in den früheren Auseinandersetzungen bereits eine Rolle gespielt hatte. Es handelt sich um eine Stelle, die Bossuet(30) zur Stützung seiner Auffassung herangezogen hatte[20]. Die Stelle besagt, dass in der Tugend der Gottesliebe Gott geliebt werde »insofern er uns beseligt«. Thomas (2)fügt hinzu: »Gesetzt die unmögliche Annahme, dass Gott nicht des Menschen Gut sei, gäbe es für den Menschen überhaupt keinen Grund zur Liebe.«[21] Bossuet(31) interpretiert so, dass in der Liebe der Mensch auf sein letztes Ziel, seinen finis ultimus ausgerichtet ist, auf Gott also, aber auf Gott, eben insofern er des Menschen Erfüllung zu sein vermag. Dem Menschen kann es letztlich nur um sich selbst, also um die Verewigung und Beseligung seiner endlichen Existenz gehen, die durch Gott allein bewirkt werden kann.

Fénelon, für den als den Schüler der Mystiker das Ziel des Menschen nicht anthropologisch, sondern nur durch Aufhebung der Endlichkeit bestimmbar ist, gibt der Thomasstelle(3) eine subtilere Interpretation, eine Interpretation, in der psychologischer und ontologischer Gesichtspunkt deutlich voneinander geschieden werden. Zunächst wird der Begriff des finis psychologisch präzisiert und als »Motiv« interpretiert. Dieses Motiv aber, das ist Fénelons These, braucht, ja darf in gewissen Fällen mit dem ontologisch Fundierenden eines geistigen Aktes nicht zusammenfallen. Motivationszusammenhang und ontologischer Bedingungszusammenhang treten auseinander. Nach der Aristotelischen(1) philía-Lehre, die Fénelon hier mit Recht zum Verständnis der Thomasstelle(4) heranzieht, ist die Kommunikation in irgendeinem Gute Voraussetzung der Freundschaft; aber die auf solcher Kommunikation gründende Freundschaft kulminiert nun nicht in der Reflexion auf diese Kommunikation, sondern in der Zuwendung zum Freunde und seinem Wohl. Nun schreibt Thomas(5) von der amicitia caritatis gegen Gott: »Es ist die Gemeinschaft der ewigen Seligkeit, auf welche diese Freundschaft gegründet ist.«[22] Auf diese Stelle beruft sich Fénelon, wenn er schreibt: »Diese Gemeinschaft oder Gesellschaft aber wird vom heiligen Lehrer nicht als Motiv der Freundschaft bezeichnet, sondern nur als vorausgesetztes Fundament oder Anlaß, woraus dann die Freundschaft selbst hervorgeht«[23], und: »So ist es absurd, das Fundament der Freundschaft mit deren Motiv zu verwechseln.«[24]

Es ist zu beachten, dass hier das ermöglichende »fundamentum« der Caritas als occasio bezeichnet wird. Fénelon ist Anhänger der occasionalistischen Theorie der Kausalität, die alle echte Verknüpfung und Wirkursächlichkeit im Bereich des Endlichen ausschließt bzw. durch Gott vermittelt sein lässt. Es gibt kein Mitsein: alles Endliche ist als solches von allem anderen Seienden isoliert. Diese »bürgerliche«17 Ontologie wird von Fénelon vorausgesetzt, aber trägt, im Unterschied zu ihren originären Vertretern – etwa zu Malebranche(2) – einen negativen Akzent. Wenn Fénelon ausruft: »O, wie häßlich ist es, zwei, drei, vier zu sein!«[25], so wird deutlich, dass für ihn Vielheit im Endlichen nicht primär Gemeinschaft bedeutet, sondern Trennung. Einheit ist nur in der Überwindung des Endlichen, in der Vermittlung durch jene Einheit, die für ihn immer das erste und vorzügliche Attribut Gottes ist.

Solche Überwindung aber geschieht allein durch die ekstatisch interpretierte Gottesliebe. Fénelon kann sich für diese Interpretation nicht nur auf die christliche Forderung berufen, Gott mehr als sich selbst zu lieben – »Wenn daher die Seligkeit der exakte Grund jedes Willensaktes wäre, so könnten wir Gott niemals mehr lieben als uns selbst«[26] –, sondern auch auf den Traktat über die Caritas aus der Summa des Aquinaten(6), wo es heißt: »Glaube und Hoffnung berühren Gott nur, insofern uns aus ihm Erkenntnis des Wahren oder Erlangung des Guten zukommt. Die Liebe aber erreicht Gott selbst, um in ihm selbst zu bleiben, nicht damit uns von ihm etwas zuteil wird; hierdurch ist die Liebe vor Glaube und Hoffnung ausgezeichnet etc.«[27]

Die Liebe, durch die Verkennung ihres spezifischen Motivs, in Glaube und Hoffnung aufgehen zu lassen, ist Fénelons Vorwurf gegen seine Gegner. Die Lehre vom amor benevolus als einer uneigennützigen Liebe ist für ihn in der alten Dreiteilung von Sklave, Lohnknecht und Sohn enthalten18, sie ist universale christliche Tradition: »Klarer als das Licht selbst ist die Überlieferung aller Zeiten, im Orient wie im Okzident.«[30] Kronzeuge dieser Tradition ist vor allem »jener große, den Schülern der Apostel gleiche Philosoph und Theologe Clemens von Alexandrien(4)«[31]. Mit Clemens’ Lehre hatte Fénelon sich schon früh beschäftigt, und die von ihm selbst nicht veröffentlichte Schrift über den Gnostiker des Clemens von Alexandrien ist die erste Formulierung seiner eigenen Doktrin. Nun zieht er Clemens(5) gegen Bossuet(32) heran: »Den Einwand derer, die ganz nach Art des Bischofs von Meaux(33) argumentieren, formulierte er so: jede Verbindung, sagen sie, die man mit schönen Dingen eingeht, geschieht mit Begehren, d. h., die Liebe begehrt ihrem Wesen nach, was für sie gut ist. Mir scheint, als hörte ich in diesen Stimmen den Bischof von Meaux selbst. Was aber sagt Clemens(6)? Diese aber, sagt er, wissen wie es scheint nicht, was das Göttliche in der Liebe ist. Die Caritas ist nämlich nicht ein Begehren des Liebenden, sondern sie ist eine wohlwollende und feste Verbindung etc.«[32][33]

Das Zitat aus den »Stromateis« ist deshalb für Fénelon besonders aufschlussreich, weil in ihm der ekstatische Charakter der Liebe ausdrücklich als etwas »Göttliches« der anerkanntermaßen stets begehrenden irdischen Liebe gegenübergestellt wird. Bossuet(34) glaubte die Übernatürlichkeit der Liebe schon dadurch gewährleistet, dass ihr Objekt der beseligende Gott selbst und nicht ein von ihm unterschiedenes Gut sei. Aber Fénelon wendet unter Berufung auf die Geschichte von Simon dem Magier (1) in der Apostelgeschichte ein: »Es ist völlig falsch, daß das übernatürliche Geschenk nicht auf natürliche Weise gewünscht werden kann.«[34] Diese Unterscheidung von Objekt und Motiv scheint ihm fundamental: »O Bischof von Meaux(35), du bist Lehrer in Israel und weißt dies nicht? So richtest du die ganze Theologie im Innersten zugrunde! So im Irrtum befangen beschimpfst du mich als Irrenden … Du verleumdest die Lehre der gesamten Kirche als Quietismus … Offenkundig hältst du den Leser zum Narren.«[35] Wenn nur das Objekt der Liebe und nicht die spezifische Motivation das unterscheidend Christliche ist, dann sinkt das Christentum – das besagt die Berufung auf Simon Magus(2) – auf die Stufe objektivistischer Magie herab, dann wird der Vorwurf der Aufklärung berechtigt, das Christentum mache das Heil der Menschen von der Zustimmung zu irgendwelchen Inhalten abhängig, von deren So- oder Anderssein für die wirkliche Existenz gar nichts abhänge. Man hat Fénelon als Vorläufer jener Aufklärung bezeichnet, deren antikirchliche Wendung doch im Scheitern seiner Intentionen einen ihrer Gründe hat.

Das »Göttliche« der Liebe liegt für Fénelon nicht allein in ihrem Objekt, sondern in ihr selbst, in der Tatsache, dass sie aus dem Zirkel der Selbstbezogenheit des Endlichen ausbricht. In der großen Querelle bricht die Synthese auseinander, die christliche Agapelehre und antike Erosphilosophie eingegangen waren[36]. Plato hatte den Eros wesentlich in der menschlichen Bedürftigkeit gründen lassen, die nach Erfüllung drängt. Und Aristoteles(2) lässt den ersten Beweger die Welt bewegen hos erómenon, wie ein Geliebtes den Liebenden. Liebe gründet in der wesentlichen Bedürftigkeit alles Endlichen.

Christliche Lehre aber war es, dass Gott selbst Liebe sei. Bossuet(36) hatte die Liebe Gottes und die Gottesliebe radikal voneinander geschieden, wenn er schrieb, dass es Gott allein eigen sei, ohne Bedürftigkeit zu lieben[37]. Denn Gott bedarf der Welt nicht zu seiner eigenen Seligkeit. Aber eben jene Liebe Gottes ist für Fénelon, der damit die altchristliche Caritas-Lehre von der Erostheorie ablöst bzw. diese durch jene interpretiert19, das Urbild der christlichen Caritas, »Form und Muster für das Maß unserer Liebe«[39]